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Gesellschaftliche Strukturen

Joachim Betz

/ 26 Minuten zu lesen

Ethnische, religiöse und sprachliche Vielfalt prägen die indische Gesellschaft und verhindern, dass sich lokale Konflikte landesweit ausbreiten. Der Anteil der absolut Armen sinkt. Das Kastenwesen, Defizite in Gesundheit und Bildung sowie die Diskriminierung von Frauen und Minderheiten verursachen allerdings soziale Probleme.

Gegensätze, hier nur durch eine Bahnlinie getrennt: Mumbai, die Hauptstadt des Bundesstaates Maharashtra ist mit 12,5 Millionen Einwohnern die größte Stadt Indiens und ein wichtiges Wirtschafts- und Finanzzentrum mit luxuriösen Hotels, Theatern und Galerien. Gleichzeitig leben dort Millionen Menschen am Rande des Existenzminimums. (© AP Photo/ Rajanish Kakade)

Bevölkerung und gesellschaftliche Pluralität

Indien weist mit knapp 1,3 Milliarden Einwohnern (Stand: 2016) die höchste Einwohnerzahl weltweit nach China auf, wird Letzteres aber binnen Kurzem ein- und überholen; es verfügt über eine enorme, vergleichsweise junge und damit beschäftigungsfähige Bevölkerung. Diese potenzielle demografische Dividende (also der hohe Anteil Arbeitsfähiger an der Bevölkerung) ist gleichzeitig Segen und Fluch. Segen, weil der Reichtum an vergleichsweise billigen und jungen Arbeitskräften Indien Konkurrenzvorteile auf dem Weltmarkt verschafft und die Lasten für die Älteren tragbar macht, Fluch, weil jährlich mehr als zwölf Millionen zusätzliche Arbeitskräfte in Lohn und Brot gebracht werden sowie zuvor ausgebildet und gesundheitlich versorgt werden müssen.

Dazu kommen noch diejenigen Arbeitskräfte, die zwangsläufig die überbesetzte Landwirtschaft verlassen werden. Letztere diente lange Zeit als Auffangbecken, was sich an der vergleichsweise geringen Verstädterungsrate des Landes (nach der letzten Volkszählung 2011 nur 31 Prozent) und der mäßigen Land-Stadt-Wanderung zeigt, sie kann diese Funktion bei abnehmenden Betriebsgrößen aber kaum noch erfüllen. Die Schaffung ausreichender Arbeitsplätze ist daher zwangsläufig zu einem Kernanliegen indischer Politik geworden. Dass dies gelingt, ist nicht sichergestellt und wird durch den bislang recht geringen Umfang des warenproduzierenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die geringe Beschäftigungsintensität der wirtschaftlichen Wachstumsbranchen nicht erleichtert.

Faktoren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Indien wird nicht zu Unrecht als Staat immenser gesellschaftlicher Pluralität betrachtet. Mit Blick auf andere, auseinandergebrochene Vielvölkerstaaten stellt sich die Frage, wie diese enorme Vielfalt gebändigt oder zusammengehalten werden konnte. Erklären lässt sich dies durch das auch vor den wirtschaftlichen Reformen bestehende Wirtschaftswachstum, aber auch durch die traditionell eher geringe Einkommenskonzentration (die sich in der vergangenen Dekade allerdings deutlich erhöht hat).
Stabilisierend wirkten aber vor allem die demokratische Ordnung und die föderalen Strukturen. Man kann mit Recht sagen, dass ein Land mit der ethnischen, religiösen und sprachlichen Vielfalt sowie den vorhandenen sozialen Zerklüftungen auf Dauer nur in einem demokratischen Gemeinwesen mit gewisser Autonomie der homogeneren Teilstaaten und garantierter Rechte der Minderheiten zusammengehalten werden kann.

Zudem ist diese Vielfalt auch an sich stabilisierend: In Indien verfügt keine Ethnie, keine sprachliche oder religiöse Gruppe und auch keine Kastengruppe über landesweit dominanten Einfluss: Der Hinduismus, der Glaube von mehr als 80 Prozent der Bevölkerung, ist kein einheitliches Glaubenssystem mit festen Dogmen etwa im christlichen Sinn. Er kennt eine enorme Vielzahl, aber keine für alle verbindlichen Gottheiten. Er ist mehr eine Lebensform und dient als solche auch der Begründung und Rechtfertigung des Kastensystems. Gerade aber wegen der Spaltung der Hindus in Kasten und dem recht hohen Bevölkerungsanteil der sogenannten Kastenlosen (besser: Dalits), der Adivasi und der Muslime konnte der Hinduismus lange Zeit keine politisch einheitsstiftende Kraft entfalten. Überdies gibt es auch kein Indien übergreifendes, einheitliches Kastensystem, zudem ist die soziale Lage der Angehörigen gleicher Kasten und Kastengruppen recht unterschiedlich. Eine gesamtindische politische Mobilisierungsstrategie entlang der Kastengrenzen würde daher an enge Grenzen stoßen, was allerdings heftige, zumeist lokal ausgetragene Kastenkonflikte nicht verhindert hat.

Auch sprachliche Zerklüftungen eignen sich kaum noch als Konfliktvehikel. Jeder Unionsstaat weist zwar eine dominante enthnolinguistische Gruppe auf, diese unterscheiden sich aber nach Religion, Sekten, Kasten und einer Vielzahl sozio-ökonomischer Merkmale. Seit von Mitte der 1950er-Jahre an Unionsstaaten nach sprachlichen Grenzen neu zugeschnitten wurden, seitdem der Versuch, Englisch durch Hindi als alleinige Amtssprache zu ersetzen, faktisch aufgegeben wurde und die Examinierung der Bewerber für den Staatsdienst in den anerkannten Regionalsprachen erfolgt, hat sich die frühere Aufregung deutlich gelegt.
Heftige Klassenkonflikte wie im Europa des 19. Jahrhunderts gibt es in Indien nicht. Dies hat zu tun mit dem lange Zeit dominanten staatlichen Einfluss auf den modernen Wirtschaftssektor und der Privilegierung der staatlich beschäftigten Arbeitskräfte, der Zersplitterung der Gewerkschaften und Unternehmerverbände (nach Parteianbindung bzw. Unternehmenscharakter) und – nicht zuletzt – mit dem recht geringen Bevölkerungsanteil der Industriearbeiter.
Die dominante Berufsgruppe sind bis heute die Bauern, die sich zwar zu teils militanten Verbänden, zeitweise auch zu Protestbewegungen zusammenschlossen. Wegen ihres wahlpolitischen Gewichts konnten ihre Interessen aber von keiner Partei vernachlässigt werden. So wurden ihnen vergleichsweise attraktive staatliche Ankaufpreise für ihre Produkte und Schutz vor ausländischer Konkurrenz gewährt. Freilich konnten die Landlosen und marginalisierten Bauern für einige Zeit flächendeckend von militanten "Naxaliten" bzw. deren politischer Führung mobilisiert werden und stellten eine Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität dar. Diese Gefahr konnte durch ein neues Landrecht, Mittelzuweisungen an die betroffenen Landesteile und Unterdrückung der Rebellen einigermaßen gebannt werden.
In politischer Hinsicht ging von der starken gesellschaftlichen Zerklüftung Indiens und den sich überlappenden sozialen Gruppenzugehörigkeiten ein starker Zwang zum Kompromiss aus, zur Politik des föderalen und sozialen Ausgleichs und zum Schutz der Minderheiten. Genau diese Politik haben – mit Abstrichen – die lange Zeit dominante Kongresspartei und später selbst die heute regierende hindu-nationalistische BJP verfolgt.

Die Kongresspartei war zur Sicherung ihrer Herrschaft auf die Loyalität der Minderheiten angewiesen; diese wiederum bedurften in einer vergleichsweise feindlichen Umwelt der Unterstützung und Hilfe durch lokale Kongresspolitiker. Dieser wechselseitigen Abhängigkeit verdanken sich (nicht immer sonderlich erfolgreiche) Bemühungen zum Schutz der Adivasi vor Landverlust, die Reservierungsquoten für diese, die Dalits und später auch die Angehörigen niedriger Kasten sowie die Beibehaltung der familienrechtlichen Regelungen für die Muslime. Wie bereits erwähnt, beugte sich auch die hindu-nationalistische BJP diesem Zwang zum Kompromiss, die in der Regierung ab 1998 (und auch seit 2014) unerwartet rasch ihre umstrittenen Zielsetzungen (z. B. Abschaffung der relativen Autonomie Kaschmirs, Einführung eines einheitlichen Zivilrechts) aufgab, den Föderalismus stärkte sowie die Reservierungsquoten und die Sozialprogramme für die Minderprivilegierten nicht antastete. Militante Hindu-Nationalisten toben sich daher vor allem im kulturellen Bereich aus.
Man übertriebe sicher, würde man Indien als Insel des Friedens und absoluter gesellschaftlicher Stabilität kennzeichnen, dafür ist das Ausmaß lokaler Konflikte zwischen konkurrierenden Parteien, Hoch- und Niedrigkastigen, Religionsgruppen, ethnischen Gruppen, die Gewalt gegen Frauen, Unterprivilegierte und Minderheiten einfach zu virulent. Entscheidend ist aber, dass sich lokale Gewalt bislang nie in einen das ganze Land erschütternden gesellschaftlichen Konflikt umgesetzt hat, so unerfreulich auch zahlreiche Einzelprobleme waren bzw. sind.

Das muss nicht für alle Zeit so bleiben; langfristig gefährlich ist vermutlich nicht die gesellschaftliche Vielfalt als solche, sondern ihre modernisierungsbedingte Zuspitzung in Richtung weniger, aber leicht zu mobilisierender Konfliktlinien (etwa zwischen Hindus und Muslimen). Dies lässt sich bereits unter der jetzigen Regierung beobachten: Sie betreibt zum einen eine stramme Hinduisierung des Bildungswesens, indem sie Curricula umschreibt und wichtige Positionen mit hindunationalistischen Anhängern besetzt. Zum anderen setzt sie hinduistische Reinheitsvorstellungen (etwa das Verbot der Kuhschlachtung) in jenen Unionsstaaten durch, die von ihr beherrscht werden. Die Ausgrenzung der Muslime, immerhin 14 Prozent der Bevölkerung, wird dabei bewusst in Kauf genommen.

Armut und Einkommensverteilung

Bislang gängige Vorstellungen zur krassen, gleichbleibenden Armut in Indien und staatlichem Desinteresse an einer Änderung dieser Situation bedürfen deutlicher Revision. Zwar leben gegenwärtig noch ca. 200 Millionen Menschen in absoluter Armut – das heißt, sie hatten ein Pro-Kopf-Einkommen von 1,25 US-Dollar oder weniger pro Tag zur Verfügung –, jedoch ist ihr Anteil an der Bevölkerung, der 1972/73 noch 51,5 Prozent betrug, bis 2011 auf 21,9 Prozent gesunken. Setzt sich diese Entwicklung fort, wird dieser Anteil bis 2030 auf unter drei Prozent sinken. Das ist ohne Zweifel ein großer Fortschritt, auch wenn man argumentieren kann, dass die indische Armutslinie etwas niedrig angesetzt ist. Auch hätte es mit der Armutsminderung durchaus schneller gehen können, wenn das Wirtschaftswachstum früher die besonders armen Bundesstaaten erreicht hätte (die aber nun zum Teil schnellere Fortschritte machen), wenn dies wiederum mit einer rascheren Schaffung neuer Arbeitsplätze und einem stärkeren Einbezug der Landwirtschaft in den wirtschaftlichen Aufschwung verbunden gewesen wäre und nicht zu einer leichten Verschlechterung der Einkommensverteilung geführt hätte.

Absolute Armut konzentriert sich auf die Bundesstaaten im Zentrum und im Osten, geht dort aber seit Kurzem schneller zurück als im indischen Durchschnitt; kaum von Armut betroffen sind Goa, Kerala und Himachal Pradesh. Die Kluft zwischen den reichen und armen Unionsstaaten hatte sich nach 1991 zunächst geweitet. Letztere wiesen ein niedrigeres Wachstum auf und konnten es auch schlechter in Armutsreduktion umsetzen. Begründen lässt sich dies unter anderem damit, dass die reichen Staaten zu Beginn der Liberalisierung bessere Startvoraussetzungen mitbrachten. Private Investitionen aus dem In- und Ausland flossen in jene Staaten, die über eine angemessene Infrastruktur, einen akzeptablen Bildungsstand und eine stabile Regierungsführung verfügten sowie Recht und Ordnung einigermaßen gewährleisteten – die also Eigenschaften aufwiesen, die durchaus veränderungsfähig sind.

Arme Bevölkerungsgruppen leben noch zu 70 Prozent auf dem Land und setzen sich dort aus Landarbeitern sowie Kleinbauern mit sehr geringen Betriebsgrößen zusammen. Landlosigkeit und Kleinstbetriebe haben seit den 1960er-Jahren wegen des Bevölkerungswachstums und einer verbreiteten Tendenz zur Realteilung ererbten Besitzes deutlich zugenommen, lange Zeit auch mangels Beschäftigungsalternativen auf dem Land. Das hat sich in den vergangenen Jahren deutlich geändert; beigetragen dazu haben die rege Bautätigkeit in Indien, das neue ländliche Beschäftigungsprogramm, Bildungsfortschritte auf dem Land und Überweisungen der im Wesentlichen in den Golfstaaten beschäftigten Migranten an die zu Hause Gebliebenen. Absolute Armut gibt es natürlich auch in der Stadt, vor allem bei den "Selbstständigen" im Dienstleistungsgewerbe (Typus: Kleinverkäufer), die auch keinerlei staatliche soziale Absicherung genießen.

QuellentextNRIs – Auslandsinder

Heute sind die USA weltweit das Land mit der größten Zahl von Auslandsindern (Non-Resident Indians oder kurz NRIs) und indischstämmigen US-Bürgern. Diese 3,1 Millionen Indian Americans (nicht zu verwechseln mit der Urbevölkerung der American Indians) bilden die ethnische Gruppe mit dem höchsten jährlichen Pro-Kopf-Einkommen (rund 100.000 Dollar), höher als das der traditionellen Elite der angelsächsischen Weißen und der chinesischen Diaspora. Sie weisen eine überdurchschnittliche Zahl von Anwälten, Richtern, Ärzten, Professoren, Managern und Unternehmern auf. Schon tauchen die ersten Politiker indischer Herkunft im amerikanischen Kongress auf, und in der Fernsehserie The Simpsons gibt es eine indische Figur namens Apu Nahasapeemapetilon. […] […] [Ö]konomisch wird […] [die indoamerikanische Diaspora der Reichen] […] von der mittelöstlichen Diaspora der Armen in den Schatten gestellt. Die rund vier Millionen Inder in der Golfregion – eine große Mehrheit von ihnen sind unter unwürdigsten Bedingungen schuftende Arbeitskulis und nicht Intelligenzarbeiter – senden jeden Monat große Teile ihres Lohns in ihr Heimatland. Die Hälfte von ihnen stammt aus Kerala. Lohn- und Goldtransfers haben einen reichen Bundesstaat aus ihm gemacht. Kerala kommt heute praktisch ohne eine verarbeitende Industrie aus und vermittelt dem Besucher trotzdem das Bild eines Wohlfahrtsstaats.

Die sozialen Folgen sind allerdings nicht so rosig. Das Fehlen heiratsfähiger Männer und verheirateter Väter hat ein akutes sozialpsychologisches Spannungsfeld geschaffen. Junge Mütter haben oft Mühe, den Anforderungen einer vaterlosen Familie gerecht zu werden. Viele sind sexuellem Missbrauch ausgesetzt, da in den halbleeren Dörfern die soziale Kohäsion bröckelt. Trotz einer vorbildlichen Schul- und Berufsbildung wird den meisten Frauen durch die Bürden von Haus und Kindern eine Berufsausübung erschwert. Ein drastischer Hinweis auf dieses Stresssymptom ist die hohe Selbstmordrate unter jungen Keralerinnen zwischen 20 und 40 Jahren – die höchste in ganz Indien.

Mit einem jährlichen Rückfluss von 70 Milliarden Dollar steht Indien heute an der Spitze der Länder mit einer großen Diaspora, weit vor China. Die indische Regierung hat ihr Misstrauen bezüglich des Absaugens ihrer besten Hirne begraben. Stattdessen wurden Gesetze verabschiedet, die neue Kategorien von Indern schaffen: Zu den NRIs gesellen sich die "PIOs" und "OCIs", "persons of indian origin" und "overseas citizens of India". Sie haben zwar keinen indischen Pass, aber ein hybrider PIO-OCI-Ausweis hilft ihnen mit mehreren Vorrechten darüber hinweg, dass ihr Heimatland keine formelle Doppelbürgerschaft anerkennt.
Europa, und namentlich Kontinentaleuropa, ist die Weltregion, in der Inder im letzten halben Jahrhundert am wenigsten Fuß gefasst haben. Die Geschichten der Sikhs in Italien und der Palanpuri-Gujaraten in Antwerpen beschreiben eher Ausnahmen als die Regel. Ähnlich ist es in Großbritannien […]. Nur knapp 700.000 der weltweit vier Millionen indischen Auslandsbürger leben dort. […] Nach dem Vereinigten Königreich liegt Italien mit 116.000 indischen Bewohnern bereits an zweiter Stelle und viel weiter dahinter kommt das drittplatzierte Finnland mit 4.300 NRIs.

Die Landessprachen sind zweifellos ein wichtiger Grund dafür. Viele Mittelklasseinder verfügen über recht gute passive Kenntnisse des Englischen. Fragt man Inder nach der geringen Beliebtheit Kontinentaleuropas, wird aber die Immigrationspolitik der EU verantwortlich gemacht. Sie sei eine Mischung von Ängstlichkeit und Überheblichkeit, schrieb der Politologe Devesh Kapur in einer Kolumne: "Viele westeuropäische Eliten – in den Universitäten, Parlamenten oder Medien – leben in einem kognitiven Universum, in dem europäische Hegemonie immer noch ein unumstößlicher Fakt ist. Indien wird immer noch gegängelt und exotisiert und der unterschwellige Rassismus ist deutlich stärker als etwa in den USA."

Bernd Imhasly, Indien. Ein Länderporträt, 2. aktualisierte Auflage. Ch. Links Verlag, Berlin 2016, S. 140 und 144 ff.

Falsch ist die lange Zeit auch in Indien gehörte Behauptung, die wirtschaftliche Liberalisierung nach 1991 hätte zu stagnierender Armutsreduktion, dem Zurückbleiben der Unterprivilegierten und einer dramatischen Verschlechterung der Einkommensverteilung geführt. Die Armut ging im Gegenteil rascher als vorher zurück, alle Schichten und religiösen Gruppen haben davon nahezu gleichermaßen profitiert (am wenigsten jedoch die Adivasi). Wohlhabender sind meist immer noch die Angehörigen der religiösen Minderheiten (mit Ausnahme der Muslime), also zum Beispiel Christen, Jains, Sikhs und Buddhisten, ärmer vor allem neben den Muslimen die Dalits und insbesondere die Adivasi. Die genannten wohlhabenderen religiösen Minderheiten kommen nur auf einen sehr kleinen Bevölkerungsanteil (jeweils 1–2 Prozent) und eignen sich daher nur begrenzt für eine Neiddebatte. Problematischer ist das relative Zurückbleiben der Muslime in Bezug auf Einkommen und Bildungsstand, hier könnten sich für die Zukunft aus politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung Zündstoff ansammeln.

Die Einkommensverteilung hat sich in Indien seit den Reformen tatsächlich verschlechtert; die Werte sind, gemessen am Konsum, jedoch immer noch im grünen Bereich, nähern sich aber beim Einkommen und vor allem beim Vermögen langsam lateinamerikanischen Werten. Der Gini-Index (Maß zur Darstellung von Ungleichheiten) beträgt beim Konsum auf dem Land etwa gleichbleibend 0,31, ist im städtischen Bereich aber mittlerweile auf 0,41 gestiegen; beim Vermögen liegt der geschätzte Index bei über 0,5. Ursächlich für die wachsende Lohnspreizung ist, dass das indische Wirtschaftswachstum vornehmlich in kapitalintensiven Branchen generiert wird und überwiegend nur qualifizierte Arbeitskräfte nachgefragt werden. Enorm ist das gar nicht leicht zu erfassende Vermögen der Superreichen gestiegen (es gibt zahlreiche indische Dollarmilliardäre), was sich vor allem an der steigenden Anzahl von Luxusimmobilien und teuren Importautos zeigt.
Unzutreffend wäre auch die Unterstellung, der indische Staat habe zur Beseitigung der Armut nichts getan und die aus dem Ausland einströmenden Mittel zur Armutsbekämpfung gänzlich zweckentfremdet. Das wäre schon am demokratischen Charakter des Staates gescheitert, also am Stimmgewicht der Armen. Bereits der Unabhängigkeitskampf war eine Massenbewegung, die Ideologie der lange Zeit dominierenden Kongresspartei war egalitär ausgerichtet, sie und andere Parteien maßen der Armutsbekämpfung hohe Priorität zu, auch wenn bei der konkreten Umsetzung der zahlreichen Programme erhebliche Defizite sichtbar wurden und diese daher nur einen insgesamt bescheidenen Beitrag zur Armutslinderung brachten. Wirtschaftlicher Fortschritt und begrenzte staatliche Umverteilung haben aber zweifelsohne zur Dämpfung gesellschaftlicher Konflikte beigetragen.

Es muss allerdings auch erwähnt werden, dass die Verringerung der absoluten Armut nicht bedeutet, alle anderen lebten nun im Wohlstand. Über ein Einkommen von zehn US-Dollar und mehr pro Tag verfügen ca. fünf Prozent der Bevölkerung; damit hält sich auch der Anteil der viel zitierten "riesigen" indischen Mittelschicht durchaus noch im Rahmen. Zu ihr werden derzeit ca. 24 Millionen Menschen gerechnet, also etwa drei Prozent der Bevölkerung. Diese Gruppe, einschließlich der Reichen, verfügt aber über 62 Prozent des privaten Gesamtvermögens und wächst rasch.

QuellentextOpfer des Menschenhandels – Schicksale verschwundener Kinder

Es ist eine unfassbare Zahl: 14.671 Kinder sind zuletzt innerhalb eines Jahres verschwunden – allein im ostindischen Bundesstaat Westbengalen. Auf dem ganzen Subkontinent soll die Zahl bei fast 63.000 im Jahr 2015 gelegen haben, schätzt die Hilfsorganisation "Child Rights and You" auf Grundlage von Daten des Innenministeriums. Damit verschwinden Tag für Tag 173 Kinder in Indien. Hinter jedem einzelnen verbirgt sich ein trauriges Schicksal. Gestern noch hatten die Kinder ein Zuhause und eine Familie, heute fehlt von ihnen jede Spur, oft weil sie in die Fänge skrupelloser Menschenhändler geraten sind. Die haben nur ein Ziel: mit den geraubten Existenzen gutes Geld verdienen. […] Indien will das ändern. Bei der breit angelegten "Operation Smile" durchkämmten Polizisten und Sozialarbeiter Anfang des Jahres verdächtige Betriebe. Sie kommen Schritt für Schritt vorwärts: So fanden Polizisten rund 200 Kinder, die meisten jünger als vierzehn Jahre, in einer Ziegelei in der Nähe der südindischen Großstadt Hyderabad. Sie stammten aus dem nordöstlichen Bundesstaat Odisha. In der Ziegelei lebten sie mit Erwachsenen – von denen viele aber nicht ihre Eltern waren, wie die Polizei vermutet. "Die Retter haben Mädchen im Alter von sieben, acht Jahren gesehen, die Ziegel auf ihrem Kopf trugen. Manche waren gerade mal vier Jahre alt", berichtet Mahesh Bhagwat, der örtliche Polizeichef. […]

Viele der Kinder befreien die Retter in Ziegeleien, aber auch in Fabriken, die die Kinder nutzen, um dank ihrer kleinen Finger und scharfen Augen Billigarmbänder aus Plastik mit Glitzersteinen zu bekleben. Auch in privaten Haushalten wurden die Fahnder fündig. Dort werden Kinder als Helfer oder Sexsklaven ausgebeutet. […]

Manchmal fängt es vergleichsweise harmlos an und endet für die Kinder in der Katastrophe. Auch weil die Eltern auf Geld angewiesen sind: "Die Mittelsmänner, die die Kinder für die Ziegeleien anwerben, bezahlen deren Eltern im Voraus", berichtet einer der Aufklärer. Viele zögen dann für eine Saison in den südindischen Staat Telangana. "Wenn sie dann aber hierhergekommen sind, müssen sie oft weiterarbeiten und haben keine Chance mehr, zu fliehen und zurückzukehren. Dann wird ihnen auch oft kein Lohn mehr bezahlt", sagt der Mann. Die Kinder würden zu Sklaven.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass in Indien fast sechs Millionen Kinder zwischen fünf und siebzehn Jahren arbeiten müssen. Nicht alle von ihnen sind entführt – viele werden mit Versprechen von guter Kleidung, Kosmetik oder Mobiltelefonen etwa in Spinnereien gelockt oder auch von ihren armen Eltern verkauft. Rund die Hälfte der Kinderarbeiter schuftet unter härtesten Bedingungen in der Landwirtschaft, mehr als ein Viertel in Betrieben, schätzen die Fachleute der ILO. Menschenhandel in Indien gilt als das drittgrößte illegale Geschäft – nach dem Verschieben von Waffen und Drogen.

Das Schockierende: Die Verbrechen laufen ab wie ein ganz normaler Handel. Der Preis für ein Mädchen, das in einem der Bordelle in Südindien zur Prostitution gezwungen wird, liege bei rund 200.000 Rupien (2727 Euro) berichtet ein Menschenhändler. "Ist sie Jungfrau, groß gewachsen und mit heller Haut, ist sie ideal. Interessant sind Mädchen zwischen elf und vierzehn Jahren", gibt der Mann im Gespräch mit dem indischen Magazin "The Week" wie selbstverständlich zu Protokoll. Rund 100.000 Rupien Gewinn fielen für ihn dabei ab.

Die Geschäfte laufen professionell organisiert ab. Drahtzieher arbeiten im Hintergrund, sie beschäftigen Männer, die die Mädchen aussuchen, wieder andere werben die Opfer an, überreden sie zum Weglaufen oder kaufen sie ihren Eltern ab. Transporteure sorgen für eine problemlose und unerkannte Reise der Mädchen, indem sie sich oft als deren Vater ausgeben. Die Tour der Opfer dauert Monate, um Spuren zu verwischen, bis sie schließlich eines der Bordelle in den Metropolen Chennai oder Bangalore erreichen. Dort bleiben sie dann Jahre, kaum noch auffindbar. […]

Christoph Hein, "Geraubte Leben" in: Frankfurter Allgemeine Woche 15/2017 vom 7. April 2017 ©Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GbmH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Mit dem steigenden Wohlstand in Indien war auch eine Verbesserung der Sozialindikatoren verbunden. Die Kindersterblichkeit ist deutlich gesunken (in Teilen Indiens auf osteuropäische Werte), die durchschnittliche Lebenserwartung auf immerhin 68 Jahre gestiegen, die Einschulungsraten liegen bei etwa 97 Prozent, dabei haben sich auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern fast eingeebnet. Ein wesentlicher Schwachpunkt der Entwicklung ist die massenhafte Unterernährung von Kindern und Frauen, bei der Indien das Schlusslicht in Südasien bleibt. Auch bei der Müttersterblichkeit erreicht Indien noch sehr hohe Werte.

Gesellschaftliche Konfliktbereiche

Das Kastenwesen

QuellentextDas Kastenwesen in Indien

Bis heute ist das gesellschaftliche Leben in Indien durch das Kastenwesen geprägt. Dessen Grundlagen entstanden vor Jahrtausenden, in einer Zeit, als Nomadenvölker aus Zentralasien, die sich selbst Aryas ("Edle") nannten, in Nordindien einwanderten und dort ab etwa 1000 v. Chr. sesshaft wurden. Ihre herrschende Priesterklasse entwarf damals jene Kategorien, die heute mit dem Begriff der "Kaste" bezeichnet werden. Der Begriff selbst ist allerdings eine Fremdzuschreibung durch Europäer, abgeleitet von dem portugiesischen Wort casta für "rein". Die "Kasten"-Hierarchie besteht eigentlich aus zwei Kategorien, die sich gegenseitig ergänzen: Die erste Kategorie der Varna (sanskritisch für "Farbe") unterteilt die Gesellschaft grob in soziale Schichten bzw. Stände. Im Rigveda, der ältesten heiligen Schrift des Hinduismus, werden sie mythologisch begründet: Bei der Opferung des Urwesens Purusha seien aus seinem Mund die Brahmanen (Priester) entstanden, aus seinen Armen die Kshatriyas (Krieger), aus den Schenkeln die Vaishyas (Händler) und aus den Füßen die Shudras (Bedienstete). Später wurden in einer fünften Schicht verschiedene Gruppen außerhalb des Varna-Systems (Avarna) zusammengefasst: die "Unberührbaren", die "unreine" Arbeiten verrichten – wie das Töten von Tieren oder das Reinigen von Latrinen –, und die Stämme der Ureinwohner, die nicht in das Kastensystem integriert wurden. Nach und nach wurde in die Varna-Ordnung die wesentlich differenziertere Kategorie der  Jati ("Geburt") eingewoben. Sie bezeichnet eine fiktive Abstammungslinie mit meist beruflichem Bezug, z.B. die Jati der Zimmerer, der Töpfer oder der Wäscher. Der Zensus von 1881 im damaligen Britisch-Indien zählte rund 2000 solcher Jatis. Jatis sind, zumindest vom Prinzip her, endogam, geheiratet wird also nur innerhalb der Jati.

In den Städten des modernen Indiens weichen solche Kastengrenzen allmählich auf, doch vor allem auf dem Land spielen sie noch eine wichtige Rolle. Darunter leiden besonders die untersten Schichten. Sie gelten als "unrein", werden von Angehörigen höherer Kasten in vielerlei Hinsicht ausgegrenzt und haben kaum eine Chance auf sozialen Aufstieg. Die indische Verfassung erkennt ihre Schutzbedürftigkeit an und führt die "Unberührbaren", die sich selbst Dalits ("Unterdrückte") nennen, als "gelistete Kasten" (scheduled castes). Diese stellten im Zensus 2011 mit 167 Mio. Menschen rund 16 % der Bevölkerung. Hinzu kamen 84 Mio. Stammesangehörige (8 %), die sogenannten scheduled tribes, die sich selbst oft als Adivasi ("Ureinwohner") bezeichnen. Beiden Bevölkerungsgruppen werden im Rahmen der Politik der "positiven Diskriminierung" Privilegien in Bildung und Beruf eingeräumt und Parlamentssitze reserviert. Diese Politik ist aber umstritten, da sie aus Sicht der Kritiker zur Zementierung der Kastengrenzen beiträgt.

© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 874.581, Stand: 10/16

Das Kastensystem (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 874.581, Stand: 10/16)

Das indische Kastenwesen wird vielfach als entscheidende Entwicklungsbremse angesehen. Dem widerspricht jedoch schon die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik Indiens während der vergangenen Jahrzehnte. Diese Dynamik, die zunehmende Verstädterung, der relative Bedeutungsverlust der Landwirtschaft, die Bildungsfortschritte auch ärmerer Bevölkerungsgruppen und ihr Gewicht bei Wahlen haben die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Kastenordnung deutlich geschwächt. Sie beruht nicht in erster Linie auf den vier Kastengruppen (ind.: Varnas) der Priester, Krieger, Händler und Bauern, die gar keine gemeinsamen Organisationen kennen, sondern auf Tausenden von Jatis (Geburtsgruppen) mit ursprünglich gemeinsamer Zugehörigkeit durch Geburt, strikte Berufsbezogenheit, Vorschriften zur Reinerhaltung der Kaste und insbesondere Beschränkung der Partnerwahl auf Kastenzugehörige.

Diese Beschränkungen haben sich vor allem in der Stadt und im modernen Wirtschaftssektor deutlich gelockert, die Vorstellung, man könne einem niedrigkastigen Vorgesetzten in Indien den nötigen Respekt versagen, wäre völlig absurd. Dominante Kasten, selbst die Kastenhierarchie, unterscheiden sich überdies nach indischen Regionen und Bundesstaaten teilweise erheblich, sodass eine gesamtindische politische Mobilisierung nach Kastenkriterien schwer vorstellbar ist. Das heißt nun freilich nicht, dass die Angehörigen höherer Kasten im Durchschnitt nicht über höhere Bildungsabschlüsse, Landbesitz, Einkommen, Vermögen und vor allem kulturell-soziales Prestige verfügten. Das ist mit leicht abnehmender Tendenz immer noch so.

Unrichtig ist auch die Vorstellung, das Kastenwesen unterbinde jegliche gesellschaftliche Mobilität. Schon seit Langem gibt es immer wieder erfolgreiche kollektive Versuche einzelner Kasten, etwa durch den Erwerb von politischen Ämtern oder Landerwerb, die soziale Leiter emporzusteigen und die rituellen Vorschriften der Oberkastigen zu übernehmen – sich, wie es heißt, zu sanskritisieren. Die individuelle Mobilität ist durch höhere Bildung und Ausbrechen aus den tradierten Berufen der Kastengruppen deutlich gestiegen, verbleibende Benachteiligungen sind eher einkommensbezogen.
Allerdings gibt es nach wie vor kastenbezogene Diskriminierung, selbst etwa bei Einstellungen und Beförderungen in der Privatwirtschaft. Rituelle Reinheitsgebote werden heute weniger strikt beachtet, getrennte Sitzordnungen nach Kasten (etwa bei Festessen auf dem Dorf) werden seltener, Heiraten über Kastengrenzen hinweg sind noch relativ selten, nehmen aber in den wohlhabenden und gebildeten Schichten zu.
Sozial ist das Kastenwesen zwar geschwächt worden, seine politische Relevanz hat im demokratischen Prozess aber eher zugenommen. Bedeutsam hierfür waren die Reservierungen von Ausbildungsplätzen in den Hochschulen und von Stellen im öffentlichen Dienst zugunsten der Unterkastigen (scheduled castes) und der Adivasi (scheduled tribes), später der übrigen niederen Kasten (other backward castes).

Um die Bedeutung dieser Maßnahmen zu ermessen, muss man wissen, dass Arbeitsplätze im formellen Wirtschaftssektor in Indien rar und privilegiert sind, die Hälfte davon auf den staatlichen Bereich entfallen, Reservierungen also bedeutsame Startvorteile für bessere Lebenschancen verschaffen. Ein nachteiliger Effekt der als Überbrückungsmaßnahme gedachten (jedoch ständig verlängerten) Reservierungen ist bis heute, dass viele potenziell Begünstigte gar nicht über die Qualifikationen verfügen, um diese Stellen zu besetzen, vor allem nicht in den höheren Rängen. Sie haben aber einer Elite innerhalb der niederen Kasten nicht gekannte Aufstiegschancen verschafft. Im Jahr 1990 wurde unter heftigen Protesten der oberen Kasten eine Reservierung von 27,5 Prozent der Stellen im öffentlichen Dienst und der Ausbildungsplätze an den Hochschulen für die übrigen niederen Kasten angekündigt. Diese Quote wurde durch ein Urteil des Obersten Gerichts bestätigt – die Reservierungen aber auf insgesamt die Hälfte der zur Verfügung stehenden Stellen begrenzt.
Diese Reservierungspolitik ist zu einem mächtigen Mittel der Umverteilung von Lebenschancen geworden. Konsequenterweise kämpfen neuerdings einige traditionell eher nicht niedrig stehende Kasten um den Einbezug in die Liste. Die Reservierung ist in einigen Unionsstaaten mittlerweile auf die Muslime ausgedehnt worden und wird informell auch von privaten Bildungsinstitutionen und größeren Privatunternehmen praktiziert, sodass sie also fast flächendeckenden Charakter angenommen hat.

Ein zweiter Grund für die politisch eher steigende Bedeutung der Kasten ist, dass die politischen Parteien Kandidaten für die Volksvertretungen oder Führungspositionen besonders auch nach Kastenkriterien auswählen. Das hat damit zu tun, dass die Kastenzugehörigkeit ein leichtes Erkennungsmerkmal (meist schon anhand des Nachnamens) und politisches Mobilisierungsinstrument darstellt und sich nach der Wahl zur Verteilung gruppenbezogener Vorteile anbietet. Daher achten alle Parteien auf eine ausgewogene Repräsentanz nach Kasten, wenn sie nicht schlicht simple Kastenallianzen sind.
Die am stärksten unterprivilegierte Minderheit in Indien bilden die "Unberührbaren", heute üblicherweise Dalits (die "Unterdrückten") genannt, bei uns oft unsinnigerweise "Kastenlose" (unsinnig deshalb, weil man als Hindu gar nicht aus dem Kastensystem herausfallen kann). Nach dem Zensus von 2011 entfielen 16,6 Prozent der Bevölkerung auf die sogenannten scheduled castes, die sich in zahlreiche (über 1000) Unterkasten gliedern und sich deshalb nicht zwangsläufig miteinander solidarisch fühlen.

Dalits waren und sind typischerweise in der Landwirtschaft beschäftigt (als Landarbeiter, auch als Kleinbauern), wobei ihr Anteil am Landbesitz und noch mehr am Besitz von bewässertem Land unterproportional ist. Andere typische Dalit-Berufe auf dem Land und in der Stadt sind die Reinigung von Straßen, Gebäuden und Latrinen (wobei ihre Beschäftigung bei Letzterem eigentlich untersagt ist, das Verbot aber nicht umfassend durchgesetzt wird), die Ledergerbung und die Schuhmacherei. Es gibt aber auch eine größer werdende Schicht von Wohlhabenden unter den Dalits. Ihre eigene Handelskammer weist bereits über 3000 Mitgliedsmillionäre auf, der Anteil der Dalits mit Stein- statt Lehmhäusern ist beachtlich gestiegen, ihr Anteil an denjenigen, die unter der Armutsschwelle leben, ist deutlich gesunken. Dazu haben die wirtschaftlichen Reformen und die Liberalisierung, die zunehmende Beschäftigung außerhalb der Landwirtschaft sowie steigende Überweisungen von Dalit-Arbeitsmigranten an ihre Familien beigetragen. Die zahlreichen staatlichen Programme zu ihrer Besserstellung hatten allerdings nur begrenzte Wirkung.

Artikel 17 der indischen Verfassung erklärt die Unberührbarkeit für abgeschafft, gewaltsame Übergriffe gegenüber Dalits wurden strafrechtlicher Verfolgung unterworfen. Das milde gefasste Ausführungsgesetz ließ allerdings fünf Jahre auf sich warten und musste schon 1976 nachgebessert werden. Doch bis heute führen die Prozesse gegen gewalttätige Übergriffe auf Dalits (über 20.000 pro Jahr) in den meisten Fällen zum Freispruch der Angeklagten. Zuletzt wurde wenigstens die Anzahl mobiler Gerichte erhöht, um diese Verstöße schneller zu ahnden. Umgekehrt ist die hohe Anzahl dieser Vorfälle auch ein Zeichen dafür, dass sich Dalits nicht mehr alles gefallen lassen, worauf Oberkastige dann mit Gewalt reagieren.

Eine jahrhundertelang währende Diskriminierung einer zahlenmäßig doch recht bedeutenden Minderheit müsste unter demokratischen Vorzeichen eigentlich deren politische Mobilisierung fördern. Tatsächlich trat 1972 mit den Dalit Panthers erstmals eine militante politische Partei als Vertreterin dieser Gruppe auf, die allerdings unstrukturiert blieb, sich im Wesentlichen auf Mumbai und Umgebung beschränkte und sich nach zwei Jahren auflöste. Zwölf Jahre später wurde sie durch die wesentlich erfolgreichere Bahujan Samaj Party (BSP) abgelöst. Diese war ab 1993 mehrmals an der Landesregierung von Uttar Pradesh beteiligt und konnte nach ihrem Wahlsieg 2007 erstmals allein die Regierung bilden, wurde aber 2012 wegen schwacher Leistung abgestraft. Die erwähnten Erfolge konnte sie nur durch Aufstellung auch oberkastiger Kandidaten und durch Koalitionsbildung mit der hindu-nationalistischen BJP erringen. Entsprechend durchwachsen war ihre Regierungsführung.
Kastendenken wird in Indien mit Sicherheit nicht über Nacht verschwinden; dazu ist es kulturell zu stark verwurzelt. Es wird durch die faktische Endogamie bei der Verehelichung (also die Wahl der Partner aus der gleichen oder nahestehenden Kaste) auf Dauer gestellt. Befördert wird es auch durch die staatlich verordneten Reservierungen, die die Konkurrenz zwischen den Kasten anheizen und entsprechende politische Strategien der Parteien fördern. Reservierungen sind ein vergleichsweise preiswertes Mittel, um den Anschein sozialer Gerechtigkeit zu erzeugen; sinnvoller, aber auch kostspieliger wäre eine inklusive Sozial- und Wirtschaftspolitik. Gesellschaftlich würde eine Überwindung eine deutliche Zunahme kastenübergreifender Ehen erfordern; Anzeichen dafür sind schon zu erkennen.

Adivasi

Indien ist das Land mit der weltweit größten indigenen Bevölkerung (ca. 8,2 %). Die Adivasi (Selbstbezeichnung, dt.: erste Siedler, in Indien offiziell mit dem englischen Begriff scheduled tribes bezeichnet) bilden ca. 600 verschiedene Gruppierungen, die ihre Zugehörigkeit jeweils auf gemeinsame familiäre Abstammung zurückführen. Sie sind vermutlich die Reste der Urbevölkerung, die sich bei der indoarischen Einwanderung in die unwegsamen Berg- und Waldregionen zurückzogen. Dort konzentrieren sie sich auch heute noch hauptsächlich auf die nordöstliche Himalaya-Region und das zentralindische Berg- und Waldland. Sie besiedelten dort die Hänge, betrieben neben Sammeln und Jagen in den Wäldern Brandrodung, kannten meist kein individuelles Landeigentum und waren egalitär organisiert. Viele Stämme haben mit der Zeit ihre Muttersprache verloren, den hinduistischen oder christlichen Glauben angenommen und sich sozial differenziert. In Mischgebieten haben sie auch die gängigen landwirtschaftlichen Anbaupraktiken übernommen. Heute verdingt sich der größere Teil als Landarbeiter oder Kleinbauern.
Schon zur Kolonialzeit wurde ein großer Teil ihres Landes von Fremden in Beschlag genommen. Auf diese Praxis reagierte die Kolonialregierung viel zu spät mit speziellen Schutzgesetzen, die die Gebiete der Adivasi aus der allgemein geltenden Rechtsprechung ausnahmen und Landverkäufe verboten. Diese Regelungen wurden vielfach umgangen und im unabhängigen Indien ohne große Begeisterung übernommen.
Die zugunsten der Adivasi praktizierte positive Diskriminierung und spezielle Maßnahmen zum Schutz ihrer kulturellen Identität hatten gemischte Ergebnisse. Die Ausbildung fand entgegen den Bestimmungen häufig in der Regionalsprache statt, die den Adivasi fremd war, die Rekrutierung von Lehrern für die entlegenen Gebiete erwies sich als Problem. Die Adivasi blieben am Ende der Bildungs- und Wohlstandsskala und – am wichtigsten – die Einführung privaten Landrechts statt Gemeinschaftsbesitz führte dazu, dass Adivasi-Land in andere Hände kam.

Eine weitere wesentliche Quelle des Landverlustes ist bis heute die staatliche Entwicklungs- und Industrialisierungspolitik. In Adivasi-Gebieten wurden schwerindustrielle Komplexe angesiedelt (unter anderem das mit deutscher Hilfe erstellte Stahlwerk Rourkela), riesige Staudämme (Narmada) gebaut, Erz geschürft oder auch nur schlicht Wald zum Holz- und Bambuseinschlag verpachtet. Dies unterminierte die traditionellen Lebensgrundlagen der Stämme, deren Angehörige überdies zu Hunderttausenden im Gefolge dieser Projekte umgesiedelt wurden. Besonders verbitterte sie die staatliche Forstpolitik, die die Brandrodung und den individuellen Holzeinschlag untersagte, gleichzeitig aber Papiermühlen die preiswerte Holzverwertung gestattete.
Kein Wunder, dass diese Entwicklungen Teile der Adivasi radikalisierten; im Nordosten des Landes verstärkten sie den Zulauf zu sezessionistischen Gruppen, im Rest des Landes zusammen mit landlosen Unterkastigen den Zulauf zu den Naxaliten, gewaltbereiten Landbesetzern, die von der radikalen Communist Party of India (Marxist Leninist) organisiert wurden. Die Naxaliten liefern sich immer noch blutige Auseinandersetzungen mit privaten Armeen von Grundbesitzern sowie den Sicherheitskräften, haben aber zuletzt deutliche Rückschläge erlitten.

QuellentextGuerillakampf nach Vorbild Maos – die Naxaliten

Im ländlichen Indien kann es passieren, dass Begleiter vor Rebellen warnen, die in den umliegenden Bergen und Wäldern ihr Unwesen treiben sollen. Bei diesen Rebellen handelt es sich um sogenannte Naxaliten, maoistische Aufständische. […] Die Naxaliten kämpfen ihrer eigenen Vorstellung zufolge für ein kommunistisches Gesellschaftssystem, für die Armen und Unterdrückten ihres Landes. Sie haben sich vor allem den Einsatz für die indischen Stammesvölker auf die Fahnen geschrieben, die sogenannten Adivasi, die im strengen Kastensystem Indiens besonders benachteiligt werden. Aus diesen marginalisierten Gruppen rekrutieren sie die meisten ihrer Kämpfer. Deren Gesamtzahl wird landesweit auf mehrere zehntausend Personen geschätzt.

Die Wurzeln der Maoisten liegen in den sechziger Jahren im Ort Naxalbari im Bundestaat Westbengalen. Von ihm haben sie auch ihren Namen. Dort hatten sich die Kommunisten zum ersten Mal zu einem Aufstand zusammengerottet, nachdem ein Bauer daran gehindert worden war, sein eigenes Land zu bestellen. Der Aufstand wurde nach 72 Tagen niedergeschlagen. Danach beriefen sich andere auf diesen Aufstand, als sie an verschiedenen Orten bewaffnete Gruppen gründeten. Militärstrategisch folgten sie der Guerrillataktik des chinesischen Revolutionärs und Staatsgründers Mao Tse-tung.

Innenminister Rajnath Singh sprach […] von 12.000 Toten durch den Konflikt in zwei Jahrzehnten. Nahrung bekommt er durch Landnahmen, Minenarbeiten und die schlechte Versorgung in den Gebieten der Adivasi. Viele von ihnen sind arme Bauern oder sie leben von den Erzeugnissen der Wälder buchstäblich von der Hand in den Mund. Aber immer mehr Wald und Ackerfläche werden beschlagnahmt und durch den Bergbau zerstört. Viele Adivasi wurden vertrieben, ihre Wasserquellen verschmutzt. Sie leiden an Krankheiten und unsicheren Arbeitsbedingungen. Die Sicherheitskräfte gehen hart gegen die Rebellen vor, aber auch gegen die Bevölkerung, die sie ihrer Unterstützung beschuldigen. Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen. Zusammen mit dem Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, entsteht der ideale Nährboden für die Ausbreitung des Aufstands. Die Maoisten sind heute in einem "roten Korridor" von Jharkhand, Bihar, Odisha, Uttar Pradesh und Westbengalen im Nordosten bis nach Chhattisgarh, Telangana, Madhya Pradesh und Andhra Pradesh weiter im Süden aktiv. Mit der Zeit haben sie sich auch in andere Regionen ausgebreitet, bis in den Westen und in den Süden des Landes. In Bundesstaaten wie Maharashtra, wo die Metropole Bombay liegt, sind sie in kleineren "Nestern" zu finden. […]

[…] Die Regierung will nun ihr Vorgehen gegen die Naxaliten ändern. Innenminister Rajnath Singh traf sich Anfang [Mai 2017] mit den Landeschefs der zehn am stärksten betroffenen Bundesstaaten. Dabei wurden die Sicherheitsvorkehrungen hinterfragt und gezielte Schläge gegen die Führung der Maoisten geplant. […]

Es sollen aber auch neue Wege gefunden werden, um die wirtschaftliche Entwicklung in den Stammesgebieten zu verbessern. Ein Hauptbestandteil der neuen Strategie soll sein, die Rebellen von ihren Finanzquellen abzuschneiden. Auch diese Idee ist nicht ganz neu. Schließlich hatte Regierungschef Modi schon seine große Bargeldreform Ende des vergangenen Jahres unter anderem damit begründet, dass diese auch den Naxaliten und islamistischen Extremisten die Geldhähne zudrehen würde. Dies hatte allerdings offenbar nicht wie erwartet gewirkt. So ist auch unwahrscheinlich, dass die neuen Maßnahmen tatsächlich schon das Ende dieses lange währenden Aufstands bringen werden.

Till Fähnders, "In Indiens ‚rotem Korridor‘", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Mai 2017 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GbmH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Sehr spät hat der indische Staat auf diese Entwicklungen auch auf nicht militärischem Wege reagiert und 2006 ein neues Forstgesetz, eine neue Adivasi- und Rehabilitierungspolitik verabschiedet. Ziele dieser Initiativen waren die Rückerstattung von Land an die Adivasi durch spezielle Gerichte, die Beschränkung von Umsiedlungen und die Anerkennung ihrer traditionellen Rechte an den Produkten des Waldes. In jüngster Zeit wurden auch illegale Kohle- und Erzminen im Adivasi-Gebiet geschlossen, ebenso wurde ein von der Regierung genehmigtes, großes privates Minenprojekt einer britischen Firma nach Protesten der Adivasi gestoppt.

Situation der Frauen

Diskriminiert sind immer noch die indischen Frauen. Sie sind entgegen der biologischen Norm eine Minderheit im Lande. Nach dem Zensus von 2011 kamen auf 1000 indische Männer 943 Frauen, zehn mehr als zehn Jahre zuvor. Bei den Kindern (0–6 Jahre) hat sich das Verhältnis weiter verschlechtert (auf 1000 zu 919). Traurige Spitzenreiter beim Männerüberschuss sind die agrarisch und patriarchal geprägten Bundesstaaten im Zentrum und im Norden Indiens, wo ca. 850 Mädchen auf 1000 Jungen kommen, deutlich besser sieht es im Süden und bei den religiösen Minderheiten aus.

Was dies für die Zukunft bedeutet, kann man sich ausmalen. Es gibt schon Berichte von Raubzügen junger, nordindischer Männer zur Beschaffung von Ehefrauen. Der Männerüberschuss ist in erster Linie Folge der Tötung weiblicher Föten nach vorgeburtlicher Geschlechtsbestimmung per Ultraschall. Diese ist seit 1994 in ganz Indien untersagt bzw. nur noch in medizinischen Notfällen erlaubt, wird aber von den meisten indischen Ärzten weiterhin praktiziert. Zu Anklagen oder gar Verurteilungen kommt es selten. Gründe für die höhere Sterberate von Mädchen und Frauen sind mangelnde Ernährung und unzureichende gesundheitliche Fürsorge sowie die nach wie vor hohe Müttersterblichkeit, die wiederum auf ein sehr frühes Heiratsalter (das durchschnittliches Heiratsalter bei Frauen beträgt 19,3 Jahre und liegt bei ärmeren Schichten noch deutlich darunter), zu rasch aufeinanderfolgende Geburten und Untergewicht der Gebärenden zurückzuführen ist.

Die Diskriminierung von Frauen ist schon – wie bei etlichen anderen Religionen auch – in den geheiligten hinduistischen Schriften angelegt, wird aber durch die Praxis immer wieder bekräftigt. Indien ist noch eine von Männern dominierte Gesellschaft, in der Frauen ein untergeordneter Status zugewiesen ist. Dabei ist die physische Gewalt gegenüber Frauen, die kürzlich in spektakulären Vergewaltigungsfällen gipfelte, nur die Spitze des Eisberges. Die praktizierte Diskriminierung findet in der indischen Verfassung und in späteren Ausführungsgesetzen keine Entsprechung. Diese sehen die völlige Gleichstellung von Mann und Frau vor. Ein prominentes Ausführungsgesetz, der sogenannte Hindu Code, modernisierte das überkommene Familienrecht in Bezug auf Verehelichung, Scheidung, Adoption und Erbrecht mit dem Ziel völliger Gleichstellung. Einschlägige Institutionen zur Frauenförderung entstanden gleichzeitig. Bis zur Publizierung eines äußerst kritischen Berichts ("Towards Equality", 1974) änderte sich an der Selbstgefälligkeit über das Erreichte wenig.
Die aufsehenerregende Vergewaltigung eines Mädchens in Haft Ende der 1960er-Jahre führte zur Verschärfung der entsprechenden strafrechtlichen Bestimmungen, später zu Gesetzen, die sexuelle Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz unterbinden sollten. Im Jahr 1990 wurde zudem die Nationale Frauenkommission (NCW), der auch Anzeigen gegen Gewalt übermittelt werden können, ins Leben gerufen. Beobachter sind der Meinung, dass es sich dabei um ein schwaches, personell unterausgestattetes und nicht wirklich autonomes Organ handelt, dessen Mitglieder von der Regierung ernannt und nicht gewählt werden.
Die Wirksamkeit der erlassenen Gesetze scheitert oft an der Umsetzung auf staatlicher Ebene (so wurde das Erbrecht von 1956 nur von den südindischen Staaten durchgesetzt) oder an seiner Umgehung (etwa durch "Schenkung" des Erbes an die Brüder). Die gesetzliche Anhebung des Heiratsalters für Mädchen auf 18 Jahre und das Mitgiftverbot, das schon 1961 erlassen wurde, bleiben praktisch unbeachtet. Ein von der Regierung 2010 eingebrachtes neues Scheidungsrecht, das die Möglichkeit der Trennung von Paaren wegen Zerrüttung und die Teilung des gemeinsam erworbenen Eigentums vorsieht, wurde nach Protesten auf die lange Bank geschoben und ist immer noch nicht verabschiedet.

Die prominente Beteiligung von indischen Frauen in der Politik wird oftmals als Beweis für die fehlende Benachteiligung angeführt. Dabei wird unterschlagen, dass weibliche Abgeordnete im Parlament auch heute noch eine winzige Minderheit darstellen (unter zehn Prozent), ebenso wie Frauen in höheren Rängen der Ministerialbürokratie, die sich überdies nicht unbedingt der Frauenförderung verpflichtet fühlen. Besserungen brachten Verfassungsänderungen (1993/94) zur Dezentralisierung, die eine Frauenquote von einem Drittel für die lokalen Körperschaften festlegten. Die Ausdehnung dieser Quotierung auf das Unterhaus und die legislativen Versammlungen der Bundesstaaten wird seit Jahren von den (ländlich orientierten) Regionalparteien hintertrieben mit dem Argument, die Quotierung helfe nur den ohnedies schon privilegierten Frauen.
Die Reservierungen auf lokaler Ebene, ursprünglich oft spöttisch kommentiert, haben das Leben von Tausenden von Frauen verändert. Die gewählten weiblichen Vertreter wurden zwar anfangs oft von ihren Männern zur Kandidatur bewegt und später im Amt "ferngesteuert". Einmal im Amt, wirkte sich aber die Teilhabe von Frauen deutlich auf die Bereitstellung lokaler Dienste, vor allem in den Bereichen Gesundheit und Bildung, aus sowie auf das Selbstbewusstsein der Gewählten und ihren Willen, ihren Töchtern bessere Bildung zukommen zu lassen.

Die Beteiligung am Arbeitsmarkt von Frauen in Indien
© Weltbank, India Development Update May 2017, Grafik 85, S. 56 (li.) und Grafik 97, S. 61 (re.). Datenquelle (li.:) World Development Indicators, (WDI).; Datenquellen (re.:) National Sample Survey, NSS, und Berechnungen der Weltbank. Gesamt-PDF unter Externer Link: http://documents.worldbank.org/curated/en/107761495798437741/pdf/115297-WP-P146674-PUBLIC.pdf

Hinsichtlich der Bildungschancen von Frauen hat sich in Indien viel geändert. Bei der Einschulung, im Primarbereich und bis Klasse 9 sowie beim Hochschulzugang gibt es keine Diskriminierung mehr. Allerdings sind die Abbrecherquoten von Mädchen ab Klasse 9 immer noch höher, zudem studieren Frauen seltener oder lassen sich – wie andernorts auch – seltener in Richtung gut bezahlter Berufe ausbilden.
Bedauerlicherweise schlägt sich der deutlich gestiegene Bildungsstand der Frauen nicht in einer höheren Beteiligung am Arbeitsmarkt nieder. Indien belegt hierbei einen der letzten Ränge weltweit. Nur 27 Prozent der Frauen gehen einer geregelten Erwerbstätigkeit außerhalb des Hauses nach – eine Quote, die in den letzten Dekaden quer durch alle Schichten (mit Ausnahme der Adivasi) gefallen ist. Auch hierbei gibt es eine beträchtliche regionale Varianz. Höher ist die Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt besonders im weniger patriarchalisch geprägten Süden und Osten des Landes und bei besonders armen Familien (bei Letzteren aus purer Notwendigkeit), besonders gering bei den Muslimen und den oberkastigen Hindus sowie in den Städten. Mit höherem Bildungsgrad sinkt die Beteiligung zunächst und steigt erst wieder mit dem Hochschulabschluss an. Dieser etwas paradoxe Befund erklärt sich durch den Bedeutungsgewinn traditioneller Normen bei zunehmendem Wohlstand. Die bezahlte Beschäftigung von Frauen in Indien ist sozial stigmatisiert, vor allem, wenn sie wenig vorzeigbare Tätigkeiten betrifft. Gute und damit angesehene (Büro-)Arbeitsplätze zum Beispiel nehmen in Indien aber langsamer zu als die Anzahl der Kandidatinnen hierfür.

Wesentliche Ursachen für die Benachteiligung von Mädchen (einschließlich der Abtreibung weiblicher Föten) sind, dass Frauen nach der Verheiratung in die Familie ihres Mannes wechseln, für die Versorgung ihrer eigenen Eltern im Alter also nicht mehr zur Verfügung stehen, und für die Familie des Mädchens wegen steigender Mitgift (dowry) hohe Kosten bei der Verheiratung entstehen. Diese Praxis geht auf eine Zeit zurück, als in Indien Privateigentum entstand und das Patriarchat gleichzeitig die Beschäftigung der Frauen aus höheren Kasten außerhalb des eigenen Haushalts verbot.
Die Mitgift diente früher der materiellen Absicherung der Frau nach dem Eheschluss, hat sich aber von diesen Ursprüngen weit entfernt. Sie ist zu einer wirtschaftlichen Transaktion zwischen zwei Familien geworden, bei der sich die Brautfamilie einen passenden, möglichst gut ausgebildeten und aus einer höheren Kaste stammenden Bräutigam durch Geschenke an diesen und seine Familie einkauft. Die Verheiratung einer Tochter kann in Indien eine teure Angelegenheit werden; mehrere heiratsfähige Töchter können den sicheren finanziellen Ruin einer Familie bedeuten. Fällt die Mitgift zu dürftig aus, werden Bräute mitunter Opfer inszenierter häuslicher Unfälle in der Familie des Bräutigams, die auf die nächste Mitgift spekuliert. Dieser skandalösen Praxis fallen pro Jahr nach offiziellen Angaben mehr als 8000 junge Bräute zum Opfer.

QuellentextUnter Druck von Ehemann und Schwiegermutter

[…] Nichts fürchten viele indische Frauen mehr als ihre Schwiegermutter. Überall in der Welt werden Witze über Schwiegermütter gerissen, meist von Männern. Doch nur selten spielen Schwiegermütter eine so zentrale Rolle dabei, patriarchalische Strukturen zu zementieren und junge Frauen zu kontrollieren, wie im mehrheitlich hinduistischen Indien. Zwar verändert sich Indien rasant. Kleinfamilien nehmen zu und die jungen Frauen von heute lassen sich weniger gefallen. Aber noch immer folgen viele Paare der Tradition, nach der Hochzeit zu den Eltern des Mannes zu ziehen. Dort stehen die jungen Frauen unter der Fuchtel der "Saas", wie die Schwiegermutter auf Hindi heißt. Man erwartet, dass sie sich der älteren Frau klaglos unterwerfen.
Natürlich gibt es Frauen, die ihre Schwiegertöchter liebevoll behandeln. Doch für viele junge Ehefrauen beginnt eine Leidenszeit. Sie werden wie Sklavinnen ausgebeutet und müssen die ganze Familie bedienen. Dieses Muster pflanzt sich über Generationen fort: Später schikanieren sie ihre eigenen Schwiegertöchter, um sich für die eigenen harten Jahre zu entschädigen.

Während die Männer draußen das Sagen haben, geben die Schwiegermütter in der Familie oft ihren verlängerten Arm. Ihnen obliegt es, die Ehre der Familie zu schützen und die jüngeren Frauen zu überwachen. So gelingt es ihnen, von den patriarchalischen Strukturen zu profitieren und Macht zu erringen. Damit tragen Frauen zur Unterdrückung von Frauen bei.

Von ihren Ehemännern haben die jungen Frauen wenig Hilfe zu erwarten. So verlangt die Sitte, dass sich die Söhne bei Konflikten aus Respekt stets auf die Seite ihrer Mutter schlagen. Bis heute haben viele Männer ein engeres emotionales Band zu ihrer Mutter als zu ihrer Frau. Indische Mütter vergöttern und verhätscheln ihre Söhne oft maßlos, weil sie erst durch einen Sohn einen Wert bekommen, während Töchter als minderwertig gelten. […]

Dafür reklamieren viele Mütter eine Machtposition im Leben ihrer erwachsenen Söhne und deren Frauen. Ihre Kontrolle kann sich auf fast alle Aspekte des Lebens erstrecken. Sie bestimmen, wie sich die Schwiegertochter kleidet, ob sie ihre Eltern besuchen, einen Job annehmen oder verreisen darf. Viele Frauen dürfen nicht mal alleine einkaufen oder zum Arzt gehen. Im Extremfall bestimmen Schwiegermütter sogar, wie oft das junge Paar Sex hat, indem sie die "Bahu", die Schwiegertochter, bis tief in die Nacht schuften lässt, um romantische Augenblicke zu zweit zu verhindern.

Das Machtgefälle beinhaltet oft direkte Gewalt. "Es gibt wachsende Hinweise, dass viele indische Frauen Gewalt durch ihre Schwiegermütter erleiden", heißt es in einer Studie von 2013. "Indische Schwiegermütter sind beständig in Verfahren wegen Gewalt gegen ihre Schwiegertöchter verwickelt, insbesondere in Mitgiftfällen." […]

Umgekehrt machen auch Fälle Schlagzeilen, in denen Frauen ihre Schwiegermütter misshandeln. Vor allem ältere Frauen wie Witwen, die ohne Schutz eines Ehemannes dastehen, gelten als Bürde und werden leicht Opfer häuslicher Gewalt. Das geht so weit, dass sie ausgesetzt werden. Die heilige Stadt Vrindavan ist voll von Witwen, die in ihren Familien nicht mehr erwünscht sind.

Christine Möllhoff, "Die Angst vor der ‚Saas‘", in: Frankfurter Rundschau vom 15. August 2016 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GbmH, Frankfurt

Auch sonst ist Gewalt gegen Frauen in der Familie und andernorts ein alltägliches Phänomen. Indien gehört zu den Ländern mit der höchsten Vergewaltigungsrate weltweit und zeichnet sich durch mäßigen Erfolg bei der Verurteilung von Tätern aus. Das Land zog deswegen besonders nach einem brutalen Vorfall in Delhi Ende 2012 (Gruppenvergewaltigung, in deren Folge das Opfer schwere innere Verletzungen erlitt und starb) die internationale Aufmerksamkeit auf sich. Die Regierung reagierte mit einer Verschärfung des Sexualstrafrechts (inklusive der Todesstrafe) und der Einrichtung von Schnellgerichten. In der Folge wurden Vergewaltigungen häufiger angezeigt, ein positives Anzeichen dafür, dass das Stigma vergewaltigter Frauen sinkt.

Gewalt gegen Frauen in der Familie geht meist vom Ehepartner aus. 37 Prozent der Männer gaben laut einer Untersuchung an, ihre Frauen regelmäßig zu schlagen. Besser ausgebildete Frauen mit eigenem Einkommen sind deutlich seltener Opfer von physischer und sexueller Gewalt in der Familie. Bezeichnend ist, dass die Mehrzahl der befragten Frauen der Aussage zustimmt, Gewalt gegen sie sei unter bestimmten Umständen gerechtfertigt. Dies zeigt, wie tief patriarchalische Wertvorstellungen verankert sind.
Gerechterweise muss man sagen, dass sich in urbanen und intellektuellen Mittelschichten die traditionelle Unterordnung der Frauen deutlich abgeschwächt hat. Hier ist auch die Scheidungswilligkeit von Frauen gestiegen. Im Übrigen nimmt auch der Anteil von "Liebesheiraten" statt arrangierter Verbindungen zu, sodass man zumindest einen zaghaften Wandel konstatieren kann.
Ein beträchtlicher Teil der vorsichtigen Emanzipation indischer Frauen geht auf das Konto der Frauenbewegungen im Land, die in den späten 1970er-Jahren entstanden. Ihre Kritik richtete sich zunächst generell gegen traditionelle hinduistische Praktiken, später gegen sexuelle Gewalt und den Fortbestand frauendiskriminierenden Zivilrechts in Indien. Diese Kampagnen brachten die Politik unter Zugzwang: Neben der Bestätigung des Verbots von Witwenverbrennungen wurden 1984/86 auch die Strafen für Mitgiftmorde deutlich heraufgesetzt.

Nicht nur städtische, sondern auch unterprivilegierte Frauen sind stärker mobilisiert worden; eine der bekanntesten Organisationen ist SEWA (Self Employed Women’s Association), die ursprünglich als demokratisch organisierte Gewerkschaft armer, selbstständiger Frauen im informellen Sektor (d. h. dem Teil der Volkswirtschaft, der nicht durch formalisierte Beschäftigungsverhältnisse geprägt ist) gegründet wurde. Später dehnte sie ihre Aktivitäten auf den Zugang von Frauen zu Beschäftigung, Wohnraum, Krediten, Umschulungsprogrammen und Märkten, zum Beispiel für kunsthandwerkliche Produkte, aus.

QuellentextKampf für Geschlechtergerechtigkeit

"Ich hasse es, wie die Männer hier starren. Als wäre ich kein Mensch. Ich hatte Angst und meine Eltern wollten mich abends nicht vor die Tür lassen", erzählt Rachel Bali über ihre Erfahrungen in Neu-Delhi. "Ich gehe trotzdem raus. [...] Aber natürlich habe ich die Angst verinnerlicht und gehe ungern raus." Die 24-Jährige hat genug von diesem Gefühl und der Machtlosigkeit. Deshalb gründete sie die Initiative "KrantiKali", die durch Kunst und Aktion Geschlechtergerechtigkeit voranbringen will. Sie veranstaltet feministische Literaturabende, organisiert Nachtspaziergänge und sammelt Geschichten von Frauen, die auf der Straße belästigt wurden, damit den Männern klar wird, wie sich das anfühlt: angestarrt, angegrapscht oder beschimpft zu werden.

Der niedrige Status von Frauen in Indien werde im Umgang zwischen den Geschlechtern auf der Straße besonders deutlich. "Ständig belästigt zu werden, verändert einen", erzählt Rachel Bali. "Nur wenige wollen darüber sprechen. Aber Männer jeder Klasse und Kaste scheinen jegliche Empathie verloren zu haben. Bildung allein reicht nicht. Ich weiß nicht genau, was es ist, was in unserem Land fehlt, aber die Erziehung und Denkweise der Männer muss sich radikal ändern", fordert die junge Frau aus Kaschmir.

Bali ist nicht allein auf der Suche nach Antworten. Für Jasmen Patheja, Gründerin der Initiative "Blank Noise", ist klar: "Die Männer denken, sie hätten einen Anspruch auf Frauen. Die Tatsache, dass Politiker das Verhalten der Männer auch noch rechtfertigen und Gewalt gegen Frauen verharmlosen, führt zu Normalisierung von Gewalt und Abwertung von Frauen. Das Verhalten der Männer wird auf die Kleidung, den Westen oder die Jugend geschoben. Damit kann niemand zur Verantwortung gezogen werden."

Der Psychiater Samir Parikh erklärt: "Wir erleben einen Verfall in der Einstellung zu Geschlecht auf einem kollektiven Level. Das kommt in Kriegssituationen vor und in Gesellschaften, die sich im Umbruch befinden."
Weitere Gründe für die Belästigung sind seiner Meinung nach fehlende sexuelle Aufklärung und die massenhafte Verbreitung von Pornografie bei gleichzeitiger Tabuisierung von Sexualität. Es gehe aber auch um Macht: Viele indische Männer scheinen nicht in der Lage zu sein, sich an die Machtlosigkeit in einer sich wandelnden Welt anzupassen. Hinzu komme, dass Gesetze, die nachlässige Strafverfolgung und Politiker eher als Bollwerk des Patriarchats dienten, anstatt Anstoß für Reformen zu geben. Das kritisieren auch Frauenrechtsgruppen immer wieder. [...]

Immer mehr Frauen wollen die Diskriminierungen nicht mehr hinnehmen, deshalb ermutigen zahlreiche feministische Initiativen sie, ihre Angst in Wut und Selbstbewusstsein umzumünzen. Als direkte Reaktion auf den Vorfall in Bangalore, bei dem in der Silvesternacht [2016] Männergruppen mehrere Frauen auf der Straße sexuell belästigt und angegriffen haben sollen und auf die Kommentare von Politikern, die Frauen empfahlen, nach Einbruch der Dunkelheit im Haus zu bleiben, finden in ganz Indien Märsche unter dem Hashtag #IWillGoOut statt.

[...] Die Initiative "Blank Noise" stellt auch Kleidung von Frauen aus, die sie trugen, als sie belästigt wurden. Von der Pluderhose bis zum Rock ist alles dabei. Damit zerstören sie den Mythos, dass bedeckende Kleidung vor Belästigung schützt.

#Walkalone ist der Hashtag, den Frauen in ganz Indien benutzen, um zu zeigen, wie sie eine Strecke ablaufen, obwohl sie Angst haben. Die Frauen berichten, das Gefühl, Angst zu überwinden und sich die Stadt zurückzuerkämpfen, überwiege die negativen Erfahrungen. [...]

Das Problem bleibt bestehen, solange sich die Männer nicht ändern. Umfragen zufolge haben 96 Prozent der Frauen in Neu-Delhi – fast neun Millionen – Angst, alleine rauszugehen. Nur 27 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Indien arbeiten außer Haus. Familien wollen oft nicht, dass Frauen arbeiten. Sicherheit spielt dabei eine große Rolle.

Bei dem jüngsten #IWillGoOut-Marsch zeigten sich die Frauen kämpferisch und wütend. In Sprechchören rufen sie: "Ich gehe raus! Am Tag und in der Nacht! Alleine oder mit meinen Freundinnen!" Eine Teilnehmerin erklärt, sie marschiere mit, weil sie keine Geduld mehr habe, darauf zu warten, "dass die indischen Männer im 21. Jahrhundert ankommen [...]."

Lea Gölnitz. "Als wäre ich kein Mensch", in: Frankfurter Rundschau vom 2. März 2017

Staatliche Sozialpolitik

Nicht nur das Einkommen, auch die Lebensqualität der indischen Bevölkerung hat sich weiter verbessert, allerdings in etwas geringerem Maß, als es das rasche wirtschaftliche Wachstum erlaubt hätte. Bei den üblichen Sozialindikatoren (Kinder- und Müttersterblichkeit, Lebenserwartung, Alphabetisierung, Dauer des Schulbesuchs) schneidet Indien nicht besser ab als ärmere Staaten in Südasien, nach dem Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) rangiert es auf Platz 135 (von 185). Die Indikatoren streuen auch nach wie vor beachtlich nach Geschlecht, Regionen, sozioökonomischen und religiösen Gruppen. Diese sehr durchwachsene Bilanz erklärt sich auch durch die für eine Demokratie bescheidenen staatlichen Sozialleistungen, mehr aber noch durch deren oft dürftige Qualität.

Bildung

In Bezug auf Bildung wurde nahezu vollständige Einschulung erreicht, die geschlechterspezifischen Unterschiede sind bis zu Klasse 9 geschwunden, machen sich aber danach noch bemerkbar. Die Zahl und Ausstattung der Schulen hat sich durch das 2000/01 aufgelegte nationale Bildungsprogramm "Bildung für alle" (Sarva Shiksha Abhiyan, SSA), verstärkt durch das 2010 gesetzlich verankerte Recht auf kostenfreie Bildung von sechs bis 14 Jahren, deutlich verbessert, die Klassengrößen sind gesunken, Ausbildungserfordernisse für Lehrer wurden erhöht.
Allerdings ging damit keine Steigerung der Lernerfolge einher. Das hat einmal mit der höheren Einschulungsrate zu tun, die auch Kinder bildungsferner Schichten erreicht, mehr aber noch mit der häufigen Abwesenheit der Lehrer und Kinder vom Unterricht, bedingt durch Mitarbeit der Kinder im Haushalt/Familienbetrieb bzw. anderweitiger Aktivitäten des Lehrpersonals. Es hat auch mit veralteten Lehrmethoden (Frontalunterricht) zu tun, mäßigem Kenntnisstand und Engagement der Lehrer – vor allem wegen schwacher Schulaufsicht, nicht aber mit deren zu geringer Bezahlung. Private Schulen erzielen bei deutlich geringeren Lehrergehältern bessere Ergebnisse, weil dort Lehrer leichter vom Dienst suspendiert werden können.

Konsequenterweise hat in Indien eine massive Privatisierung des Schulwesens eingesetzt. Diese schließt auch die Hochschulen ein; hier sind vor allem Ausbildungsstätten für marktnahe Berufe aus dem Boden geschossen, mit teilweise eher mittelmäßiger Qualität. Überhaupt rangieren indische Hochschulen in internationalen Rankings auf den hinteren Plätzen, eine Folge der starken Trennung von Forschung (die in eigenen Instituten stattfindet) und Lehre, finanzieller Unterausstattung und politisch motivierter Stellenbesetzung, die unter der neuen Regierung Modi wieder Fahrt aufgenommen hat.

QuellentextWas zieht indische Studierende nach Deutschland

[…] Die Liberalisierung der indischen Wirtschaft und die sich daraus ergebenden neuen Chancen für Beschäftigung und Mobilität haben zur Entstehung einer neuen Mittelschicht geführt, die mit dem wachsenden indischen BIP stetig breiter wird. Weil immer mehr Menschen in eine Hochschulausbildung investieren wollen und sich das auch leisten können – und weil 50 Prozent der indischen Bevölkerung jünger als 25 Jahre sind –, ist die Nachfrage nach einer Hochschulausbildung im Land enorm gestiegen. Zwar schießen in Indien Colleges und Universitäten mit unterschiedlich hohen und für viele Angehörige der Mittelschicht erschwinglichen Studiengebühren wie Pilze aus dem Boden, doch verfügt nur ein geringer Prozentsatz davon über nationales Renommee.

Infolgedessen herrscht ein erbitterter Konkurrenzkampf um den Zugang zu diesen prestigeträchtigen Universitäten. Durch die Internationalisierung der Hochschulausbildung erweist sich auch das Auslandsstudium für die neue Mittelschicht als realisierbare Bildungsstrategie.

Traditionell steuern indische Studierende seit langer Zeit englischsprachige Länder an, insbesondere die USA, Großbritannien und Australien. Doch […] werden seit einem Jahrzehnt einige neue Länder – insbesondere europäische Staaten wie Deutschland oder die Niederlande bis hin zu Lettland und Litauen – bei indischen Studierenden zunehmend beliebter.

In vielen dieser Länder bemühen sich Universitäten, ausländische Studierende anzuwerben, und einige von ihnen sind Partnerschaften mit Studienberatungsagenturen in Indien eingegangen. In deren Werbematerialien werden häufig bestimmte Punkte hervorgehoben: die Verfügbarkeit hochwertiger Bildung zu erheblich geringeren Kosten als in den USA, Großbritannien usw., englischsprachige Studiengänge, die "internationale" Atmosphäre der Universitäten und der angebotenen Studiengänge und in einigen Fällen auch Praktika und Beschäftigungschancen nach dem Studium.

Viele Universitäten in Mittel- und Osteuropa betonen außerdem, dass sie international anerkannte "europäische Abschlüsse" anbieten, und eines der Argumente der sie vertretenden indischen Beratungsagenturen lautet, dass Studierende an diesen Universitäten in andere Schengen-Staaten reisen und unter Umständen nach dem Studium ein Arbeitsvisum erhalten können, das zu einer Aufenthaltsgenehmigung für die EU berechtigt. […]

[…] Deutschland [gilt] aus mehreren Gründen als attraktives Studienland.
Erstens werden die meisten Studierenden zunächst durch die relativ geringen Kosten eines Aufbaustudiums motiviert, Deutschland als Studienland in Betracht zu ziehen. Da sich die Studiengebühren an US-amerikanischen und britischen Universitäten pro Jahr auf ein Mehrfaches des durchschnittlichen Jahreseinkommens indischer Mittelschichtsangehöriger belaufen, erscheint ein Studium in Deutschland vielen als erschwinglicher Weg zu einer internationalen Qualifikation.

Zweitens bietet Deutschland zahlreiche Aufbaustudiengänge in englischer Sprache an. […] Dennoch lehnen es die Studierenden nicht ab, Deutsch zu lernen. Sie erfahren sowohl von ihren Beratern als auch von Kontaktpersonen in ihren sozialen Netzwerken, die selbst in Deutschland studieren, dass eine gewisse Sprachbeherrschung wichtig ist, um im Land gut zurechtzukommen, und unabdingbar, um die eigenen Beschäftigungschancen zu verbessern. […]

Drittens gelten deutsche Universitäten als hochwertig und ein Studium in Deutschland damit als erstrebenswert. Deutschland gilt als "Technik-Drehscheibe" und als besonders gutes Land für Studienabschlüsse in den Fachrichtungen Ingenieurwesen (insbesondere Maschinenbau oder Fahrzeugtechnik) und Informationstechnologie (IT). 54 Prozent aller in Deutschland studierenden Inder sind für ein Ingenieurstudium eingeschrieben. Weitere 30 Prozent studieren IT, Mathematik und Naturwissenschaften. […] Staatliche deutsche Universitäten sind umkämpft und es ist nicht leicht, eine Zulassung zu bekommen. Dies steigert noch das Prestige eines Abschlusses in Deutschland. […]

Viertens sind die Möglichkeiten, einer bezahlten Beschäftigung nachgehen und studienbegleitende Praktika absolvieren zu können, für viele Studierende ein wichtiges Entscheidungskriterium für ein bestimmtes Studienland. In Deutschland dürfen Studierende 120 volle oder 240 halbe Tage pro Jahr arbeiten […]. […]

Ein enormer "Pull"-Faktor sind schließlich die guten Beschäftigungschancen in Deutschland nach dem Studium. Während einige im Auslandsstudium einen Weg zur dauerhaften Auswanderung sehen, möchte die Mehrheit wenigstens für einige Jahre im Ausland arbeiten. […]

Dennoch studieren die meisten jungen Leute nur dann bereitwillig in Deutschland, wenn sie keine Studiengebühren bezahlen müssen. Studierende, die in Deutschland nur eine Zulassung zu kostenpflichtigen Studiengängen erhalten, entscheiden sich dann oft für die USA, selbst wenn sie dafür noch mehr Geld aufbringen müssen.

Mit über 4000 Universitäten, einer der größten Ökonomien der Welt und einer langen Geschichte als "Mekka" für indische Studierende nehmen die USA hinsichtlich Bildungsqualität und Chancen für die meisten indischen Studierenden weiterhin den ersten Platz ein. Die Studierenden glauben auch, dass sie sich in einem Land, in dem Englisch – eine ihnen bekannte Sprache – die Hauptverkehrssprache ist, leichter integrieren und erfolgreich sein können.

Daher gilt Deutschland bei den Studierenden, die hierher kommen, aus all den oben genannten Gründen zwar als attraktives Studienland, bleibt aber trotzdem vor allem eine hervorragende zweite Wahl nach den USA.

Sazana Jayadeva, Bildungshunger: Indische Studierende in Deutschland, GIGA Focus, Asien, Nr. 5, September 2016; Externer Link: www.giga-hamburg.de/de/system/files/publications/gf_asien_1605.pdf

Im auffallenden Missverhältnis zum wirtschaftlichen Aufschwung des Landes und zum beabsichtigten Ausbau der Industrie steckt der Zustand des Berufsschulwesens. Weniger als zehn Prozent der Arbeitskräfte in der Industrie haben eine Ausbildung, insgesamt gibt es nur 11.000 Berufsschulen in Indien (in China sind es 500.000). Seit 2009 existiert nun ein neues Programm, das neue Trainingszentren finanziert und dabei Verbindung zu den Betrieben hält.

Gesundheit

Ähnliche Defizite wie die Bildung weist der Gesundheitsbereich auf: Indiens Ranking-Werte sind auch hier nicht besser als diejenigen benachbarter ärmerer Staaten. Auch hier liegen die Ursachen in mangelnder Finanzausstattung des staatlichen Gesundheitswesens, mäßigem Engagement des dort beschäftigten Personals (zugunsten ihrer privaten Praxis nach Dienstschluss) und fehlender Medikamente. So suchen selbst arme Patienten lieber private Anbieter auf.
Der private Gesundheitsbereich wird allerdings nur begrenzt überwacht, die Qualität der Dienste weist große Unterschiede auf. Vor allem sind diese Dienste mangels ausreichender Abdeckung durch Versicherungen bar zu bezahlen. Das stellt in Indien nach wie vor ein hohes Verarmungsrisiko dar.

Immerhin wurde mit einem neuen Programm (Rashtriya Swasthya Bima Yojana, RSBY, seit 2008) ein Anfang mit der Versicherung armer Familien für die stationäre Behandlung definierter Krankheiten gemacht. Mittlerweile sollen 150 Millionen Menschen in Indien davon erfasst sein. Auch wurde die Ausstattung der staatlichen Krankenhäuser auf dem Land durch ein weiteres Programm (National Rural Health Mission, NRHM, seit 2005) deutlich verbessert, vor allem im Bereich der Geburtshilfe. Dieses Programm wurde unlängst auf die Städte ausgedehnt. Angesichts der sogenannten epidemiologischen Transition in Indien – also des vermehrten Auftretens nicht übertragbarer Krankheiten wie Krebs, Herz- und Kreislauferkrankungen und Diabetes – bei gleichzeitig noch massenhaftem Vorherrschen übertragbarer Krankheiten dürften die neuen staatlichen Anstrengungen bei Weitem nicht ausreichen.

Armutsbekämpfung

Neue Wege bei der Armutsbekämpfung werden mit einem 2005 aufgelegten Beschäftigungsprogramm (Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act, MGNREGA) beschritten. Im Gegensatz zu seinen Vorläufern enthält es einen Rechtsanspruch auf Beschäftigung für 100 Tage pro Jahr für jeweils eine Person aus unterbeschäftigten Landarbeiterfamilien, die mit dem jeweils geltenden Mindestlohn vergütet wird. Das Programm finanziert Gemeinschaftsvorhaben, die von den lokalen Dorf- und Distrikträten ausgewählt werden. Es hat zwar die Zielmarke von 100 Tagen garantierter Arbeit nicht erreicht (der Durchschnitt lag zuletzt bei 33 Tagen pro Familie), den Konsum und die Sparfähigkeit der Begünstigten aber erheblich verbessert, im Übrigen wohl auch zu einem allgemeinen Anstieg der Landarbeiterlöhne beigetragen.

Das traditionelle System der Nahrungsmittelsubventionen über staatliche Ankäufe und Abgabe über fair price shops zu vergünstigten Preisen (public distribution system, PDS), das wegen hoher Streuverluste, Korruption und Unterschlagung schon lange in der Kritik steht, erhielt durch eine Direktive des Obersten Gerichts zur Ernährungssicherheit neuen Schub: Der National Food Security Act von 2013 verspricht immerhin zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung den Bezug vergünstigter Nahrungsmittel. Ohne Verringerung der bisherigen Streuverluste wird das teuer, weshalb staatlicherseits Überlegungen angestellt werden, das ganze System zu digitalisieren oder besser gleich auf Barüberweisungen für die Nutznießer umzusteigen.

Fussnoten

Professor Dr. rer. soc. Joachim Betz, Jahrgang 1946, war Leitender Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asien-Studien des GIGA (German Institute of Global and Area Studies / Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien) und ist Prof. emeritus für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg.
Seine fachlichen Schwerpunkte sind Politik und Wirtschaft Südasiens, Verschuldung, Rohstoffpolitik, Globalisierung und Entwicklungsfinanzierung.