Die indische Union ist mit einer Bevölkerung von derzeit (2016) 1,3 Milliarden der zweitgrößte Staat der Erde und wird trotz sich abschwächender Bevölkerungszunahme bald China überholt haben. Das Land ist damit die größte Demokratie der Welt und hat diesen Charakter über 70 Jahre nach der Unabhängigkeit aufrechterhalten, auch wenn kleine bis mittlere demokratische Schönheitsfehler nicht zu übersehen sind. Das ist allein schon wegen der ausgeprägten Vielfalt der indischen Gesellschaft bemerkenswert, die weltweit kaum eine Parallele hat.
Indien ist in den vergangenen Jahren auch die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft unter den großen Entwicklungsländern geworden. Sie verfügt über international konkurrenzfähige Unternehmen und integriert sich zunehmend in die Weltwirtschaft. Die Mittelschicht ist zwar noch relativ klein, wächst aber rasch, während die absolute Armut durchaus noch vorhanden ist, aber eine stark abnehmende Tendenz aufweist. Das Wirtschaftswachstum schlägt sich allerdings nieder in einem steigenden Umweltverbrauch und in einem erheblichen Beitrag zum Ausstoß von Klimagasen in die Atmosphäre.
Nach Jahrzehnten der militärischen Zurückhaltung ist Indien seit 1998 auch faktische Atommacht, weist einen großen, technologisch anspruchsvollen Militärapparat auf und definiert seine Einflusszonen recht großzügig. Das Land ist aufgrund der geschilderten Eigenschaften ein unverzichtbarer Partner bei der Lösung der globalen sicherheits-, umwelt- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen.
Übergang in die Unabhängigkeit
Gesamtindien wurde am 15. August 1947 vergleichsweise überstürzt in die Unabhängigkeit entlassen, dabei allerdings in Indien und Pakistan geteilt. Versuche der britischen Kolonialregierung, zumindest noch eine lockere Einheit zu wahren, hatten nicht gefruchtet. Zu sehr hatten sich die Kongresspartei, die führende Bewegung des indischen Unabhängigkeitskampfes, und die auf einen eigenen Staat hinarbeitende Muslimliga bereits auseinanderentwickelt. Der Teilungsplan des britischen Vizekönigs Lord Mountbatten sah vor, die überwiegend muslimischen Distrikte Pakistan zuzuschlagen, die anderen sollten an Indien fallen. Die bislang halbautonomen Fürstenstaaten, darunter auch Kaschmir, sollten sich für die Zugehörigkeit zu einem der beiden Länder entscheiden.
Der Haken bei dieser Lösung war freilich, dass wegen der Durchmischung der Bevölkerung im vormalig britischen Indien beachtliche religiöse Minderheiten im hinduistisch dominierten Indien bzw. muslimisch dominierten Pakistan verblieben. Entsprechend wurde die faktische Teilung zu einer menschlichen Tragödie: Minderheiten in beiden neuen Staaten wurden zu Hunderttausenden Opfer einer Gewaltorgie; auf beiden Seiten fanden Vertreibungen statt, von denen insgesamt zwölf Millionen Menschen betroffen waren. Der politische und geistige Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, Mahatma Gandhi, der sich für eine faire Teilung der materiellen britischen Hinterlassenschaft eingesetzt hatte, wurde am 30. Januar 1948 von einem Hindu-Fanatiker erschossen.
Indien wurde aber nicht nur mit Problemen in die Unabhängigkeit entlassen: Anders als viele Entwicklungsländer erbte es von der scheidenden Kolonialmacht einen effizienten Beamtenapparat, eine professionelle Armee, eine unabhängige Justiz und nicht zuletzt ein repräsentatives demokratisches Regierungssystem.
Ein unmittelbares Problem nach der Teilung war die Integration der Fürstenstaaten. Besonders schwierige Fälle stellten Hyderabad und Kaschmir dar. In Hyderabad hoffte der muslimische Herrscher auf internationale Anerkennung seines Territoriums als unabhängiger Staat, brachte aber die Unruhen seiner weitgehend hinduistischen Bevölkerung nicht unter Kontrolle. Indische Truppen marschierten im August 1948 ein.
In Kaschmir regierte ein hinduistischer Maharadscha eine überwiegend muslimische Bevölkerung. Der autoritäre Herrscher suchte trotz gegenläufiger Interessen der Nationalkonferenz, der politisch dominanten Partei in Kaschmir, die Unabhängigkeit und handelte mit Pakistan und Indien ein Stillhalteabkommen aus. Pakistan nutzte die anschließenden internen Unruhen zur Einschleusung von "Freiwilligen", die später von regulären Truppeneinheiten abgelöst wurden. Der Fürst erbat indische Unterstützung und unterzeichnete ein Beitrittsabkommen. Indien intervenierte daraufhin (erfolgreich) militärisch; die Kämpfe mit Pakistan dauerten jedoch an, bis ihnen 1949 ein von den Vereinten Nationen vermittelter Waffenstillstand ein Ende setzte. Der Waffenstillstand brachte faktisch eine Zweiteilung Kaschmirs. Indien stimmte der Abhaltung eines Referendums zu, bei dem die Bevölkerung später über ihre Zugehörigkeit entscheiden sollte.
Die noch nach der alten Verfassung gewählte Konstituierende Versammlung entwarf nach der Unabhängigkeit die neue Verfassung der indischen Republik. Diese trat 1950 in Kraft und schuf einen föderalen Staat mit starken zentralistischen Elementen. Die neuen Bundesstaaten fassten zunächst Bevölkerungen unterschiedlicher Muttersprachen und kultureller Identität zusammen. Als in den 1950er-Jahren das Begehren nach Schaffung homogener Einheiten wuchs, setzte die Regierung einen Reorganisationsausschuss ein, der die Neubestimmung der Grenzen auf Grundlage der Muttersprache der Bewohner vornahm. 1952 fanden in Indien die ersten freien Wahlen statt, aus denen die Kongresspartei als weitaus stärkste politische Kraft hervorging.
Ära der Nehru- und Gandhi-Familien
Der erste Premierminister des unabhängigen Indien, Jawaharlal Nehru (1889–1964), glaubte fest an die Demokratie als beste und einzig mögliche Regierungsform, um Indien zusammenzuhalten und den erwünschten sozialen Fortschritt zu erzielen. Unter seiner Führung wurden in den 1950er-Jahren Gesetze verabschiedet, die die Emanzipation der indischen Frauen (Verbot der Polygamie und der Mitgift, Erbberechtigung) und Landreformen durchsetzen sollten. Ihre Wirksamkeit blieb angesichts mangelnder praktischer Umsetzung jedoch eingeschränkt. Als effektivstes Entwicklungsinstrument wurde eine "gemischte Wirtschaft" aus plan- und privatwirtschaftlichen Elementen angesehen, die über Fünfjahrespläne gelenkt werden sollte; der Staat besetzte die Kommandohöhen der Wirtschaft und schirmte diese zunehmend gegenüber dem Weltmarkt ab.
Nehrus Außenpolitik war zunächst geprägt von Antimilitarismus und dem Glauben, dass Indien von niemand bedroht werde. Ihre Pfeiler waren asiatische Solidarität, Blockfreiheit und Unterstützung multilateraler Bemühungen zur Friedenswahrung. Mit dieser Politik gewann Indien stärkeren internationalen Einfluss, als es seiner realen Macht entsprach. Die territoriale Expansion der Volksrepublik China wurde zu lange ignoriert: Die chinesische Besetzung des von Indien reklamierten Aksai Chin (nordöstliches Kaschmir) und nachfolgende ergebnislose Grenzverhandlungen führten zum indisch-chinesischen Krieg (1962), zu einer raschen Niederlage Indiens und einem entsprechenden Prestigeverlust.
Nehru starb 1964. Die einflussreichsten Führer der Kongresspartei wählten den als wenig durchsetzungsfähig geltenden Lal Bahadur Shastri zum Nachfolger. Einem ähnlichen Kalkül verdankte zwei Jahre später Indira Gandhi (1917–1984, Tochter Jawarhalal Nehrus, kein familiärer Bezug zu Mahatma Gandhi) ihr Amt als Premierministerin. Angesichts wachsender politischer und wirtschaftlicher Probleme entwickelte sie einen schnell autoritärer werdenden Führungsstil, verdrängte innerparteiliche Konkurrenten und ergriff zunehmend populistische Maßnahmen. Sie verstaatlichte die Banken, schaffte die Fürstenprivilegien ab und konnte im Wahlkampf von 1971, den sie unter das Motto der Armutsbekämpfung stellte, der Kongresspartei eine Zweidrittelmehrheit verschaffen.
Die sich ab Anfang der 1970er-Jahre zuspitzende Wirtschaftskrise zwang Indien 1974, um einen Beistandskredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) nachzusuchen. Protestbewegungen gegen die Misswirtschaft der Kongresspartei, Streiks und eine nationale Kampagne zu ihrer Ablösung beantwortete die Premierministerin mit Repressionen und Einschränkung der Bürgerrechte. Im Juni 1975 ließ sie den Ausnahmezustand erklären, der erst kurz vor den Wahlen 1977 gelockert wurde.
Die Oppositionsparteien konnten mit der Bildung einer heterogenen Koalition, der Janata Party (JNP), vorübergehend die Macht erobern und unbestreitbare Leistungen – so vor allem die Rücknahme von Ausnahmegesetzen der Notstandszeit – erzielen, rieben sich aber in internen Auseinandersetzungen auf. In den Wahlen von 1980 errang die Kongresspartei erneut eine Zweidrittelmehrheit und Indira Gandhi kehrte an die Macht zurück. Ihre zweite Amtsperiode war von zunehmenden politischen und religiösen Konflikten sowie Kastenkonflikten geprägt. In Assam und im Punjab bildeten sich separatistische Bewegungen. Im Juli 1984 ließ die Premierministerin den Goldenen Tempel von Amritsar im Bundesstaat Punjab stürmen. Dort, im höchsten Heiligtum der Sikhs, hatten sich radikale Separatisten verschanzt, die einen autonomen Sikh-Staat forderten. Ende Oktober 1984 fiel Indira Gandhi einem Attentat ihrer Sikh-Leibwächter zum Opfer.
Fast handstreichartig wurde ihr Sohn, Rajiv Gandhi, damals Generalsekretär der Kongresspartei, zum Nachfolger bestimmt und in den Wahlen vom Dezember 1984 triumphal bestätigt. Er leitete mutige Schritte zur Liberalisierung der staats- und binnenwirtschaftlich orientierten indischen Industrie ein, brachte konfliktmindernde Vereinbarungen mit den Separatisten in Assam und vor allem im Punjab zustande und befriedete sezessionistische Bestrebungen im indischen Nordosten. Doch seine Regierung wurde durch interne Auseinandersetzungen und Korruptionsaffären im Zusammenhang mit Rüstungskäufen geschwächt, die auch den Premierminister ins Zwielicht brachten. 1987 verließen etliche Minister das Kabinett, darunter Vishwanath P. Singh, der mit seinen Anhängern eine neue Oppositionspartei gründete. Der Kongress erlitt bei den Parlamentswahlen Ende 1989 daher eine empfindliche Niederlage.
Die Macht übernahm die "Nationale Front", eine (Minderheits-)Koalition vorwiegend aus Regionalparteien, die in den Jahren zuvor schon an Bedeutung gewonnen hatten. Sie bildete mit Duldung der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), die selbst erhebliche Stimmengewinne verzeichnet hatte, eine Minderheitsregierung, der V. P. Singh als Premier vorstand, scheiterte aber schon nach einem Jahr an internen Spannungen.
V. P. Singh versuchte daraufhin, seine Wählerbasis durch Begünstigung der niederen Kasten (der other backward castes, OBCs) zu verbreitern: Bundesweit sollten – zusätzlich zur bereits praktizierten Reservierung von Stellen im öffentlichen Dienst für Dalits (die sogenannten Unterdrückten) und Adivasi (hindi, dt.: "erste Menschen, erste Siedler", die hauptsächlich in den Berg- und Waldregionen lebende indigene Bevölkerung) – weitere Stellen für Angehörige der OBCs reserviert werden. Die Ankündigung rief massive Proteste hervor, vor allem bei Studierenden aus höheren Kasten, die ihre Karriereaussichten geschmälert sahen.
Dazu kamen religiöse Konflikte um die Moschee im nordindischen Ayodhya, die militante Hindus als Geburtsort des Gottes Rama (auch Ram) ansahen und für sich beanspruchten. Die hindu-nationalistische BJP unterstützte dieses Anliegen und inszenierte im Sommer 1990 eine Massenprozession zum Heiligtum. Als die Regierung diese im Oktober gewaltsam aufhalten ließ, entzog die BJP ihr die Unterstützung.
Wechselnde Regierungen der 1990er-Jahre
Nach dem kurzen Intermezzo einer im November 1990 gebildeten weiteren Minderheitsregierung wurden für Ende Mai 1991 Neuwahlen angesetzt. Der Wahlausgang war noch völlig offen, als Rajiv Gandhi am 21. Mai auf einer Wahlveranstaltung in Südindien dem Selbstmordattentat einer tamilischen Terroristin zum Opfer fiel. Getragen von der Sympathiewelle für den Ermordeten legte die Kongresspartei bei den Unterhauswahlen deutlich zu. Narasimha Rao wurde der erste Premier ohne Verbindung zum Nehru-Gandhi-Clan.
Er ernannte Manmohan Singh, einen Wirtschaftsliberalen, dem man zutraute, die schwere Wirtschaftskrise zu beheben, zum Finanzminister. Unmittelbaren wirtschaftlichen Notstandsmaßnahmen folgten später marktwirtschaftliche Reformen, die das Ende der noch von Nehru initiierten "gemischten Wirtschaft" einläuteten. Politisch konnte der Premier seine innerparteiliche Position festigen, bis fanatisierte Hindus im Dezember 1992 die Moschee in Ayodhya erstürmten und zerstörten. Die Regierung reagierte darauf zwar mit der Absetzung von BJP-geführten Landesregierungen, die den militanten Hindu-Organisationen nahestanden. Sie ließ aber den politischen Mut vermissen, die Aktion zu verurteilen; das Image der religiösen Neutralität des Staates war damit stark beschädigt.
Der schon länger anhaltende Niedergang der Kongresspartei und der Aufstieg der hindu-nationalistischen BJP, die beide aber keine absolute Mehrheit erringen konnten, sondern der Unterstützung einer größeren Anzahl stärker gewordener Regionalparteien bedurften, läuteten eine Periode mäßig stabiler Regierungen ein, die erst 2014 zu einem vorläufigen Ende kam.
Bei den Wahlen 1996 erlitt die Kongresspartei wegen eines spektakulären Bestechungsskandals und Absplitterungen interner Gruppen eine schwere Niederlage, die davon begünstigte BJP brachte aber keine Regierungsmehrheit zustande. Darauf übernahm eine lose Verbindung von Kleinparteien die Regierung, die der Duldung durch die Kongresspartei bedurfte. Diese wurde ihr alsbald entzogen.
Daraufhin bildete sich unter Inder Kumar Gujral als Regierungschef – auf nochmals verkleinerter Basis – erneut eine wiederum von der Duldung der Kongresspartei abhängige Koalitionsregierung von Kleinparteien. Diese zeichnete sich zwar nicht durch innenpolitische Erfolge aus, betrieb aber erstmals eine recht konstruktive, nachbarschaftliche Außenpolitik. Sie startete einen Dialog mit Pakistan und brachte endlich einen Vertrag mit Bangladesch zur Teilung des Gangeswassers zuwege. Mit China wurden vertrauensbildende Maßnahmen zur Minderung des Grenzkonflikts vereinbart. Auch dieser Regierung entzog die Kongresspartei (1997) die Unterstützung, weil eine der Koalitionsparteien bei der Ermordung Rajiv Gandhis eine zumindest zwiespältige Rolle gespielt hatte.
Die Neuwahlen 1998 setzten den Siegeszug der BJP fort; sie bildete eine Koalitionsregierung mit 16 Partnern, was sie zu deutlicher Mäßigung ihrer hindu-radikalen Agenda zwang: Die wirtschaftliche Liberalisierung wurde fortgesetzt, der Tempelbau in Ayodhya verschoben, das muslimische Zivilrecht blieb unangetastet. Das dadurch aufgebrachte hindu-nationalistische Vorfeld konnte teilweise durch die im Mai 1998 durchgeführten Nukleartests besänftigt werden, mit denen sich Indien als faktische Atommacht offenbarte. Die Tests wurden in Indien frenetisch gefeiert, allerdings waren sie von sich unmittelbar anschließenden pakistanischen Tests, internationaler Verurteilung und harten, allerdings bald wieder gelockerten Wirtschaftssanktionen der Industriestaaten begleitet.
Die von der BJP geführte Regierung kam durch die Intrige eines Partners zu Fall, wurde aber gleichsam begünstigt durch die Invasion pakistanischer Verbände in einer Region Kaschmirs (Kargil), die durch den Einsatz der indischen Armee und Luftwaffe entschlossen, aber sehr besonnen zurückgeschlagen wurden, unterstützt durch amerikanischen Druck auf Pakistan. Daher siegten die BJP und ihre Allianzpartner mit deutlichem Vorsprung bei den vorzeitigen Wahlen 1999.
Entwicklungen seit 2000
Ein großer Erfolg für Indien war der Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton im März 2000, bei dem trotz fortbestehendem Dissens in der Nuklearfrage eine strategische Partnerschaft vereinbart und Indien zum bevorzugten Partner der USA in Südasien gekürt wurde. Das Jahr darauf stand unter den Rückwirkungen der islamistischen Anschläge vom 11. September in den USA und des globalen Antiterrorkampfes, für den Indien den Vereinigten Staaten volle Unterstützung zusagte.
Dominiert wurde die politische Agenda ferner von einer Verhärtung der Fronten beim Tempelbau in Ayodhya. Die aufgeheizte Stimmung entlud sich in einem Anschlag auf HinduAktivisten in Gujarat im Frühjahr 2002, dem ein Pogrom gegen die Muslime in diesem Staat folgte. Hierbei leistete ganz offenkundig die BJP-Landesregierung unter Regierungschef (Chief Minister) Narendra Modi Hilfestellung.
QuellentextMassker an Muslimen: Urteile nach 14 Jahren
[...] Ein indisches Sondergericht hat elf Angeklagte wegen eines Massakers an Muslimen im Jahr 2002 zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein weiterer Täter erhielt eine Gefängnisstrafe von zehn, zwölf andere von sieben Jahren. Im Bundesstaat Gujarat hatte ein hinduistischer Mob von tausenden Menschen eine vorwiegend muslimische Siedlung in der Stadt Ahmedabad angegriffen, Anwohner aus den Häusern gezerrt, gelyncht und das Viertel in Brand gesteckt. Ein Richter nannte das Massaker "den dunkelsten Tag in der Geschichte der Zivilgesellschaft". Bei den Ausschreitungen wurden 69 Menschen getötet, unter ihnen der Parlamentsabgeordnete Ehsan Jafri, der vergeblich versucht hatte, die Polizei zum Einschreiten zu bewegen. Jafri soll erst verstümmelt und dann bei lebendigem Leibe verbrannt worden sein. Anfang Juni hatte das Gericht die 24 Täter für schuldig befunden und 36 weitere Angeklagte wegen Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte für alle die Todesstrafe gefordert.
Das Massaker in der Gulbarg-Society-Siedlung war eine Reaktion auf den Brand eines Zuges mit hinduistischen Pilgern, bei dem 60 Menschen starben. Gerüchte, der Zug sei von Muslimen angezündet worden, stellten sich später als haltlos heraus. In den drei Tage dauernden Pogromen in Gujarat wurden mehr als 1000 Menschen getötet, die meisten waren Muslime. Laut dem Sondergericht war der Angriff auf die Gulbarg-Siedlung nicht geplant.
Unter den Verurteilten ist auch Atul Vaid, ein bekannter Ayurveda-Heiler und Mitglied einer rechtsradikalen Organisation, die unter anderem Angriffe auf Kirchen in Indien verteidigt. Vaid erhielt eine Haftstrafe von sieben Jahren. Das Gericht hörte mehr als 330 Zeugen.
Der indische Ministerpräsident Narendra Modi von der hindu-nationalistischen Partei BJP war damals Regierungschef des Bundesstaats Gujarat. Ihm wurde vorgeworfen, die antiislamische Stimmung nach dem Zugbrand geschürt zu haben. Das Oberste Gericht sprach ihn 2012 allerdings frei. [...]
epd – Evangelischer Pressedienst, Juni 2016
Angesichts einer günstigen wirtschaftlichen Entwicklung setzte die Zentralregierung 2004 frühzeitige Wahlen an, erlitt aber entgegen allen Prognosen eine deutliche Niederlage. Gründe hierfür waren, dass sich die Kongresspartei anders als früher rechtzeitig um Koalitionspartner bemüht hatte und dass die günstige Wirtschaftsentwicklung an benachteiligten Bevölkerungsteilen vorbeigegangen war.
Die neue, von der Kongresspartei unter Premier Manmohan Singh geführte Regierung bemühte sich daher, die Interessen marginalisierter Gruppen stärker zu berücksichtigen. Am eindrucksvollsten war diesbezüglich der Start eines landesweiten Programms garantierter Beschäftigung (für 100 Tage) auf dem Land. Die Orientierung auf die von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen war schon deshalb nötig, weil die neue Regierung auf die Unterstützung der in der parlamentarischen Opposition befindlichen kommunistischen Parteien angewiesen war.
Sie setzte die Außenpolitik der Vorgängerin fort, insbesondere die weitere Annäherung an die USA und den umfassenden Dialog mit Pakistan über vertrauensbildende Maßnahmen. Letzterer führte zu einer ganzen Reihe von Verbesserungen, vor allem auch zur Wiedereröffnung von Verkehrsverbindungen und Konsulaten und zu einer vorsichtigen Annäherung im Kaschmirkonflikt. Mit den USA wurde 2005 ein weit gefasstes Abkommen zur Verteidigungspartnerschaft geschlossen und später globale Partnerschaft vereinbart. Indien wurde von den USA damit als De-facto-Atommacht anerkannt, in Vorbereitung des indisch-amerikanischen Nuklearvertrags.
Die interne Sicherheitslage entwickelte sich weniger positiv; die sogenannten Naxaliten, also militante Landbesetzer und ihre politische Führung, breiteten ihre Aktivitäten bedrohlich auf zahlreiche Landesteile aus. Den Naxaliten versuchten die Zentralregierung und die Landesregierungen durch die Aufstellung von zusätzlichen Sicherheitskräften beizukommen. Spektakuläre Anschläge in Mumbai, ausgeübt von extremistischen Gruppen aus Pakistan, verschlechterten erneut die Beziehungen zum Nachbarland.
Wirtschaftlich machten sich mit einer gewissen Verzögerung die Auswirkungen der globalen Finanzkrise bemerkbar. Innenpolitisch war 2008 von Bedeutung, dass die kommunistischen Parteien nach der Verabschiedung des indisch-amerikanischen Nuklearabkommens der Kongresspartei die Partnerschaft aufkündigten. Trotz aller Widrigkeiten errang ein Parteienbündnis unter Führung der Kongresspartei bei den Wahlen 2009 eine komfortable Mehrheit. Dabei spielten die Effekte der neuen Sozialprogramme eine wichtige Rolle. Die Regierung versuchte, die Wirtschaft durch ein umfangreiches Konjunkturprogramm zu beleben, das alsbald, unterstützt durch steigende Ölpreise, zu wachsenden Defiziten und beschleunigter Inflation führte.
Hinzu kamen in den Jahren 2010 bis 2012 massive Korruptionsskandale beim Verkauf von Kohleförderungs- und Breitbandlizenzen, die das Vertrauen in die Regierung zu erschüttern begannen. In der Folge organisierten zivilgesellschaftliche Gruppen eine Antikorruptionsbewegung, die die Regierung unter Zugzwang setzte. Sie legte ein Gesetz zur Schaffung eines Ombudsmanns vor, das die Aktivisten jedoch als nicht weitgehend genug kritisierten, woraufhin die Proteste landesweite Dimensionen erreichten. Zusammen mit der wirtschaftlichen Abkühlung und steigender Inflation, vor allem bei Grundnahrungsmitteln, sowie mit zu späten und allzu zögerlichen Reformansätzen führte dies zu Niederlagen der regierenden Parteien bei etlichen Landtagswahlen, die diese weitgehend lähmten.
Der hohe Wahlsieg der BJP im Mai 2014 war dennoch für die meisten Beobachter überraschend. Zum ersten Mal seit Langem hatte eine Partei wieder die absolute Mehrheit der Sitze errungen, die Kongresspartei wurde geradezu dezimiert, die Regionalparteien sahen sich mit dem vorläufigen Ende ihres Aufstieges konfrontiert.
Die neue Regierung unter dem energischen, aber auch kontrovers beurteilten Premierminister Narendra Modi machte sich alsbald daran, Indien zu dynamisieren. Wesentliche Programmpunkte waren die Beschleunigung und Verbreiterung des industriellen Wachstums (Kampagne "Make in India"), die flächendeckende Ausstattung der indischen Bevölkerung mit Ausweispapieren und Bankkonten zur einfacheren und korruptionsfreien Umsetzung der Sozialprogramme und die Erleichterung von in- und ausländischen Investitionen (auch durch beschleunigte, elektronisch verarbeitete Genehmigungen).
Außenpolitisch wurden zunächst die kleineren Nachbarstaaten Bangladesch, Bhutan, Nepal und Sri Lanka umworben – auch, um sie von der Einflussnahme Chinas zu lösen. Später wurden die Beziehungen zu den USA vor allem in der sicherheitspolitischen Kooperation auf eine neue Stufe gehoben. Dabei zeichnet sich auch ein leichtes Abrücken von der bisherigen indischen Außenpolitik ab, faktische Allianzbildungen zu vermeiden.
QuellentextBeginn einer stolzen Nation und eines anhaltenden Traumas
Das neue Indien wurde buchstäblich über Nacht geboren. Nach Jahren des erbitterten Kampfes gegen die Unabhängigkeitsbewegung konnte es dem vom Zweiten Weltkrieg erschöpften Großbritannien nun auf einmal nicht mehr schnell genug gehen, sich von dem Kronjuwel des Empire zu trennen. Der im Auftrag der britischen Regierung entsandte Lord Louis Mountbatten zog den geplanten Abzug sogar um ein Jahr auf den 15. August 1947 vor. "Punkt Mitternacht, während die Welt schläft, wird Indien zu Leben und Freiheit erwachen", sagte Jawaharlal Nehru, der erste Ministerpräsident des freien Landes, in seiner Ansprache, als der südasiatische Subkontinent von den Fesseln der Kolonialherrschaft befreit wurde. Doch für Indien bedeutete das Ende der Unterdrückung auch den schmerzhaften Prozess der Teilung. Entlang einer hastig von dem Anwalt Cyril Radcliffe gezogenen Grenze wurde das ehemalige Herrschaftsgebiet des British Raj in zwei Länder getrennt. Der eine Staat, das damals noch in einen westlichen und einen östlichen Teil gespaltene Pakistan, sollte die Heimat der Muslime werden. Der andere, die Republik Indien, vereinigte die überwiegende Mehrheit der Hindus und die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften in einem eigenen Staatsgebilde. Der indische Unionsstaat konnte sich zwar auf die Tradition einer jahrtausendealten Kultur berufen, hatte aber kein wirkliches historisches Vorbild. Sowohl in der Zeit der Briten als auch in der der Großmoguln war Indien nur durch Fremdherrschaft zusammengehalten worden.
Für die Inder steht am Unabhängigkeitstag bis heute deshalb auch die positive Geschichte ihrer Emanzipation im Vordergrund. Mit dem Datum verbinden sie den Beginn einer stolzen Nation, eines säkularen Staats, in dem Hindus, Muslime, Christen und Sikhs nebeneinander leben können, sowie den Anfang der größten Demokratie der Welt. Doch das Trauma der Teilung belastet auch hier die Erinnerungen. Die Geschichten von Vertreibung, Flucht und Tod sind zum Gegenstand der Literatur und in Bollywood-Filmen geworden, so etwa in Khushwant Singhs Roman "Der Zug nach Pakistan". Millionen wurden getötet und vertrieben. Frauen wurden vergewaltigt, verschleppt und zur Heirat gezwungen. Doch die Geschichtsschreibung konzentrierte sich lange auf politische Führungsfiguren wie Nehru, Gandhi und den pakistanischen Gründervater Muhammad Ali Jinnah. Das erste Museum zur Teilung hat sogar erst vor kurzem in Amritsar eröffnet.
[…] [M]it der hastigen Aufspaltung des Landes in Pakistan und Indien und dem später aus Ost-Pakistan hervorgegangenen Bangladesch [wurde] der Samen für die Probleme gesät, die Südasien nun seit Jahrzehnten plagen. Die Entstehung der indisch-pakistanischen Erzfeindschaft, die zu einem nuklearen Wettrüsten geführt hat, ist das Resultat der übereilten Separation.
In Indien sieht man sich selbst nun aber als den gelungeneren Teil dieses Prozesses an. Man rühmt sich der demokratischen Errungenschaften, der Beständigkeit im Angesicht höchster Diversität, der Führungsrolle in der Dritten Welt sowie der Erfolge bei der Bekämpfung der Armut und der wirtschaftlichen Entwicklung bei einer Bevölkerung mit mittlerweile fast 1,3 Milliarden Menschen. Gleichwohl zeugt die teilweise obsessive Auseinandersetzung mit Pakistan nicht von Selbstbewusstsein. Das zeigt sich, wenn die Feindschaft mit dem Nachbarn bis ins Cricket-Stadion getragen wird – oder wenn ausgiebig lamentiert wurde, dass die indische Flagge, die täglich am Grenzübergang von Wagah gehisst wird, kleiner sei als die pakistanische.
Darüber hinaus wird die Sicht auf Pakistan fast ausschließlich von der Situation in der zwischen den beiden Staaten geteilten Region Kaschmir bestimmt. Um das Gebiet haben die Nachbarländer schon zwei Kriege geführt. Indien wirft Pakistan vor, die Separatisten zu stützen und für die Infiltration durch bewaffnete Terroristen entlang der Waffenstillstandslinie verantwortlich zu sein. Doch auch Delhi ist nicht bereit, den Anspruch auf das gesamte Gebiet Kaschmirs fallenzulassen. […]
Ironischerweise sind mit den Hindu-Nationalisten in Delhi nun aber auch diejenigen an der Macht, die ihrerseits mit Jinnahs Zwei-Nationen-Theorie sympathisierten, wonach Hindus und Muslime zwei historisch-kulturell unterschiedliche Nationen seien. Unter ihnen hat sich die Lage der mehr als 170 Millionen Muslime – immerhin fast so viele wie in Pakistan selbst – noch deutlich verschlechtert. Misstrauisch werden sie als potentielle Agenten Pakistans behandelt. In der Vergangenheit hat dies zu regelrechten Pogromen geführt, etwa nach den Unruhen um die Zerstörung der Babri-Moschee im Jahr 1992 und bei den Ausschreitungen in Gujarat im Jahr 2002. Heute spitzt sich die Lage wieder zu. Unter dem Vorwand, sie würden heilige Tiere schlachten, sind die Muslime etwa der Verfolgung durch radikale Kuhschützer ausgesetzt.
Kritiker beklagen darüber hinaus eine vermehrte Intoleranz gegenüber anderen politischen Meinungen. So scheint auch das Erbe der "Einheit in der Vielfalt", auf das die Inder zu Recht so stolz sind, zunehmend unter Druck zu geraten. Die Geschichte eines aus unzähligen Religionen, Ethnien und Sprachen geprägten Staats wird durch das Idealbild von einer Nation der Hindus ersetzt. Zwar hält sich die Regierung von Narendra Modi in dieser Frage öffentlich noch vornehm zurück. Aber das Fußvolk auf der lokalen Ebene treibt seine radikale Hindu-Agenda voran, ohne dass ihm von oben Einhalt geboten wird. Das liegt auch daran, dass es an einer starken Opposition fehlt, seitdem die altehrwürdige Kongresspartei zunehmend abgehalftert wirkt. Dennoch wird die einstige Partei Gandhis und Nehrus nicht müde, daran zu erinnern, wer das Streben nach Unabhängigkeit einst angeführt hatte.
Till Fähnders, "Der säkulare Staat", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. August 2017 ©Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GbmH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.