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Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter | 27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus | bpb.de

27. Januar - Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus Editorial Wessen Gedenken? Wessen gedenken? Rassistische Gesinnung(en) Ausgewählte Opfergruppen Juden Sinti und Roma Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter "Gemeinschaftsfremde" und Kranke Homosexuelle Nicht angepasste Jugendliche Anmerkungen zur Erinnerungskultur Impressum

Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter

Gernot Jochheim

/ 4 Minuten zu lesen

Mit dem fortschreitenden Krieg herrschte ein eklatanter Mangel an Arbeitskräften in der deutschen Wirtschaft. Daher hatte das NS-Regime bereits nach dem "Polenfeldzug" die etwa 300.000 polnischen Kriegsgefangenen als Arbeitskräfte in Deutschland eingesetzt, überwiegend in der Landwirtschaft. Weitere Hunderttausende Polinnen und Polen wurden in der Folgezeit bei regelrechten Menschenjagden eingefangen, so dass schon im Frühsommer 1940 mehr als eine Million Menschen aus Polen im Deutschen Reich zur Zwangsarbeit eingesetzt waren. Nach den "Blitzsiegen" in West- und Nordeuropa kamen über eine Million französische Kriegsgefangene hinzu und weitere Arbeitskräfte aus den mit Nazi-Deutschland verbündeten Ländern und den besetzten Gebieten, darunter auch in geringer Zahl Freiwillige. Im Frühjahr 1941 betrug die Gesamtzahl ausländischer Arbeitskräfte im Reichsgebiet knapp drei Millionen.

Der Krieg gegen die Sowjetunion verschärfte den Arbeitskräftemangel in der deutschen Kriegswirtschaft weiter. Millionen Männer waren durch die Rekrutierungen aus allen Bereichen der Wirtschaft herausgezogen worden. Darüber hinaus erforderte der sich binnen weniger Monate abzeichnende Abnutzungskrieg im Osten eine nicht vorausgeplante Steigerung insbesondere der Rüstungsproduktion. Nun wurden auch sowjetische Kriegsgefangene und aus der Sowjetunion verschleppte Zivilisten als Arbeitskräfte im Reichsgebiet eingesetzt. Bis dahin hatte die NS-Führung deren Arbeitseinsatz aus rassistischen Erwägungen abgelehnt, da sie fürchtete, dass auf diese Weise in millionenfacher Zahl "rassisch minderwertige Fremdvölkische" nach Deutschland gelangen würden und möglicherweise die "Blutreinheit" des deutschen Volkes gefährden könnten. Letztendlich aber wurden die wirtschaftlichen Erfordernisse unabweisbar. Allein aus der Sowjetunion verschleppten die deutschen Arbeitsverwaltungen mit Unterstützung der Wehrmacht innerhalb von 2 ½ Jahren 2,5 Millionen zumeist junge Männer und Frauen zur Zwangsarbeit ins Reichsgebiet, also durchschnittlich mehr als 80.000 Menschen pro Monat.

Eine Gruppe von Menschen aus der Sowjetunion, die nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren, bei ihrer Ankunft im sauerländischen Meinerzhagen am 29. April 1944 (© Stadtarchiv Meinerzhagen)

Ende 1944 betrug die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte im Reichsgebiet knapp acht Millionen. Etwa zwei Millionen waren Kriegsgefangene und sechs Millionen "Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter", beinahe ausnahmslos Zwangsverschleppte. Fritz Sauckel, der "Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz", erklärte zu jenem Zeitpunkt, dass "keine 200.000" freiwillig nach Deutschland gekommen seien. 2,8 Millionen der Menschen stammten aus der Sowjetunion, 1,7 Millionen aus Polen, gut 1,2 Millionen (weitgehend Kriegsgefangene) aus Frankreich. Mehr als die Hälfte der aus Polen und der Sowjetunion Verschleppten waren Frauen, das Durchschnittsalter lag bei 20 Jahren. Die Arbeitspflicht galt auch für Kinder, anfänglich ab 14, später sogar ab zehn Jahren.

Über ein Viertel aller im Deutschen Reich Beschäftigten waren 1944 Ausländer. Praktisch gab es in jedem Betrieb – vom Großunternehmen bis zum Handwerksbetrieb - Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. In der Landwirtschaft betrug ihr Anteil 46 Prozent, in der Industrie knapp 40 Prozent, davon in der Rüstungsindustrie etwa 50 Prozent. In großer Zahl wurden sie auch im "Luftschutzdienst" und zum Räumen von Trümmern eingesetzt. Sie waren zudem in allen öffentlichen Dienstleistungseinrichtungen (Verkehrs- wie Versorgungsbetrieben, Müllabfuhr und Straßenreinigung) tätig, ebenso wie in Einrichtungen der beiden christlichen Großkirchen, etwa in Krankenhäusern oder auf Friedhöfen. In über 200.000 Haushalten arbeiteten russische oder polnische Zwangsarbeiterinnen als Dienstkräfte. In den Städten und Orten des Deutschen Reiches gab es etwa 20.000 Barackenlager oder andere Massenunterkünfte, allein in Berlin beispielsweise über 1000 Lager mit bis zu 400.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. An der Organisation dieses "Ausländer-Einsatzes" waren rund 500.000 Deutsche direkt beteiligt.

Die Behandlung der gezwungenen Arbeitskräfte, ihre Unterkünfte und ihre Verpflegung unterschieden sich je nach dem Stellenwert, der ihnen als Menschen gemäß der rassistischen NS-Lehre zugeschrieben wurde. So sahen sich "Westarbeiter" tendenziell besser behandelt als "Ostarbeiter" und französische Kriegsgefangene besser als sowjetische, die als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, nachdem die NS-Führung im Einvernehmen mit der Wehrmacht bereits etwa 3,3 Millionen von ihnen hatte verhungern lassen. Von den Ostarbeiterinnen und Ostarbeitern sind Zehntausende wegen unzulänglicher Versorgung und bewusster Vernachlässigung im Krankheitsfall umgekommen. Zu Tausenden wurden nicht mehr Arbeitsfähige in den Anlagen der Krankenmorde umgebracht. Bei alliierten Luftangriffen hatten sie zumeist erheblich geringere Schutzmöglichkeiten als die deutsche Bevölkerung. Unabhängig davon, wie viel der Einzelne in Deutschland von den Gewaltverbrechen des NS-Regimes wissen oder nicht wissen konnte, war die Lage der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter für jedermann offen sichtbar. Millionen dieser Menschen gehörten in allen Teilen des Reiches zum Alltag während des Krieges.

Die Zwangsarbeit während der NS-Herrschaft hatte noch andere Erscheinungsformen. Nach dem aktuellen Forschungsstand wurden vom NS-Regime im Reichsgebiet und in den besetzten Gebieten etwa 20 Millionen Menschen zu anhaltenden Arbeitsleistungen gezwungen, beispielsweise alle Gefangenen in den Konzentrations- und Arbeitslagern sowie Juden und Sinti und Roma vor ihrer Deportation und Ermordung. In den besetzten Gebieten wurden Zivilisten – in Osteuropa überwiegend Frauen – in großer Zahl zu Erdarbeiten und dem Bau militärischer Anlagen gezwungen.

Das Gedenken in Waltrop an das Entbindungs- und Abtreibungslager für "Ostarbeiterinnen"

Im Frühjahr 1943 wurde in Holthausen, nahe der Stadt Waltrop, ein Entbindungs- und Abtreibungslager für Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa errichtet. Viele der Frauen waren schwanger, als sie nach Deutschland verschleppt wurden, andere wurden es, zumeist aufgrund der Beziehungen zu Zwangsarbeitern. Die Anlage bestand aus neun Baracken, darunter einer "Strafbaracke" – mit einem fortwährend sichtbaren Galgen davor – , in der SS-Angehörige die Frauen misshandelten und ermordeten. Das Lager war für "bis zu 500 Personen" ausgelegt und damit die größte Einrichtung dieser Art im Deutschen Reich. Betreut wurden die Frauen von kriegsgefangenen Ärztinnen der sowjetischen Armee.

Nach den vorhandenen Aufzeichnungen wurden in diesem Lager von polnischen, russischen und ukrainischen Zwangsarbeiterinnen 1273 Kinder geboren. Die Zahl der Abtreibungen ist unbekannt. Vermutlich ist in Waltrop die Hälfte der Neugeborenen gestorben. Allein für Westfalen besagen die (allerdings unvollständigen) Angaben, dass über 1300 Kinder von "Ostarbeiterinnen" umgekommen sind, in der Regel durch bewusste Unterversorgung. Mitte der 1990er Jahre wurde die Öffentlichkeit allmählich auf das Geschehene aufmerksam. Am Ort des Lagers entstand ein Mahnzeichen (siehe unten). Unter Anleitung des Bildhauers und Schriftstellers Paul Reding schufen Jugendliche aus dem Bistum Münster aus bearbeiteten Eichenstämmen ein Halbrund aus figürlichen Holzstelen unterschiedlicher Höhe. Die hohen symbolisieren die Frauen, die kleineren die Kinder. Drei liegende Stelen sollen an das mutwillig herbeigeführte Sterben von Neugeborenen erinnern. Auf einige der Stelen ist das Zeichen "OST" gemalt.

Mahnzeichen zum gedenken an die Opfer des Entbindungs- und Abtreibungslager für "Ostarbeiterinnen" in Waltrop. (© DFietrich Hackenberg - www.lichtbild.org)

Literaturhinweise und Internetadressen


Goschler, Constantin (Hg.): Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts. 4 Bände. Göttingen 2012

Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001, 442 S.

Pohl, Dieter / Sebta, Tanja (Hg.): Zwangsarbeit in Hitlers Europa. Besatzung – Arbeit – Folgen. Berlin 2013, 495 S.

Schwarze, Gisela: Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg. Essen 1997, 336 S.

Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. Ausstellungs­katalog. Weimar 2010, 276 S. (Externer Link: http://www.ausstellung-zwangsarbeit.org/)

Externer Link: www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit (Portal zur Zwangsarbeit im NS-Staat)

Externer Link: www.stiftung-evz.de (Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft")

Externer Link: www.zwangsarbeiter-s-h.de

Fussnoten

Dr. Gernot Jochheim ist Friedens- und Konfliktforscher und war Lehrer. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte, Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit und Probleme politisch-gesellschaftlichen Wandels sowie im pädagogischen Bereich Gewaltprävention und Erinnerungskultur.