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Informationen zur politischen Bildung Nr. 359/2024

Grundrechte in anderen Verfassungen

Gudula Geuther

/ 14 Minuten zu lesen

Die DDR hatte eine eigene Vorstellung vom Verhältnis Mensch – Staat. Durch den Föderalismus und die Einbindung in Europarat, EU und UNO wirken in Deutschland heute unterschiedliche Rechteordnungen.

Der Vertrag von Lissabon reformiert den Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Im Hieronymus-Kloster in Lissabon (Portugal) wird der EU-Reformvertrag am 13. Dezember 2007 in einer feierlichen Zeremonie unterzeichnet. (© picture-alliance/dpa, epa Lusa Inacio Rosa )

Bürgerrechte in der DDR

Mathias Metzner

Auch die verschiedenen DDR-Verfassungen enthielten Aussagen über Bürgerrechte. Insbesondere in der DDR-Verfassung von 1949 waren unter dem Kapitel Bürgerrechte eine Vielzahl von Rechten genannt, die in ihren Formulierungen den Grundrechten des Grundgesetzes teilweise sehr ähnelten. Allerdings haben die Bürgerrechte in der DDR kaum die Bedeutung erlangt, die die Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland gewannen. Besonders greifbar wird dies dadurch, dass in der DDR-Verfassung selbst keine Mechanismen vorgegeben waren, die eine Durchsetzung der Bürgerrechte als Freiheitsrechte gegenüber dem Staat garantiert hätten. Demonstrantinnen und Demonstranten beriefen sich 1989 vielerorts auf die verfassungsmäßig fixierten Bürgerrechte und wurden dafür bestraft. Die DDR-Verfassung ging vom Prinzip der Gewalteneinheit aus, eine Gewaltenteilung wurde als „bürgerlich“ abgelehnt. Eine von der Regierung unabhängige „dritte Gewalt“ war nicht vorgesehen, vielmehr diente die Rechtspflege durch die Gerichte der Lösung der Aufgaben der sozialistischen Staatsmacht bei der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft. Daher waren eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit und eine Verwaltungsgerichtsbarkeit von der DDR-Verfassung bewusst nicht vorgesehen. Bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften entschied die Volkskammer. Das Oberste Gericht der DDR nahm zwar die Aufgabe der Rechtspflege wahr, war aber der Volkskammer verantwortlich und rechenschaftspflichtig.

Der Grund dafür lag in der gänzlich unterschiedlichen Vorstellung des Verhältnisses von Mensch und Staat, von der die DDR-Verfassung ausging. Zwar kam den Grundrechten auch nach dieser Verfassung ein Vorrang zu, wobei bereits bemerkenswert ist, dass in ihr mit den Grundrechten immer auch zugleich die Grundpflichten der Bürgerinnen und Bürger genannt wurden (was dem Grundgesetz – mit Ausnahme der elterlichen Pflichten – fremd ist). Allerdings war die Begründung für die Vorrangstellung der Grundrechte eine andere als die des Grundgesetzes, das die Grundrechte auf die Würde des Menschen zurückführt. Dem Grundgesetz und den darin enthaltenen Menschenrechtsgarantien liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt. Demgegenüber kamen in der DDR-Verfassung den Regelungen über die Grundrechte und die Grundpflichten deshalb eine besondere, hervorgehobene Stellung zu, weil damit den Bürgerinnen und Bürgern die von ihnen zu erbringende Aufgabe, nämlich der Aufbau der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft, verdeutlicht werden sollte. Dies macht insbesondere der Wortlaut der Präambel deutlich: „In Fortsetzung der revolutionären Tradition der deutschen Arbeiterklasse und gestützt auf die Befreiung vom Faschismus hat das Volk der Deutschen Demokratischen Republik in Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche sein Recht auf sozial-ökonomische, staatliche und nationale Selbstbestimmung verwirklicht und gestaltet die entwickelte sozialistische Gesellschaft.

Erfüllt von dem Willen, seine Geschicke frei zu bestimmen, unbeirrt auch weiter den Weg des Sozialismus und Kommunismus, des Friedens, der Demokratie und der Völkerfreundschaft zu gehen, hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik diese sozialistische Verfassung gegeben.“

Die Grundrechte dienten also nicht der Verwirklichung des Individuums, sondern der Verwirklichung des Kommunismus; die freie Entfaltung des und der Einzelnen war allein zu diesem kollektiven Zweck vorgesehen. Letztlich wurden die Grundrechte damit instrumentalisiert, um die Gesellschaft auf ihrem „Weg des Sozialismus und des Kommunismus“ zu entwickeln, und sie dienten nicht als Abwehrrechte des und der Einzelnen gegen den Staat.

Dass es den Gestaltern der DDR-Verfassung bzw. der darin enthaltenen Bürgerrechte nicht darauf ankam, die Bedeutung des Individuums oder das Bestehen vorstaatlicher und unabänderlicher Rechte hervorzuheben, sondern vorrangig die Bedeutung des Sozialismus und des Kommunismus, zu dessen Verwirklichung jedes Individuum die Grundrechte wahrnehmen kann, ergibt sich anschaulich aus den nachfolgenden Textauszügen der DDR-Verfassung vom 6. April 1968 in der Fassung vom 14. Oktober 1974:

Art. 19 Abs. 3 DDR-Verfassung:
„Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfang zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluss zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit. Die Beziehungen der Bürger werden durch gegenseitige Achtung und Hilfe, durch die Grundsätze sozialistischer Moral geprägt.“

Art. 20 Abs. 3 DDR-Verfassung:
„Die Jugend wird in ihrer gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung besonders gefördert. Sie hat alle Möglichkeiten, an der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung verantwortungsbewusst teilzunehmen.“

Art. 29 DDR-Verfassung:
„Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen.“

Quellentext34 Jahre Grundgesetz in Ostdeutschland – Interview mit der Historikerin Kerstin Brückweh

SPIEGEL: Frau Brückweh, die Ostdeutschen wachten am 3. Oktober 1990 in einem anderen Staat auf. Doch der gesamtdeutsche Staat erhielt schließlich keine neue Verfassung. Warum?

Brückweh: Es fehlte an Mut. Mancher warnte schon damals vor langfristigen Folgen für das Gemeinwesen, und zwar im ganzen Land.

SPIEGEL: Im Nachhinein kann es wirken, als wäre der westdeutsche Staat einfach nur größer und komplizierter geworden. Hat man vergessen, dass er auch Heimat für zusätzlich mehr als 16 Millionen Menschen werden musste?

Brückweh: Verfassungen haben zwei wichtige Funktionen, eine davon ist instrumentell-rationalistisch. Die gängige Erzählung geht so: Das Grundgesetz funktioniert hervorragend, das muss man nicht ändern. Deshalb wird nun der 75. Geburtstag dieser Verfassung gebührend gefeiert – obwohl sie in einem großen Teil des Landes erst seit 34 Jahren gilt.

SPIEGEL: Und was ist die zweite Funktion?

Brückweh: Eine symbolische. Man hätte am Grundgesetz gar nicht viel ändern müssen, weil es sich in der Tat bewährt hatte. Aber es hätte eine andere Wirkung gehabt, es offiziell in Verfassung umzubenennen und mit einer Volksabstimmung zu legitimieren. Das wäre ein gemeinsamer Anfangspunkt gewesen, für alle Menschen in diesem zusammenwachsenden Land.

SPIEGEL: Warum kam es denn dann nicht zu einer neuen Verfassung, die auch progressivere Elemente des DDR-Rechts integriert, etwa die Regelungen zu Frauen- und Kinderrechten?

Brückweh: Das hat viel mit den damaligen Mehrheitsverhältnissen zu tun. Bundestag und Bundesrat hatten eine Gemeinsame Verfassungskommission installiert, es gab aber klare liberalkonservative Mehrheiten. Insbesondere die Unionsparteien wollten keine neue Verfassung. […]

SPIEGEL: Ist das ein Grund für das verbreitete Gefühl in Ostdeutschland, übergangen und ignoriert worden zu sein?

Brückweh: So einfach ist das nicht. Die Mehrheit der Ostdeutschen, davon bin ich überzeugt, hatte damals andere Sorgen. Natürlich kann sich nachträglich ein gewisses Narrativ festsetzen. Deshalb ist der Blick auf die Fakten so wichtig: Die Westdeutschen hätten engagierter sein können. Der Vorwurf, sie hätten eine Vereinigung auf Augenhöhe verhindert, wäre allerdings zu pauschal. […]

SPIEGEL: Hat die in Ostdeutschland verbreitete Sorge, Bürger zweiter Klasse zu sein, seine Wurzeln im Jahr 1990?

Brückweh: Nein, das glaube ich nicht. Einerseits waren für viele Menschen die frustrierenden Erfahrungen der Neunzigerjahre sehr viel prägender, andererseits gibt es die Ostdeutschen gar nicht: Manche interessieren sich für Verfassungsfragen, andere engagieren sich für die demokratische Zivilgesellschaft vor Ort, wieder andere interessieren sich für all das nicht und machen es sich in ihrem Alltag gemütlich.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Brückweh: Es reicht in einer Demokratie – egal ob ost-, west-, nord- oder süddeutsch – nicht aus, abends ein Glas Wein zu trinken und sich ansonsten nur um Hobby und Eigenheim zu kümmern. Wem es um die Werte des Grundgesetzes geht, um Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung, muss sich dafür aktiv einsetzen. […]

SPIEGEL: Könnte es der Demokratie dienen, die Debatte von damals über eine neue Verfassung wiederaufzunehmen?

Brückweh: Ich bin da skeptisch, zumal es an der grundsätzlichen Qualität des Grundgesetzes unter Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern ja kaum Zweifel gibt. Etwas anderes scheint mir wichtiger zu sein: auf welche Erzählung wir uns im Jahr 2024 als Gesellschaft einigen. Ist unsere Verfassung in erster Linie ein gesamtdeutsches Projekt oder bloß eine westdeutsche Errungenschaft?

SPIEGEL: Wie lautet derzeit die gängige Antwort?

Brückweh: Schauen Sie mal auf die Homepage der Bundesregierung, da steht ganz oben: „Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz“. Das Grundgesetz gilt aber eben nur in einem Teil unseres Landes seit 75 Jahren, dieser Slogan spiegelt eine westdeutsche Erfolgsgeschichte wider. So schließt man Menschen aus. Und ehrlich gesagt dachte ich, dass wir schon weiter wären.

Peter Maxwill, „So schließt man Menschen aus“, in: DER SPIEGEL vom 4. Mai 2024 (Nr. 19)

Grundrechte in Landesverfassungen

Fast alle Landesverfassungen haben einen eigenen Grundrechtskatalog. In vier Ländern – Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – erklärt die Landesverfassung die Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte des Grundgesetzes zum Bestandteil der Verfassung. Außerdem haben alle Länder ein Landesverfassungsgericht (wenn auch nicht immer mit der Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde oder etwas Vergleichbares zu erheben). Bundesrecht bricht Landesrecht, deshalb hat es für die Einzelperson keine Auswirkungen, wenn Landesverfassungen bestimmte Grundrechte nicht oder zumindest nicht in dem Ausmaß vorsehen wie das Grundgesetz. Die Länder können aber weitergehen, indem sie bestimmte Rechte zusätzlich festschreiben, etwa in Bayern den Zugang zu Seen. Das gilt vor allem dann, wenn der Fall, um den es geht, von Landesrecht bestimmt wird. In jedem Fall aber können und müssen auch landesrechtliche Vorschriften am Grundgesetz gemessen werden.

Grund- und Menschenrechtsschutz in Europa

Die Grundrechte des Grundgesetzes sind nicht die einzigen, auf die sich Menschen in Deutschland berufen können. Der Gesetzgeber, jede Behörde und jedes Gericht muss auch die Europäische Menschenrechtskonvention beachten und häufig auch die Grundrechte, die in der Europäischen Union gelten. Die Gründe für die Geltung der Menschenrechtskonvention und der Europäischen Grundrechte sind unterschiedlich. Trotzdem haben Menschenrechtskonvention und europäische Grundrechte vieles gemeinsam: Beide sind eine Folge der Einbindung der Bundesrepublik in internationale Institutionen. Die hat das Grundgesetz in Artikel 24 von Anfang an als Möglichkeit vorgesehen – vor allem in der Hoffnung, dass eine stärkere internationale Zusammenarbeit friedenstiftend wirken würde.

Dieser Gedanke stand auch hinter den Bemühungen um eine enge europäische Zusammenarbeit. Konkrete Ideen für eine europäische Einigung hatte es schon nach dem Ersten Weltkrieg gegeben, unter anderem mit der 1922 gegründeten Paneuropa-Union oder den 1925 von der SPD in ihrem Heidelberger Programm angestrebten „Vereinigten Staaten von Europa“. Vor dem Hintergrund des gerade zu Ende gegangenen Zweiten Weltkriegs nahmen diese Pläne schnell Gestalt an. Schon 1946 etwa sprach sich Winston Churchill für eine Art „Vereinigte Staaten von Europa“ aus. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist eine frühe Ausprägung dieser Idee. Die Konvention und die Grundrechte der Europäischen Union sind aber auch in ihren konkreten Inhalten eng miteinander verbunden.

Europäische Menschenrechtskonvention

Die Europäische Menschenrechtskonvention – fertiggestellt 1950, in Kraft seit 1953 – hat in den 1960er-Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR oder EuGHMR, nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof, EuGH, in Luxemburg) lässt sich mit den Verfassungsgerichten in nationalen Rechtsordnungen vergleichen.

Die Konvention ist einer der ersten und der wichtigste unter den völkerrechtlichen Verträgen, die im Rahmen des Europarats, einer seit 1949 bestehenden, derzeit 47 Mitgliedstaaten umfassenden internationalen Organisation, geschlossen wurden. Inhaltlich war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 Vorbild. Allerdings war von Anfang an klar, dass die Konvention – anders als die Erklärung – für die Mitgliedstaaten verbindlich sein sollte. Tatsächlich kann heute dem Europarat nur beitreten, wer die Konvention anerkennt. Ihm gehören sehr viel mehr Staaten an als der EU. Die Türkei beispielsweise ist seit 1949 Mitglied, also fast von Anfang an. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind auch weitere Staaten beigetreten, die geographisch nicht vollständig auf dem europäischen Kontinent liegen, wie Russland oder auch Aserbaidschan. Inhaltlich wurde der Katalog der Rechte nach und nach in Zusatzprotokollen erweitert und ergänzt. Heute enthält die Konvention in erster Linie nach wie vor die klassischen Freiheitsrechte, aber auch wirtschaftliche wie das Recht auf Eigentum, kulturelle wie das Recht auf Bildung und politische wie das Wahlrecht. Diese Rechte gelten für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger eines Mitgliedstaates unmittelbar, allerdings in anderer Weise als die Grundrechte des Grundgesetzes. Während diese als Verfassungsrecht über dem einfachen Recht stehen, teilweise sogar nicht beschränkt werden können, gelten die Rechte aus der Konvention in den Mitgliedstaaten als einfaches Recht. Trotzdem muss alle öffentliche Gewalt sie beachten, also nicht nur Behörden und Gerichte, sondern auch der Gesetzgeber. Denn die Mitgliedstaaten haben sich völkerrechtlich verpflichtet, die Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger zu wahren. Ein Staat, der diese Rechte – und Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – missachtet, verstößt also gegen Völkerrecht. Das kommt tatsächlich vor. In aller Regel aber bemühen sich die Mitgliedstaaten, den Entscheidungen des Gerichts zu folgen. Tun sie das nicht, drohen ihnen Schadensersatzklagen vor dem Menschenrechtsgerichtshof. Noch wichtiger ist aber der politische und moralische Makel, als Konventions-Verweigerer dazustehen.

Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem entschieden, dass die Rechte der Konvention über einen Umweg in Deutschland stärker gelten als das einfache Recht: Sie müssen bei der Auslegung der Grundrechte berücksichtigt werden. Ihr Inhalt fließt also in die Grundrechte ein und ist damit im deutschen Recht mit Verfassungsrang verankert. Allerdings sind die Rechte der Konvention in Deutschland nach wie vor viel weniger bekannt als die Grundrechte – manchmal auch den Behörden und Gerichten.

Bis 1998 konnten sich nur Staaten oder eine Kommission des Europarats an den Straßburger Gerichtshof wenden. Gegen eine Ausdehnung auf Individualbeschwerden hatten sich die meisten Mitgliedstaaten lange gesträubt. 1998 änderte sie aber grundlegend das Verfahren vor dem Gericht, und seitdem können auch einzelne Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs herbeiführen. Wie bei der deutschen Verfassungsbeschwerde auch, muss der oder die Beschwerdeführende dafür selbst unmittelbar betroffen sein, in dem Land, gegen das er oder sie Beschwerde erhebt, die zumutbaren gerichtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben und einige andere Voraussetzungen erfüllen. Mit der Individualbeschwerde hat die Konvention eine praktische Bedeutung bekommen, die für internationale Menschenrechtserklärungen einzigartig ist. Seitdem ist der Gerichtshof in seinen Entscheidungen selbstbewusster geworden und wirkt immer mehr in die nationalen Rechtsordnungen hinein.

Wie wichtig der Gerichtshof ist, zeigt sich auch daran, dass häufig grundlegende politische Entscheidungen in Straßburg überprüft werden, zum Beispiel die Entscheidungen deutscher Strafgerichte zum Schießbefehl an der Mauer oder umstrittene Parteiverbote in der Türkei. In Deutschland ist das Gericht spätestens mit seinen Entscheidungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Möglicherweise gefährliche Straftäterinnen und -täter, die ihre Haftstrafe abgesessen haben, können unter bestimmten Umständen mit der Sicherungsverwahrung weiter eingesperrt bleiben – früher bis zu zehn Jahre lang. Diese Zehnjahresgrenze hob der Gesetzgeber 1998 auf. 2009 entschieden die Straßburger Richterinnen und Richter, dass das nur für die Zukunft hätte gelten dürfen, nicht also für alle die, die schon verurteilt waren. Das Recht der Sicherungsverwahrung wurde daraufhin stark verändert, einige der betroffenen Straftäterinnen und -täter kamen frei.

QuellentextDie Sicherungsverwahrung

Es gab wohl nur wenige Fachleute in Deutschland, für die die Nachricht im Juli 2009 nicht aus heiterem Himmel kam: Teile des deutschen Rechts der Sicherungsverwahrung verstießen laut einer Kammer des EGMR gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Folge: Möglicherweise gefährliche Straftäterinnen und -täter müssten freigelassen werden – für viele undenkbar. Die mündliche Verhandlung hatte wenige Monate zuvor praktisch ohne Journalistinnen und Journalisten auf den Zuschauersitzen stattgefunden. Die Sicherungsverwahrung, das ist die Möglichkeit, Straftäterinnen und -täter auch nach verbüßter Haft nicht freizulassen, wenn Gutachten und Gerichte sagen, dass sie noch gefährlich sein könnten. Immer unter der Prämisse, dass das eine einschneidende Maßnahme ist, die nur unter strengen Voraussetzungen möglich sein kann. Zu diesen Voraussetzungen zählten schwere Vorstrafen, eine hohe Wahrscheinlichkeit des Rückfalls, regelmäßige Begutachtung.

Die Sicherungsverwahrung ist älter als die Bundesrepublik. Anfangs allerdings konnte sie höchstens zehn Jahre dauern. Das wurde 1998 geändert – und zwar rückwirkend; also auch mit Wirkung für die, die schon verurteilt waren. Und genau darum ging es in der Entscheidung von 2009. Dort hatten die Richterinnen und Richter über die Beschwerde eines Mannes zu urteilen, der immer wieder wegen schwerer Straftaten in Haft saß. Zuletzt war er 1986 verurteilt worden, und zwar zu einer Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Er versuchte immer wieder, mit juristischen Mitteln dagegen vorzugehen. Schließlich, als die zehn Jahre um waren, auch mit dem Argument: Keine Strafe ohne Gesetz zur Tatzeit, und da hätte er eben nach zehn Jahren Verwahrung entlassen werden müssen.

Rückwirkende Strafen darf es auch nach deutschem Recht nicht geben. Deshalb nahmen auch deutsche Juristinnen und Juristen das Argument zuerst sehr ernst. Mit einer ausführlichen Begründung entschied aber schließlich das Bundesverfassungsgericht: Von einer Strafe kann man hier nicht sprechen. Die Sicherungsverwahrung ist – so wie zum Beispiel auch die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt oder der Entzug der Fahrerlaubnis – eine Maßregel der Besserung und Sicherung. Für die gelte das Rückwirkungsverbot nicht, auch nicht analog, auch nicht – in diesem Fall – der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Die Straßburger Richterinnen und Richter aber entschieden: Egal, wie das deutsche Recht es nennt, die Sicherungsverwahrung wirkt wie eine Strafe. Entsprechend gelten deren Regeln. Dabei spielte auch eine Rolle, dass mindestens in einzelnen Gefängnissen in Deutschland die Sicherungsverwahrung fast genau wie die Strafhaft vollzogen wurde.

Deutschland rief die „Große Kammer“ des Straßburger Gerichts an, in der Hoffnung, die werde die Entscheidung zurücknehmen. Diese schloss sich jedoch 2009 ihren Kolleginnen und Kollegen an. Die Entscheidung lautete nicht, dass nun alle betroffenen Straftäterinnen und Straftäter freizulassen wären, solche Konsequenzen kann das Gericht nicht fordern. Aber die Entscheidung hat zur Folge, dass solche Verstöße zu beenden sind. Und zwar, nimmt man den Gerichtshof ernst, nicht nur in dem einen Fall, sondern in allen, auf die die Argumentation zutrifft.

Gerichte reagierten zuerst unterschiedlich. Das Bundesverfassungsgericht entschied schließlich: Freizulassen ist, wer nicht ganz besonders gefährlich ist. Und die Verfassungsrichterinnen und -richter forderten insgesamt ein neues Recht der Sicherungsverwahrung. Denn schließlich hat der Täter bzw. die Täterin die auferlegte Strafe verbüßt und darf, wenn überhaupt, nur noch zum Schutz der Allgemeinheit festgehalten werden. Inzwischen hat der Bundestag ein Gesetz zu den Voraussetzungen der Verwahrung erlassen und auch Standards dafür aufgestellt, wie sie vollzogen wird. Weil der Täter bzw. die Täterin die Strafe ja verbüßt hat, muss sich der Vollzug soweit möglich von der Strafhaft unterscheiden. Möglichst frühzeitig muss mit dem Täter bzw. der Täterin, vor allem mit Therapien, gearbeitet werden, um eine Entlassung zu ermöglichen. Umsetzen müssen das die Bundesländer.

Zwischenzeitlich hatte es in Deutschland teilweise deutliche Kritik am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gegeben. Ein „Therapieunterbringungsgesetz“ von 2009 sollte ermöglichen, dass Freigelassene unter anderen Bedingungen doch wieder untergebracht werden können. Das Bundesverfassungsgericht machte 2013 deutlich, dass das nur möglich ist, wenn von diesen Personen eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten ausgeht, was konkret belegt werden muss. In dieser engen Auslegung akzeptierte das dann auch das Straßburger Gericht.

Gudula Geuther

Grundrechte in der Europäischen Union

Bei der Europäischen Menschenrechtskonvention geht es um Menschenrechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten des Europarats, und zwar um Schutz gegenüber ihren Staaten. Wenn vom Grundrechtsschutz in der Europäischen Union die Rede ist, steht etwas Anderes im Vordergrund: der Schutz gegenüber der EU selbst oder gegenüber dem eigenen Staat, wenn er EU-Recht ausführt. Hier treten die Grundrechte der einzelnen Mitgliedstaaten in den Hintergrund, weil es sonst kaum ein einheitliches europäisches Recht geben könnte. Dann muss aber ein anderer Grundrechtsschutz für die EU-Bevölkerung an diese Stelle treten. Grundrechte in der Union sollen also nicht einfach noch eine zusätzliche Möglichkeit bieten, Rechte einzuklagen, sondern sie sollen verhindern, dass die Bürgerinnen und Bürger gerade gegenüber der EU rechtlos dastehen.

Dass ein solcher Schutz nötig ist, hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) früh festgestellt. Allerdings war zuerst nicht ganz klar, woher die Grundrechte kommen sollten. Die bestehenden Verträge, die ursprünglich nur die engere wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa zu regeln hatten, sahen keine solchen Rechte vor. Von Anfang an hat es der EuGH abgelehnt, die Grundrechte der Mitgliedstaaten anzuwenden – denn sonst sähe das einheitliche europäische Recht in den verschiedenen Staaten unterschiedlich aus. Eine erste Lösung fanden die Luxemburger Richter 1969: Ein deutscher Sozialhilfeempfänger wehrte sich gegen eine Vorschrift aus Brüssel. Er sollte verbilligte Butter mit Zuschüssen der Europäischen Gemeinschaft bekommen. Dafür musste er allerdings im Laden einen Gutschein vorlegen, auf dem sein Name stand. Er fand, sein Name gehe den Verkäufer nichts an. Der EuGH gab ihm Recht. Er interpretierte die Vorschrift – wie auch andere Länder in Europa – so, dass der Name nicht auf dem Gutschein erscheinen musste und berief sich dafür auf die Grundrechte als allgemeine Grundsätze der Gemeinschaftsordnung. Das bedeutete: In den ersten Jahren entnahm der EuGH die europäischen Grundrechte allen Grundrechten der Mitgliedstaaten, die er verglich und aus denen er Gemeinsamkeiten herausfilterte. Das tut er bis heute.

Zusätzlich gilt aber auch in der EU die Europäische Menschenrechtskonvention. Dies hat die EU selbst so entschieden, obwohl sie nicht Mitglied des Europarates und der Konvention ist – allerdings gibt es seit 2009 rechtlich die Möglichkeit zum Beitritt, und dieser wird angestrebt. Immer wieder richtet sich der EuGH auch nach Entscheidungen der Straßburger Richterinnen und Richter, in denen sie die Menschenrechte auslegen. Mehr Grundrechtsschutz und vor allem für die Bevölkerung besser erkennbare Grundrechte erhoffen sich die Vertragsstaaten durch einen neu geschaffenen, bindenden Text: Der EU-Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, enthält zum ersten Mal einen eigenen Grundrechtskatalog, die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“. Auch wenn dieser Katalog nicht im Hauptteil des Vertrages steht, ist er – außer für Polen, das sich dagegen entscheiden hat – verbindlich und wird auch vom Europäischen Gerichtshof angewendet. Die Luxemburger Richterinnen und Richter begründeten damit zum Beispiel ihr Urteil gegen die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten.

QuellentextDie UN-Behindertenrechtskonvention

Das Grundgesetz enthält zwar viele, teilweise auch sehr detaillierte Regelungen der Menschenrechte. Manchmal sind es jedoch Regelungen „von außerhalb“, die einen Schub bei der Verwirklichung der Menschenrechte bewirken. So hat die Behindertenrechtskonvention große Fortschritte bei der Integration von Menschen mit Behinderungen bewirkt. Dabei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der von den Vereinten Nationen erarbeitet wurde. Von den 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben 186 Staaten diesen Vertrag unterzeichnet (Stand 2023). In der Bundesrepublik Deutschland ist die Konvention am 26. März 2009 in Kraft getreten.

Zwar enthält das Grundgesetz seit 1994 in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 ein Diskriminierungsverbot zugunsten von Menschen mit Behinderungen. Die Regelung enthält auch einen Förderauftrag. Dieser gibt jedoch Menschen mit Behinderungen keine unmittelbaren Ansprüche.

Die Behindertenrechtskonvention geht ebenso wie das Grundgesetz von einem strikten Diskriminierungsverbot aus. Dabei enthält die Konvention zunächst eine genaue Beschreibung des Behindertenbegriffs: Menschen mit Behinderungen haben langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können, Art. 1 Abs. 2. Mit dieser Definition ist ein wichtiger Schritt weg von dem überkommenen Verständnis der Behinderung als medizinischem Defizit oder gar Krankheit getan. Denn Menschen mit Behinderungen treffen oft auf Barrieren, die vermeidbar sind. So werden sie behindert, sie sind es aber nicht. Beispiele hierfür lassen sich viele finden: Ein Rollstuhlfahrer kann ein Gebäude nicht betreten, weil er die Eingangsstufen nicht überwinden kann. Diese Barrieren abzuschaffen und so Menschen mit Behinderungen in das Alltagsleben zu integrieren, ist eines der Ziele der Konvention.

Die Konvention bleibt aber bei dem Diskriminierungsverbot nicht stehen, sondern sie formuliert Gleichbehandlungsgebote für verschiedene Bereiche des täglichen Lebens, um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben zu gewährleisten. Dies betrifft insbesondere die Lebensbereiche Wohnen (Art. 19), Bildung (Art. 24) und Arbeit (Art. 27). In diesen Bereichen finden sich in Deutschland vielfach besondere Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, wie etwa im Bereich der Bildung Sonder- bzw. Förderschulen, Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen und Arbeitsplätze in Behindertenwerkstätten. Aber gerade diese, vom Alltagsleben getrennten, Einrichtungen, die früher als soziale Wohltat angesehen wurden, erweisen sich als trennend und ausgrenzend für Menschen mit Behinderungen und werden daher kritisch wahrgenommen.

Das Besondere an der Behindertenrechtskonvention ist, dass die Staaten gem. Art. 4 verpflichtet sind, die konkreten Ziele der Konvention mit geeigneten Maßnahmen umzusetzen. Hierzu müssen die Vertragsstaaten gem. Art. 35 regelmäßig einen Bericht über die Maßnahmen vorlegen, die sie zur Erfüllung der Verpflichtungen aus der Konvention getroffen haben. Ob die Staaten ihren Verpflichtungen gerecht werden, wird gem. Art. 36 regelmäßig von den Vereinten Nationen überprüft. Hierzu ist bei den Vereinten Nationen ein unabhängiges Expertengremium eingerichtet worden, der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Diese Mechanismen sorgen dafür, dass die Vertragsstaaten ihre Verpflichtungen auch tatsächlich umsetzen. Damit verwirklichen sie die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen sehr viel effektiver, als dies etwa durch das bloße Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG möglich ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat insbesondere mit den Regelungen des 9. Sozialgesetzbuchs und des Behindertengleichstellungsgesetzes die Umsetzung seiner Verpflichtungen begonnen.

Mathias Metzner

Allerdings kann der Europäische Gerichtshof nur über die Fälle entscheiden, die ihn auch erreichen. Allgemein hat die EU-Kommission die Rolle als „Hüterin der Verträge“. Insoweit ist auch sie dafür verantwortlich, dass Grundrechte eingehalten werden. Infrage steht das vor allem an den EU-Außengrenzen. Dort werden immer wieder Menschrechtsverletzungen dokumentiert, unter anderem in Kroatien und Griechenland. Dabei geht es nicht zuletzt um illegale „Pushbacks“, bei denen Menschen – teilweise mit Gewalt – zurückgewiesen werden. Gegen Menschenrechte verstößt das mindestens dann, wenn Menschen sich schon auf dem Gebiet des Staates befinden, um Asyl nachsuchen und das nicht einmal geprüft wird. Gegen Ungarn hat die Kommission wegen seines Grenzregimes ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, gegen Griechenland und Kroatien nicht. Ähnliche Vorwürfe gibt es, weil die Kommission nicht nachdrücklich genug eine menschenwürdige Behandlung von Schutzsuchenden in Aufnahmezentren durchzusetzen versuche.

Lange Zeit wurde kritisiert, dass der EuGH mehr Wirtschafts- als Grundrechtsschutz gewähre. Das hat sich geändert. Mit Entscheidungen wie der zur Vorratsdatenspeicherung (siehe Art. 10 GG) setzt der EuGH ganz bewusst grundrechtsfreundliche Akzente.

Dass Europa Grundrechte braucht, liegt also schlicht daran, dass es europäisches Recht gibt, das in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen kann. Betroffen sind viele Lebensbereiche: vom Wirtschafts- und Sozialrecht bis zum Umweltrecht. Das führt dazu, dass sich die Gerichte der Mitgliedstaaten mit der Anwendung ihrer eigenen Grundrechte zurückhalten müssen, wenn sie selbst europäisches Recht anwenden.

Täten sie das nicht, würde auf einmal zum Beispiel ein deutsches Gericht eine europäische Norm wegen Grundrechtsverletzung aufheben – obwohl das an sich nicht in seiner Kompetenz liegt. Trotzdem ist diese Zurückhaltung der deutschen Gerichte nicht ganz selbstverständlich. Denn um das Europarecht umzusetzen, handeln ja meist deutsche Behörden. Die sind dabei natürlich immer noch an die deutschen Grundrechte gebunden.

In jedem Fall könnte zwischen Europäischem Recht und deutschem (oder spanischem, italienischem etc.) Grundrechtsschutz ein Konflikt bestehen. Das war früher, was Deutschland betrifft, tatsächlich so: Das Bundesverfassungsgericht entschied 1974, es werde weiterhin europäisches Recht daraufhin überprüfen, ob es mit den Grundrechten vereinbar sei. Das gelte solange (daher der Name der Entscheidung: Solange I) es auf europäischer Ebene keinen Grundrechtekatalog gebe, der dem des Grundgesetzes entspricht.

Von den Bemühungen des EuGH um den Grundrechtsschutz ließen sich die Verfassungsrichter zwölf Jahre später überzeugen. Das Bundesverfassungsgericht, so entschied es selbst 1986, werde sich zurückhalten, solange der EuGH einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleiste (Solange II). Dass dies der Fall ist, ist inzwischen wohl nicht mehr umstritten. In ihrer Entscheidung zum Vertrag von Maastricht drohten die Richter zwar an, einzuschreiten, wenn die EU ihre Kompetenzen überschreite. Deren Grundrechtsschutz hat das Gericht aber seit den 1980er-Jahren nicht angezweifelt.

Grund- und Menschenrechte weltweit

(© Eigene Darstellung auf Grundlage der „Grundrechtefibel“; Herausgeberin: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg; mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Breisgau)

In einer Vielzahl der Staaten ist es schlecht um die Menschenrechte bestellt. 156 der 193 Mitglieder der Vereinten Nationen hat Amnesty International für den Jahresbericht 2022/23 untersucht. In mehr als der Hälfte ging der Staat bespielsweise zu Unrecht mit Gewalt gegen Protestierende vor. Obwohl der ganz große Teil der Staaten die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen unterschrieben hat, geht die Organisation davon aus, dass es in der Mehrzahl der Staaten teilweise vereinzelt, teilweise systematisch Folter gegeben hat. Im Jahr 2022 gab es laut dem Konfliktbarometer von Heidelberger Politologinnen und Politologen 216 gewaltsam ausgetragene Konflikte und Kriege. Weltweite Auswirkungen hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Das liegt unter anderem daran, dass die Ukraine zu den wichtigsten Getreidelieferanten gehört und die Lieferungen durch den Krieg massiv beeinträchtigt werden. Schon in den Jahren zuvor war der Hunger weltweit durch Konflikte und Kriege wie im Jemen oder in Syrien wieder angestiegen, was zuvor 20 Jahre lang nicht der Fall gewesen war. Ende 2022 waren mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als je zuvor seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Viele von ihnen können ihre Menschenrechte nicht verwirklichen. In einigen Aufnahme- oder Transitländern kommt es laut Vereinten Nationen zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen.

Dass die Idee von Menschenrechten trotzdem zumindest theoretisch anerkannt ist, zeigt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. In ihr sind politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Bürgerrechte niedergelegt, darunter fallen auch die Rechte auf Nahrung, Bildung und Gesundheitsversorgung. Dabei handelt es sich um keinen völkerrechtlichen Vertrag. Staaten, die den Vereinten Nationen beitreten, erkennen sie aber automatisch an.

(© Eigene Darstellung auf Grundlage von picture alliance/dpa/dpa Grafik | dpainfografik GmbH)

Ursprünglich hatten sie die Mitgliedstaaten ohne Gegenstimmen angenommen – wenn auch bei acht Enthaltungen. Über die tatsächliche Verwirklichung dieser Rechte sagt das freilich wenig aus. Sieben Menschenrechtsabkommen – konkretere völkerrechtliche Verträge, die jeweils verschiedene Staaten ratifiziert haben – legen Rechte nieder. Sie sind zwar international nicht einklagbar, schaffen aber zumindest Maßstäbe.

Auch die Folgen von Klimawandel und Umweltzerstörung können die Menschenrechte beeinträchtigen. Das führt teilweise dazu, dass diese weiterentwickelt werden, etwa mit der Anerkennung des Rechts auf sauberes Trinkwasser durch die Vereinten Nationen im Jahr 2010, allerdings ist auch dieses rechtlich nicht bindend.

Das sieht zum Teil anders aus bei sogenannten regionalen Schutzmechanismen. Neben der Europäischen Menschenrechtskonvention mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben zwei weitere Organisationen Klagemöglichkeiten geschaffen: In der 1948 gegründeten Organisation der Amerikanischen Staaten, OAS, sind alle 35 Staaten Nord- und Südamerikas Mitglied. In 24 von ihnen, darunter weder die USA noch Kanada, ist die Interamerikanische Konvention der Menschenrechte verbindlich. Fast alle diese Staaten haben sich dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte unterworfen, der sehr weitgehende Kompetenzen hat. Er kann zum Beispiel Gesetze eines Staates für unwirksam erklären, wenn sie gegen Menschenrechte verstoßen.

(© Eigene Darstellung auf Grundlage von picture alliance/dpa/dpa Grafik | dpainfografik GmbH)

Die Afrikanische Charta der Menschenrechte (oder Banjul-Charta nach der Hauptstadt von Gambia) wurde 1981 verabschiedet, damals noch von der Vorgängerorganisation der Afrikanischen Union. Sie umfasst – das ist ungewöhnlich im Völkerrecht – nicht nur Rechte der einzelnen Person, sondern auch ihre Pflichten gegenüber Familie, Gesellschaft und internationaler Gemeinschaft. Zu diesen Pflichten gehört es zum Beispiel, die Mitmenschen zu respektieren, Steuern zum Wohl der Gemeinschaft zu zahlen und ausdrücklich auch, afrikanische kulturelle Werte aufrechtzuerhalten. Bis auf Marokko haben alle Mitgliedstaaten diese Charta ratifiziert. Der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker im tansanischen Arusha wacht über die Einhaltung des Abkommens. Das entsprechende 2004 in Kraft getretene Zusatzprotokoll hat etwas weniger als die Hälfte der Staaten Afrikas ratifiziert.

Weltweit sind große Unterschiede in der Gewährleistung von Menschenrechten zu beobachten. Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder Reporter ohne Grenzen veröffentlichen regelmäßig Vergleichswerte, beispielsweise zur Vollstreckung der Todesstrafe und zur Pressefreiheit.

Gudula Geuther ist rechts- und innenpolitische Korrespondentin für den Deutschlandfunk. Als Karlsruher Hörfunk-Korrespondentin lag ihr Arbeitsschwerpunkt zuvor in der Beobachtung der dortigen Gerichte, vor allem des Bundesverfassungsgerichts.