Eine Schülerin, die morgens beim Frühstück den Nachrichtenpodcast ihres Lieblingssenders hört, sich per Handy mit einer Freundin für den Abend verabredet und sich dann noch mit den Geschwistern darüber unterhält, ob sie lieber eine Lehre in einem Verlag oder eine Schauspielausbildung machen will, braucht dafür keine Grundrechte. Sie nimmt einfach als freies Mitglied der Gesellschaft am Leben teil.
Ihre Grundrechte sorgen aber dafür, dass sie das auch in Ruhe tun kann. Die Zeitung, deren Podcast sie hört, genießt Pressefreiheit, der YouTuber, dem sie folgt, Meinungsfreiheit. Am Telefon mit ihrer Freundin kann unsere Protagonistin davon ausgehen, dass der Staat nicht mithört. Dabei hilft die Telekommunikationsfreiheit.
Welche Ausbildung sie machen, welchen Beruf sie ergreifen will, geht den Staat erst einmal nichts an. Wollte er Regeln für die Ausbildung aufstellen, zum Beispiel die Zahl der Ausbildungsplätze in Verlagen begrenzen, bekäme er es mit dem Recht auf Berufsfreiheit zu tun. Will unsere Protagonistin studieren, kann sie nicht nur verlangen, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, im Gegenteil: Sie kann sogar einfordern, dass der Staat ihr einen Studienplatz zur Verfügung stellt, wenn sie die nötigen Voraussetzungen erfüllt. Auch das ist Teil der Berufsfreiheit. Lassen wir die Schülerin jetzt zur Schule gehen. Selbst wenn sie eine Privatschule besucht, kontrolliert hier der Staat, ob bestimmte Standards eingehalten werden. Und er muss zum Teil auch mithelfen, solche Schulen zu finanzieren.
Sollte sie sich im Laufe ihres Lebens entscheiden zu heiraten, kann sie das nur, weil der Gesetzgeber vorher geregelt hat, was eine Ehe ist und welche Folgen die Eheschließung hat. Auch dazu verpflichten den Staat die Grundrechte. Und nicht nur bei Bundestagswahlen oder bei der Stellensuche, auch in einer Ehe mit einem Mann hat sie als Frau die gleichen Rechte wie der Mann. Das ist heute eine Selbstverständlichkeit, aber letztlich Folge einer relativ neuen Entwicklung, die auch auf den Gleichheitssatz des Grundgesetzes zurückgeht.
Manche Grundrechte wirken nur in besonderen Situationen. Das ist beim Streit ums Asylrecht so, gilt bei der Frage, wie weit Maßnahmen zur Terrorabwehr und Verbrechensbekämpfung in die individuelle Privatsphäre eingreifen dürfen genauso wie bei der Entscheidung, wann Demonstrationen, die an sich jedem erlaubt sind, doch eingeschränkt werden können. In solchen Fragen zeigt sich auch: Die Grundrechte werden teilweise eingeschränkt, sie sind auch heute immer wieder umkämpft oder müssen erkämpft werden. Unter dem Schlagwort Vorratsdatenspeicherung wird diskutiert, ob oder wann gespeichert werden darf, wer wann mit wem in Kontakt war, damit das zum Beispiel zur Terrorabwehr verwendet wird – oder wann im Extremfall der Staat mithören darf. Gestritten wird darüber, ob Messenger-Dienste per Chatkontrolle nach kinderpornographischen Bildern suchen dürfen oder müssen. Zur Zeit der Coronavirus-Pandemie wurden viele Grundrechte eingeschränkt. Das war verfassungskonform, entschied später das Bundesverfassungsgericht. Aber in manchen Fällen ging es zu weit, zum Beispiel bei Einschränkungen von Demonstrationen gerade gegen die Corona-Schutzmaßnahmen.
Auch über existenzielle Fragen wie die, wann Abtreibung und ob oder wie Sterbehilfe erlaubt ist, entscheidet oft die Auslegung der Grundrechte. Gerade in solchen Fällen zeigen sich dann deren Konturen, die wir im täglichen Leben nicht immer wahrnehmen.
Die Beispiele machen deutlich: Grundrechte mögen nicht unser tägliches Leben bestimmen, aber sie spielen eine viel größere Rolle, als wir oft denken. Sie sind Abwehrrechte gegen den Staat wie die Telekommunikations- oder die Pressefreiheit, sie sind – seltener – Leistungsrechte wie in unserem Beispiel die Berufsfreiheit für Studierende. Institutsgarantien sichern, dass es so etwas wie die Ehe oder auch Eigentum überhaupt gibt. Die Grundrechte schaffen Schutzpflichten des Staates wie im Fall der Privatschulen, und als Mitwirkungsrechte lassen sie uns zum Beispiel an Demonstrationen und damit an der Willensbildung der Gesellschaft teilnehmen.
Die meisten Grundrechte haben sich im Wortlaut seit der Verkündung des Grundgesetzes im Jahr 1949 nicht verändert. Trotzdem sind sie keine starren Gebilde. So hat die Idee, dass zur Bildung auch Chancengleichheit gehört, immer stärker Raum gewonnen. Dass Freiheit auch die Freiheit künftiger Generationen sein kann, ist erst seit der Klima-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts klar (siehe S. 22 und 30). Die Vorstellung davon, was Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau bedeutet, hat sich grundlegend geändert. Und es wurde immer deutlicher, wie sehr solche Rechte nicht nur zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern wirken, sondern auch zwischen Privatpersonen.
Diese Wirkungen zwischen Privatpersonen müssen auch die Gerichte beachten. Sie sind, genauso wie Behörden, zum Beispiel die Polizei oder das Standesamt, an die Grundrechte gebunden; auch der Gesetzgeber darf nicht gegen Grundrechte verstoßen und muss ihnen Geltung verschaffen. Insgesamt bilden die Grundrechte mehr und mehr eine Werteordnung der Bundesrepublik Deutschland, oder wie das Bundesverfassungsgericht es nennt: objektive Prinzipien.
Die Grundrechte des Grundgesetzes sind eine mögliche Ausprägung unter vielen. Die meisten Staaten haben Grundrechte festgeschrieben. Sie unterscheiden sich in ihrem genauen Inhalt und auch darin, ob und wie weit sie der oder die Einzelne durchsetzen kann. Ihnen allen gemeinsam ist aber, dass sie auf teils jahrhundertealte Vorstellungen und Forderungen zurückgehen.