Zur Zeit sind viele Schulen dabei, über gezielte Trainingsprogramme Schülerinnen und Schüler, insbesondere der Klassen neun und zehn, zu befähigen, Streitigkeiten unter sich selbstverantwortlich zu regeln.
Es wäre falsch, diesen Ansatz als schulspezifisch anzusehen. Mediation – das ist eigentlich der Oberbegriff – stammt sowohl aus dem familiären und nachbarschaftlichen Umfeld als auch aus der Arbeitswelt, der Verwaltung und der Politik. Auch der "Täter-Opfer-Ausgleich", als Entlastung von und Alternative zu Gerichtsverfahren für bestimmte Delikte gedacht, lebt von denselben Grundprinzipien. Elemente der Streitschlichtung haben sowohl in der Schule als auch in der außerschulischen Jugendarbeit, im Bereich kleinerer Straftaten, der Schiedsgerichtbarkeit und im Berufsleben ihren Platz. Auch die Streik-Schlichtung zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften kennt den "Mediator". Die Konzentration auf den schulischen Bereich mag hier exemplarischen Charakter haben und als "pars pro toto" dienen.
Streitschlichtungs-Programm
Streitschlichten will gelernt sein. Und deshalb steht für die Vermittler, die Mediatoren, am Anfang das Training: Aktives Zuhören, sicheres Auftreten, Gerechtigkeitssinn, Erkennen von Stimmungen, Eingehen auf Gefühle der Streithähne, Gesprächsführung. Streitschlichtende wollen Vertrauen erwerben und verschwiegen sein. Und so gehen sie im Allgemeinen vor:
1. Schlichtung einleiten
Beispiel: Ein Streit hat zwei Mitschüler in Rage gebracht. Der Streitschlichter nimmt sich Zeit für den Konflikt und verständigt sich mit den Rivalen, dass sie dem jeweils anderen zuhören, ohne ihn zu unterbrechen oder zu beschimpfen.
2. Sachverhalt klären
Die Kontrahenten setzen sich zusammen und legen ihre Positionen dar. Der Vermittler sorgt dafür, dass die Streithähne ihre unterschiedliche Auffassung und Wahrnehmung klar und deutlich formulieren. Sie sollen sich gegenseitig verstehen, ein Stück "in den Schuhen des anderen laufen". Es geht nicht um Schuldzuweisung, sondern um die Fragen, warum es so gekommen ist, warum man so reagiert hat.
3. Lösungen suchen und Verständigung finden
Gemeinsam werden Lösungsmöglichkeiten gesucht. Es geht um zwei Hauptfragen: "Was bin ich bereit zu tun?" und "Was erwarte ich vom anderen?" Es darf keine Gewinner und Verlierer geben. Beide müssen mit den Lösungen leben können.
4. Vereinbarungen treffen und schriftlich festhalten
Die Kontrahenten finden einen Weg, das zu erreichen, was sie von Anfang an wollten. Die Vereinbarung wird schriftlich festgehalten und unterschrieben. Das erhöht die Verpflichtung. Mit der Vereinbarung verbinden sich Wiedergutmachung, Versöhnung und künftiges Verhalten.
Nach: PZ-Information 14/97, Streitschlichtung durch Schülerinnen und Schüler, Pädagogisches Zentrum, Bad Kreuznach.Link http://www.bildungrp.de/PZ/p3info/2000.htm
Will man ein solches Programm in einer Schule fest implantieren, so bedarf es eines gezielten einführenden Trainings für die Mediatoren und einer begleitenden Betreuung durch einen Lehrer oder Sozialarbeiter. Einen besonderen Gewinn daraus beziehen vor allem die zu Mediatoren ausgebildeten Schülerinnen und Schüler. Aber das Programm strahlt vieles aus: Engagement und Zivilcourage "machen Schule" und das Verhältnis Schüler-Lehrer entwickelt sich.
Es lohnt sich auch, Elemente eines solchen Programms zum Inhalt von Unterricht zu machen, um mit Hilfe von Fällen und Rollenspielen einige bedeutsame Lernziele ins Blickfeld zu rücken; so können zum Beispiel verbale Reaktionen in einem Konflikt analysiert und erprobt und in ihren Wirkungen und Folgen untersucht werden. Das sind Beiträge zur Deeskalation und zur Vermeidung von Eskalation.
Zwei Beispiele mögen das veranschaulichen:
"Ein Mitschüler hat es nach Schulabschluss sehr eilig und reißt im Vorbeilaufen dein Fahrrad um.
Deine möglichen verbalen Reaktionen sind
Bist du bescheuert, immer schmeißt du mein Fahrrad um!
Wenn du mein teures Fahrrad absichtlich umschmeißt, ...
Es ärgert mich, dass du mein Fahrrad umgerissen hast. Es ist noch fast neu, und ich möchte nicht, dass es Kratzer bekommt.
Kannst du nicht aufpassen? Mein Fahrrad hat bestimmt jede Menge Kratzer, und du bist schuld!
(weitere eigene Formulierung)"
"Deine Nachbarin hat ihre Hausaufgaben nicht vollständig. Sie nimmt sich in der Pause einfach dein Heft, um abzuschreiben.
Deine möglichen verbalen Reaktionen sind:
Eigentlich habe ich ja nichts dagegen, dass du die Hausaufgaben bei mir abschreibst. Aber ich möchte, dass du mich vorher fragst.
Das sage ich der Lehrerin!
Du faule Sau! Immer schreibst du die Hausaufgaben bei mir ab. Gib mir sofort mein Heft zurück, du Blöde.
Na, hast du die Hausaufgaben schon wieder nicht kapiert?
(weitere eigene Formulierung)"
PZ-Information, a.a.O.
Daraus lässt sich mit Schülerinnen und Schüler schrittweise die aggressionsmindernde Funktion von "Ich-Botschaften" erarbeiten, mit denen man ausdrückt, wie man das Verhalten des anderen empfindet und auf derbe Schuldzuweisung verzichtet.
Die beschriebenen Szenen lassen sich unschwer in den Bereich der außerschulischen Jugendarbeit transferieren oder in eine Auseinandersetzung am Arbeitsplatz zwischen Kollegen oder zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten.
In Ansätzen wird dabei auch "Körpersprache" einbezogen und in Übungshandeln erprobt, wie man auch auf diese Weise locker bleibt oder erfolgreich schlichten kann. So werden etwa folgende Grundregeln empfohlen, um "Ruhe auszustrahlen durch: entspanntes Gesicht (Stirn, Augenbrauen, Nase, Lippen), normal geöffnete Augen, entspannte Sitzhaltung, Arme locker, offene Hände. Langsame, fließende Bewegungen, lockere Schultern, gleichmäßige, sanfte Stimme, langsame Sprechweise mit Pausen" (nach: Karin Jeffereys/Ute Noack, Streiten Vermitteln Lösen. Das Schüler-Streit-Schlichterprogramm, Lichtenau 1999).
Viel häufiger als die Schüler sind Lehrer damit befasst, bei Streitigkeiten und Konfliktsituationen von Schülern zu "schlichten" bzw. zu intervenieren. Dafür sind die Elemente von Streitschlichterprogrammen ebenfalls hilfreich, auch wenn die Lehrerrolle über die des Mediators hinausgeht. Auch die Lehrperson benötigt Geduld und Geschick und die Kenntnis geeigneter Interventionsschritte, wobei in der Regel der Zielbestimmung eine gründliche Informationsermittlung vorausgeht.
Täter-Opfer-Ausgleich
Der Täter-Opfer-Ausgleich kann nicht die Strafgerichtsbarkeit ersetzen. Aber er ist in der Rechtsprechung nicht allein dafür "erfunden" und propagiert worden, um Entlastungseffekte für Strafverfahren zu erzielen. Es geht schon um spezifische Vorteile, die in minder schweren Fällen, insbesondere bei Ersttätern, zur Wirkung kommen können. Die Parallelen zu Elementen der Streitschlichtung sind unübersehbar, auch wenn es hier um Straftatbestände und eindeutige Opfer-Täter-Beziehung geht. Ein Beispiel soll das verdeutlichen:
"Markus hatte Tobias vor einem Café in Cochem an der Mosel krankenhausreif geschlagen, weil er glaubte, von ihm ausgelacht zu werden. Tobias erstattete Anzeige wegen Körperverletzung. Das Verfahren hätte den üblichen Verlauf durch die Instanzen genommen, wäre nicht der Jugendstaatsanwalt auf die Idee des Ausgleichs gekommen. So landete die Akte auf dem Schreibtisch des Jugendgerichtshelfers Thomas Mauer. Er bat Markus ins Jugendamt. Der fühlte sich immer noch unschuldig. Dennoch stimmte er einem Treffen mit Tobias zu. Es kam zu einem klärenden Gespräch zwischen Täter und Opfer. Vor dem Jugendgerichtshelfer schilderte jeder den Fall aus seiner Sicht. [...] Tobias berichtete von seinen Verletzungen und Schmerzen. "Das tut mit dann doch leid", gab Markus kleinlaut zu. Schließlich unterschrieben beide einen Vertrag: Markus zahlt 200 DM Schmerzensgeld an Tobias, dafür zieht der seine Anzeige zurück. Da Markus "blank" war, wurde das Geld aus dem eigens für den Täter-Opfer-Ausgleich eingerichteten Opferfonds an Tobias gezahlt. Dafür absolvierte Markus beim Sozialdienst der Caritas 20 Arbeitsstunden."
Jugend und Gewalt. Eine Dokumentation der Rhein-Zeitung vom Dezember 1998.
Aus diesem Fall werden spezifische Vorteile des Täter-Opfer-Ausgleichs erkennbar:
Der gesamte Rahmen wird nicht von den Regularien und formalisierten Verfahren eines Prozesses, sondern von einer Gesprächssituation geprägt.
Die Begegnung mit dem Opfer macht dem Täter drastisch klar, was er angerichtet hat. Es ist eine heilsame Gegenüberstellung. Auch wenn ein Täter recht "cool" in eine solche Auseinandersetzung geht, führt die Begegnung mit dem Opfer zur Betroffenheit; es wächst das Bewusstsein, einem anderen Schlimmes angetan zu haben.
Die moralische Aufarbeitung kann auch das Bewusstsein des Opfers beeinflussen und Verhärtungen vorbeugen.
Die Geschädigten können dabei über ihre Ängste und ihre Wut sprechen.
Die Strafe handeln Täter und Opfer aus; das geht mehr unter die Haut als ein Gerichtsurteil.
Manche Täter lernen im Täter-Opfer-Ausgleich, dass man Konflikte nicht nur mit den Fäusten, sondern auch in Gesprächen und durch eine Verständigung untereinander austragen kann.
Die Opfer sind wesentlich zufriedener mit dem Täter-Opfer-Ausgleich, weil sie sofort Schadenersatz bekommen und nicht auf die Zivilklage angewiesen sind.
Die Praxis hat gezeigt, dass ein Täter-Opfer-Ausgleich nur sinnvoll ist, wenn dadurch keine erneute Traumatisierung des Opfers erfolgt.
Der Täter-Opfer-Ausgleich kann nur durchgeführt werden bzw. gelingen, wenn die Schuldfrage klar, wenn der Täter geständig ist und wenn das Opfer einwilligt. Selbstverständlich müssen die im Täter-Opfer-Ausgleich gefundenen Vereinbarungen auch Zustimmung finden. Und wenn keine Regelung zustande kommt, führt kein Weg an einem gerichtlichen Verfahren vorbei. Auch ein Jugendgericht ist bemüht, einige Aspekte des Täter-Opfer-Ausgleichs in ein Gerichtsverfahren zu integrieren.
Deeskalations-Training
Mit den Methoden des Deeskalations-Trainings rückt man den Erscheinungen von Gewalt noch näher. Bekannt ist etwa die Konzeption, wie sie der "Arbeitskreis SOS-Rassismus NRW" entwickelt hat (vgl. "Spiele, Impulse und Übungen. Zur Thematisierung von Gewalt und Rassismus in der Jugendarbeit, Schule und Bildungsarbeit", 1996). Dem Titel dieses Trainingsbuches entsprechend wendet sich das Seminarkonzept an "Multiplikatoren in der Kinder- und Jugendarbeit, Schule, Kirche, Gewerkschaft, Polizei, in den Parteien und allen gesellschaftlichen Gruppen".
Leitfragen dabei sind: Wie kann man möglichen Gewaltsituationen aus dem Weg gehen? Wie vermeide ich "Opferverhalten", und wie reagiere ich, wenn mir Gewalt droht? Wie kann ich deeskalierend wirken, wenn anderen Gewalt droht? Wie kann ich helfen? Der Schwerpunkt liegt auf der Handlungskomponente – womit die Zivilcourage in den Vordergrund rückt – für die allerdings Übungen und Reflexionen unabdingbar und auch Grundkenntnisse und Sensibilisierungen erforderlich sind.
Man lernt Erfahrungssätze, die man verinnerlichen sollte. Wenn man in Gefahr gerät, sollte man nicht allgemein um Hilfe rufen, sondern konkret: "Sie im blauen Mantel, rufen Sie die Polizei, helfen Sie mir." So werden im Übungshandeln Verhaltensweisen erprobt und reflektiert und "Regeln" für Gefahrensituationen erarbeitet, die sich im Ernstfall als hilfreich erweisen können.
So ist in den Ratschlägen für das Verhalten im Bedrohungsfall, die in zehn Punkten zusammengefasst werden, gleich unter Punkt eins gleichsam ein Leitsatz verankert. Die Ratschläge müssen induktiv über Fälle und Übungshandeln gründlich erarbeitet und gegebenenfalls dann von der Gruppe selbst mit eigenen Worten formuliert werden. Wichtig ist, dass man von der Richtigkeit überzeugt ist.
Ratschläge zum Verhalten in Bedrohungssituationen:
1. Vorbereiten!
Bereite dich auf mögliche Bedrohungssituationen seelisch vor: Spiel Situationen für dich allein und im Gespräch mit anderen durch. Werde dir grundsätzlich darüber klar, zu welchem persönlichen Risiko du bereit bist. Es ist besser, sofort die Polizei zu alarmieren und Hilfe herbeizuholen, als [...] gar nichts zu tun.
2. Ruhig bleiben!
Panik und Hektik vermeiden und möglichst keine hastigen Bewegungen machen, die reflexartige Reaktionen herausfordern könnten. Wenn ich "in mir ruhe", bin ich kreativer in meinen Handlungen und wirke meist auch auf andere Beteiligte beruhigend.
3. Aktiv werden!
Wichtig ist, sich vor Angst nicht lähmen zu lassen. Eine Kleinigkeit zu tun ist besser, als über große Heldentaten nachzudenken. Wenn du Zeuge oder Zeugin von Gewalt bist: Zeig, dass du bereit bist, gemäß deinen Möglichkeiten einzugreifen. Ein einziger Schritt, ein kurzes Ansprechen, jede Aktion verändert die Situation und kann andere dazu anregen, ihrerseits einzugreifen.
4. Geh aus der Dir zugewiesenen Opferrolle!
Wenn du angegriffen wirst: Flehe nicht, und verhalte dich nicht unterwürfig. Sei dir über Deine Prioritäten im klaren und zeige deutlich, was du willst. [...]
5. Halte den Kontakt zum Angreifer!
Stelle Blickkontakt her und versuche, Kommunikation herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten.
6. Reden und Zuhören!
Teile das Offensichtliche mit, sprich ruhig, laut und deutlich. Hör zu, was dein Gegner bzw. Angreifer sagt. Aus seinen Antworten kannst du deine nächsten Schritte ableiten.
7. Nicht drohen oder beleidigen!
Mach keine geringschätzigen Äußerungen über den Angreifer. Versuche nicht, ihn einzuschüchtern, ihm zu drohen oder Angst zu machen. Kritisier sein Verhalten, aber werte ihn persönlich nicht ab.
8. Hol Dir Hilfe!
Sprich nicht eine anonyme Masse an, sondern einzelne Personen. Dies gilt sowohl für Opfer als auch für Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie sind bereit zu helfen, wenn jemand anderes den ersten Schritt macht oder sie persönlich angesprochen werden.
9. Tu das Unerwartete!
Fall aus der Rolle, sei kreativ, und nutz den Überraschungseffekt zu deinem Vorteil aus.
10. Vermeide möglichst jeden Körperkontakt!
Wenn du jemandem zu Hilfe kommst, vermeide möglichst, den Angreifer anzufassen, es sei denn, ihr seid in der Überzahl, so dass ihr jemanden beruhigend festhalten könnt. Körperkontakt ist in der Regel eine Grenzüberschreitung, die zu weiterer Aggression führt. Wenn nötig, nimm lieber direkten Kontakt zum Opfer auf.
Aktives gewaltfreies Verhalten ist erlernbar.
Arbeitsgruppe SOS-Rassismus NRW, Rassismus begreifen. Was ich schon immer über Rassismus und Gewalt wissen wollte, 1997.
Sicherlich können Pädagogen und Sozialarbeiter hier vieles vermitteln. Viel hängt neben dem methodischen Geschick in den Trainingsformen auch von der Glaubwürdigkeit ab, von der Authenzität ab. Und in diesen Bereichen können Polizisten, die näher an Gewalterfahrungen sind, besonders überzeugend arbeiten, nicht, weil sie bessere Pädagogen sind, sondern weil die vorgeschlagenen Verhaltensweisen auf der Basis von Erfahrungen gründen.
Es gibt im übrigen nicht das Streitschlichtungs- oder das Deeskalationsprogramm, sondern zahlreiche an der jeweiligen Zielgruppe orientierte Variationen.
Stärkung der Zivilcourage
Der Ruf nach Stärkung der Zivilcourage als eine der Säulen gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit ist in den letzten Jahren, insbesondere auch im Sommer 2000, lauter geworden. Besonders eindringlich kommen diese Postulate in Plakaten von Polizei und Kommunen zum Ausdruck.
Das ist keine Neu-, sondern eine Rückbesinnung auf eine Tugend, die für das zwischenmenschliche Zusammenleben insgesamt und für die demokratische Ordnung unverzichtbar ist. Als "fortitudo" = Mut ist sie von der Antike an eine der vier "Kardinaltugenden", ein Pfeiler im Viergespann, das außerdem "Klugheit" (= Situationserfassung und Situationsbeurteilung), "Gerechtigkeit" und "Maß" umfasst.
Im schulischen und außerschulischen Bereich geht es um zwei Ziele. Zum einen bedarf es der Klärung, was Zivilcourage ist. Und zum anderen geht es um "Courage-Training". Jede Konfliktsituation ist von konkreten und situativen Faktoren geprägt; sie ist – trotz ähnlicher Grundmuster – einmaliger Natur. Zudem basiert Zivilcourage auf persönlichen Entscheidungen und kann nicht vorgeschrieben werden. Zivilcourage ist kein abhakbares, überprüfbares Lernziel.
Es ist nicht auszuschließen, dass Jugendliche gerade das Verhalten von Rechtsextremisten als besonders mutig einstufen. Das wäre ein Grund, das Viergespann der Kardinaltugenden einzuführen und mit Beispielen zu belegen, um zu verdeutlichen, dass Tugenden nicht isoliert, sondern nur im Verbund zur Anwendung kommen können. Mut, Zivilcourage ist zum Beispiel nicht von der Gerechtigkeit zu trennen. Für die Sekundarstufe I (zehn- bis 16-Jährige) ist es sicherlich günstig mit einem Fallbeispiel zu beginnen, wenn es sich anbietet, auch aus dem eigenen (schulischen) Umfeld. Es kann natürlich auch eine "typische" Konfliktsituation sein, die man der Gruppe schildern oder als Text präsentieren kann.
Das Gespräch darüber muss in der Frage münden, was man selbst getan hätte. Es geht um die eigene Betroffenheit. Über eine Ankreuzaufgabe kann man sich Merkmalen von Zivilcourage nähern, zum Beispiel: "Das verstehen Jugendliche unter Zivilcourage:
sich für andere einsetzen, auch wenn es einfacher wäre wegzusehen und wegzulaufen,
bereit sein, auch Nachteile in Kauf zu nehmen
sich nicht einschüchtern lassen
jemandem, der oder die in Not ist, helfen
seine Meinung sagen, auch wenn fast alle in der Gruppe anders denken
dem Anderen zeigen, dass man stärker ist
Hilfe holen, Anzeige erstatten, Täter beschreiben
nur auf die eigene Körperkraft vertrauen
Handeln statt nachdenken
Ein Arbeitsauftrag könnte lauten: Drei Aussagen kann man als falsch bezeichnen. Kreuze sie an. Kreuze dann drei Aussagen an, die du für besonders wichtig hältst. Begründe deine Meinung."
Danach kann man mit Schülerbeiträgen eine möglichst knappe allgemeine Erläuterung von Zivilcourage erarbeiten und mit einer vorliegenden vergleichen. Der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen definiert etwa folgendermaßen: "Zivilcourage heißt, einem Unrecht nicht tatenlos zuschauen, welches andere Dritten zufügen, auch dann, wenn einem selbst aus der Intervention (Einmischung) kein unmittelbarer Vorteil erwächst." Gerd Meyer, Professor an der Universität Tübingen, bestimmt Kriterien für Zivilcourage in sehr differenzierter Form:
Zivilcourage oder sozialer Mut
Zivilcourage ist eine Art prosozialen Handelns in bestimmten Situationen, die charakterisiert sind durch:
Ein Geschehen, das das subjektive Wert- oder Gerechtigkeitsempfinden einer Person verletzt;
einen daraus resultierenden Konflikt mit anderen;
Handlungsdruck, aber auch Handlungsspielraum;
Öffentlichkeit (mehr als zwei Personen sind anwesend);
ein reales oder subjektiv wahrgenommenes Machtungleichgewicht zum Nachteil dessen, der mutig handeln will, etwa in einer Minderheits-/Mehrheitssituation in Gruppen oder als Verhältnis der Über-/Unterordnung, oft verbunden mit Anpassungsdruck;
Risiken, das heißt der Erfolg zivilcouragierten Handelns ist unsicher und es sind eher Nachteile zu erwarten.
Die wichtigere Lektion für die Zivilcourage ist das Übungshandeln, um im Ernstfall auf Handlungskategorien und Verhaltensmöglichkeiten zurückgreifen zu können. Auch hier bieten sich vor allem Rollenspiele an. "Indem wir uns unsere Ängste und Handlungsgrenzen bewusst machen, erfahren wir auch gleichzeitig mehr über den Bereich, der zwischen diesen Grenzen liegt. Oft unterschätzen wir die Vielfalt unserer Möglichkeiten. In Rollenspielen und konkreten Übungen zum Umgang mit direkter Gewalt können wir neue kreative Antworten auf Konfliktsituationen entdecken. Verhaltenstraining bietet uns die Chance, bisher ungewohntes Verhalten auszuprobieren, einzuüben und zu reflektieren" (Eric Posselt, Handbuch "Schule ohne Rassismus").
Es gilt, geeignete Trainingssituationen zu finden. Und da bieten sich "undramatische Alltagssituationen" eher an, als brutale Aggressionsakte, wobei letztere nicht ausgeschlossen werden.
Zivilcourage wird Jugendlichen und Erwachsenen viel häufiger in Alltagssituationen abverlangt. Solche Situationen könnten sein:
Eine Schülerin wird von einem Lehrer ungerecht behandelt. Was tun die Mitschüler?
Ein Schüler wird Mobbing-Opfer einer Clique in der Klasse.
Eine Clique verlangt als Beitrittsritual einen Kaufhausdiebstahl.
Jugendliche geraten in eine Gesellschaft, in der Ausländerwitze erzählt werden.
Wie bei allen Rollenspielen muss die jeweilige Ausgangssituation detailliert beschrieben oder mit Rollenkarten vorbereitet werden. Ein Beispiel: Das Fußballturnier ist zu Ende, und nun wird gefeiert. Im Vereinshaus geht es hoch her. An einem der Tische sitzen ein paar ältere und jüngere Spieler zusammen, blödeln herum. Plötzlich fangen zwei der "Senioren" an, Türkenwitze zu erzählen. Die Jugendspieler Ralf und Thomas sind verunsichert. In ihrer Mannschaft spielen drei türkische Freunde mit, und einer von ihnen, Acif, sitzt sogar selbst mit am Tisch. Was sollen sie tun? Mitlachen, weil es nur ein Spaß ist? Mit Acif gemeinsam aufstehen und sich einen anderen Platz suchen? Oder sollen sie etwas gegen diese Witze sagen?
Frage an die Klasse: Wie würdet ihr euch verhalten? Erprobt verschiedene Verhaltensweisen im Rollenspiel und beobachtet die jeweiligen Reaktionen.
Eine solche Szene wird zunächst diskutiert und mehrfach von den Schülerinnen und Schülern durchgespielt und jedes Mal besprochen. Dabei werden Schwierigkeiten und Hemmungen analysiert sowie fehlende, angemessene und überzogene Reaktionen besprochen. Man wird rasch merken, dass es bei Stammtischsituationen nicht leicht ist, Zivilcourage zu zeigen. Aber in der beschriebenen Konstellation liegen auch Chancen; immerhin ist man zu zweit, und man kann zumindest dafür plädieren, auf Acif Rücksicht zu nehmen. Und man kann auch die Erfahrung machen, dass Zivilcourage ansteckt und auch die soziale Anerkennung fördern kann. Neben Rollenspielen kommt auch der Aufarbeitung eigener Erfahrungen (wann war ich mutig, wann war ich feige und warum?) eine wichtige Bedeutung zu. Oft sind es leider die Eltern, die Kindern und Jugendlichen raten, dass es immer besser ist, sich herauszuhalten. Auch hier kann man die Erfahrungen der Schüler durch die Vorgabe von Konfliktsituationen und Verhaltensmöglichkeiten ergänzen. Ein Beispiel:
"Mein Klassenkamerad Klaus tritt auf dem Schulhof nach einem jüngeren Schüler, der uns schon oft blöd angegrinst und geärgert hat. Der Schüler heult vor Schmerz und Wut.
(a) Da ich den Schüler auch nicht mag, versetze ich ihm ebenfalls einen Tritt.
(b) Ich grinse und freue mich, dass er einmal eine abgekriegt hat.
(c) Ich stelle mich zwischen den beiden und sage zu Klaus: "Es reicht."
(d) Ich ergreife deutlich Partei für den jüngeren Schüler.
(e) Ich versetze Klaus einen Schlag, weil man sich nicht an Schwächeren vergreift.
(f) (Weitere Verhaltensmöglichkeiten).
Gerd Meyer führt folgende Faktoren an, die für zivilcouragiertes Handeln förderlich sind:
"Selbstsicherheit im Auftreten gegenüber anderen, Handlungsfähigkeit und Entscheidungssicherheit, eine positive Selbsteinschätzung.
Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel.
Fähigkeit zur Reflexion, also über sich selbst oder eine Situation nachzudenken. Dazu gehört auch, eigene Angst zuzulassen und bewusst damit umzugehen bzw. sich nicht zu überfordern. Angst (zum Beispiel vor körperlicher Gewalt, vor Konflikteskalation, vor Isolation in der eigenen Gruppe, vor Verlust der Selbstkontrolle oder vor beruflichen Nachteilen) behindert zivilcouragiertes Handeln, aber Angst allein verhindert es auch nicht.
Fähigkeit, in Konflikten angemessen und flexibel zu reagieren.
Artikulations- und Argumentationsfähigkeit.
Sachkompetenz, Wissen und Kenntnis von Rechten und Pflichten, von Regeln und Verfahrensweisen.
Vor allem in gewalthaltigen Situationen: die Einschätzung der eigenen körperlichen Stärke und Geschicklichkeit im Verhältnis zum Gegenüber."
Die Ausdifferenzierung lässt erkennen, dass es sich eher um formulierte Lernziele für Erwachsene handelt.
Courage-Training hat keine Rambo-Figuren zum Ziel, die mit körperlicher Stärke oder mit Leichtsinn auftrumpfen. Die Frage nach der Zivilcourage ist schon dann positiv entschieden, wenn sich jemand aus der Passivität löst und Handlungsmöglichkeiten überprüft und wahrnimmt. Pädagogen, die Zivilcourage thematisieren, dürfen ihr eigenes Verhalten nicht "über" die Lerngruppe, sie müssen sich mit auf den Prüfstand stellen. Sicherlich gibt es in der Gesellschaft Beispiele für Zivilcourage. Und es macht auch Sinn, mutige Bürgerinnen und Bürger öffentlich auszuzeichnen und zu ehren sowie Schülerinnen und Schülern Schüler-Friedenspreise sowohl innerschulisch als auch landes- bzw. bundesweit zu verleihen.