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Grundrechtsschutz aus Karlsruhe – das Bundesverfassungsgericht

Gudula Geuther

/ 9 Minuten zu lesen

Das Bundesverfassungsgericht ist oberster Verfassungshüter, die Richterinnen und Richter sind unabhängig und haben besondere Kompetenzen. Über die Verfassungsbeschwerde ist es für alle erreichbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat beim Schutz der Grundrechte eine besondere Funktion: Es ist nicht nur ein Staatsgericht, sondern auch ein Gericht für Bürgerinnen und Bürger. Seinen Sitz hat das Bundesverfassungsgericht im Karlsruher Schlossbezirk. (© picture-alliance, Daniel Kalker)

Das Bundesverfassungsgericht ist eine der angesehensten Institutionen der Bundesrepublik Deutschland. In Umfragen konkurriert es regelmäßig mit der Polizei um die höchsten Popularitätswerte. Das dürfte ganz unterschiedliche Gründe haben, die sich auch aus seiner Stellung im politischen Gefüge ergeben. Ein Grund ist aber, dass den Richterinnen und Richtern in Karlsruhe die Rolle als Hüter und Bewahrer der Grundrechte zugeschrieben wird.

Auch wenn das an sich Aufgabe aller staatlichen Stellen ist – das Bundesverfassungsgericht hat beim Schutz der Grundrechte tatsächlich eine besondere Funktion. So wie in manchen Bundesländern, aber anders als in vielen anderen Staaten der Welt, kann sich mit der Verfassungsbeschwerde jeder und jede an das Gericht wenden. In dieser Funktion ist es also ein „Bürgergericht“, nicht nur ein Staatsgerichtshof, der über die Streitigkeiten anderer Staatsorgane entscheidet. Handelt es sich um ein Gesetz, das Grundrechte verletzt und nicht nur um ein Gerichtsurteil, einen Verwaltungsakt oder eine Verordnung, dann kann sogar kein anderes Gericht als nur das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für verfassungswidrig und nichtig erklären: Nur ihm steht die sogenannte Verwerfungskompetenz zu. Diese Ausschließlichkeit soll verhindern, dass unterschiedliche Gerichte ändern können, was die demokratisch gewählten Abgeordneten mehrheitlich gewollt haben. Selbstverständlich können die Abgeordneten – zusammen mit dem Bundesrat – die Gesetze aus eigener Initiative ändern, eben auch für den Fall, dass sie sie inzwischen selbst für verfassungswidrig halten. Tatsächlich wartet der Bundestag, wenn ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht liegt, aber oft ab, wie es entscheiden wird.

Wie die meist sehr knapp formulierten Grundrechte im Einzelfall auszulegen sind, ist nicht immer von Anfang an klar ersichtlich. Das Parlament oder eine Behörde werden sich in aller Regel bemühen, die Grundrechte zu beachten. Dabei kann es jedoch vorkommen, dass sie Gesichtspunkte übersehen oder die Wirkung eines Grundrechts anders einschätzen, als das später durch das Bundesverfassungsgericht geschieht. Die Karlsruher Richterinnen und Richter bestimmen also letztlich immer wieder, wie die Grundrechte genau aussehen. Auch deshalb haben sie eine herausgehobene Aufgabe bei ihrem Schutz.

Entstehung

Schon bei den Beratungen zum Grundgesetz in Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat bestand Einigkeit darüber, dass es so etwas wie ein Verfassungsgericht geben sollte, eine Instanz also, die entscheidet, wenn sich oberste Staatsorgane nicht einig sind. Wie ein solches Gericht aber in der Bundesrepublik konkret aussehen sollte, war anfänglich umstritten. Verschiedene Vorbilder standen zur Auswahl: Die – tatsächlich nie umgesetzte – Paulskirchenverfassung von 1848 wollte ihr höchstes Bundesgericht nach dem Supreme Court der USA ausrichten. Wie er sollte es höchstes Gericht und Verfassungsgericht in einem sein, also neben anderen auch verfassungsrechtliche Befugnisse bekommen. Dagegen hatte Bayern bereits 1850 mit dem Bayerischen Staatsgerichtshof eine Institution geschaffen, die allein auf die Verfassung spezialisiert war, und in der Weimarer Republik hatte es ebenfalls einen Staatsgerichtshof gegeben.

Auch der Parlamentarische Rat entschied sich schließlich für ein solches eigenständiges, spezialisiertes Verfassungsgericht. Aber als das Grundgesetz in Kraft trat, war vieles noch offen. Dies war unter anderem dem Bewusstsein geschuldet, dass ein Gericht, welches über die Auslegung der Verfassung entscheidet, Parteien verbieten und Gesetze für nichtig erklären kann, auch eine politische Instanz ist – ob es will oder nicht. Viele der Väter und Mütter des Grundgesetzes misstrauten nach den Erfahrungen mit der Justiz im Nationalsozialismus den Berufsrichterinnen und -richtern, andere fürchteten eine politische Einflussnahme durch die Parteien. So einigte man sich schließlich nur auf bis heute gültige Grundregeln: Die Hälfte der Verfassungsrichterinnen und -richter – auch innerhalb der beiden Senate – wird vom Bundestag, die andere Hälfte vom Bundesrat bestimmt. Nicht alle Verfassungsrichterinnen und -richter sollen auch in ihrem ursprünglichen Beruf ein Richteramt ausüben. Wer Verfassungsrichter bzw. -richterin ist, kann außerdem nicht gleichzeitig der Regierung, dem Bundestag oder dem Bundesrat angehören.

Auch die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Staatsgefüge war anfänglich nicht ganz klar: Nach dem Text des Grundgesetzes ist es zwar unter den „Organen der Rechtsprechenden Gewalt“ als erstes aufgeführt. Dass es aber nicht nur ein Gericht ist, sondern ein eigenes Verfassungsorgan, welches die anderen (Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung) als gleichberechtigt akzeptieren, musste es sich erst erkämpfen – in erster Linie durch Urteile, die ihm die gebührende Achtung verschafften.

Viele wesentliche Fragen, die das Bundesverfassungsgericht betrafen, wurden aber in der Folgezeit durch ein einfaches Gesetzgebungsverfahren entschieden, also mit einfacher Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Im „Gesetz über das Bundesverfassungsgericht“ von 1951 fand Aufnahme, was die Besonderheit des Gerichts im internationalen Vergleich ausmacht: die Verfassungsbeschwerde. An die hatten zwar auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes schon gedacht. Unter den Aufgaben des Gerichts im Grundgesetz steht sie aber erst seit 1969. Als letztes Verfassungsorgan nahm das Bundesverfassungsgericht 1951, zwei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, seine Arbeit in Karlsruhe auf. Damals gehörten jedem der beiden Senate noch zwölf Mitglieder an, darunter als einzige Richterin Erna Scheffler. Seit 1963 sind es acht Mitglieder.

Zusammensetzung

(© Eigene Darstellung nach © Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 129015)

In jedem der beiden Senate sitzen acht Richterinnen oder Richter. Die Hälfte davon kommt aus den obersten Bundesgerichten (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof, Bundessozialgericht, Bundesarbeitsgericht), aber auch die anderen müssen Juristen sein, zum Beispiel Professoren. Jede dieser Stellen ist für die Wahl der Richterinnen und Richter dem Bundestag oder dem Bundesrat zugeordnet. Beide entscheiden mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln über die Besetzung. Das soll verhindern, dass die jeweilige Mehrheit besonders parteigebundene Personen nach Karlsruhe schickt. Tatsächlich hat dieses Verfahren jahrzehntelang dazu geführt, dass sich die beiden großen Parteien im Bund – CDU/CSU und SPD – einig werden mussten. Inzwischen haben nach einer Vereinbarung der fünf Parteien auch Grüne und FDP ein eigenes Vorschlagsrecht. Da es sich nur um eine politische Vereinbarung handelt, kommen AfD und Linkspartei darin nicht vor, da ihre Stimmen für die Mehrheit von Zwei Dritteln in Bundestag oder Bundesrat nicht nötig sind.

Der Nachteil dieses Verfahrens besteht also darin, dass diese Parteien die Richterstellen, die es zu besetzen gilt, untereinander „aufteilen“.

Diesen Zwang zur Einigung kann man als Nachteil sehen. Diejenigen, die die Praxis befürworten, verweisen auf die Vorteile. Als einer davon gilt der, dass Sympathisantinnen und Sympathisanten besonders extremer Parteien nur schwer eine Mehrheit finden. In der Praxis einigen sich wenige Politikerinnen und Politiker in Bundestag und Bundesrat. Schon dieser Einigungsdruck führt dazu, dass es sich in aller Regel um anerkannte Juristinnen bzw. Juristen handelt. Dazu kommt, dass in den Diskussionen in den Kammern oder den beiden Senaten Argumente zählen; auch die Parteien haben also ein Interesse daran, dass ihre Kandidatinnen oder Kandidaten fachlich versiert sind. Über die vorgeschlagene Person entscheidet im Bundestag ein Ausschuss, im Bundesrat das Plenum.

Trotz solcher Schwierigkeiten bei der Wahl der Richterinnen und Richter hat sich diese Praxis nach überwiegender Auffassung bewährt. Das liegt auch daran, dass Richterinnen und Richter nicht wiedergewählt werden können. Sie sind in ihrer meist zwölfjährigen Amtszeit also von den Parteien, die sie unterstützt haben, unabhängig. Kritik am Verfahren der Wahl wird aber auch deshalb laut, weil sie wenig durchschaubar ist. Als Alternativen werden zum Teil die öffentliche Befragung oder zumindest die Vorstellung im Parlament vorgeschlagen. Viele befürchten aber davon eine stärkere Polarisierung und Politisierung der Wahl oder auch eine Vorfestlegung der Richter oder Richterinnen in Einzelfragen, die dann nicht mehr offen für Entwicklungen oder für den konkreten Fall wären, über den sie zu entscheiden haben.

Über Verfassungsbeschwerden entscheidet zuerst eine Kammer, bestehend aus drei Richterinnen oder Richtern eines Senats. Meist bleibt es auch dabei. Nur wenn die zugrunde liegende Frage nicht früher schon einmal entschieden wurde, legen die drei sie dem achtköpfigen Senat vor. Früher war für Verfassungsbeschwerden vor allem der Erste Senat zuständig. Inzwischen gibt es eine solche Trennung kaum noch. Welche Kammer und welcher Senat zuständig ist, ergibt sich aus den Inhalten der Verfahren. Jede der Richterinnen und Richter und damit dann auch ihre Kammern und ihre Senate sind für bestimmte verfassungsrechtliche Fragen zuständig. Entscheidet ein Senat, spricht er für das ganze Gericht.

Aufgaben

Das Bundesverfassungsgericht ist rein formal, auf die innere Struktur des Gerichtswesens bezogen, nicht das höchste Gericht in der Bundesrepublik Deutschland. Man kann es zwar so nennen, weil die anderen Gerichte seine Entscheidungen beachten werden. Es ist aber nicht das höchste Gericht im Instanzenzug aus Beschwerde, Berufung und Revision. Das liegt daran, dass es eben nur für einen Ausschnitt der Frage zuständig ist, ob ein anderes Gericht richtig geurteilt hat oder nicht, nämlich für die Fragen, die sich aus der Verfassung ergeben. Es ist also keine „Superrevisionsinstanz“.

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gelten zwar meistens nur für den konkreten Fall, in aller Regel halten sich aber auch andere Richterinnen und Richter an ihre Grundgedanken. Trotzdem kann es sein, dass ein Richter bzw. eine Richterin, eine Behörde oder der Bundestag eine verfassungsrechtliche Frage anders entscheidet. Das kann manchmal – negativ – ein Zeichen für die Missachtung des Gerichts sein. Es kann aber auch – positiv – dazu führen, dass die Verfassungsrichterinnen und -richter eine Frage, die sich inzwischen anders darstellt, überdenken können, zum Beispiel weil sich gesellschaftliche Anschauungen geändert haben.

So entschied 1957 das Bundesverfassungsgericht, dass der damalige Paragraph 175 des Strafgesetzbuches, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Zur Begründung verwiesen die Richter des Ersten Senats auf „die sittlichen Anschauungen des Volkes“, die maßgeblich auf die Lehren der „beiden großen christlichen Konfessionen“ zurückgingen. Eine solche Entscheidung wäre heute undenkbar, sowohl was den Inhalt als auch was die Begründung betrifft. Allerdings war es hier der Gesetzgeber, der den Paragraphen erst abschwächte und schließlich 1994 ganz strich. In anderen Fragen machten die Richterinnen und Richter selbst klar, dass sie ihre Meinung geändert hatten. So sahen sie 2008 noch im Abgleich von Fahndungscomputern mit Kfz-Kennzeichen keinen Eingriff in Grundrechte, 2019 dagegen schon.

Diese Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, eigene Entscheidungen zu überdenken, führt dazu, dass die Grundrechte offen für Entwicklungen bleiben und nicht „versteinern“. In einigen Fällen gelten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aber nicht nur für den konkreten Fall, sondern für alle mit Gesetzeskraft. Das ist vor allem so, wenn es ein Gesetz für nichtig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht kann allerdings nur entscheiden, wenn es in einem der von Grundgesetz und Gesetz vorgesehenen Verfahren angerufen wird, also, wenn es gefragt wird.

In den meisten Verfahren, die das Grundgesetz vorsieht, ist das Verfassungsgericht Staatsgerichtshof. Es klärt also Zweifelsfragen und Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen oder zwischen Bund und Ländern und es kann Parteien verbieten. Für den Grundrechtsschutz sind vor allem drei Verfahrensarten wichtig: die abstrakte und die konkrete Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde. Davon bedarf es nur bei der abstrakten Normenkontrolle keines konkreten Anlasses (deshalb: abstrakt).

Unter bestimmten formalen Voraussetzungen kann die Bundesregierung bzw. eine Landesregierung oder (mindestens) ein Drittel der Abgeordneten des Bundestages ein Gesetz nach Karlsruhe schicken, das sie für verfassungswidrig halten. Das kann nicht nur, aber natürlich auch, die Grundrechte betreffen. Ähnlich bei der konkreten Normenkontrolle: Hier gibt es einen konkreten Fall, über den ein Richter bzw. eine Richterin zu entscheiden hat. Sie hält aber das Gesetz, das sie für die Lösung des Falles anwenden müsste, für verfassungswidrig. Das aber darf sie – wegen der Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts – nicht selbst entscheiden. Sie legt die Frage also in Karlsruhe vor, die Richterinnen und Richter klären, wie es um das Gesetz steht, und mit diesem Beschluss oder Urteil in der Hand kann der Richter bzw. die Richterin das konkrete Verfahren dann so oder so beenden.

QuellentextRechtsfrieden aus Karlsruhe

Bei gesellschaftlich umstrittenen Fragen wirken Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts meistens Frieden stiftend. Das liegt daran, dass es danach schlicht keine rechtliche Instanz mehr gibt und so nicht weiter gestritten werden kann oder muss. Im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht heißt es außerdem: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden“. So eine Regel gibt es für andere Gerichte nicht. Unter Fachleuten gibt es deshalb den Spruch: „Karlsruhe locuta, causa finita“ – Karlsruhe hat gesprochen, der Fall ist beendet.

Vor allem aber liegt die befriedende Wirkung wohl an der Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts, die in Umfragen regelmäßig deutlich höher liegt als die anderer politischer Institutionen. Bei politischen Streitigkeiten akzeptieren die Unterlegenen die Entscheidungen nicht immer, aber sehr häufig. Das liegt nicht nur daran, dass sie nicht als schlechte Verlierer dastehen wollen, sondern oft auch daran, dass sie dieses Vertrauen in das Verfassungsgericht nicht wegen tagespolitischer Streitereien gefährden wollen. Trotzdem heißt das nicht, dass diese Entscheidungen nie wieder infrage gestellt werden können. Das Bundesverfassungsgericht selbst macht das in einigen seiner Urteile und Beschlüsse deutlich. Dort wird häufig angegeben, wie viele der Richter mit der Entscheidung einverstanden sind – und damit auch, dass es nicht alle sind. Seit 1970 können Richterinnen und Richter auch ihre abweichende Meinung begründen. Diese so genannten Sondervoten werden mit der Entscheidung veröffentlicht und machen so deutlich, dass die Richterinnen und Richter einen Sachverhalt mit guten Gründen auch anders sehen können. Wegen der bindenden Wirkung der Entscheidungen ist zwar ein „Normwiederholungsverbot“ anerkannt. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber nicht einfach wieder ein Gesetz erlassen darf, dass das Gericht gerade erst verworfen hat. Das gilt aber nicht unbeschränkt.

Gudula Geuther

Die Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde war 1951, als das Bundesverfassungsgericht seine Arbeit aufnahm, etwas Einmaliges. Jede Person kann sie erheben, wenn sie glaubt, in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten von der öffentlichen Gewalt (also staatlichen Stellen) verletzt zu werden. Inzwischen haben einige andere Staaten wie Spanien, Litauen, Tschechien und Ungarn das Institut der Verfassungsbeschwerde übernommen. Beim Bundesverfassungsgericht macht diese Verfahrensart den weit überwiegenden Anteil aller Verfahren aus: 2020 waren es 96,5 Prozent der eingehenden Verfahren. Das große Vertrauen, das die Verfassungsbeschwerde genießt, könnte erstaunen, angesichts der realen Erfolgsergebnisse: Nur ein Teil der Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden wird überhaupt begründet. Wer sie einlegt, bekommt häufig nur ein Formblatt zur Antwort, auf dem wenig mehr steht als „Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.“ Nur etwa zwei Prozent haben Erfolg. Das liegt auch daran, dass viele die Voraussetzungen dieses Verfahrens unterschätzen:

  • Wer eine Verfassungsbeschwerde erhebt, muss begründen, dass ein Gesetz, eine Verordnung, ein Urteil nicht einfach verfassungswidrig ist, sondern sie oder ihn selbst unmittelbar in eigenen Rechten verletzt.

  • Bei diesen Rechten, die verletzt sein sollen, muss es sich um Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte handeln. Hier zeigt sich, dass das Gericht eben keine „Superrevisionsinstanz“ ist.

  • Und – soweit das irgend möglich ist – muss der Verfassungsbeschwerdeführer vorher alle gerichtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.

  • Dazu kommen Fristen und andere formale Voraussetzungen.

Trotz all dieser Hürden geht ein großer Teil der Grundrechtsentwicklung – vielleicht der größte – auf die Verfassungsbeschwerde zurück.

QuellentextGrundrechte in der Krise?

Gerade Krisenzeiten wie etwa die Coronavirus-Pandemie oder die Klimakrise können zu einer Verunsicherung von Teilen der Bevölkerung führen. Häufig wird dabei das Vertrauen in unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat infrage gestellt. Menschen sind aufgrund der Komplexität der sich in den Krisensituationen stellenden Fragen teilweise überfordert und erwarten schnelle und einfache Lösungen in der Krise. Die Situation der Verunsicherung und Skepsis wird dann von radikalen Kräften ausgenutzt, die unsere Rechtsordnung grundsätzlich ablehnen.

Jedoch zeigt gerade eine Betrachtung von krisenhaften Zeiten der Vergangenheit auf, dass unsere demokratische Rechtsordnung immer in der Lage war, schwierige und politisch kontrovers beurteilte Situationen zu bewältigen und zu ausgewogenen Lösungen zu gelangen.

Unsere Grundrechte mit den in ihnen enthaltenen Aussagen sind entwicklungsoffen. Sie auszulegen und weiterzuentwickeln ist die Aufgabe der Rechtsprechung. Unser Grundgesetz weist dem Bundesverfassungsgericht diese Aufgabe zu.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Geschichte häufig vor Entscheidungen von großer Tragweite für zukünftige Entwicklungen gestanden. Nicht erst die Coronavirus-Pandemie oder die Klimakrise haben das Bundesverfassungsgericht dazu gezwungen, aus den Grundrechten Lösungen für ganz aktuelle, dringende Fragen zu entwickeln.

Dies wird sehr anschaulich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Schutzpflicht des Staates für das Leben und die körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG deutlich.

So musste das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1974 über die Reform der Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Das Reformvorhaben war politisch und gesellschaftlich sehr umstritten. Die Neuregelungen sahen eine Fristenlösung vor, die den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten straffrei ließen. In seiner Entscheidung vom 25.02.1975 (1 BvF 1/74 u. A.) entschied das Gericht, dass auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben dem Schutz von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unterliegt. Dem Staat obliege daher einer Verpflichtung, dieses Leben zu schützen. Die gewählte Fristenlösung genüge dieser Schutzpflicht jedoch nicht. In seiner späteren Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch vom 28.05.1993 (2 BvF 2/90 u. A.) hat es jedoch dem Gesetzgeber zugestanden, für den Schutz des ungeborenen Lebens von der strafrechtlichen Sanktion zu einem Schutzkonzept überzugehen, das in der Frühphase der Schwangerschaft in Schwangerschaftskonflikten den Schwerpunkt auf die Beratung der schwangeren Frau legt (siehe auch Beitrag Interner Link: Die einzelnen Grundrechte).

Ebenso ist die Nutzung der Atomenergie ein Thema, welches in Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland äußerst kontrovers diskutiert wurde und noch wird. Hier hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 20.12.1979 (1 BvR 385/77) wiederum unter Hinweis auf die Schutzpflicht des Staates für das menschliche Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Maßgaben für die Genehmigung von Kernkraftwerken entwickelt. Es hat die (zum damaligen Zeitpunkt positiv getroffene) Entscheidung für die Nutzung der Kernenergie als mit dem Grundgesetz vereinbar erachtet. Es hat aber den Schwerpunkt des bei dieser Entscheidung zu gewährleistenden Grundrechtsschutz in einer Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens gesehen und dort den Ausgleich der widerstreitenden Interessen verortet.

Auch zeigt die Entscheidung vom 29.04.2021 zum Klimaschutzgesetz (1 BvR 2656/18), wie das Bundesverfassungsgericht durch die Auslegung und Weiterentwicklung der Grundrechte Leitlinien für die Beantwortung sehr aktueller und dringlicher Fragen entwickelt. Das Gericht hatte zu entscheiden, ob die Regelungen des Klimaschutzgesetzes über die nationalen Klimaschutzziele mit den Grundrechten vereinbar sind. Es hat entschieden, dass die staatlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG es gebieten, Maßnahmen zum Schutz vor den Gefahren des Klimawandels zu treffen und dass das Gesetz diese Schutzpflichten nicht verletzt. Jedoch sind nach der Entscheidung des Senats die Regelungen für die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahresemissionsmengen deshalb mit den Grundrechten unvereinbar, weil hinreichende Maßnahmen für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahre 2031 fehlen. Die nach Art. 20a GG verfassungsrechtlich notwendige Reduktion der CO2-Emissionen sei vorausschauend in grundrechtsschonender Weise über die Zeit zu verteilen. Es dürfe nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen werde (siehe auch Beitrag: Interner Link: Die einzelnen Grundrechte).

Letztlich hat das Bundesverfassungsgericht auch die während der Coronavirus-Pandemie erfolgten einschränkenden gesetzlichen Regelungen etwa durch Beschränkungen von Ladenöffnungszeiten von Geschäften oder Schulschließungen unter dem Aspekt der Beeinträchtigung von Grundrechten differenziert betrachtet (Beschluss vom 19.11.2021 - 1 BvR 971/21 -; Beschluss vom 20.05.2021 - 1 BvR 968/21 -). Dabei hat es wiederum die grundrechtlichen Schutzpflichten für das Leben und die körperliche Unversehrtheit im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung herangezogen. Zugleich hat es die Dringlichkeit staatlichen Handelns und die im jeweiligen Zeitpunkt bestehende Erkenntnis- und Sachlage in seine Abwägung mit eingestellt.

All diese Entscheidungen machen also deutlich, dass die Verfassung auch in Krisen „funktioniert“. Die Offenheit unserer Verfassung wird bei den hier vorgestellten Beispielen besonders deutlich, denn nicht nur sie, sondern auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts waren und sind teilweise umstritten und unterliegen auch ihrer Zeit: Die Urteile zum Schwangerschaftsabbruch würden die Verfassungsrichterinnen und -richter heute wohl anders treffen. Den Klimabeschluss hätten sie dagegen viele Jahre zuvor anders begründet. Und die große Corona-Leitentscheidung fiel als Ergebnis der Abwägung zwischen Gesundheit und Freiheit. Später wäre diese Entscheidung womöglich anders gefallen. Das zeigt: Es kann sich lohnen, andere Meinungen aufzuzeigen und so Einfluss zu nehmen. Diese Möglichkeit vergibt allerdings, wer sich außerhalb des Rechtssystems stellt, wie ein Teil der Gegnerinnen und Gegner der Corona-Maßnahmen.

Mathias Metzner

Gudula Geuther ist rechts- und innenpolitische Korrespondentin für den Deutschlandfunk. Als Karlsruher Hörfunk-Korrespondentin lag ihr Arbeitsschwerpunkt zuvor in der Beobachtung der dortigen Gerichte, vor allem des Bundesverfassungsgerichts.