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Grundzüge der Wirtschaft | bpb.de

Grundzüge der Wirtschaft

Joachim Betz

/ 16 Minuten zu lesen

Indien weist hohe Wachstumsraten, konstante Beschäftigungsquoten und robuste wirtschaftliche Strukturen auf. Problematisch bleibt die hohe Staatsverschuldung und nach wie vor sind umfangreiche Reformmaßnahmen nötig, um Produktivität sowie den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand zu steigern.

Gut ausgebildete Arbeitskräfte sind in Indiens Wirtschaft gefragt. Ingenieure im September 2017 in Noida, einer Vorstadt Neu-Delhis in Uttar Pradesh (© Udit Kulshrestha/ Bloomberg via Getty Image)

Indien ist in den vergangenen Jahren zur am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft unter den großen Entwicklungsländern geworden, mit Wachstumsraten von ca. 7,5 Prozent jährlich in den Jahren 2014 bis 2016, mit leichter Abschwächung danach. Das ist zwar etwas weniger als vor der globalen Finanzkrise 2007/08, aber genug, um die Armut im Land weiter deutlich zu verringern, damit die soziale (Bildung, Gesundheit) und wirtschaftliche Infrastruktur erheblich zu verbessern, die Arbeitslosigkeit nicht steigen zu lassen und – auf lange Sicht – zu den führenden Industriemächten aufzuschließen.

Wirtschaftsdaten kompakt (© Germany Trade & Invest 2017)

Das alles vollzieht sich, im Gegensatz zu anderen Schwergewichten im globalen Süden, unter relativ stabilen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (geringes Leistungsbilanzdefizit, mäßige internationale Verschuldung, sinkende Inflation). Schon heute rangiert das Land kaufkraftbereinigt auf Platz drei der größten Volkswirtschaften in der Welt (in laufender Währung auf Platz sechs), spekuliert wird auch bereits darüber, wann es die USA und China an Wirtschaftskraft und damit auch an weltweitem politischen Gewicht überholt haben wird. Manche indische Beobachter sprechen bereits vom Ausbruch eines trilateralen Zeitalters, in dem nur noch diese drei Mächte eine wesentliche Rolle spielen werden. Der Gegensatz zu den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit, als das Land ein recht dürftiges Wachstum aufwies (etwas mehr als drei Prozent pro Jahr), häufig in Zahlungsbilanzprobleme geriet, von Entwicklungshilfe abhängig war und zeitweise seine Bevölkerung nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgen konnte, könnte nicht größer sein.

Von der Selbstversorung zur marktwirtschaftlichen Öffnung

Beiträge der Wirtschaftssektoren zum wirtschaftlichen Wachstum Indiens (© ADB)

Diese Probleme waren zu einem großen Teil der nach der Unabhängigkeit gewählten Strategie weitgehender Selbstversorgung (self-reliance) geschuldet, damit zusammenhängend der handelspolitischen Abschließung gegenüber dem Weltmarkt, der Behinderung ausländischer Investitionen und inländischer Großbetriebe, der engmaschigen staatlichen Lenkung der Wirtschaftsbereiche, die nicht dem Staat vorbehalten waren, und der Lenkung von Bankkrediten in staatlich definierte, prioritäre Bereiche.

Dieser Strategie lagen zwar löbliche Motive zugrunde – Verhinderung wirtschaftlicher Machtkonzentration und wachsender sozialer und regionaler Disparitäten, rasche und breite Industrialisierung –, ihre Ergebnisse ließen aber zunehmend zu wünschen übrig. Mit hohem investiven Aufwand wurden geringer werdende Fortschritte erzielt, die zahlreichen Staatsbetriebe fuhren wachsende Verluste ein, die Qualität indischer Produkte blieb recht bescheiden, der Anteil Indiens am internationalen Handel sank dramatisch, das dichte Geflecht staatlicher Kontrollen behinderte die privaten Unternehmer und leistete der Korruption Vorschub.

Es darf aber nicht vergessen werden, dass Indien seine Entwicklung weitestgehend aus eigenen Mitteln finanzierte: Die Entwicklungshilfe für das Land war stark rückläufig und (relativ) nie besonders hoch, die Selbstversorgung wurde faktisch erreicht und, noch wichtiger, damit auch die Schaffung einer breit aufgestellten Industrie sowie die Ausbildung einer beachtlichen Anzahl wissenschaftlicher und technischer Fachkräfte.

Mitte der 1980er-Jahre leitete die Regierung Rajiv Gandhi einen vorsichtigen Kurswechsel ein und liberalisierte zunächst den Binnenmarkt. Motiviert waren die Reformen erstens dadurch, dass konkurrierende Staaten wie vor allem China Reformen früher eingeleitet hatten und an Indien wirtschaftlich vorbeizogen (mit bedenklichen sicherheitspolitischen Konsequenzen). Hinzu traten zweitens die Unzufriedenheit der wachsenden Mittelschicht mit der Auswahl und Qualität der angebotenen Konsumgüter und drittens der Druck neuer Unternehmensgruppen in fortgeschrittenen Sektoren, die ausländische Technologie benötigten.

Die erste Liberalisierungswelle brachte vor allem einen Abbau der staatlichen Unternehmensregulierung und erleichterte die Einfuhr von Investitionsgütern, strandete aber bald aufgrund wachsender Leistungsbilanzdefizite aus vielfältigen Gründen (wie z. B. Zusammenbruch des Handels mit dem Ostblock, Anstieg der Ölpreise) und machte eine als demütigend empfundene Kreditaufnahme beim Internationalen Währungsfonds Anfang 1991 unvermeidlich. Die Krise ist aus Sicht der reformbedingten Dynamik später positiv zu werten, schwächte sie doch politisch jene Kräfte, die vom bisherigen Wirtschaftskurs profitierten, also vor allem die Bürokraten und die Unternehmer bzw. Arbeitskräfte in den vor Konkurrenz geschützten Bereichen.

Die Reform von 1991 und ihre Wirkungen

Die wirtschaftlichen Reformen in den Jahren ab 1991 selbst waren nicht revolutionär, sondern umfassten die übliche wirtschaftsliberale Mischung:

  • Die indische Rupie wurde gleich zu Beginn abgewertet.

  • Fast alle Industriebereiche wurden liberalisiert sowie für in- und ausländische Privatinvestitionen (Ausnahmen heute: Rüstungssektor und Eisenbahnen) geöffnet.

  • Das einstmals hochgradig restriktive Außenhandels- und Währungsregime wurde gelockert. Der durchschnittliche Zollsatz sank von 87 auf zwölf Prozent. Die Devisenzwangswirtschaft wurde aufgehoben, seit 1993 ist die indische Rupie im Außenhandelsverkehr voll konvertierbar, für den Kapitalverkehr wurden die Kontrollen sukzessive gelockert.

  • Der Finanzsektor wurde vorsichtig für in- und ausländische Privatbanken geöffnet. Zur Stärkung der Finanzkraft der Banken wurden internationale Kapitalisierungsstandards eingeführt und eine einschlägige Überwachungsbehörde eingerichtet. Zur Entwicklung und Überwachung des Aktienmarktes wurde eine eigene Behörde gegründet, Transaktionen wurden erleichtert und Einrichtungen für den elektronischen Handel geschaffen. Die meisten Zinskontrollen gelten nicht mehr, ausländische Investmentfonds haben nun (begrenzten) Zugang zum indischen Aktienmarkt. Später wurde auch der Versicherungssektor ausländischer Beteiligung geöffnet.

  • Das Steuersystem wurde wesentlich vereinfacht, die Steuersätze deutlich reduziert. Nach langem Vorlauf wurde 2017 auch erstmals eine landesweite Mehrwertsteuer eingeführt, die einen einigermaßen einheitlichen Wirtschaftsraum schaffen soll.

Diese Reformen waren vom Umfang her nicht anders oder drastischer als andernorts, sie setzten aber eine beachtliche wirtschaftliche Dynamik frei. Indien wurde nicht nur zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften, sondern auch eine, deren Wachstum zum erheblichen Teil vom effizienteren Einsatz der Produktionsfaktoren getragen wurde, vor allem in Sektoren, die schon zuvor hierbei vorn lagen. Wachsende Importkonkurrenz übte also disziplinierende Wirkung aus.

Der wirtschaftliche Strukturwandel beschleunigte sich, der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt ist mittlerweile auf 17 Prozent gesunken (1990: 29 Prozent), jener der Industrie auf 30 Prozent gestiegen (1990: 26,5 Prozent), wobei freilich der Fertigwaren produzierende Sektor stagnierte (2015: 16,3 Prozent), der Anteil des Dienstleistungssektors beträgt

53 Prozent (1990: 45 Prozent). Im Dienstleistungsbereich expandierten hauptsächlich die Banken, die IT- und unternehmensbezogenen Dienste sowie die Telekommunikation. Insgesamt florieren in der Industrie die kapitalintensiven Branchen und jene, die vergleichsweise gut ausgebildete Arbeitskräfte einsetzen. Das gilt auch für die Dienstleistungen. Daher waren die Beschäftigungseffekte der Reformen relativ bescheiden.

Außenhandel (Waren) (© Germany Trade & Invest 2017)

Der Außenhandel nahm nach den Reformen schwunghaft zu, die Exporte stiegen bald um 20 Prozent pro Jahr und 2015 auf 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (1990: 6,9 Prozent). Er ist im Zuge der weltwirtschaftlichen Entschleunigung bis 2015 etwas zurückgegangen, steigt aber schon wieder. Hohes Wachstum zeigen vor allem die Kommunikations- und unternehmensbezogenen Dienstleistungen.

Darüber hinaus ist es Indien gelungen, die Exportpalette und die Abnehmer seiner Ausfuhren deutlich zu diversifizieren. Insbesondere der Anteil der asiatischen Nachbarländer erhöhte sich, auch gefördert durch schon vereinbarte oder geplante Freihandelsabkommen. Besonders dynamische Exportsektoren sind neben den Dienstleistungen der chemische und pharmazeutische Sektor, die Textilindustrie und der Maschinenbau. Die Textilausfuhren profitieren vom Abbau der Importquoten in den Industrieländern, die im Rahmen des 2005 ausgelaufenen Welttextilabkommens festgelegt waren, die Dienstleistungsexporte wurden vom fortgesetzten Outsourcing entsprechender Unternehmensaktivitäten begünstigt.

Die ausländischen Direkt- und Portfolioinvestitionen haben von einem belanglosen Volumen vor den Reformen auf 44 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015 zugenommen. Zusammen mit den Überweisungen der im Ausland lebenden Inder finanzieren sie problemlos das Außenhandelsdefizit, also die Differenz zwischen Importen und Exporten. Allerdings beträgt der Kapitalzufluss nur einen Teil der Summe, die in die Volksrepublik China fließt. Ausländische Investitionen kommen auch nur für knapp sechs Prozent der Kapitalbildung auf, konzentrieren sich überdies auf technologie- und kapitalintensive Sektoren sowie auf den Dienstleistungsbereich und sind eher binnenmarktbezogen als exportorientiert.

Sie haben aber zusammen mit den steigenden Exporten zu einer deutlichen Verbesserung der Leistungsbilanz und Verringerung der externen Verschuldung geführt: Frühere, massive Defizite haben sich zuletzt stark reduziert oder zeitweise in einen geringen Überschuss verwandelt. Indien verfügt mittlerweile über Devisenreserven in Höhe von 360 Milliarden US-Dollar, ein ausreichender Puffer gegen mögliche externe Schocks und spekulative Attacken auf die Währung. Die externe Verschuldung ist beherrschbar und der Anteil kurzfristiger Kredite, die bei schneller Rückforderung das Land in Turbulenzen stürzen könnten, ist belanglos.

Heute gibt es keine Partei von nationaler Bedeutung, auch nicht die Kommunisten, die den Nutzen einer marktwirtschaftlichen Orientierung – zumindest grundsätzlich – bestreiten würde. Die wesentlichen Gründe für den vergleichsweise breiten marktwirtschaftlichen Konsens liegen darin, dass

  • die Regierung die einschlägigen Reformen graduell und ohne scharfe Brüche durchführte;

  • die Wahlbevölkerung auch durch andere Themen abgelenkt wurde, insbesondere die Auseinandersetzungen um den säkularen Charakter des Staates;

  • sich die Reformen materiell auszahlten, allerdings zunächst vornehmlich für die dynamischen Regionen und urbane/gebildete Gruppen. Da weite Bevölkerungsteile von den Reformen zunächst nur begrenzt profitierten, wurde die besonders marktfreundliche BJP-Regierung zwischenzeitlich an der Wahlurne (2004) abgestraft.

Im Konkreten, so zum Beispiel bei der Privatisierung von Staatsunternehmen, der weiteren Öffnung für private Direktinvestitionen und der Preisanpassung für staatliche Leistungen, bildet sich vonseiten der Parteien zuweilen Widerstand – vor allem dann, wenn sie nicht selbst die Regierung stellen. Mit der weitgehenden Beseitigung der Investitionslenkung müssen sich nun auch einzelne Landesregierungen um private Direktinvestitionen sowie um die Verbesserung ihrer Standortbedingungen bemühen und tun dies auch – mit allerdings unterschiedlichem Erfolg.

Wirtschaftliche Zukunftsaussichten

Die künftigen Wachstumsaussichten für Indien sind relativ günstig. Das Land verfügt erstens im Gegensatz zu China über ein noch bis ca. 2040 wachsendes Arbeitskräftereservoir und damit über eine "demografische Dividende". Zweitens gibt es noch Spielraum für die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, etwa durch Abzug von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft, weitere Verstädterung oder durch Effizienzsteigerungen innerhalb von einzelnen Sektoren. Drittens ist das volkswirtschaftliche Gewicht des warenproduzierenden Gewerbes noch sehr gering, ein zu erwartender wirtschaftlicher Strukturwandel wäre ebenso belebend wie die Steigerung des bislang schwachen intraregionalen Handels. Dazu kommt, dass Indien für seinen Entwicklungsstand über relativ gute wirtschaftliche, rechtliche und politische Institutionen verfügt: Durch die demokratische und föderale Verfassung des Landes lassen sich wirtschaftlich destabilisierende Konflikte einhegen. China hat diesen Übergang erst noch vor sich.

Man darf aber die Zukunft auch nicht in zu rosigen Farben malen; die indische Regierung veranschlagt überoptimistische Wachstumsraten von acht bis neun Prozent pro Jahr für die Zeit bis 2030 oder gar 2040. Dieses Tempo so lange durchzuhalten, haben bislang nur China und Südkorea geschafft, weil, wie die Erfahrung lehrt, nach der Ernte der relativ schnell wachsenden ersten Reformfrüchte und der anfänglichen Verringerung der Produktivitätslücke gegenüber den Konkurrenten das Wachstum sich nahezu zwangsläufig verlangsamt, vor allem dann, wenn weitere Strukturreformen ausbleiben. Diesbezüglich gibt es noch eine ganze Reihe offener Fragen.

Reformdefizite

Staatliche Subventionen

Zu den Reformdefiziten gehört zunächst die dringende Sanierung des Staatshaushalts. Das diesbezügliche Defizit ist zwar auf mittlerweile 6,5 Prozent des BIP gesunken, der Kapitaldienst für die aufgenommenen Schulden verschlingt aber immer noch 25 Prozent der Haushaltsausgaben (weitere 13 Prozent entfallen auf die Landesverteidigung) und erschwert dem Staat den dringend notwendigen Ausbau der Infrastruktur, des Bildungs- und Gesundheitswesens und des sozialen Schutzes. Im Übrigen schränkt die hohe Verschuldung auch den Kreditspielraum für private Investitionen ein.

Die Ursachen dieser dauerhaft hohen Defizite sind weitgehend politischer Natur. Erstens entfällt ein beträchtlicher Teil der Staatsausgaben auf Subventionen für Nahrungsmittel, Wasser, Düngemittel und Energie, die entweder vor allem vergleichsweise wohlhabenden Haushalten/Bauern zugutekommen oder die Armen nur mit hohen Streuverlusten erreichen. Zweitens ist die Bezahlung der im öffentlichen Dienst Beschäftigten nicht gerade spärlich und wird alle fünf Jahre durch Lohnkommissionen kräftig aufgestockt. Drittens sind die Steuereinnahmen im Vergleich zu anderen Demokratien gleicher Entwicklungsstufe gering, weil nur ein kleiner Teil der Beschäftigten (knapp sechs Prozent) Steuern entrichtet, die Höchstsätze bei der Einkommens- bzw. Körperschaftssteuer gesenkt, die Steuerschlupflöcher aber nicht beseitigt wurden. Immerhin wurden schon vor Jahren eine gesetzliche Verpflichtung zum Defizitabbau beim Bund und den Ländern beschlossen (diese allerdings zwischenzeitlich ausgesetzt) sowie ab 2010 eine deutliche Verringerung der Energiesubventionen.

QuellentextIndische Energiewende

[…] Noch ist Indien ein Kohleland. Die rund 600 Kraftwerke, die den fossilen Rohstoff verbrennen, liefern über 60 Prozent des in dem Staat mit seinen 1,3 Milliarden Bewohnen verbrauchten Stroms. Der Coal-India-Konzern [größter Kohleproduzent des Landes] produziert rund 80 Prozent davon. Bereits im vergangenen Jahr hat er 15 Bergwerke geschlossen, in diesem Jahr sollen laut indischem Wirtschaftsblatt "The Economic Times" 37 weitere Produktionsstätten folgen und noch einmal rund 60 in den nächsten zwei bis drei Jahren. Grund ist die mangelnde Rentabilität der Minen, die vielfach auch minderwertige Kohlequalität liefern. Eine Untersuchung zeigte 2015, dass nur 15 der 400 Coal-India-Minen sehr effizient arbeiten und vom Rest rund 90 so umstrukturiert werden können, dass sie wirtschaftlich sind.
Indien hat wie das weltweite Kohleland Nummer eins, China, seine Pläne für den Neubau fossiler Kraftwerke seit Anfang 2016 zusammengestrichen. Das war auch eine Folge des im Dezember 2015 geschlossen Paris-Klimavertrags, der weltweit einen Stopp der Nutzung von Kohle, Erdöl und Erdgas nach 2050 fordert. Neu-Delhi hat sich verpflichtet, den Anteil der Erneuerbaren am Energieverbrauch bis 2030 auf 40 Prozent zu steigern.
Eine große Rolle für die schlechteren Aussichten im Kohlesektor spielt, dass die Regierung die Solarstromerzeugung massiv puscht. Bereits bis 2020 sollen die installierten Fotovoltaikkapazitäten nach ihren Plänen von derzeit 14.000 auf 100.000 Megawatt (MW) ansteigen. Zum Vergleich: Die Leistung der Kohlekraftwerke beträgt derzeit rund 194.000 MW. Wie billig der Solarstrom in dem sonnenreichen Land inzwischen ist, zeigen die Ergebnisse der im ersten Halbjahr 2016 vom Staat durchgeführten Ausschreibungen für Fotovoltaikkraftwerke. Hier bekamen Unternehmen den Zuschlag, die die Kilowattstunde für nur 2,44 Rupien (umgerechnet 3,1 Cent) angeboten hatten. Der größte Stromkonzerns Indiens, National Thermal Power, verkauft Kohlestrom laut dem deutschen Ökoenergie-Branchendienst IWR für 3,2 Rupien pro Kilowattstunde.
Energieexperten rechnen angesichts dieser Entwicklungen damit, dass Indien in den nächsten Jahren zum wichtigsten Markt für Fotovoltaikanlagen wird. Aktuell dominiert noch China, das 2016 mit über 34.000 MW alleine knapp die Hälfte des weltweiten Zubaus auf sich vereinigte. Zum Vergleich: Deutschland kam auf 1500 MW. Für Indien erwartet das Marktforschungsunternehmen Lux Research aus Boston, dass bis 2021 jährlich im Schnitt rund 18.000 MW hinzukommen, während China wegen sinkender Vergütungssätze und Netzanschluss-Problemen zurückfällt.
Aufsehen erregte die indische Regierung mit dem Plan, ab 2030 nur noch Elektrofahrzeuge neu zuzulassen. Damit sollen die gewaltigen Smogprobleme in den indischen Metropolen eingedämmt werden.


Joachim Wille, "Indien legt den Schalter um", in: Frankfurter Rundschau vom 23. August 2017 © Alle Rechte vorbehalten Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt

Stromversorgung

Anteil der Stromkapazität (© Mercom Capital Group, C. Inton, 12. April 2017)

Das rasche indische Wirtschaftswachstum seit Einleitung der Reformen brachte deutliche Mängel der infrastrukturellen Ausstattung ans Licht bzw. verschärfte diese. Sie sind weniger relevant bei den unternehmensbezogenen oder IT-Dienstleistungen, die nicht viel Infrastruktur benötigen, sondern kommen besonders in den klassischen Industriesektoren zum Tragen. Wirtschaftsexperten sind sich einig, dass sich die staatlichen Infrastrukturaufwendungen mindestens verdoppeln müssen, wenn die von der Regierung angestrebte Wachstumsrate dauerhaft erreicht werden soll.

Hauptdefizit ist die für Firmen teure, nicht ausreichende und unzuverlässige Stromversorgung. So wird in Indien häufiger der Strom abgestellt, Unternehmen müssen sich daher Generatoren anschaffen und erleiden Verluste durch Geräteschäden. Ursache für diese Probleme ist, dass es den meist staatlichen Stromverteilungskonzernen untersagt ist, von den privaten Kunden, insbesondere den wahlpolitisch wichtigen Bauern, kostendeckende Tarife zu verlangen – entsprechend hoch sind die Tarife für industrielle Abnehmer –, die Stromversorgung säumiger Kunden einzustellen oder heimliche Stromentnahmen auch nur zu ahnden. Entsprechend fehlen ihnen Mittel, um in die Erweiterung der Netze zu investieren oder ausreichend Strom zu kaufen.

Indische Regierungen haben auf die sich seit Jahren stetig verschärfende Stromkrise seit 1991 mit einer ganzen Serie von Regeländerungen geantwortet, die vor allem Privatinvestoren für die Stromgewinnung interessieren sollten, die Teilung der unionsstaatlichen Stromkonzerne in die Gewinnung, den Transport und die Verteilung von Strom vorsahen und Regulierungsbehörden zur Festsetzung der Stromtarife einsetzten. Bisher zeigten diese Maßnahmen nur mäßigen Erfolg, weil sich an der Ertragslage der Stromverteilungsunternehmen aufgrund zu geringer Tariferhöhungen und begrenzter Unterbindung von rekordhohen Transmissionsverlusten nur wenig geändert hat. Kürzlich wurde erneut ein Sanierungsprogramm für die Stromverteilungsunternehmen vorgelegt, das ihnen Schuldenerlass bei nachprüfbarer Leistungsverbesserung verspricht.

Transportwesen

Auch das Transportwesen und die Hafeninfrastruktur sind noch verbesserungsbedürftig. Immerhin wurde von der BJP-geführten Regierung ab 1999 ein umfangreiches Programm zum Bau von Schnellstraßen zwischen den indischen Metropolen aufgelegt und ein anderes zum Ausbau ländlicher Verbindungsstraßen. Die Eisenbahnen wurden aber zunächst weiter vernachlässigt, mit der Folge, dass sich der Frachtverkehr weiter auf die Straßen verlagerte. Der Güterverkehr auf der Schiene leidet auch unter dem schneckenhaften Tempo und unter der Tatsache, dass er wegen der Kreuzsubventionierung des Personenverkehrs vergleichsweise teuer ist. Mit dem Haushaltsplan 2014/15 wurde ein umfangreiches Programm zur Verbesserung und Beschleunigung des Schienentransports angekündigt. Gleichfalls sollen die Häfen ausgebaut werden, in denen die Liegezeiten (und damit Kosten) nur wenig konkurrenzfähig sind.

Es sind aber zuletzt zwei Initiativen der indischen Regierung zu vermelden, die die infrastrukturellen Defizite des Landes grundlegend bessern sollen. Erstens wurde 2015 der Ausbau/Bau von 100 sogenannter Smart Cities beschlossen, gemeint ist damit die Sanierung bestehender oder der Bau neuer Städte auf der grünen Wiese mit verlässlicher Wasser- und Stromversorgung, erstklassiger Verkehrsanbindung und Ausstattung mit Bildungsinstitutionen. Dies soll mithilfe privaten (auch ausländischen) Kapitals umgesetzt werden. Zweitens wurde ein staatlicher Fonds zur Finanzierung von Infrastruktur gegründet, der Mittel an den Kapitalmärkten aufnehmen und an private Infrastrukturunternehmen ausleihen soll.

QuellentextDas Zweirad als Aufstiegssymbol

[…] Das Zweirad ist in Indien ein viel weiter verbreitetes Transportmittel als im Westen. Pro Jahr werden hier mehr als fünf Millionen Scooter und über zehn Millionen Motorräder verkauft. Für die Jahre 2016 und 2017 erwartet die Branche ein Umsatzwachstum von neun bis zehn Prozent. Das Zweirad nutzen nicht bloß junge Leute, sondern ebenso Angestellte, die ins Büro fahren. Es befördert ganze Familien, manchmal sieht man fünf Personen aus drei Generationen auf einen Sattel gequetscht. Nicht das Auto, das für die meisten Inder unerschwinglich bleibt, sondern der Scooter und das Motorrad sind der erste Schritt in die moderne Mobilität. Sie ebnen den Weg zu neuen Lebenschancen: Wer motorisiert ist, kann einen Job annehmen, der sonst zu weit weg wäre. Mädchen und Frauen werden unabhängig von Bussen und Autorikschas, in denen sie oft der Zudringlichkeit von Männern ausgesetzt sind.
[…] Kein anderes Produkt, abgesehen vom Mobiltelefon, verkörpert den Umbruch und die Dynamik auch in der breiten Masse der indischen Milliardengesellschaft so sehr wie das Zweirad. Das Motorrad ist das Gefährt und das Erkennungszeichen der aspirational class, die Marketingexperten, Politikern und Soziologen gleichermaßen als Schlüssel zur Zukunft des Landes gilt: jene Leute, die noch lange nicht zur wohlhabenden Mittelschicht gehören, aber schon ein bisschen Geld haben und eine Menge Träume. […] Die Moderne kommt nach Indien – auf zwei Rädern.
Lehrer [Jaldhir] Singh hat sein Motorrad vor ein paar Jahren für umgerechnet etwa 500 Euro gekauft. Mit seinem Gehalt konnte er es sich erlauben, die Summe bar zu bezahlen. Als Lehrer steht er am oberen Ende der Sozial- und Einkommenspyramide in der Zweiradwelt, er ist sogar schon dabei, aus diesem Gesellschaftssegment hinauszuwachsen: In ein paar Monaten will er ein Auto anschaffen. Solche großen Sprünge sind für die meisten Zweiradkunden unvorstellbar, viele müssen ihren Kauf mit einem Kredit finanzieren. Der Benzinpreis spielt für die indischen Zweiradfahrer dagegen keine große Rolle: Die verbrauchsgünstigsten Motorräder schaffen mit einem Liter Kraftstoff mehr als hundert Kilometer.
Das Zweirad steht in Indien für die Ausdehnung der Konsumgesellschaft über das wohlsituierte Bürgertum hinaus. Und es steht für eine andere Grenzüberschreitung: für die zunehmend verfließende Trennlinie zwischen Stadt und Land. […] Statt der alten, klaren Unterscheidung zwischen einem urbanen und einem ruralen Indien bildet sich im 21. Jahrhundert eine bisher ungekannte Mischrealität heraus: das "rurbane" Indien. Die Zukunft ist weder ländlich noch städtisch, sie ist beides. Und das Zweirad ist ihr Vehikel.


Jan Roß, "Aufstieg auf zwei Rädern", in: DIE ZEIT Nr. 45 vom 27. Oktober 2016

Arbeitsrecht

Als wichtige Investitionsbremse galt und gilt das indische Arbeitsrecht. Es wird durch 54 einzelne, zum Teil antiquierte Gesetzeswerke geregelt. Der koloniale Trade Unions Act erlaubte die problemlose Gründung von Gewerkschaften, die sich daher vervielfachten und gegenseitig zu überbieten trachteten, wenngleich die einstmals häufige Streikaktivität mittlerweile deutlich zurückgegangen ist. Der Industrial Disputes Act von 1948 beschränkt Entlassungen, Versetzungen und die Anwendung neuer Technologien. Betriebe mit mehr als 100 Beschäftigten müssen für Entlassungen staatliche Genehmigungen einholen, die selten gewährt werden. Dazu kommen hohe Abfindungen bei genehmigten Entlassungen, Behinderungen der Leiharbeit und zahlreiche andere Auflagen.

Behauptet wurde, dass die arbeitsrechtlichen Bestimmungen kapitalintensives Wachstum gefördert und Beschäftigung verhindert hätten, weil Unternehmen aus Angst, die neue Belegschaft nicht mehr loszuwerden, Arbeitskräfte gar nicht erst eingestellt hätten. Arbeitsgesetze können aber kaum ein wesentliches Beschäftigungshindernis darstellen, weil der größte Teil der Arbeitskräfte (annähernd 90 Prozent) gar nicht im formalen und damit im allein kontrollierten Wirtschaftssektor beschäftigt ist, etliche Bereiche (z.B. die Special Economic Zones = Exportplattformen) davon ausgenommen sind, betroffene Unternehmer sich entweder nicht registrieren ließen, Leiharbeiter einstellten oder die Produktion teilweise in Unternehmen des informellen Sektors auslagerten. Manche Unionsstaaten haben auch die Genehmigung von Massenentlassungen heraufgesetzt oder von Leiharbeit großzügiger gehandhabt. Das Regime der Arbeitssicherheit ist also bereits ziemlich löcherig geworden.

Miet-, Immobilien-, Boden- und Insolvenzrecht

Das Miet-, Immobilien- und Bodenrecht ist stark reformbedürftig. Wegen mangelhafter Aufzeichnungen erschweren unklare Besitztitel die Übereignung und verringern das Angebot an entwicklungsfähigen Flächen. Veraltete und inflexible Flächennutzungspläne frieren nicht mehr genutzte Flächen – etwa von bankrotten Unternehmen – ein, unrealistisch niedrige Mieten haben zu einer Verknappung des Angebots geführt, während auf dem "freien" Markt die Preise in die Höhe schießen. Dazu kommen noch zum Teil massive "Stempelgebühren" für den Grunderwerb.

Wesentlich gravierender sind die Defizite beim Insolvenzrecht: Die Reorganisation, der Bankrott und die Liquidation werden in Indien durch unterschiedliche Gesetzeswerke geregelt. Die Liquidation insolventer Unternehmen ist zudem ein rechtlich schwieriges Unterfangen und trifft auf staatliche Stellen, die versuchen, zum Schutz der Arbeitskräfte den Bankrott hinauszuzögern, und auf völlig überlastete Abwicklungstribunale. Eine Unternehmensliquidation dauert im Durchschnitt 4,3 Jahre (in China 1,7 Jahre) und bringt den Gläubigern gerade einmal ein Viertel ihrer Forderungen ein. Ein Gesetz von 2002 erlaubte Banken immerhin die schnellere Übernahme der verpfändeten Sicherheiten; zu deren weiterem Schutz wurde 2016 endlich ein neuer Kodex vorgelegt, der die Unternehmensabwicklung vorsieht, wenn rückständige Schulden nicht innerhalb von sechs Monaten beglichen werden.

QuellentextStreit ums Wasser

Am 12. September war plötzlich alles anders. Die Metropole Bangalore, sonst als Aushängeschild indischer Innovation in der ganzen Welt bekannt, zeigte auf einmal ein furchterregendes Gesicht. Wut tobte sich auf den Straßen des Hightech-Standorts aus, der sonst Bilder eines erfindungsreichen und friedlichen Aufschwungs produziert. Randalierer zündeten Autos und Busse an, zwei Menschen kamen im Chaos ums Leben. […]
Der Zorn, der in Gewalt umschlug, war einem sehr existenziellen Bedürfnis entsprungen: dem Verlangen nach Wasser. Im Süden Indiens macht sich Angst breit, es könnte schon bald nicht mehr reichen. Der Bundesstaat Karnataka mit seiner Hauptstadt Bangalore liegt im Streit mit seinem Nachbarn Tamil Nadu, beide beklagen, dass ihnen jeweils zu wenig Wasser aus dem Kaveri River zugebilligt werde. Der Strom entspringt in der Bergkette der Westghats und windet sich über 760 Kilometer in südöstlicher Richtung durch Karnataka und Tamil Nadu, wo sich der Fluss schließlich in einem Delta in den Golf von Bengalen ergießt. Der Kaveri ist eine der großen Lebensadern Indiens, am Tropf des Flusses hängen zwei große Bundesstaaten, in denen so viele Menschen wohnen wie in Deutschland und Frankreich zusammen: 140 Millionen Inder. […]
Auslöser des Aufstands war ein Beschluss des obersten indischen Gerichts. Demnach ist Karnataka verpflichtet, pro Sekunde 340.000 Liter Wasser nach Tamil Nadu fließen zu lassen. Viel zu viel, protestierten die Leute am Oberlauf des Kaveri. Viel zu wenig, beklagten die Leute an seinem Unterlauf. In beiden Staaten sorgen sich die Farmer um ihren Reis, der ohne ausreichende Bewässerung nicht gedeiht.
Gibt die Krise einen Vorgeschmack auf etwas, das Indien nun häufiger und heftiger erschüttern könnte – Revolten oder gar Kriege wegen Wassermangels? Zumindest ist erkennbar, dass die Spannungen zunehmen. Der Soziologe Venni Krishna kommt in einer Studie zum Schluss, dass bereits mehr als 200 Konflikte in Indien auf Umweltprobleme zurückgehen, 59 davon wurzeln im unzureichenden Wassermanagement. […]
Der Bedarf an Wasser ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Zum einen intensivieren die Bauern die Landwirtschaft, "in Tamil Nadu ernteten die Bauern früher nur einmal im Jahr Reis, jetzt gibt es wegen der Bewässerungsmöglichkeiten zwei Ernten", sagt [die Umweltexpertin Sunita] Narain [vom Centre for Science and Environment in Delhi]. Und in Karnataka bauen sie neben Reis inzwischen auch viel Zuckerrohr an, das hohen Wasserbedarf hat. Zusätzlich verbrauchen die wachsenden Städte mehr Flusswasser als früher, Bangalore bezieht 80 Prozent seines Bedarfs aus dem Kaveri. Damit fehlt inzwischen der nötige Puffer, um bei schwankenden Regenfällen die Bedürfnisse aller noch zu decken.
Dennoch hält Expertin Narain es für falsch, die simple Gleichung aufzumachen, nach der allerorts in Indien immer mehr Menschen immer weniger Wasser zur Verfügung hätten. Die Verteilung sei sehr ungleich und häufig schwer absehbar: Extreme Wettersituationen wie Dürre, Stürme und Überschwemmungen nehmen zu, der Wasserhaushalt im Hochgebirge verändert sich wegen der schmelzenden Gletscher – all diese Entwicklungen schreiben Wissenschaftler dem Klimawandel zu. […]
"Wir brauchen ein weit besseres Wassermanagement", meint deshalb die Umweltaktivistin. "Wir müssen Wege finden, sorgfältiger mit dieser Ressource umzugehen und die Verschwendung einzudämmen." Die Möglichkeiten, Wasser zu sparen, sind noch lange nicht ausgeschöpft. […]
Weil die Wirtschaft jedoch weiter wächst, steigt auch der Verbrauch: Allein in Bangalore soll er in den kommenden neun Jahren um 71 Prozent in die Höhe schnellen. Welches Gesicht die Stadt in Zukunft zeigen wird, hängt auch davon ab, ob dieser Bedarf gestillt werden kann.


Arne Perras, "Gefährlich trocken", in: Süddeutsche Zeitung vom 20. September 2016

Landwirtschaft

Völlig vernachlässigt wurden längere Zeit Reformen im Bereich der Landwirtschaft, in der noch immer fast 50 Prozent der indischen Arbeitskräfte beschäftigt sind. Das landwirtschaftliche Wachstum insgesamt war in den vergangenen Jahren recht schwach, die Zunahme der Produktivität ist auf äußerst bescheidene Werte gesunken. Dies rührt daher, dass die bisher verfolgte landwirtschaftliche Strategie (Nahrungsmittelselbstversorgung durch Preisstützung für die Bauern, Ausbau der künstlichen Bewässerung, Subventionen für Dünger, Strom und Wasser sowie strenge Regulierung der Märkte) und die frühere, massive Produktionssteigerung durch den Anbau von Hochertragssorten im Rahmen der sogenannten Grünen Revolution zunehmend an Schwungkraft eingebüßt haben und an ihre ökologischen Grenzen stoßen. Produzentensubventionen verdrängten Ausgaben für die ländliche Infrastruktur, die landwirtschaftliche Beratung und Forschung sowie den Unterhalt der bisherigen Investitionen; auch haben sie eine regressive Verteilungswirkung – das Gros wird durch reiche Bauern und Unionsstaaten abgeschöpft.

Die indische Regierung konnte sich wegen der starken Bauernlobby und ihres wahlentscheidenden Gewichts bisher nicht zu wesentlichen Reformen durchringen, verlangt aber gleichzeitig von anderen den Abbau der Exportsubventionen. Immerhin beschloss die Regierung unter Premierminister Singh nach 2004 ehrgeizige Programme für den ländlichen Wohnungs- und Straßenbau, die Elektrifizierung sowie die Revitalisierung des ländlichen Kreditwesens. Diese sind schon teilweise umgesetzt. Angestrebt ist auch eine Diversifikation der Landwirtschaft in Richtung höherwertiger Produkte wie Obst und Gemüse und – weil der Staat die dafür notwendige Infrastruktur nicht allein erstellen kann – mehr Raum für Direktverbindungen zwischen Bauern und privaten Verarbeitungsunternehmen.

Bürokratie

Eine weitere deutliche Entbürokratisierung des Landes wird von vielen Experten als notwendig betrachtet. Hierbei zeichnen sich unter der Regierung Modi schon deutliche Verbesserungen bei der Entschlackung des einstmals byzantinischen Lizenzierungswesens ab. Im Endstadium der Reformen sollen etwa Betriebsgenehmigungen durch eine einzige Anlaufstelle und weitgehend auf elektronischem Weg sowie auf Basis von Selbstauskünften der Antragsteller bearbeitet werden. Damit würden für zahlreiche Stellen die Möglichkeiten zur Vorteilsnahme entfallen, was diese Reformansätze in der Bürokratie nicht unbedingt beliebt macht. Erste Erfolge scheinen sich abzuzeichnen: Indien ist beim einschlägigen Index der Weltbank neuerdings deutlich nach vorne gerückt (von Platz 142 von 185 Ländern in 2015 auf jetzt Platz 100 von 190). Es ist bei der Verbesserung des Investitionsklimas zum ersten Mal in die Riege der besten 10 aufgestiegen, hat vor allem durch schlankere Beantragungsprozeduren und ein neues Insolvenzverfahren Boden gut gemacht.

Bank- und Kreditwesen

Auch die Tiefe des indischen Finanzmarktes ist für die rasch wachsende Wirtschaft noch zu gering. Banken sind gezwungen, einen hohen, freilich sinkenden Anteil ihrer Aktiva (zurzeit 21,5 Prozent) in Staatspapieren anzulegen und 40 Prozent des Rests für prioritäre Belange (etwa die Landwirtschaft) zu reservieren. Das drückt den Kreditspielraum der übrigen Wirtschaft, insbesondere der Klein- und Mittelbetriebe. Die Unternehmen finanzieren sich stark durch relativ kurzfristige Bankkredite, nicht aber durch Anleihen, die andernorts einen guten Teil des aufgenommenen Kapitals stellen. In der Folge hat die Verschuldung von Betrieben durch kurzfristige Bankkredite deutlich zugenommen.

Die Kapitaldecke dieser Banken ist an sich ausreichend, sie sitzen aber auf einem wachsenden Berg "fauler" Kredite, für die schon seit über 90 Tagen keine Zinsen entrichtet wurden. Stromverteilungsunternehmen und halbstaatliche Infrastrukturprogramme gehören zu den wichtigsten säumigen Schuldnern. Früher wurden bankrotte Firmen auf Kosten der Gläubiger (zum Erhalt der Arbeitsplätze) lange am Leben gehalten. Seit 2016 erlaubt ein neues Konkursrecht den Gläubigern im Falle des Zinsverzuges die schnellere Einleitung eines Insolvenzverfahrens.

Immerhin hat sich der Anteil von Bürgern mit eigener Bankverbindung durch ein neues, 2014 gestartetes Programm deutlich erhöht. Dies wird es ermöglichen – zusammen mit der Schaffung neuer Bankfilialen bzw. mobiler Bankvertreter, der Erfassung der indischen Bevölkerung durch Identifikationskarten und der nahezu flächendeckenden Verbreitung von Mobiltelefonen –, allen Bürger staatliche Transfers direkt zukommen zu lassen, also Mittelsmänner auszuschließen und die bisherigen Sachsubventionen (etwa für Energie und Lebensmittel) durch Direktzahlungen zu ersetzen, zweifelsohne ein beachtlicher Fortschritt.

Beschäftigungssituation

Wichtiger als der aufgelistete Reformbedarf in Einzelbereichen ist die Tatsache, dass die wirtschaftliche Dynamisierung des Landes nur vergleichsweise begrenzte Breitenwirkung entfaltet hat. Das betrifft vor allem die Beschäftigungssituation: Jedes Jahr drängen ca. zwölf Millionen neue Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt, die Beschäftigungsintensität des Wachstums (also wie viel mehr Arbeitskräfte bei einer bestimmten Wachstumsrate eingestellt werden) ist aber nach den Reformen so weit gefallen, dass eine dauerhafte Steigerung der Wirtschaftsleistung um acht bis zehn Prozent nötig wäre, um die Arbeitslosigkeit nicht steigen zu lassen.

Indiens Wachstum ist stark kapitalintensiv und absorbiert im formalen Sektor vor allem gut ausgebildete Arbeitskräfte in Industrie und Dienstleistungen, nicht aber die Masse der Un- und Angelernten. Das hat dazu geführt, dass noch zu viele Arbeitskräfte in der unterproduktiven Landwirtschaft verharren und dass das Wachstum nicht zu einer deutlicheren Verringerung der absoluten Armut geführt hat. Der überwiegende Teil neuer Arbeitsplätze in der Industrie und im Dienstleistungsbereich entstand im informellen Sektor; dieser bietet aber vergleichsweise schlechte Bezahlung und wenig Beschäftigungssicherheit (Zunahme der Leiharbeit) oder bedeutet Scheinselbstständigkeit.

Indien droht bei der Fortsetzung dieser Entwicklung eine dauerhafte Spaltung des Arbeitsmarktes (in privilegierte Arbeitnehmer und den Rest) mit allen dadurch erzeugten sozialen Spannungen. Aus diesem Dilemma gibt es nur zwei Auswege: Entweder man versucht, die Basis arbeitsintensiver industrieller Fertigung deutlich zu verbreitern oder in Indien findet eine wahre Ausbildungsrevolution statt, die das dortige Kompetenzniveau so weit anhebt, dass das Land in der Breite international auch bei technologisch anspruchsvolleren Gütern und Diensten konkurrieren kann. Auf beiden Wegen versucht die jetzige Regierung, Boden zu gewinnen.

Quellentext12 Millionen auf Arbeitssuche

[…] Jedes Jahr betreten zwölf Millionen junge Menschen den Arbeitsmarkt. Nur zehn Prozent finden in der (staatlichen und privaten) Industrie eine Anstellung. Die große Mehrheit ist im informellen Dienstleistungssektor tätig. Informell ist ein Euphemismus dafür, dass die Menschen meist unterbeschäftigte Gelegenheitsarbeiter sind und auf eigene Faust eine Beschäftigung ausüben, und sei es, auf dem Gehsteig den Passanten das Schmalz aus den Ohren zu entfernen.
Diese Millionen von Menschen sind meist unsichtbar, denn sie fallen noch nicht einmal durch staatliche Auffangnetze und erscheinen so auch nicht in der regulären Arbeitslosenstatistik. So müssten die offiziellen Arbeitslosenzahlen eigentlich überaus hoch ausfallen, da von den jährlich zwölf Millionen Arbeitsmarktneulingen nur etwa 1,5 Millionen einen festen Job erhalten. Das Gegenteil ist der Fall. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen lagen 2014 bei rund sechs Prozent. Dahinter liegt ein definitorischer Trick: Arbeitslos ist nur, wer zuvor bereits für einen Lohn gearbeitet hat – und das haben die wenigsten. Zudem können es sich die meisten Armen gar nicht leisten, arbeitslos zu sein. "In Indien ist Arbeitslosigkeit ein Luxus", schrieb die Wirtschaftszeitung "Mint", "denn ein offizieller Arbeitsloser signalisiert damit, dass er genug Geld hat, um für einige Zeit ohne Lohn zu leben." […]
Bisher hatten Politiker immer von Indiens demografischer Dividende geschwärmt: Das große Bevölkerungsbecken der jungen indischen Bevölkerung werde auf Jahrzehnte hinaus die Welt mit arbeitsfähigen Menschen versorgen. Während der Bevölkerungsrückgang in den Industriestaaten zur Überalterung der großen Nationen führt, wird Indiens junge Bevölkerung von 757 Millionen (2010) auf 972 Millionen im Jahr 2030 wachsen und damit Chinas sinkenden Anteil an der Weltbevölkerung überholen. 25 Prozent der Arbeitsbevölkerung weltweit sind dann Inder.
Doch die Definition "arbeitsfähig" bezieht sich nur auf das Alter der 19- bis 59-Jährigen und nicht auf deren berufliche Fähigkeiten. Nur rund drei Prozent haben eine Berufsschule durchlaufen. Selbst unter den Absolventen der Hochschulen sind heute zwölf Millionen arbeitslos. War es nur Bürokratie und Korruption, die die Auslandsstrategie der Tatas und anderer Firmengruppen erklärten? Oder war es auch der Mangel an ausgebildeten Arbeitern, Technikern und Ingenieuren aus dem eigenen Land? […]
Die sinkende Arbeitsproduktivität der indischen Landwirtschaft wird auf jeden Fall nicht mehr lange imstande sein, die Millionen von unemployable youth mit Gelegenheitsarbeit durchzufüttern. Heute produzieren 150 Millionen Bauern gleich viel Nahrungsmittel wie sechs Millionen Amerikaner. Dies erklärt den Abwanderungssog in die Städte. Aber dort müssen sich 85 Prozent der Arbeitswilligen mit Gelegenheitsjobs durchkämpfen. Denn sie haben nichts vorzuweisen, was ihnen im formellen Sektor der Fabriken, Callcenter und Amtsstuben einen Job verschaffen würde. Es ist eine Arbeit ohne Sozial- und Gesundheitsschutz, ohne Minimallöhne, Ferien und Pensionskasse. "Informelle Arbeit", so lautete das Urteil des Unternehmers Manish Sabharwal, "ist die Sklaverei des 21. Jahrhunderts." […]


Bernard Imhasly, Indien. Ein Länderporträt, 2., aktual. Auflage, Ch. Links Verlag Berlin 2016, S. 125ff.

Fussnoten

Professor Dr. rer. soc. Joachim Betz, Jahrgang 1946, war Leitender Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asien-Studien des GIGA (German Institute of Global and Area Studies / Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien) und ist Prof. emeritus für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg.
Seine fachlichen Schwerpunkte sind Politik und Wirtschaft Südasiens, Verschuldung, Rohstoffpolitik, Globalisierung und Entwicklungsfinanzierung.