Einleitung
Fluch und Segen internationaler Arbeitsteilung
Die Öffnung und Liberalisierung der Märkte sowie der Abbau von Regulierungen in den letzten 20 Jahren haben den Konsumenten ein ständig wachsendes Güterangebot zu günstigen Preisen beschert. Das regional und kulturell verhaftete Warenangebot wird dabei aber nicht selten von uniformer Massenware verdrängt. Gleichzeitig werden die Anbieter im Wettbewerb um die preisbewussten, aber auch wankelmütigen Konsumenten zum permanenten Kostenvergleich gezwungen. Produktionsverlagerungen können die Folge sein, wenn neben neuen Absatzmärkten geringere Arbeits- und Umweltschutzkosten locken. Dadurch werden auch die nationalen Lohnkosten, Schutz- und Sicherheitsstandards unter Druck gesetzt und den Erwerbstätigen ein erhebliches Maß an Flexibilität, Mobilität und ständiger Einsatzbereitschaft abverlangt. Vor allem Geringqualifizierte gehören zu den Globalisierungsverlierern.
Licht und Schatten technischer Entwicklung
Möglich gemacht hat diese Entwicklung der noch vor 100 Jahren unvorstellbare technische Fortschritt, der zunehmend die Produktionsprozesse bestimmt. Enorme Produktivitätssteigerungen bewirken, dass in der gleichen Zeit ein Vielfaches produziert werden kann. Technische Entwicklungen ermöglichen Mobilität ungekannten Ausmaßes. Technologien schaffen Zugang zu und Teilhabe an Information und Erkenntnissen. Sie erlauben Kommunikation in einem bislang nie dagewesenen Ausmaß. Zeit und Raum verlieren tendenziell an Bedeutung, so dass die ursprüngliche räumliche Funktionstrennung von Haushalten und Unternehmen wieder aufgelöst werden kann. Statt mechanisierter Arbeitsplatzgestaltung im Minutentakt können sich zunehmend Wissen und Kreativität entfalten. Unabhängig von Raum und Zeit kann über elektronische Kommunikationswege Arbeit angeboten und erledigt werden, können Informationen eingeholt, Produkte verglichen, Güter bestellt und verkauft werden. Die Konsumenten treten aus ihrer passiven Rolle heraus, holen über Verbraucherforen Beratung ein, bringen Missfallen wie Zustimmung zu Produkten weltweit zur Kenntnis und werden selbst zu Anbietern. Sie können sogar Kundenorientierung jenseits der Standardware einfordern. Auch die Anbieter profitieren, wenn Verbraucheraktivitäten ihre Spuren im Netz hinterlassen und ihnen erlauben, dem "gläsernen Kunden" gezielt Produkte anzubieten, die erkennbar zu seinem spezifischen Bedarf gehören.
QuellentextKaufberater Internet
[...] Wer den billigsten Stromlieferanten sucht, eine Kamera kaufen möchte oder wissen will, ob ein Hotel auch wirklich so gut ist, wie die Werbung verspricht, schaut heute meist im Internet nach. Obwohl nur knapp 10 Prozent der Werbebudgets ins Internet fließen, haben Suchmaschinen, Anbieterseiten, Kommentare anderer Nutzer, Produktvergleichsseiten und die Online-Werbung für deutsche Konsumenten inzwischen eine doppelt so hohe Relevanz für Kaufentscheidungen wie das zweitplazierte Medium Fernsehen, hat die Studie "Digital Influence Index Study" von Harris Interactive im Auftrag von Fleishman Hillard ergeben.
Kaufentscheidungen, die sehr häufig mit Hilfe des Internets getroffen werden, betreffen erwartungsgemäß Reisen und den Kauf technischer Produkte. Aber 65 Prozent der deutschen Konsumenten gaben auch an, die Entscheidung für eine Autoversicherung mit Hilfe des Internets getroffen zu haben. 63 Prozent nahmen für die Wahl eines Stromversorgers das Internet zu Hilfe, und 47 Prozent haben einen Kreditgeber im Netz gefunden, hat Harris Interactive mit der Befragung von 5000 Internetnutzern herausgefunden.
Die Relevanz der verschiedenen Online-Informationsquellen schwankt allerdings stark mit dem gesuchten Produkt. Generell gilt: Je etablierter eine Marke und ihre Internetseite sind, desto geringer ist die Bedeutung der Suchmaschinen für die Informationsbeschaffung und Kaufentscheidung. [...] Je komplexer ein Produkt und je weniger die Nutzer ein Produkt beurteilen können, desto häufiger werden die Kommentare anderer Konsumenten gelesen. Das gilt vor allem für technische Produkte wie den Kauf eines Fernsehers oder für Hotels, die sich aus der Ferne kaum bewerten lassen. Erst das Internet hat es ermöglicht, die Erfahrungen der Menschen, die dort bereits einmal gewohnt haben, in die eigene Entscheidung einfließen zu lassen.
Neben den generellen Zusammenhängen unterscheidet sich die Wahl der Online-Informationsquellen je nach gesuchtem Produkt relativ stark. Hinweise für den Aktienkauf suchen die deutschen Verbraucher vergleichsweise häufig auf den Seiten der Unternehmen, achten aber wenig auf die Kommentare anderer Nutzer und missachten Online-Werbung völlig. Lediglich für den Abschluss eines Kredits spielt Online-Werbung in der Finanzbranche eine gewisse Rolle. Ansonsten sind eine gute Plazierung in den Suchmaschinen, die eigene Internetseite und ein gutes Abschneiden auf den Vergleichsseiten wichtiger für die Kaufentscheidung der Konsumenten.
[...] Für die Wahl eines Elektronikproduktes lesen die Konsumenten häufig die Kommentare anderer Nutzer, besonders dann, wenn das Produkt technisch komplex ist. Für Fernseher, Spielekonsolen und Digitalkameras wird der Rat anderer Nutzer ebenfalls häufig in Anspruch genommen. Für die Wahl eines geeigneten Arztes sind Suchmaschinen wie Google die eindeutig dominierende Informationsquelle. 86 Prozent der Nutzer gehen diesen Weg, während Nutzerkommentare oder Werbung irrelevant sind.
Für Flug- und Bahntickets spielt die Internetseite des Anbieters eine vergleichsweise große Rolle als Informationsquelle, da die Anbieter meist eine starke Marke haben und daher direkt angesteuert werden. Da die Konsumenten genau wissen, was sie wollen, spielen Suchmaschinen für diese Produkte nur eine geringe Rolle. Ganz anders sieht die Situation bei Hotelreservierungen aus: Fast 70 Prozent der Konsumenten nutzen eine Suchmaschine für den Einstieg. Außergewöhnlich häufig werden auch die Kommentare anderer Nutzer gelesen, die schon einmal in diesem Hotel gewohnt haben: 48 Prozent der Nutzer suchen auf Seiten wie Holidaycheck.de nach den passenden Bewertungen für ihr Hotel. 28 Prozent der Nutzer haben eine Vergleichsseite besucht, und 16 Prozent haben eine Online-Werbung abgeschaut, hat die Umfrage ergeben.
"Kaufentscheidungen werden im Internet getroffen", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Juni 2008
Allerdings ist es den Kunden kaum möglich, Güter im Onlinehandel vorab in Augenschein zu nehmen, und sie müssen für die neue Preisgünstigkeit nicht selten auf Service verzichten. Händler wie Kunden haben damit zu kämpfen, dass die Vertrauenswürdigkeit im Netz nur schwer erschlossen und Vertragsverletzungen schwierig geahndet werden können, da nationale Gesetze ihre Bedeutung verlieren. Und schließlich profitieren nicht alle von den modernen Technologien - ihre freie Nutzung ist nicht in allen Staaten möglich, und nicht alle können sich die notwendigen Geräte leisten.
Freiheit und Zwang zur selbstbestimmten Lebensgestaltung
Die Entwicklungen der Moderne sind dadurch gekennzeichnet, dass viele einengende Konventionen und Traditionen wegfallen und das eigene Leben zunehmend selbst gestaltet werden kann. Vielfältige soziologische Gegenwartsdiagnosen bauen auf der Erkenntnis dieser Entwicklungen auf. Für Peter Gross bietet die Multioptionsgesellschaft eine enorme Ausweitung der Wahlmöglichkeiten bei steigenden Unsicherheiten in allen Lebensbereichen. Für Gerhard Schulze sind diese Optionen die Vorbedingung für die Erlebnisgesellschaft, in der das nicht mehr von Traditionen eingeschränkte Individuum Sinn, Glück und seinen Platz im Leben sucht. Richard Sennett hingegen ist besorgt, dass für den "flexiblen Menschen" in der "Ellenbogengesellschaft" Angst, Hilflosigkeit, Instabilität und Verunsicherung zunehmen, während große Bevölkerungsschichten marginalisiert werden und die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Für Günter Voß und Hans Pongratz gehen Individuen mit ihrer eigenen Arbeitskraft zunehmend wie Unternehmer um (Arbeitskraftunternehmer). Sie müssen sich selbst kontrollieren, ökonomisieren, rationalisieren und ihre gesamte Lebensführung verbetrieblichen, wobei die Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben schwindet. Der Freiheit von der Fremdbestimmung steht der Zwang zur Selbstdisziplinierung gegenüber.
QuellentextAlternative Konsumformen:
Renaissance der Flohmärkte
Es ist sympathisch, dass sich dieses Unbehagen an der industriellen Produktionsweise und ihrer Marktmechanismen [in den 1980er Jahren] auch in der Wiederkunft eines Marktes niederschlug, den es in der Bundesrepublik fast dreißig Jahre lang nicht mehr gegeben hatte: der Flohmarkt. Hier offenbarte das Alte und Verstaubte, bei Großmutter Alltagsgegenstand, plötzlich bislang nicht wahrgenommene Sinndimensionen. Es konnte mit Patina bezaubern und für Heimat, Ursprünglichkeit oder Wärme stehen. Plötzlich entstanden diese Orte, an welchen selbstbewusst gewordene Verbraucher sich gegen das "verordnete" Angebot des normalen Marktes sperren und aus ihrer ihnen zugewiesenen Rolle als Nur-Abnehmer ausbrechen konnten. Hier, wo "neu" und "Fortschritt" wenig galten, dafür die Parole "Used is beautiful", wurden die Grundlagen des Recycling-Denkens gelegt, das in den kommenden Jahren politikfähig werden sollte.
Dirk Schindelbeck, Illustrierte Konsumgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945 - 1990, Erfurt 2001, S. 69
Carrotmob
Die Meute rückt an, als die Abenddämmerung einsetzt, sie drängt in den Berliner Blumenladen "Floristik Männertreu" und will nur eins: kaufen. Knapp 200 Menschen fallen wie ein Heuschreckenschwarm ein. [...]
Das gemeinsame Ziel wurde der Horde vorher zugeschickt, per SMS und Twitter, über Blogs und Facebook: Beschert dem Geschäft einen Umsatz, wie es ihn noch nie zuvor gesehen hat, hieß die Mission. [...] Der Schwarm in Prenzlauer Berg nennt sich Carrotmob und [...] will an einem konkreten Ort den Klimaschutz verbessern. [...] Wir kaufen massenhaft bei dir ein, so die Botschaft, wenn du mit den zusätzlichen Einnahmen deinen Laden klimafreundlich umbaust.
Am Anfang stand eine Art Auktion zwischen 14 Blumenläden in Prenzlauer Berg. Das Geschäft, das bereit war, den höchsten Anteil seines Tagesumsatzes in mehr Energieeffizienz zu investieren, bekomme Besuch vom Carrotmob, lautet das Versprechen. Floristik Männertreu gab das höchste Gebot von allen ab: 56 Prozent des Gewinns will der Laden in mehr Klimaschutz stecken. Und so steht an diesem Tag die Meute vor der Tür. Tobias Döppe [...] Initiator des Carrotmobs in Berlin [...] und seine Mitstreiter wollen sich das Gewinnstreben von Unternehmern für ihre Ziele zunutze machen: Mehr Bereitschaft zu Klimaschutz heißt mehr Scheine in der Ladenkasse, so ihre Gleichung. [...] Bald nach der Aktion sollen ein Teil der fünf Kühlschränke im Nebenraum des Ladens durch energieeffizientere ersetzt und bessere Lampen eingeschraubt werden. Außerdem will der Laden auf Ökostrom umstellen. Tobias Döppe wird beim Umbau helfen. Auch um zu kontrollieren, dass sich etwas verändert im Blumenladen.
[...] Ursprünglich stammt die Karotten-Bewegung, natürlich, aus den USA. Der Jungunternehmer Brent Schulkin zettelte den ersten Mob in San Francisco an [i]m März 2008 [...]. Die Zwei-Jahres-Bilanz: 64 Carrotmobs in 14 Ländern [...]
Die Idee scheint einen Nerv zu treffen: Vielen jungen Leuten ist Klimaschutz ein Anliegen. Aber die gute Laune will sich das Partyvolk keinesfalls verderben lassen, auch nicht von den Widersprüchlichkeiten der Aktion: [...] [K]aum ein Produkt [hat] eine so miserable Ökobilanz wie Blumen. Sie werden aus Australien, Neuseeland und Ecuador eingeflogen und zuvor kräftig mit Pestiziden eingesprüht. In Prenzlauer Berg ist das an diesem Samstagnachmittag egal, hier gilt: Je mehr Blumen über die Ladentheke gehen, desto besser. Der Mob wird den Tagesumsatz von Blumenfrau Kather verdoppeln, immerhin. Mit den knapp 800 Euro, die sie jetzt für mehr Klimaschutz ausgeben muss, kann sie rund ein Drittel ihres jährlichen Strombedarfs einsparen, hat ein Energieberater ausgerechnet. Das sind 1,4 Tonnen CO2 weniger [...].
1,4 Tonnen CO2 reichen nicht, um die Welt zu retten. Kulturwissenschaftler Nico Stehr von der Zeppelin University in Friedrichshafen hält aber ohnehin die Symbolwirkung der Bewegung für das Entscheidende. "Die Forderung, dass Unternehmensentscheidungen auch eine moralische Ebene haben sollten, wird vielen, die davon hören, ein Denkanstoß sein", sagt er. [...]
Alina Fichter, "Die neuen Blumenkinder", in: Die Zeit Nr. 8 vom 18. Februar 2010
Containern
Ausgerechnet Butter zieht Hauke aus dem Müllcontainer des [...] Supermarktes. "Das ist doch hochsymbolisch in Zeiten der Finanzkrise!" Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nicht überschritten, die Verpackung einwandfrei. Trotzdem liegt sie im Abfall. [...] Ein- bis zweimal die Woche wühlt Hauke im Müll. Nicht, weil er muss, sondern aus Überzeugung. [...]
Ein- bis zweimal in der Woche zieht er mit seinen Mitstreitern los, um zu "containern", wie sie es nennen. Das Ziel: sich vollständig aus dem Müll von Supermärkten, Warenhäusern oder Baumärkten zu versorgen. [...] Kennengelernt haben sich die Mitglieder der Wohngemeinschaft bei gemeinsamen Aktionen wie etwa dem Protest gegen den G-8-Gipfel. Sie gehen systematisch vor.
[...] Nach kaum zehn Minuten ist der erste Korb voll. Das Gemüse im Korb sieht aus wie gerade eingekauft. [...] Den Unterschied zwischen Warenwert und Nutzwert erklärt Hauke anhand einer Flasche Malzbier. So, wie sie dort mit abgerissener Hülle liegt, habe sie keinen Warenwert mehr. Der Nutzwert allerdings sei der gleiche. Trotzdem werde das Malzbier aus dem Wirtschaftskreislauf genommen. [...] Plötzlich ein Mann mit Hund, möglicherweise Wachpersonal. Jetzt heißt es ruhig bleiben und nicht den Eindruck erwecken, man sei ein Einbrecher. Denn auch das Entwenden von Abfall ist Diebstahl. In Köln wurde dafür 2004 eine Aktivistin angeklagt und gegen Ableistung von Sozialstunden freigesprochen. Doch der Mann ist allein und will wohl nicht eingreifen. [...]
Etwa 3000 Menschen containern in Deutschland, vermutet Hauke, der gut vernetzt ist in der Szene. Einige treibt auch die Not zum Containern. [...] "Wir unterstützen das absolut nicht", sagt Anke Assig vom Bundesverband der Tafeln in Deutschland. "Containern ist hochgradig gesundheitsschädlich." Niemand müsse in Deutschland hungern. Mittlerweile gibt es fast 800 Tafeln, die gegen einen symbolischen Obolus Nahrung an Bedürftige verteilen. Vor drei Jahren hat der Verband eine Schätzung durchführen lassen. So haben die deutschen Supermärkte etwa 100000 Tonnen Lebensmittel gespendet.
[...] Die Ausbeute ist heute durchschnittlich: Obst und Gemüse für alle, Kräuterbutter für den Rest des Jahres, 30 Törtchen, zehn haltbare Schachteln mit Grillkartoffeln. Nur keine Schokolade. Kurz nach Weihnachten wird es wieder so weit sein. Wenn zum 1. Januar tonnenweise Schokoladen-Weihnachtsmänner aus den Regalen genommen werden, dann hat das System keinen Schaden genommen.
Jochen Stahnke, "In den Mülleimern des Kapitalismus", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Oktober 2008
Zwischen materiellen Gütern und sozialer Geborgenheit
Lange Zeit ermöglichte das Wirtschaftswachstum der breiten Bevölkerung einen verbesserten Lebensstandard, unterstützt durch die marktwirtschaftliche Ordnung und die gesellschaftlichen Institutionen. Letztere gewährleisteten Funktionsfähigkeit und Rechtssicherheit und linderten durch Umverteilung Konflikte zwischen Arm und Reich.
Heute besteht die Gefahr, dass immer mehr Gruppen dauerhaft vom steigenden Wohlstand ausgeschlossen werden und dass nicht jede Form der Erwerbsarbeit Existenzsicherung gewährleistet. In der Diskussion sind zwei Strategien, die solche Probleme lindern sollen.
Die einen (zum Beispiel die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) setzen auf den Markt, wollen wettbewerbsfeindliche Regulierungen abbauen, um das Wirtschaftswachstum zu fördern. Sie sprechen sich für mehr individuelle Verantwortung im Hinblick auf die eigene Vorsorge aus. Ein "aktivierender" Sozialstaat soll die Eigenverantwortung voranbringen, sich ansonsten auf seine Kernaufgaben beschränken und die Steuern senken.
Die anderen (zum Beispiel die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik) fordern mehr Staatsausgaben im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge für Bildung, Infrastruktur, Kultur, Umwelt und soziale Dienstleistungen, möchten mehr öffentliche Beschäftigung gekoppelt mit Arbeitszeitverkürzung schaffen und den privaten Konsum durch Aufstockung niedriger Einkommen anheben. Die Finanzierung soll über eine Einkommensumverteilung, durch höhere Neuverschuldung und höhere Steuern erfolgen.
Beide Strategien setzen weiterhin auf Wirtschaftswachstum, ohne dessen Notwendigkeit zu hinterfragen. Es erleichtert zwar die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen sowie die Einkommensumverteilung, ist aber nicht unumstritten. Während es aber in der Vergangenheit vor allem dazu diente, Konsumgüterknappheit zu beseitigen, fragen kritische Stimmen inzwischen häufiger danach, ob Wirtschaftswachstum angesichts des heutigen Versorgungsniveaus weiterhin notwendig ist, und weisen darauf hin, dass es seinerseits auf anderen Gebieten neue Knappheiten entstehen lässt.
So wird zunehmend bezweifelt, dass mit steigendem Lebensstandard die emotionale Zufriedenheit wächst. Der amerikanische Ökonom Richard Easterlin hatte schon in den 1970er Jahren festgestellt, dass wachsender materieller Wohlstand ab einem gewissen erreichten Niveau nicht gleichzeitig mit steigendem Wohlbefinden einhergeht. Nach dem Easterlin-Paradox können die Schattenseiten des ökonomischen Fortschritts sogar seinen positiven Beitrag zum Glück zunichte machen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman und sein Kollege Angus Deaton fanden in einer großangelegten Studie 2010 heraus, dass mit jedem Dollar höheren Einkommens zwar das emotionale Wohlbefinden wächst, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze, während geringes Einkommen dafür sorgt, dass sich emotionaler Schmerz in persönlichen Krisen noch verschärft.
Viele Studien und Gesellschaftsanalysen verweisen hingegen auf den hohen Wert sozialer Beziehungen für das individuelle Glück. Diese Beziehungen werden aber heute immer brüchiger. Dem Sozialwissenschaftler Robert Putnam zufolge erhöhen soziale Netzwerke die individuelle und kollektive Produktivität, angesichts des nachlassenden gesellschaftlichen Engagements schwinde aber ihr Zusammenhalt. Auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu beklagte den Verfall des sozialen Zusammenhalts in einer Gesellschaft als "Rezession des Sozialkapitals". Der britische Ökonom Richard Layard hat familiäre Beziehungen, die finanzielle Lage, Arbeit, Umgebung und Freunde, Gesundheit, persönliche Freiheit und Lebensphilosophie als Glücksfaktoren ausgemacht. Entscheidend für das Glück einer Gesellschaft sei es, ob Menschen sich um andere kümmern oder nicht. Positiv wirken sich Sicherheit und innere Ruhe aus, negative Folgen haben Arbeitslosigkeit, Krankheit und zerrüttete Familienverhältnisse. Der britische Sozialforscher Roger Wilkinson verweist auf enge Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und den Problemen einer Gesellschaft. Wenn in einer Gesellschaft Kooperation wenig bedeute und das Selbstwertgefühl vor allem auf materiellem Erfolg beruhe, führe dies zu Statusangst, die sowohl die Werte als auch die Qualität der sozialen Beziehungen beeinflusse. Seine Daten verweisen darauf, dass vor allem in sehr ungleichen Gesellschaften weniger Vertrauen, weniger sozialer Zusammenhang und dafür mehr Gewalt existiert. Dabei benötigt eine arbeitsteilige Tauschgesellschaft auch schon aus ihrer Funktionslogik heraus Kooperation und Vertrauen.
Knapp wird auch die Zeit, die permanent flexible Menschen für die Pflege sozialer Beziehungen oder auch zur Muße aufbringen. Der Soziologe Hartmut Rosa hat das Gefühl des Gehetztseins als Dauerzustand der Beschleunigungsgesellschaft diagnostiziert, in der die Zeit zur Muße fehle, die als Voraussetzung für Kreativität, Gesundheit und soziale Beziehungen wertvoll sei, während selbst die Nichtarbeitszeit unter Erfolgsdruck gerate. Zeit ließe sich zwar tendenziell "kaufen", etwa wenn moderne Haushalte Dienstleistungen wie Behördengänge, Einkäufe, Wäsche, Gartenpflege, Reinigung oder die Organisation von Familienfeiern, des Urlaubs oder der Renovierung an Personal Assistance Services vergäben. Diese Dienstleister verkauften "Zeit", befriedigten aber nicht das Bedürfnis nach sozialen Beziehungen.
QuellentextMit Odysseus gegen die Zeitknappheit
DIE ZEIT: Viele Menschen fühlen sich ständig gehetzt und haben das Gefühl, die Zeit sei knapp wie ein wertvoller Rohstoff. Bilden wir uns das nur ein - oder geht uns wirklich die Zeit aus?
Hartmut Rosa: Die Zeit wird uns wirklich knapp, und zwar aus drei Gründen: Erstens nimmt die technische Beschleunigung zu, das Auto ist schneller als das Fahrrad, die E-Mail schneller als der Brief, wir produzieren immer mehr Güter und Dienstleistungen in immer kürzerer Zeit. Das verändert den sozialen Erwartungshorizont: Wir erwarten von einander auch eine höhere Reaktionsfrequenz. Dazu kommt, zweitens, der soziale Wandel. Leute wechseln ihre Arbeitsstelle in höherem Tempo als früher, ihre Lebenspartner, Wohnorte, Tageszeitungen, ihre Gewohnheiten. Wir sind ungeheuer flexibel - und finden immer weniger Verankerung in stabilen sozialen Beziehungen. Und drittens ist insgesamt eine Beschleunigung des Lebenstempos zu beobachten. Wir versuchen, mehr Dinge in kürzerer Zeit zu erledigen. Wir essen Fast Food, statt in Ruhe zu kochen, machen Multitasking auf der Arbeit, power nap statt Mittagsschlaf oder lassen die Pausen gleich ganz weg.
ZEIT: Dabei ermöglicht uns die Technik doch, Zeit zu gewinnen. Eigentlich müssten wir mehr Zeit denn je haben. Warum nicht?
Rosa: Das lässt sich gut an der elektronischen Kommunikation erklären. Früher schrieb man zum Beispiel zehn Briefe in einer Stunde, heute brauche ich für zehn E-Mails nur eine halbe. Ich habe also theoretisch eine halbe Stunde gewonnen. In der Praxis aber sieht es so aus, dass wir fünf- oder sechsmal mehr E-mails als früher Briefe verfassen. Und da das alle tun, wächst die Nachrichtenmenge zu einem gigantischen Berg. All das will auch gelesen und bearbeitet werden. Wir haben also pro Mail sehr viel weniger Reflexions- und Reaktionszeit als früher, fühlen uns deshalb ständig gehetzt. [...]
ZEIT: Aber diesen Wahnsinn muss man doch nicht mitmachen.
Rosa: Es kommt ja noch die moderne Wettbewerbslogik hinzu. Früher war die Verteilung von Privilegien, Anerkennung und Status ziemlich statisch - Adelige zum Beispiel hatten von vornherein bestimmte Rechte oder bestimmte Sozialpartner; in der modernen Gesellschaft dagegen werden Macht, Geld, Privilegien und Anerkennung frei verteilt und ständig hinterfragt: Politiker werden an Polls gemessen, Chefredakteure an Quoten, Professoren an Drittmitteln, Manager an Vierteljahresbilanzen. Selbst in Ehen und Familien hält dieses Performanzprinzip Einzug: Man prüft immer wieder, wie es "läuft" - und behält sich vor, etwas Besseres zu suchen, wenn die Bilanz nicht positiv ausfällt.
ZEIT: Und wenn dieses Prinzip überall gilt, kann der Einzelne nicht einfach sagen: Ich lass mir Zeit, ich renne da nicht mit?
Rosa: Das große Missverständnis der Beschleunigungsgesellschaft ist es, zu meinen, wir könnten souverän über unsere Zeit bestimmen. Doch wenn die ganze Gesellschaft beschleunigt, kann ich nicht einfach individuell langsamer laufen, sonst stolpere ich und falle auf die Nase.
[...] Gegen die Beschleunigung einer ganzen Gesellschaft müssen alle individuellen Entschleunigungsstrategien fast notwendigerweise scheitern. [...]
ZEIT: Zum Glück können wir an den Feiertagen, der Zeit zwischen den Jahren, mal ausspannen!
Rosa: Vielen fällt offenbar auch das zunehmend schwer. Man sagt: "Nun lass ich aber mal die Arbeit ruhen" - und hat trotzdem das Gefühl, die Zeit sei knapp. Denn nun drängt, was man schon lange mal tun wollte: Endlich einmal wieder mit der Familie, den Kindern, den Eltern etwas machen, die Klassenkameraden wiedersehen, zusammen essen, Hobbys pflegen, Sport treiben ... Am Ende können sogar solche Termine den Charakter von Arbeit annehmen [...].
ZEIT: Sind wir also unfähig geworden, die Muße zu genießen?
Rosa: Das Problem ist, dass wir ständig das Gefühl haben, Zeit sei kostbar und dass sich deshalb jede Aktivität rechtfertigen müsse. Wenn ich mir vornehme, heute mal zu Hause in Ruhe ein Buch zu lesen, dann gäbe es da auch hundert andere Optionen: fernsehen, im Internet surfen, Mails checken ... Das heißt: Wenn ich lese, muss ich zugleich das Gefühl haben, dies sei die nützlichste, die sinnvollste Verwendung meiner Zeit.
ZEIT: Sie meinen, ich muss es quasi vor mir selbst rechtfertigen, dass ich nun ein Buch lese?
Rosa: Natürlich läuft dieses Abwägen nicht bewusst. Es beschäftigt uns aber permanent unbewusst und bindet Denkressourcen, das kostet Energie. [...]
ZEIT: Das hieße: Um die Muße genießen zu können, muss ich mich bewusst von einer Vielzahl möglicher Optionen abschneiden?
Rosa: Deshalb gehen Menschen etwa auf eine einsame Berghütte oder drei Wochen ins Kloster, wo die Zahl möglicher Optionen extrem reduziert ist. Das nenne ich die Odysseus-Strategie: Man fesselt sich selbst, um den Sirenengesängen der unendlichen Möglichkeiten nicht zu verfallen. [...]
Ulrich Schnabel, "Muße braucht Zeit". Interview mit Hartmut Rosa, in: Die Zeit Nr. 1 vom 30. Dezember 2009
Überlegungen jenseits von Markt und Staat
Die geschilderten Entwicklungen werfen bereits einigen Gestaltungsbedarf auf. Daneben haben sie weitere soziale und ökologische Folgen. Die enorme Steigerung des marktgehandelten Güterangebots verhindert beispielsweise nicht, dass neue Knappheiten entstehen. Diese betreffen früher durch Familien kostenlos bereitgestellte Güter und Leistungen, besonders in der Pflege von Angehörigen und der Erziehung. Die von der Natur bereitgestellten Ressourcen erschöpfen sich. Der Wettbewerb im Arbeitsleben lässt die Zeit für Muße, Kooperation und Solidarität schwinden.
QuellentextWer kauft, bestimmt
"Wir produzieren, was die Leute kaufen", entgegnen die Industrieunternehmen auf Kritik an Ausbeutung und Umweltzerstörung durch ihre Werke und Zulieferer. Deshalb entscheiden sich immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher für fair gehandelte Ware, für "grünen" Strom aus Wind- und Solarenergie und für möglichst naturbelassene Lebensmittel aus der Region. "Fair" und "bio" liegt im Trend. Viele sind allerdings misstrauisch. Ist alles fair, was so heißt, und alles "öko", wo bio draufsteht? Beim Bauern um die Ecke lässt es sich noch kontrollieren, ob er sich an die Spielregeln hält. Schwieriger wird es bei Produkten, die vielstufige, über die ganze Welt verteilte Produktionsketten hinter sich haben. Textilien aus Baumwolle zum Beispiel.
Forscher um den Wissenschaftler Friedrich Schmidt-Bleek haben den "ökologischen Rucksack" eines banalen schwarzen T-Shirts berechnet: Rechnet man den Rohstoff- und Wasserverbrauch, die giftigen Abwässer, die Farbstoffe für seine Herstellung, die Verpackung und den Transport zusammen, bringt so ein simples T-Shirt ein ökologisches Gewicht von rund viereinhalb Tonnen auf die Waage, ungefähr so viel wie ein ausgewachsener Elefant. Bis es am Verkaufsständer in einer Fußgängerzone hängt, hat das Kleidungsstück einiges durchgemacht - und die Menschen, die an seiner Herstellung arbeiten, auch.
In vielen verschiedenen Ländern, darunter Westafrika, die Türkei, Ägypten und Usbekistan, pflanzen Bauern Baumwolle auf ihren Feldern. Da aber vor allem die USA ihre Baumwollfarmer mit viel Geld aus der Staatskasse bezuschussen, halten die Weltmarktpreise für Rohbaumwolle ein niedriges Niveau. Wer dennoch vom Anbau leben will, braucht große Felder, viel Wasser und reichlich giftige Chemie, mit der er sich die Schädlinge vom Acker hält. Rund ein Viertel aller Pestizide, die jedes Jahr auf die Felder gesprüht werden, landen auf Baumwollplantagen. Viele Bauern und Feldarbeiter bekommen davon Hautkrankheiten, Allergien und Krebs. Jedes Jahr sterben nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO 28000 Baumwollbauern an Pestiziden.
Damit Maschinen die Baumwolle schnell und billig ernten können, werden die Pflanzen mit Sprühgiften entlaubt. Wo die Maschinen nicht hinkommen oder die Bauern sie sich nicht leisten können, pflücken oft Kinder die weißen Büschel. Für drei Cent pro Kilo Ernte oder drei US-Dollar am Tag arbeiten etwa in Usbekistan Kinder in den Plantagen.
Die Baumwolle wird nach der Ernte gereinigt, gesponnen, mit Chlorlösungen gebleicht, teilweise mit hochgiftigen Azo-Farbstoffen gefärbt und chemisch ausgerüstet. So gelangt ein ganzer Cocktail an Giftstoffen in die Kleidung: Formaldehyd, Chlor, Motten-, Flamm- und Fleckenschutz. Manche dieser Zutaten sind so giftig, dass Deutschland und die EU sie längst verboten haben.
Die Näherinnen in den Fabriken, in denen die großen Handelskonzerne T-Shirts, Blusen, Hosen und andere Kleidungsstücke fertigen lassen, bekommen ein paar Euro im Monat. Die Arbeitsbedingungen in vielen Textilfabriken in Süd- und Ostasien erinnern an Sklaverei: Bis zu 100 Stunden Arbeit pro Woche, 16-Stunden-Tage, unbezahlte Überstunden, 7-Tage-Woche, keine Pausen, Hungerlöhne.
Nach Feierabend lassen einige Fabrikbesitzer die Arbeiterinnen in den Schlafsälen einsperren. "Wir schlafen in überfüllten, stickigen Räumen. Dort bekommen wir zu wenig Luft. Vor den Mücken gibt es kein Entkommen", berichtet die Arbeiterin einer Textilfabrik in Sri Lanka. Wer sich wehrt, fliegt raus.
Oft wissen die Unternehmen selbst nicht, wo der Zulieferer ihres Zulieferers ihres Zulieferers einkauft. Und wenn, können sie deren Versprechen kaum kontrollieren.
Wer als Kunde solche Methoden nicht unterstützen möchte, findet Orientierung mittels der zahlreichen Siegel, die auf den Produkten kleben. Das sechseckige Bio-Label zum Beispiel, das Fair-Trade Logo des "fairen Handels" oder das TransFair Siegel. TransFair vergibt sein Siegel nur, wenn die gesamte Herstellungskette von der Baumwollernte bis zur Verladung der fertigen Jeans auf ihre Arbeitsbedingungen hin überprüft wurde. Weitere Voraussetzungen für das Prädikat "fair gehandelt": Der Abnehmer garantiert den Baumwollbauern feste Mindestpreise. Im Laden kosten die Jeans aus Fair-Trade-Baumwolle 89 Euro, genau so viel wie die ohne Siegel. Fair gehandelte T-Shirts aus Bio-Baumwolle gibt es schon für neun Euro.
Rund eine Million Tonnen Kleidung sortieren die Deutschen jedes Jahr aus. Das sind 1,5 Milliarden Stücke. Weltrekord. Ein Drittel davon landet im Müll, der Rest in Altkleidersammlungen. Davon wird gut die Hälfte zu Putzlappen und anderem Recyclingmaterial verarbeitet. Die kommerziellen Sammler, die den Leuten gerne ihre Tonnen direkt vor die Haustür stellen, verkaufen noch brauchbare Altkleider an Großhändler, die die Ware unter anderem nach Afrika verschiffen. Dort werden sie auf den Märkten verkauft, die Preise für einheimische Ware fallen, und kleine heimische Textilunternehmen werden so in den Ruin getrieben. Einige kirchliche und gemeinnützige Organisationen haben in den 1990er Jahren den Verband fair-wertung gegründet. Gemeinsam versprechen die Mitglieder, dass sie wirklich für karitative Zwecke sammeln. Die Ware soll möglichst im Land bleiben - zum Beispiel in Kleiderkammern - oder direkt an Bedürftige im Ausland gehen. Auf ihrer Internetseite www.fairwertung.de zeigen sie unter "Standortabfrage" die Container und Annahmestellen seriöser Sammler.
Bio und fair
Bio ist nicht gleich bio und bio nicht gleich fair. Geschützt ist nur das Label "aus kontrolliert biologischem Anbau" oder "k.b.A". Unternehmen, die ihre Produkte mit Aufdrucken wie "naturnah", "nachhaltig" oder sonst wie nach "öko" klingenden Bezeichnungen schmücken, sagen damit nichts Konkretes.
Auch beim fairen Handel gibt es Etikettenschwindel. Geschützt ist das "Fairtrade"-Siegel. Lob bekommt in Fachkreisen auch das Siegel des Verbands Naturtextilwirtschaft "IVN better", das jetzt GOTS heißt. Viele Großunternehmen lassen ihre Lieferanten von eigenen Organisationen oder denen ihrer Verbände überprüfen. Aldi zum Beispiel ist Mitglied der Business Social Compliance Initiative (BSCI). "Zu lasch", urteilt Christiane Schnura von der Kampagne "Saubere Kleidung". Unternehmensunabhängig arbeitet nach relativ strengen Kriterien die niederländische Fair Wear Foundation. Auf deren Internetseiten http://en.fairwear.nl finden sich die Logos der Mitgliedsunternehmen.
Robert B. Fishman
Können sich jenseits von Markt und Staat kooperative Formen des Wirtschaftens entwickeln, die den vielfältigen menschlichen Bedürfnissen Rechnung tragen und den Wachstumszwang entschärfen? Neue Formen des Einkommens, der Arbeit und der Güternutzung stehen zur Diskussion.
Grundeinkommen zur Entkopplung von Arbeit und Einkommen?
Ein bedingungsloses Grundeinkommen zu gewähren, würde bedeuten, dass jeder Mensch einen festen Geldbetrag erhält, der es ihm ermöglicht, alle Grundbedürfnisse des alltäglichen Daseins zu sichern. Die von vielen als diskriminierend empfundene Bedürftigkeitsprüfung, in der die Einzelnen ihr Unvermögen, für sich selbst ausreichend sorgen zu können, unter Beweis stellen müssen, entfiele. Ein solches Grundeinkommen würde die Bedeutung der Erwerbsarbeit als alleinige Institution der Einkommensverteilung verringern. Neben ihr könnten sich nützliche sinnstiftende Tätigkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen von Haus- und Bürgerarbeit stärker entwickeln.
Das Grundeinkommen entkoppelt Arbeit und Einkommen und stellt nach Ansicht des Soziologen Ulrich Beck eine doppelte Befreiung dar: die Freiheit vom Arbeitszwang und zur sinnvollen Arbeit bzw. die "Befreiung von falscher Arbeit", wie es der heutige Chefredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Thomas Schmidt, schon in den 1980er Jahren forderte. Freie und selbstbestimmte Individuen müssen nicht mehr jedes Jobangebot annehmen, der ökologisch problematische Wachstumszwang wird gemindert, da ausreichend Arbeitplätze für alle bereitstehen und ein Minimum an Arbeit ausreichenden materiellen Wohlstand schafft.
Es existieren verschiedene Ideen, wie ein solcher Ansatz realisiert werden könnte. Konzipiert als bedingungsloses Grundeinkommen, solidarisches Bürgergeld, negative Einkommensteuer oder Grundeinkommensversicherung, unterscheiden sie sich vor allem durch die Höhe des Grundeinkommens, die Finanzierung und die künftige Ausgestaltung des Sozialstaates. Die Diskussion um das Grundeinkommen ist mit Sorgen und Hoffnungen verbunden: Während die einen schädliche Auswirkungen auf Arbeitsanreize befürchten und es für nicht finanzierbar halten, sehen andere die Löhne von ihrer Funktion entlastet, einen Beitrag zur Existenzsicherung zu leisten. Deshalb befürchten die einen eine weitere Spaltung der Gesellschaft mit einer massiven Senkung des Lebensstandards, während sich andere die befreiende Entmachtung eines Herrschafts- und Disziplinierungsinstruments erhoffen. Angesichts des grundlegenden Systemwandels, der mit dem Grundeinkommen für die Arbeitswelt und den Sozialstaat verbunden ist, erscheint es gegenwärtig noch als Utopie mit Chancen und Risiken. Konzeptionen zu seiner Ausgestaltung finden sich allerdings schon in allen politischen Lagern.
Sinnstiftende Tätigkeit jenseits der Erwerbsarbeit?
In einer Gesellschaft existieren vielfältige Tätigkeiten, deren Wert unterschätzt wird, weil sie nicht am Markt gehandelt werden - wie Haus-, Eigen- und Bürgerarbeit. Viele Menschen erbringen Bürgerarbeit in ehrenamtlichen Tätigkeiten, freiwillige Gemeinwohlarbeit im Bereich Umweltschutz, Bildung, Gesundheit, Behindertenhilfe, Kunst und Kultur oder Eigen- und Hausarbeit. Sie lösen sich aus der Marktabhängigkeit und -anonymität, indem sie beständige Werte und soziale Beziehungen herstellen. In Projekten mit Erwerbslosen hat der Philosoph Frithjof Bergmann Möglichkeiten sinnvoller Beschäftigung jenseits der Erwerbsarbeit entwickelt, ohne dabei auf die Errungenschaften der modernen Zivilisation zu verzichten. Daraus hat er eine Idee zukünftiger Arbeit generiert, die vor allem dazu dienen soll, "das Gold in den Köpfen zu heben". Mit wenig Arbeitseinsatz sollen siebzig bis achtzig Prozent der Dinge, die man zum Leben braucht, selbst phantasie- und sinnvoll gestaltet werden. Daneben sollen die Menschen aber moderne energiesparende Technologien nutzen, um sich selbst eigene Häuser und Möbel zu bauen, Nahrungsmittel anzupflanzen und Kleidung herzustellen. Aus dieser Unabhängigkeit soll neue Freiheit entstehen, über die Förderung eigener Fähigkeiten sich neues Selbstbewusstsein und Kreativität entwickeln, während die selbst geschaffenen Werte gleichzeitig Nutzen stiften und das geringe Einkommen über den Markt kompensieren. Bergmann stellt sich vor, die Arbeit in drei Einheiten zu teilen: Zwei Tage wöchentlich wird regulär gearbeitet, zwei Tage sind der Selbstversorgung auf hohem technischem Niveau gewidmet, und drei Tage tut jeder, was er immer schon tun wollte. Solche Projekte werden im Kleinen bereits realisiert. Sie sind wohl kaum verallgemeinbar, bieten aber Chancen, dem Ausschluss sozialer Gruppen durch Erwerbslosigkeit entgegenzuwirken und kreative Fähigkeiten zu entfalten.
Gemeingüter - solidarisch erstellt und kooperativ genutzt?
Im Prinzip existieren drei Arten der Güterproduktion und -verteilung:
wettbewerblich über den Markt,
geplant über den Staat oder
solidarisch in Gemeinschaften.
Für das Überleben, den sozialen Zusammenhalt und die kulturelle Entfaltung sind natürliche, soziale und kulturelle Gemeingüter erforderlich. Da sich niemand von ihrem Gebrauch ausschließen lässt und sie nicht privat angeeignet werden können, besteht die Gefahr, dass sie verkümmern, wenn sich niemand um ihren Bestand sorgt. Privatisierung könnte theoretisch zwar ihren Schutz bewirken, schlösse aber andere aus; der Staat kann sie schützen, seine Kontrollmöglichkeiten sind aber begrenzt.
Die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat untersucht, wie Menschen Gemeingüter dauerhaft für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nutzen, ohne sie zu zerstören. Kollektivgüter fordern eine kooperative Ökonomie des Teilens, damit niemand sie sich alleine aneignet und sie gemeinschaftlich in ihrem Bestand gewahrt und weiterentwickelt werden. So können Bedürfnisse auch mit geringerem Geldeinsatz befriedigt werden. Bei der Commons-Peer-Produktion des Ökonomen Yochai Benkler tragen alle Teilnehmer in unterschiedlichem Ausmaß nach ihren jeweiligen Fähigkeiten zur Produktion der Gemeingüter bei und nutzen sie gemeinsam.
Solche Gemeinschaften existieren in vielfältiger Weise: von der umweltschonenden Nutzung gemeinsamer Gebrauchsgüter, wie etwa beim Carsharing bis hin zu solchen Dienstleistern, die sich gegenseitig ihre Fähigkeiten und Talente in Tauschringen mit selbst geschaffenen Währungen als Zeiteinheiten anbieten. Selbst in anonymen Gemeinschaften entstehen solche Initiativen, die sich für die Schaffung, den Aufbau, die Pflege und Entwicklung von Gemeingütern einsetzen, etwa indem sie freie Software schaffen, Wissen verfügbar machen, Kulturgüter bereitstellen oder Nachbarschaftseinrichtungen entwickeln.
QuellentextDie Allmende kann funktionieren!
[...] Als Allmende (im Englischen "Commons") werden gemeinschaftlich bewirtschaftete Güter bezeichnet. Etwa Weideflächen, auf die mehrere Bauern ihr Vieh stellen, oder Fischgründe, die allgemein befischt werden, oder Grundwasser, das von vielen Stellen angezapft wird. Die übliche ökonomische Theorie sagte, dass solche Gemeindegüter ruiniert werden. Jeder Nutzer habe individuell den Anreiz, so viel wie möglich herauszuziehen, obwohl er damit die Ressource kollektiv zerstört. Die Wiesen werden abgegrast, die Seen überfischt, das Grundwasser aufgebraucht. Dieses angebliche Prinzip der Selbstzerstörung hatte der amerikanische Biologe Garrett Hardin 1968 als "The Tragedy of the Commons" bezeichnet.
Viele Ökonomen fanden das einleuchtend. Sie sahen nur zwei Auswege: Entweder wird das Gemeindegut privatisiert, also in viele Parzellen aufgeteilt und einzelnen Nutzern exklusiv übergeben. Oder es wird komplett unter die Kontrolle einer Behörde gestellt, die eine angemessene Nutzung vieler überwacht. Elinor Ostrom fand heraus, dass es offenbar auch einen dritten Weg gibt: In den verschiedensten Umständen haben Menschen Wege gefunden, gemeinsam verantwortungsvoll mit den Ressourcen umzugehen. Sie haben Regeln für die nachhaltige Nutzung entwickelt.
International bekannt wurde Ostrom mit dem 1990 erschienenen Buch "Governing the Commons". Darin hat sie detailliert analysiert, wie Institutionen für eine sozial und ökologisch nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen entstehen: durch lokale Kooperation, Selbstorganisation und Selbstregierung. Hunderte Feldstudien über schweizerische und japanische Almbauern, über Bewässerungssysteme in den Philippinen und in Spanien, Fischfang in der Türkei und vieles mehr hat Ostrom dafür ausgewertet. [...] Ihr Ergebnis ist immer wieder: Sofern das Gut eingrenzbar ist und die betroffene Gruppe der Nutzer überschaubar, funktioniert Selbstregulierung besser, als wenn der Staat eingreift. [...]
"Gegenwärtig ist der dominierende Ansatz im Umweltschutz, die Probleme von oben nach unten anzugehen", sagt Ostrom. Man müsse aber die Betroffenen einbinden. "Wir dürfen die Leute vor Ort nicht zur Seite schieben. Solange wir sie als Teil des Problems, nicht als potentiellen Teil der Lösung ansehen, solange wird der Erfolg gering bleiben." [...]
Zur Person: Elinor "Lin" Ostrom, geboren am 7. August 1933 in Los Angeles, [...] studierte [...] Politik und Ökonomie. Ihr wissenschaftliches Lebensthema ist die Frage nach Regeln für die gemeinschaftliche Nutzung von natürlichen Ressourcen ("Allmende-Problematik"). [...] 2009 erhielt sie den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.
Philip Plickert, "Vom Hörsaal in den Dschungel", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4./5. September 2010
Haushalte in gewachsener Eigenverantwortung
Die privaten Haushalte haben im vergangenen Jahrhundert beispiellose Veränderungen erfahren. Während die Zahl ihrer Mitglieder gesunken ist, hat sich die Versorgung mit materiellen, marktgehandelten Gütern erheblich verbessert. Um ihre vielfältigen Bedürfnisse zu befriedigen, haben die privaten Haushalte erheblich gewachsene Entscheidungsspielräume, die sie vor neue Herausforderungen stellen, ihr Leben zu gestalten. Waren sie früher engen sozialen Bindungen mit entsprechenden Traditionen und Konventionen unterworfen, scheinen sie heute stärker von anonymen Marktkräften oder staatlichen Institutionen abhängig, die gleichzeitig zum Anstieg des materiellen Wohlstands beigetragen haben.
Mit dieser Entscheidungsdichte steigen die Anforderungen, während die Lebenszufriedenheit angesichts neuer Knappheiten, alter und neuer Risiken nicht gleichermaßen wächst. Auch die Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten kooperativen Wirtschaftens gehört zur Gegenwart vieler Haushalte. Solche Optionen, die Markt und Staat nicht ersetzen, aber ergänzen, gleichzeitig soziale und ökologische Probleme zu mindern helfen und soziale Einbettung und kreative Entfaltung ermöglichen, existieren auch jenseits von Markt- und Sozialeinkommen, Haus- und Erwerbsarbeit sowie Privat- oder Staatseigentum. Sie erwachsen aus geteilten ökonomischen und sozialen Bedürfnissen und dem solidarischen Miteinander. Sie können die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung privater Haushalte sowohl erweitern als auch bereichern, sie verlangen aber auch die verantwortliche Nutzung und Gestaltung von Optionen.