Die These, wonach der Islam eine zutiefst politische Religion sei, die eine Säkularisierung nach europäischem Muster bislang nicht zulasse, ist in der Öffentlichkeit zwar weit verbreitet, in der Wissenschaft ist sie jedoch umstritten. Die klassische Islamwissenschaft, die ihre Forschung überwiegend auf das Studium mittelalterlicher Quellen beschränkte, unterstützte die These von der Besonderheit der islamischen Welt. Weil Mohammed gleichermaßen als Prophet und als Staatsmann gewirkt habe, sei die Theokratie, also die Gottesherrschaft, von Beginn an die ideale islamische Staatsform gewesen. An diesem Ideal hätten sich die nachfolgenden Generationen messen lassen müssen. Und weil sie diesem Anspruch nie genügen konnten, sei das islamische Reich irgendwann in sich selbst zusammengefallen.
Paradigmenwechsel in der Forschung
Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat in der Forschung zur politischen Natur des Islam ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Vor allem Sozialwissenschaftler gehen von einer neuen Fragestellung aus. Sie versuchen nicht nachzuweisen, wie das ideale islamische Gemeinwesen wohl auszusehen habe, sondern untersuchen, wie sich die politischen Verhältnisse in der Realität entwickelten. Sie betrachten nicht das Ideal, sondern die Wirklichkeit und analysieren den Zustand der islamischen Gesellschaften in ihrer jeweiligen Ausprägung, ohne zu urteilen, ob diese sich nun "islamisch" verhalten oder nicht. "Nicht die Religion ist der Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft ist der Schlüssel zum Verständnis der Religion", wie es der libanesische Soziologe Halim Barakat ausdrückte. Dass die islamische Herrschaft zwangsläufig auf eine Theokratie hinauslaufe, ist demnach ein von Menschen formulierter Anspruch, der mithin keine universelle Gültigkeit beanspruchen könne.
Die beiden unterschiedlichen Ansätze wirken sich auch auf die Beurteilung der gegenwärtigen Lage in der islamischen Welt aus. Die Anhängerschaft der klassischen Variante sieht den Westen und den Islam zwangsläufig auf Konfrontationskurs, da ihre Wertesysteme nicht zusammenpassten und beide Seiten den Rest der Welt von ihrer jeweiligen Überlegenheit überzeugen wollten. Der "Krieg gegen den Terrorismus", den die USA nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center und auf das Pentagon in Washington am 11. September 2001 ausriefen, wird von den Vertretern der klassischen Variante als Teil dieses globalen Konflikts eingeordnet.
Der bekannteste Vertreter der klassischen Variante auf westlicher Seite ist heute der amerikanische Politologe Samuel Huntington von der Harvard Universität. Sein Buch vom "Clash of Civilizations" ("Kampf der Kulturen") avancierte 1996 zum Weltbestseller und füllte nach dem 11. September erneut die Regale der Buchläden. Laut Huntington sind Islam und Demokratie unvereinbar, weil Muslime eine Trennung von Religion und Politik nicht akzeptieren könnten. Außerdem seien Muslime nicht in der Lage, anderen Religionen Toleranz entgegenzubringen; die Grundlagen des islamischen Glaubens verlangten von seinen Angehörigen, Andersgläubige notfalls mit Gewalt unter die Herrschaft des Islam zu zwingen.
Damit vertreten Wissenschaftler wie Huntington den gleichen Standpunkt wie diejenigen, die sie als die Feinde des Westens bezeichnen: die Islamisten, die Vertreter eines puristischen, konsequent politischen Verständnisses des Islam. Auch sie glauben genau definieren zu können, was islamisch ist und was nicht; auch sie halten den Islam für ein allumfassendes System, das unabhängig von Zeit und Raum Gültigkeit hat. Der zum Dogma erhobene Grundsatz, Religion und Politik gehörten im Islam zwangsläufig zusammen, stammt ebenfalls von ihnen. Die Islamisten haben es geschafft, im Westen als die eigentlichen Vertreter des Islam angesehen zu werden – obwohl sie nur eine bestimmte politische Ideologie vertreten, die zudem weniger als ein Jahrhundert alt ist.
Wie aber ist dann "der Islam" zu verstehen, wenn nicht so, wie ihn die Islamisten oder Wissenschaftler wie Huntington definieren? Bei einem Blick auf die konkrete Lebenswelt von Muslimen lässt sich feststellen, dass es den einheitlichen Islam, wie ihn die Islamisten propagieren, in der Realität nicht gibt. Vielmehr passen sich Muslime bislang meist den jeweiligen Bedingungen an, die sie vorfinden. So leben in Europa mehrere Millionen Muslime. Sie sind gegenüber den Nichtmuslimen deutlich in der Minderheit, und die staatlichen Systeme, in denen sie leben, sind keine islamischen Staaten. Muslime als Minderheit sind im klassischen islamischen Recht aber gar nicht vorgesehen. Sie sollten in einem solchen Fall entweder auf die Islamisierung der Mehrheitsgesellschaft hinarbeiten, oder, wenn sie daran scheitern, in das Dar al-Islam, das Haus des Islam, zurückkehren. Die überwiegende Mehrheit der europäischen Muslime arrangiert sich aber mit ihrer Minderheitensituation. Viele von ihnen nehmen sogar aktiv am demokratischen Leben der jeweiligen Länder teil und fühlen sich dennoch als ebenso gute Muslime wie ihre Glaubensbrüder und -schwestern in einem islamischen Land. Zwar gibt es in Europa extremistische Organisationen, die von der Weltherrschaft des Islam träumen mögen. Ihre Anhängerschaft ist aber vergleichsweise gering. Laut einer Umfrage des Zentrums für Türkeistudien in Essen fühlen sich jedenfalls 70 Prozent der türkischen Muslime in Deutschland zuhause.
Der Islam ist, so die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer, "überspitzt ausgedrückt, weitgehend das, was Muslime an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit als islamisch definieren und praktizieren". Es gibt aber dennoch im Islam allgemeingültige Regelungen, die die Muslime weltweit verbinden. Doch diese beziehen sich meist auf grundlegende kultische Handlungen wie das Fasten, Beten oder die Pilgerfahrt nach Mekka. Dass der Islam dennoch als eine zutiefst politische Religion betrachtet wird, in der es keine Trennung zwischen Weltlichem und Religiösem geben könne, hat etwas mit der Entstehungsgeschichte dieser Religion zu tun.
QuellentextFünf Säulen des Islam
Die grundlegenden religiösen Pflichten der Muslime sind als die Fünf Säulen bekannt.
1. Shahada – das Glaubensbekenntnis nach der Formel: Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist. Die shi'itische Minderheit fügt dem die Worte hinzu: ,Ali ist der Freund Gottes'.
2. Salat – Anbetung. Zuweilen auch als "Gebet" übersetzt, nimmt salat die Form einer rituellen Prostration [sich niederwerfen, Anm. d. Red.] an, bei der die präzise Ausführung der Körperbewegungen genauso wichtig ist wie die begleitend stattfindende geistige Aktivität. Sunnitische Muslime sollen salat fünfmal am Tage verrichten: in der Morgendämmerung, am Mittag, mitten am Nachmittag, nach Sonnenuntergang sowie am Abend. Die Gläubigen müssen sich im Zustand ritueller Reinheit befinden [...]. Salat kann praktisch überall verrichtet werden, vorausgesetzt, der Betende wendet sich der qibla zu – der Richtung, in der die Ka'aba in Mekka liegt. Am Freitag wird mittags das Gebet in der Gemeinde verrichtet, zu dem sich alle erwachsenen männlichen Mitglieder der Gemeinde versammeln. Männer und Frauen bleiben für gewöhnlich getrennt; die Frauen nehmen hinter den Männern oder in einem abgeschirmten Teil der Moschee am Gottesdienst teil. In der Regel hält der Imam oder Vorbeter eine Predigt. [...]
3. Zakat – Almosengeben / obligatorische Wohlfahrtsspende. Diese Steuer ist einmal pro Jahr von allen erwachsenen Muslimen zu zahlen und wird auf 2,5 Prozent des Kapitalvermögens taxiert, über das jemand zusätzlich zu einem als nisab bekannten Minimum verfügt. Nisab umfasst für den Viehbestand zum Beispiel fünf Kamele, dreißig Kühe [...] oder vierzig Schafe oder Ziegen. Zakat ist für Bankguthaben, Edelmetalle, in den Verkehr gebrachte Handelsware (nicht aber für persönliche Besitztümer wie Autos, Kleidung, Häuser und Schmuck), den Viehbestand und eingefahrene Ernte von bebautem Land zu leisten. Die Empfänger sollten arm und bedürftig sein. In der Vergangenheit wurde zakat von der muslimischen Regierung eingezogen und nach althergebrachtem Schema verteilt. Heutzutage ist das Almosenspenden der Gewissensentscheidung des Gläubigen überlassen.
4. Saum – das Fasten während Ramadan. Gefastet wird im heiligen Monat Ramadan, dem neunten Monat des Mondkalenders, tagsüber, solange es hell ist. Das Fastengebot bezieht sich auf Essen, Trinken, Rauchen und Geschlechtsverkehr. Das Fasten beginnt mit dem Morgengrauen und endet mit Sonnenuntergang. [...] Der Ramadan bietet traditionell Gelegenheit für Familienzusammenkünfte wie auch für religiöse Besinnung. Es gilt als besonders verdienstvoll, während des heiligen Monats den gesamten Koran zu rezitieren. Nach der Überlieferung war es der 27. Ramadan, die "Nacht der Macht", als der Koran "herabkam".
5. Hajj – Pilgerfahrt nach Mekka. Die Erfüllung dieser sehr weitgehenden und anspruchsvollen religiösen Pflicht wird von jedem und jeder muslimischen Erwachsenen mindestens einmal im Leben gefordert. Die jährliche Pilgerfahrt oder Hajj findet während der letzten zehn Tage des zwölften Mondmonats (Dhu'l al Hijja) statt und erreicht ihren Höhepunkt mit dem Opferfest ('Id al-Adha). [...] Die kleinere Wallfahrt oder 'Umra kann zu jeder Zeit des Jahres verrichtet werden. [...] Die [...] zu verrichtenden Rituale beinhalten: Tawaf, das Umschreiten der Ka'ba; Sa'i, den siebenmaligen Lauf zwischen den beiden Hügeln Safa und Marwa; [...] das "Verweilen" in der Ebene am Berg 'Arafat, einige Kilometer außerhalb von Mekka; der "Ansturm" durch die enge Talschlucht von Muzdalifa; die "Steinigung" der drei Pfeiler, die den Satan darstellen; das Schlachten eines Opfertiers in Mina [...].
Malise Ruthven, Der Islam. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2000, S. 193 ff.