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Rassistische Gesinnung(en) | 27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus | bpb.de

27. Januar - Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus Editorial Wessen Gedenken? Wessen gedenken? Rassistische Gesinnung(en) Ausgewählte Opfergruppen Juden Sinti und Roma Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter "Gemeinschaftsfremde" und Kranke Homosexuelle Nicht angepasste Jugendliche Anmerkungen zur Erinnerungskultur Impressum

Rassistische Gesinnung(en)

Gernot Jochheim

/ 6 Minuten zu lesen

Die rassistische Weltsicht der NS-Ideologie steht in einem unheilvollen Traditionsstrang der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte. Ihre Ideen und Denkbilder nahmen ihren Ausgang von der sogenannten Rassenlehre, die in früheren Zeiten den meisten Menschen in Europa als plausibel erschienen sein dürfte. Die Rassenlehre teilte Menschen nach äußeren Merkmalen in Gruppen ein und bezeichnete Menschen mit bestimmten gleichen oder ähnlichen Merkmalen als eine "Rasse", die Nachkommen verschiedener "Rassen" als "Mischlinge".

Die Rassenlehre bediente sich zur Verifizierung ihrer Behauptungen Methoden, die in ihrer Zeit jeweils als wissenschaftlich galten. Mit der Bewertung solcher "wissenschaftlich" festgelegten Menschengruppen als "Höher-" und "Minderwertige", also mit der Behauptung von Ungleichwertigkeiten zwischen Menschen, kam der Rassismus in die Welt. Damit ging in der Regel die Absicht einher, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu begründen. Für die europäischen Gesellschaften lieferte der Rassismus unter anderem die Rechtfertigung für die brutale Unterwerfung der indigenen Völker in ihren Kolonien und namentlich für Sklavenhandel und Sklaverei. In Geschichte und Gegenwart ist zudem zu beobachten, dass kollektive Identitäten häufig ausgebildet bzw. stabilisiert werden, indem Minderheiten oder auch andere Großgruppen − die Menschen von Nachbarstaaten etwa − rassistisch abgewertet werden. Bezeichnenderweise rechnen sich Vertreter rassistischer Lehren selbst immer den "Höherwertigen" zu.

Rassistische Vorstellungen waren also Bestandteil des Zeitgeistes, als im Laufe des 19. Jahrhunderts – namentlich in Deutschland − die Juden zunehmend in dieses Denken einbezogen wurden. Juden galten nicht mehr als eine Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer Religion in den christlichen Mehrheitsgesellschaften in eine Außenseiterrolle gedrängt und zu Objekten von Vorurteilen, aber auch von gewalttätigen Übergriffen gemacht worden waren, sondern sie wurden nun als "Rasse" stilisiert. Die negativen Charaktereigenschaften, die seit je auf Juden projiziert wurden, galten nunmehr als "blutsmäßig" – in heutiger Terminologie "genetisch" − festgeschrieben.

Die Vorstellung, wonach Menschen einen unterschiedlichen Wert und ein unterschiedliches Lebensrecht hätten, führte die Rassisten zu weiterführenden Fragestellungen, und zwar in allen als zivilisiert geltenden europäischen Staaten. Es wurde etwa gefragt: Gibt es nicht auch innerhalb eines grundsätzlich "rassisch hochwertigen" Volkes durchaus "Minderwertige", zum Beispiel Menschen mit angeborenen oder erworbenen körperlichen, geistigen und psychischen Schwächen? Sollte man nicht insbesondere angesichts angeblich zunehmender "Degenerationserscheinungen" des modernen Lebens (z. B. "Asoziale", "Alkoholiker" und "Kriminelle") die Fortpflanzung als "hochwertig" geltender Menschen fördern und die Fortpflanzung "minderwertiger" Menschen erschweren oder sogar unterbinden, etwa durch operative Eingriffe?

Derartige Fragestellungen begründeten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen neuen Zweig der Biologie, die Eugenik. In Deutschland erhielt das Fach den Namen "Rassenhygiene"; populär war von "Rassenpflege" die Rede. Mit der Vorgabe, angebliche Erbkrankheiten und erbliche krankhafte Dispositionen bekämpfen zu wollen, geriet der Rassismus zu einem Bestandteil angeblicher "Sozialpolitik". Eine folgenschwere Thematik setzte die "Rassenhygiene" mit dem Anstoßen einer Diskussion um die Tötung "lebensunwerten Lebens", etwa unrettbar Kranker oder unheilbar geistig Geschädigter. In diesem Sinne erschien 1920 eine Schrift der Professoren Karl Binding und Alfred Hoche mit dem Titel "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens".

Unter der NS-Herrschaft wurde der Rassismus zur konstitutiven Staatsdoktrin, zu einem gesellschaftspolitischen Leitbild. Die Nationalsozialisten praktizierten den rassistischen Handlungsgrundsatz, wonach die Bekämpfung, ja die Auslöschung bestimmter als "minderwertig" erkannter Gruppen anderer Menschen die Welt bzw. die "Volksgemeinschaft" verbessere. Demnach hatte der NS-Rassismus zwei Handlungsfelder: Der "ethnische" Rassismus richtete sich gegen angeblich "Artfremde", "Fremdrassige" oder "Fremdvölkische", die als "rassisch minderwertig" eingeordnet wurden. Zu diesen zählten grundsätzlich Juden, Roma und Sinti sowie die meisten Angehörigen osteuropäischer Völker, die Slawen. Der "soziale Rassismus" konnte sich ohne Weiteres gegen Angehörige der eigenen – selbstdefinierten – "nordischen Rasse" richten, wenn diese Menschen beispielsweise aufgrund ihrer Lebensführung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres körperlichen oder geistigen Zustandes dem Bild des "nordischen Herrenmenschen" nicht entsprachen. Diese Menschen waren nicht "artfremd" oder "fremdrassig", sie galten vielmehr als "rassisch entartet".

Mit der rassistischen Weltsicht verknüpft waren sozialdarwinistische Denkbilder. Danach gäbe es zwischen "Rassen" und Völkern und innerhalb menschlicher Gruppen einen "Kampf ums Dasein", in dem der "Stärkere" seine Ansprüche gegen den "Schwächeren" durchsetzen dürfe und müsse. Alles "Schwache" und "Abartige" gelte es "auszumerzen", um die "nordische Rasse" durch Auslese und Menschenzucht "aufzuwerten". Zudem sei es dem deutschen "Herrenvolk" erlaubt, sich unter Verdrängung und Vernichtung von Abermillionen "Untermenschen" in Osteuropa "Lebensraum zu sichern". Hass, Brutalität und Fanatismus bei der Umsetzung dieser Ziele wurden als positive Werte propagiert.

QuellentextAbsage an die "Lehren von der Gleichheit aller Menschen"

Vorbemerkung: Das "Reichsbürgergesetz" von 1935 war ein Bestandteil der sogenannten Nürnberger Gesetze, mit denen u. a. die Rechtsgleichheit jüdischer Bürgerinnen und Bürger aufgehoben wurde. Später wurden die Regelungen auch auf die "Zigeuner" übertragen.

"Kein nach der nationalsozialistischen Revolution erlassenes Gesetz ist eine so vollkommene Abkehr von der Geisteshaltung und der Staatsauffassung des vergangenen Jahrhunderts wie das Reichsbürgergesetz. Den Lehren von der Gleichheit aller Menschen und von der grundsätzlich unbeschränkten Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staate setzt der Nationalsozialismus hier die harten, aber notwendigen Erkenntnisse von der naturgesetzlichen Ungleichheit und Verschiedenartigkeit der Menschen entgegen. Aus der Verschiedenartigkeit der Rassen, Völker und Menschen folgen zwangsläufig Unterscheidungen in den Rechten und Pflichten der einzelnen."

Aus dem Kommentar zum "Reichsbürgergesetz" von Wilhelm Stuckart und Hans Globke, München/Berlin 1936, S. 24 f.

Gemäß der NS-Ideologie war es unbestritten, das Leben oder das Lebensglück anderer Menschen zerstören zu dürfen. Das Töten von Menschen, Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit sowie Unterdrückung und Ausbeutung waren ohne Weiteres zulässig, wenn es dem Wohl des deutschen "Herrenvolkes" und der "Volksgemeinschaft" dienen würde.

QuellentextDer Blick der Nationalisten auf das deutsche Volk

Danach gibt es eine Führerschicht, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht und die als "besonders wertvoll" bewertet wird. Diese Schicht, bei der es sich offenbar um die überzeugten und aktiven Nationalsozialisten handelt, wird mit der "Rahmschicht" der Milch verglichen. Als "Bodensatz" des Milchtopfes gelten Menschen, die als "asozial" bzw. als "erbkrank" gekennzeichnet werden. Hier handelt es sich um die "Minderwertigen". Sie haben einen Anteil von insgesamt 23,6 Prozent an der Bevölkerung, also von annähernd einem Viertel! Geht man von rund 78 Mio. Einwohnern des "Großdeutschen Reiches" aus, so wären danach etwa 19 Mio. der Deutschen "minderwertig" gewesen.

Zwischen der "Führerschicht" und den "Minderwertigen" bleibt ein "Durchschnitt" von 56,4 Prozent Bevölkerungsanteil, der mit der "Magermilch" verglichen wird, was unzweifelhaft einer Abwertung der Mehrheit der Bevölkerung gleichkommt. Das Schaubild widerspiegelt so auch eine Verachtung gegenüber großen Teilen der Bevölkerung.

*Josef Burgstaller: Erblehre, Rassenkunde und Bevölkerungspolitik: 400 Zeichenskizzen für den Schulgebrauch, Wien 1941, S. 32

Nach dem Untergang des NS-Staates lebten in der Alltagskultur der deutschen Gesellschaft rassistische Überzeugungen und Einstellungen fort. Anerkennung und Aufarbeitung der rassistischen Verbrechen des NS-Staates wurden in der alten Bundesrepublik namentlich durch den Umstand be- und verhindert, dass in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes und des Rechtswesens, selbst in leitenden Positionen, Amtswalter bzw. Justizpersonal aus der NS-Zeit tätig bleiben konnten.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beförderten die Ergebnisse populationsgenetischer Untersuchungen die Erkenntnis, dass es mit Blick auf Menschen keine wissenschaftliche Begründung für eine Verwendung des Begriffs "Rasse" gibt. Die Idee von der Existenz menschlicher Rassen erwies sich als gedankliche Erfindung und als ein soziales Konstrukt.

Nichtsdestoweniger wird der Begriff in Politik und Medien nach wie vor gebraucht. Zudem bestehen die mit einer rassistischen Weltsicht verknüpften Vorstellungen, Bedürfnisse und Gefühle offenbar weiterhin. Es gibt keine Rassen, aber es existiert Rassismus. So finden sich in den politisch-gesellschaftlichen Diskursen der vergangenen Jahrzehnte neuartige Ausgrenzungs- und Überlegenheitsideologien. Dabei wird der Begriff "Rasse" gemieden und beispielsweise von Nation, Gesellschaft, Bevölkerung oder Religion geredet. Von zentraler Bedeutung ist in diesen Zusammenhängen der Begriff "Kultur". Die Gleichheit der Menschen wird nicht mehr mit biologischen Argumenten bestritten bzw. – geschickter − in Frage gestellt. Stattdessen wird die angebliche Ungleichwertigkeit aus kulturellen Unterschieden abgeleitet, die vorgeblich das Wesen von Menschen festschreiben und daher zum Beispiel Integrationshemmnisse darstellen würden.

Der Mythos vom "Rassenkampf" findet eine Entsprechung in der populären Interpretation eines "Kampf(es) der Kulturen" (Samuel Huntington). In den gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Konflikten nehmen Aktionsformen zu, welche die "Reinhaltung" einer "eigenen (abendländischen) Kultur" be­absichtigen. Dabei wird die Zielsetzung inhaltlich bewusst unbestimmt gehalten, um einen Konsens zu suggerieren ("Konsensfiktion"). Die Gesellschaftswissenschaften sprechen angesichts dieser Erscheinungen unter anderem von einem "Rassismus ohne Rassen" oder von einem "kulturalistischen Rassismus" (Étienne Balibar).

Literaturhinweise und Internetadressen


Knappe Einführungen zu allen relevanten Gesichtspunkten zum Nationalsozialismus und zur NS-Herrschaft bieten die Internetseiten des Deutschen Historischen Museums: Externer Link: www.dhm.de. Generell ist das Internet unentbehrlich für die Orientierung über lokale und regionale Themen zur NS-Zeit, namentlich über die Praxis der rassistischen und politischen Verfolgung. Allein die Angabe eines Ortes und eines weiteren Stichwortes ist zumeist zielführend.
Im Folgenden eine exemplarische Zusammenstellung weiterführender Informa­tionsquellen:

Erinnerungskultur

Ahlheim, Klaus: Erinnern und Aufklären – Interventionen zur historisch-politischen Bildung. Hannover 2009, 156 S.

Bundeszentrale für politische Bildung: Reihe "Informationen zur politischen Bildung", Nr. 271: "Vorurteile", überarb. Neuaufl. 2005 (PDF unter Interner Link: www.bpb.de/izpb)

Dies.: Dossier Geschichte und Erinnerung 2008-2011 (unter: Interner Link: www.bpb.de/themen/DU8MZJ)

Jureit, Ulrike / Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart 2010, 253 S.

Young, James: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust. Wien 1997, 576 S.

Externer Link: www.lernen-aus-der-geschichte.de

Externer Link: www.zukunft-braucht-erinnerung.de

Externer Link: www.zug-der-erinnerung.eu

Externer Link: www.stolpersteine.com

Rassismus

Balibar, Étienne (zusammen mit Immanuel Wallerstein): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten.
3. Aufl., Hamburg 2014, 280 S.

Beutin, Heidi u. a. (Hg.): Rassenideologie. Ihre Karriere in den deutschsprachigen Ländern seit 1815 und ihre wissenschaftliche Auflösung in der Gegenwart. Dähre 2015, 86 S.

Gross, Raphael: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Frankfurt a. M. 2010, 288 S.

Hund, Wulf D.: Rassismus im Kontext. Geschlecht, Klasse, Nation, Kultur und Rasse. (Unter dem Namen des Autors und dem Titel als PDF-Datei verfügbar.)

Pohl, Dieter: Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945. 3., bibl. aktual. Aufl., Darmstadt 2010, 167 S.

Dr. Gernot Jochheim ist Friedens- und Konfliktforscher und war Lehrer. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte, Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit und Probleme politisch-gesellschaftlichen Wandels sowie im pädagogischen Bereich Gewaltprävention und Erinnerungskultur.