„Der Staat ist um des Menschen Willen da, nicht der Mensch um des Staates Willen.“ Mit diesen Worten beginnt der Verfassungsentwurf des Herrenchiemseer Konvents, ein Gremium, das im August 1948 die Vorarbeit zum Grundgesetz lieferte. Dieser Satz taucht im späteren Grundgesetz nicht mehr auf, sein Gedanke bleibt jedoch zentral. Das Grundgesetz ist einzigartig in seiner besonders expliziten Benennung von Grundrechten, jenen Rechten, die die Bundesrepublik Deutschland allen Menschen dauerhaft, unveräußerlich – das heißt, niemand kann sie verlieren oder selbst aufgeben – und unveränderbar garantiert.
Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes begann die juristische Auslegung und gesellschaftliche Deutung der Grundrechte. Denn mit der staatlichen Garantie von Grundrechten sind Konflikte unvermeidlich, immer dort, wo die Interessen ihrer Trägerinnen und Träger auseinandergehen oder wo ein Grundrecht das andere einschränkt. In diesen Fällen müssen staatliche Institutionen abwägen – in letzter Instanz das Bundesverfassungsgericht, das die Kompetenz besitzt, das Grundgesetz zu interpretieren.
Aus dem eingangs zitierten Satz wurde am Ende die Formulierung, die Artikel 1 des Grundgesetzes einleitet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Letztlich ist der Kern aller Auslegungen von Grundrechten der Begriff der Menschenwürde. Dürfen große Immobilienunternehmen vergesellschaftet werden, wenn sie zur Verschärfung einer Wohnungsnot beitragen? Wie wird die Gleichberechtigung von Frauen und Männern gewährleistet? Welche Äußerungen muss die Gesellschaft als Meinungen aushalten, welche nicht? Alle diese Fragen müssen im Einzelfall und mit Blick auf die Wahrung der Menschenwürde aller Beteiligten ausgehandelt werden.
In der jüngsten Vergangenheit wurden viele gesellschaftliche Gewissheiten, auch die Grundrechte, durch die Coronavirus-Pandemie auf eine harte Probe gestellt. Einschränkungen der persönlichen Freiheit, die dem kollektiven Infektionsschutz dienen sollten, sorgten für heftige Auseinandersetzungen und bittere Entbehrungen. Es zeigte sich jedoch auch, dass Grundrechtsschutz in Deutschland funktioniert: Klagen gegen bestimmte Maßnahmen wurden von den zuständigen Verwaltungsgerichten oft zugunsten der Klägerinnen und Kläger entschieden. Auch die fortschreitende Digitalisierung stellt den Grundrechtsschutz immer wieder vor Hürden. Rechtsgüter wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht müssen nicht nur gegen staatliche Institutionen, sondern auch gegen internationale Großkonzerne durchgesetzt werden.
Im Mai 2024 feierte die Bundesrepublik das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes, das am 23. Mai 1949 verkündet wurde und im Westen Deutschlands seitdem, im Osten seit der Wiedervereinigung 1990, als Verfassung dient. Damit würdigten die Feierlichkeiten auch die bewegte Geschichte der Erkämpfung und stetigen Neuinterpretierung von Grundrechten in Deutschland, die sich in die Gegenwart fortschreibt.
Charlotte Wittenius