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Demokratiedefizite in arabischen Staaten

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Fachleute sind sich darin einig, dass in vielen Ländern der islamischen Welt ein eklatantes Demokratiedefizit vorherrscht. Besonders im arabischen Raum werden die individuellen Freiheiten eingeschränkt.

Ein Mann liest im Koran. (© AP)

In vielen Ländern der islamischen Welt herrscht ein eklatantes Demokratiedefizit. Darin sind sich die meisten Fachleute einig, unabhängig davon, wie sie dieses Demokratiedefizit erklären. Besonders im arabischen Raum werden die individuellen Freiheiten – egal ob es sich um politische oder soziale Freiheiten handelt – eingeschränkt. In Saudi-Arabien etwa dürfen Frauen noch nicht einmal Auto fahren, geschweige denn politische Ämter übernehmen. Abgesehen davon ist Saudi-Arabien neben dem Oman das einzige Land auf der Welt, in dem der Koran die Funktion der Verfassung übernimmt. Kein Gesetz darf, zumindest theoretisch, der Heiligen Schrift der Muslime widersprechen. Von Menschen verabschiedete Gesetze seien mit dem Islam nicht vereinbar, so die Lehre der Wahhabiten, der in Saudi-Arabien dominierenden Rechtsschule.

Doch auch in arabischen Staaten, die sich dem Säkularismus verschrieben haben, werden demokratische Freiheiten bisweilen genauso wenig zugestanden. In Syrien und im Irak beispielsweise regiert seit über 30 Jahren die Baath-Partei, die zu den großen Feinden der Islamisten gehört. Die Baathisten möchten die gesamte arabische Welt unter einem Dach vereinigen. Der Islam spielt für sie nur als maßgebliche Prägekraft für die kulturelle Identität der Araber eine Rolle. Doch gerade Irak und Syrien sind Diktaturen, in denen Meinungs- und Pressefreiheit so gut wie nicht vorhanden sind. Bei den als Routineveranstaltungen ablaufenden Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen werden die Kandidaten meist mit 90 oder mehr Prozent der Stimmen wiedergewählt. Verschiedene Geheimdienste sind allgegenwärtig, und wer sich nicht an die strengen Regeln hält, riskiert für Jahre ohne Gerichtsverhandlung inhaftiert zu werden. Folter ist in irakischen und syrischen Gefängnissen an der Tagesordnung. Andere arabische Regime, wie in Ägypten, Jordanien, Tunesien oder Marokko, lassen der Bevölkerung zwar einen größeren Freiraum, in letzter Instanz aber entscheidet das Staatsoberhaupt – sei es ein Diktator, Präsident oder Monarch.

Worin jedoch liegen die Gründe für dieses Demokratiedefizit? Hat es etwas mit dem Islam zu tun oder vielleicht sogar etwas mit einer wie auch immer gearteten "arabischen" Mentalität? Oder ist der Westen schuld, weil er undemokratische Regime im Nahen Osten unterstützt? Wie nicht anders zu erwarten, gibt es auf diese Fragen keine eindimensionale Antwort. Demokratisierung, egal in welcher Gesellschaft sie stattfindet, ist ein mühsamer Prozess, der günstiger Umstände bedarf. In der arabischen Welt aber waren die Umstände für eine Demokratisierung in den vergangenen Jahrzehnten ungünstig.

Das erste Problem ist das Erbe des Kolonialismus. Engländer wie Franzosen unterließen es, in den von ihnen beherrschten Gebieten demokratische Strukturen aufzubauen. Sie verließen sich vielmehr auf lokale Eliten bei der Kontrolle der Bevölkerung. So mussten die meisten arabischen Staaten, nachdem sie in die Unabhängigkeit entlassen waren, erst mühsam eigene staatliche Strukturen aufbauen – ein Prozess, der häufig mit Interessenkonflikten verbunden war. Außerdem hinterließ der Kolonialismus zahlreiche ungelöste Grenzkonflikte sowie ethnische Spannungen, die bis heute gären. Viele arabische Staaten, die nach 1945 in die Unabhängigkeit entlassen wurden, hatte es vorher in dieser Form nie gegeben. Sie entstanden durch Grenzen, die die Kolonialmächte willkürlich gezogen hatten. Ein Beispiel ist der Irak, der sowohl ethnisch (Araber und Kurden) wie religiös (Sunniten und Schiiten) kein homogener Staat ist. Ohne gewachsene nationale Identität lief das Land deswegen in der Vergangenheit häufig Gefahr, auseinander zu fallen, und es kursiert in der arabischen Welt die eher zynische Meinung, dass ein Land wie der Irak nur durch einen Diktator wie Saddam Hussein zusammengehalten werden könne. Der Konflikt um Palästina und die Gründung Israels 1948 zogen nacheinander in Syrien, Ägypten und dem Irak die Machtübernahme von Militärregimen nach sich, die sich in unterschiedlicher Form bis heute gehalten haben. Die "nationale Sicherheit wurde zum obersten Ziel", so der Botschafter der Arabischen Liga bei den Vereinten Nationen, Hussein Hassouna – und das "oft auf Kosten der Demokratie".

Auch kulturelle Faktoren trugen mitunter ihren Teil dazu bei, eine Demokratisierung in der arabischen Welt zu erschweren. Ein Beispiel ist Saudi-Arabien, das nie von einer europäischen Macht kolonisiert wurde und auch nur indirekt vom Nahostkonflikt betroffen ist. Die streng patriarchalische Gesellschaftsstruktur Saudi-Arabiens, gepaart mit dem bisweilen reaktionären wahhabitischen Islam, erschwert die Herausbildung von Meinungsfreiheit und Pluralismus. Die Behauptung, der Islam oder die arabische Mentalität würden generell eine Demokratisierung verhindern, lässt sich aber schwerlich aufrechterhalten. So hat es in den achtziger und neunziger Jahren in diversen arabischen Ländern – Algerien, Jordanien, Jemen – demokratische Reformen gegeben, die vorübergehend Parteienpluralismus, Meinungsfreiheit und Parlamentswahlen mit sich brachten. Wenngleich diese Reformen bald wieder im Sande verliefen, bleibt jedoch entscheidend, dass die Mehrheit der Bevölkerung die neuen Freiheiten begrüßte und reichlich Gebrauch von ihnen machte. Auch mehren sich die Stimmen in der arabischen Welt, die die Menschenrechtsverletzungen ihrer Regime verurteilen.

Nicht zuletzt die fehlende Meinungsfreiheit verhindert eine Demokratisierung. In fast allen arabischen Staaten sind Presse, Fernsehen und Radio staatlicher Gängelung ausgesetzt. Kritik an den Machthabern ist nicht erwünscht. So kann ein friedlicher Gedankenaustausch zwischen Vertretern unterschiedlicher Meinungen nicht zustande kommen. Der Erfolg des Fernsehsenders al-Dschazira zeigt aber, dass sich die arabische Bevölkerung einen solchen Pluralismus wünscht. Al-Dschazira ist im Besitz des Königshauses von Katar, aber in seiner Arbeit weitgehend unabhängig und wird über Satellit in die gesamte arabische Welt ausgestrahlt. Der Fernsehsender war bis zum Herbst 2001 vor allem berühmt für seine Live-Diskussionen, bei denen Islamisten, Nationalisten, Säkularisten und Feministen an einem Tisch saßen und auch israelische Politiker, Journalisten und Wissenschaftler zu Wort kamen. Deswegen zog der Fernsehsender häufig die Kritik anderer arabischer Regime auf sich, die ihm vorwarfen, Islamisten und anderen Oppositionellen eine Plattform zu geben und so die Bevölkerung gegen die arabischen Regierungen aufzuhetzen.

Ähnlich argumentierten die USA während des Krieges gegen Afghanistan im Herbst 2001, indem sie al-Dschazira mit dem Vorwurf bedachten, anti-amerikanische Propaganda zu betreiben und damit den Terrorismus zu unterstützen. Der Sender hatte unter anderem mehrere Videobotschaften Osama bin Ladens ausgestrahlt. Andererseits aber drängten amerikanische Politiker darauf, von al-Dschazira interviewt zu werden, um so ihre Sicht vor der arabischen Öffentlichkeit darlegen zu können. Im Februar 2002 ging al-Dschazira ein Kooperationsabkommen mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen ein.

QuellentextSpagat zwischen zwei Welten

Herr Helal, Sie haben Ihr Handwerk bei der BBC gelernt. Ist die Arbeitsweise des britischen Journalismus-Flaggschiffs auch die von Al Dschasira?

Ibrahim Helal: Wir arbeiten nach einem mehr oder weniger internationalen Standard. Viele Dinge haben wir vom westlichen Journalismus übernommen, so sichern wir uns durch doppelte Quellen ab. [...] Meinung und Gegenmeinung – das ist unser Prinzip. Wir machen unserem Publikum jede Auffassung zugänglich.

Wie finanziert sich der Sender?

Ibrahim Helal: Die Regierung von Katar hat uns für die ersten fünf Jahre, von 1996 bis 2001, ein Darlehen gewährt. Zwar sind wir davon immer noch nicht total unabhängig, aber wir haben inzwischen auch andere Geldquellen erschlossen. Rund ein Fünftel unseres Etats bestreiten wir aus Werbung.

Mohamed Al Ali: Außerdem verkaufen wir die Rechte an unseren Bildern an Nachrichtenagenturen und Fernsehsender weiter. Insgesamt haben wir ein Budget von 30 Millionen US-Dollar pro Jahr bei insgesamt 500 Mitarbeitern.

Wie kommt man damit aus?

Ibrahim Helal: Bei uns arbeiten Leute ehrenamtlich mit, die den Traum eines freien Senders verwirklichen wollen.

Sind Sie jetzt wirklich unabhängig von Ihrer Regierung?

Mohamed Al Ali: Die Regierung hat sich nie eingemischt, sie will einen freien Fernsehsender. Wenn sie das ändern und damit ihr Image wechseln würde, würde sie auch riskieren, die positive Resonanz zu verlieren. Inzwischen ist jeder Eingriff sehr gefährlich, denn Al Dschasira ist dabei, ein weltweiter Sender zu werden.

[...] Ibrahim Helal: [...] Al Dschasira hat den Vorteil, ein Sender nach westlicher Art in der muslimischen Welt zu sein. Deshalb werden wir auf beiden Seiten respektiert.

Warum arbeiten Sie jetzt mit dem ZDF zusammen? Das ZDF ist zwar ein großes Haus, aber kein Nachrichtenkanal?

Mohamed Al Ali: Das ZDF hat sein eigenes System, Nachrichten zu machen. Wir würden gern gegenseitig unsere Einrichtungen in der Welt nutzen. Wir wollen durch Erfahrungsaustausch, in der Ausbildung, beim Austausch von Bildern und Informationen zusammenarbeiten.

Welche Ziele haben Sie sich für die nächsten zehn Jahre gesetzt?

Ibrahim Helal: Wir wollen nicht das erste und einzige arabische Fernsehen bleiben, sondern wir wollen unabhängige arabische Medien, und wir wollen verschiedene Ansichten hören. Wenn man sich eine gute Zukunft für die Menschen im arabischen Raum wünscht, müssen sich die Medien öffnen. Die Medien sind die einzige Waffe für menschliche Entwicklung. Verlässliche Informationen waren in der arabischen Welt vor Al Dschasira sehr selten. Jetzt öffnen wir viele Münder und Ohren. Durch Al Dschasira öffnen sich auch andere Medien. Das ist wichtiger als unser eigener Erfolg.

Interview mit Ibrahim Helal und Mohamed Al Ali, Chefredakteur und Geschäftsführer des Nachrichtensenders Al Dschasira, "Der Krieg ist die Ursache unseres Erfolges", in: Frankfurter Rundschau vom 21. Februar 2002.