Bürgerrechte in der DDR
Auch die verschiedenen DDR-Verfassungen enthielten Aussagen über Bürgerrechte. Insbesondere in der DDR-Verfassung von 1949 waren unter dem Kapitel Bürgerrechte eine Vielzahl von Rechten genannt, die in ihren Formulierungen den Grundrechten des Grundgesetzes teilweise sehr ähnelten. Allerdings haben die Bürgerrechte in der DDR kaum die Bedeutung erlangt, die die Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland gewannen. Besonders greifbar wird dies dadurch, dass in der DDR-Verfassung selbst keine Mechanismen vorgegeben waren, die eine Durchsetzung der Bürgerrechte als Freiheitsrechte gegenüber dem Staat garantiert hätten. Die DDR-Verfassung ging vom Prinzip der Gewalteneinheit aus, eine Gewaltenteilung wurde als "bürgerlich" abgelehnt. Eine von der Regierung unabhängige "dritte Gewalt" war nicht vorgesehen, vielmehr diente die Rechtspflege durch die Gerichte der Lösung der Aufgaben der sozialistischen Staatsmacht bei der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft. Daher waren eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit und eine Verwaltungsgerichtsbarkeit von der DDR-Verfassung bewusst nicht vorgesehen. Bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften entschied die Volkskammer. Das Oberste Gericht der DDR nahm zwar die Aufgabe der Rechtspflege wahr, war aber der Volkskammer verantwortlich und rechenschaftspflichtig.
Der Grund dafür lag in der gänzlich unterschiedlichen Vorstellung des Verhältnisses von Mensch und Staat, von der die DDR-Verfassung ausging. Zwar kam den Grundrechten auch nach dieser Verfassung ein Vorrang zu, wobei bereits bemerkenswert ist, dass in ihr mit den Grundrechten immer auch zugleich die Grundpflichten der Bürgerinnen und Bürger genannt wurden (was dem Grundgesetz – mit Ausnahme der elterlichen Pflichten – fremd ist). Allerdings war die Begründung für die Vorrangstellung der Grundrechte eine andere als die des Grundgesetzes, das die Grundrechte auf die Würde des Menschen zurückführt. Dem Grundgesetz und den darin enthaltenen Menschenrechtsgarantien liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt. Demgegenüber kamen in der DDR-Verfassung den Regelungen über die Grundrechte und die Grundpflichten deshalb eine besondere, hervorgehobene Stellung zu, weil damit den Bürgerinnen und Bürgern die von ihnen zu erbringende Aufgabe, nämlich der Aufbau der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft, verdeutlicht werden sollte. Dies macht insbesondere der Wortlaut der Präambel deutlich:
"In Fortsetzung der revolutionären Tradition der deutschen Arbeiterklasse und gestützt auf die Befreiung vom Faschismus hat das Volk der Deutschen Demokratischen Republik in Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche sein Recht auf sozial-ökonomische, staatliche und nationale Selbstbestimmung verwirklicht und gestaltet die entwickelte sozialistische Gesellschaft.
Erfüllt von dem Willen, seine Geschicke frei zu bestimmen, unbeirrt auch weiter den Weg des Sozialismus und Kommunismus, des Friedens, der Demokratie und der Völkerfreundschaft zu gehen, hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik diese sozialistische Verfassung gegeben."
Die Grundrechte dienten also nicht der Verwirklichung des Individuums, sondern der Verwirklichung des Kommunismus; die freie Entfaltung des Einzelnen war allein zu diesem kollektiven Zweck vorgesehen. Letztlich wurden die Grundrechte damit instrumentalisiert, um die Gesellschaft auf ihrem "Weg des Sozialismus und des Kommunismus" zu entwickeln, und sie dienten nicht als Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat.
Dass es den Gestaltern der DDR-Verfassung bzw. der darin enthaltenen Bürgerrechte nicht darauf ankam, die Bedeutung des Individuums oder das Bestehen vorstaatlicher und unabänderlicher Rechte hervorzuheben, sondern vorrangig die Bedeutung des Sozialismus und des Kommunismus, zu dessen Verwirklichung der Einzelne die Grundrechte wahrnehmen kann, ergibt sich anschaulich aus den nachfolgenden Textauszügen der DDR-Verfassung vom 6. April 1968 in der Fassung vom 14. Oktober 1974:
Art. 19 Abs. 3 DDR-Verfassung
Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfang zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluss zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit. Die Beziehungen der Bürger werden durch gegenseitige Achtung und Hilfe, durch die Grundsätze sozialistischer Moral geprägt.
Art. 20 Abs. 3 DDR-Verfassung
Die Jugend wird in ihrer gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung besonders gefördert. Sie hat alle Möglichkeiten, an der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung verantwortungsbewusst teilzunehmen.
Artikel 29 DDR-Verfassung
Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen.
QuellentextDie Übernahme des Grundgesetzes aus ostdeutscher Sicht
Der Kampf Bärbel Bohleys und ihrer Mitstreiter in der ostdeutschen Bürgerrevolution vom Herbst 1989 galt Idealen, die im Grundgesetz einen hohen Rang einnahmen:
Freiheit des Bürgers von Bevormundung und Unterdrückung durch den Staat, Menschenwürde, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Dennoch hießen viele Bürgerrechtler, allen voran Bärbel Bohley, die Wiedervereinigung und den Beitritt der ostdeutschen Länder zum Grundgesetz 1990 nicht willkommen.
Sie empfanden sich als Bürger ihres Staates und forderten als solche politische Mitspracherechte ein. Nicht die Unzufriedenheit mit ihren persönlichen Lebensumständen, sondern der Wille zur politischen Umgestaltung ihres Gemeinwesens hatte sie zum Protest getrieben – und dieses Gemeinwesen hieß für sie DDR, nicht Bundesrepublik.
Das politische System, das sich Bärbel Bohley dabei vorstellte, war im Grundgesetz nicht vorgesehen. Sie wünschte sich einen Staat, der unmittelbar auf dem Engagement des mündigen Bürgers aufbaut. Den Parteien als Vermittlern zwischen Bürgern und Staat stand sie äußerst misstrauisch gegenüber:
An ihrer Stelle sollten offene Bürgerbewegungen treten, in denen politische Vorhaben und Probleme von allen Betroffenen angepackt werden können.
[...] Im September 1989 verfasste Bärbel Bohley zusammen mit dem Mikrobiologen Jens Reich, dem Rechtsanwalt Rolf Henrich und anderen den Aufruf "Die Zeit ist reif", in dem der gesellschaftliche Wandel in der DDR angesichts der massenhaften Flucht ihrer Bürger leidenschaftlich beschworen wurde.
Aus dieser Gruppe ging das "Neue Forum" hervor, zu dem sich bald über 200.000 Menschen im ganzen Land bekannten. Der Erfolg des Neuen Forums schien die politischen Vorstellungen Bohleys und ihrer Mitstreiter zu bestätigen: Bürger nehmen ihr politisches Schicksal in die Hand und brauchen dafür weder Parteien noch Bürokratie.
Der Fall der Mauer am 9. November 1989 machte dieser Illusion bald ein Ende.
Das Volk, dessen Stunde nun geschlagen hatte, schien sich aus Sicht der Bürgerrechtler nicht für die Umgestaltung der DDR zu interessieren. Der Drang zur Wiedervereinigung schob all ihre Hoffnungen zur Seite. Bärbel Bohleys Kritik an dieser "zweiten Wende" verhallte ungehört. [...]
Stephan Detjen (Hg.), In bester Verfassung?! 50 Jahre Grundgesetz, Köln 1999, Seite 166 f.
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[...] Wer wie wir Ostdeutschen nicht in die politische Welt des Grundgesetzes hineingewachsen oder gar -geboren wurde, muss sich erst an sie gewöhnen. In der alten Fassung enthielt die Präambel noch einen verbindlichen Wegweiser: "die Einheit und Freiheit Deutschlands" galt es zu vollenden. Als die DDR aufgrund der von ihr betriebenen Politik am Ende war, spielte dies eine ganz erhebliche Rolle. Die auch vom Bundesverfassungsgericht nachdrücklich bestätigte Verantwortung der Bonner Politik für alle Deutschen verlieh der Revolution in der DDR eine ganz eigene Dynamik. Viele aus den Kreisen der Bürgerrechtler sahen dies damals anders. Einige bedauerten, wie wenig Bindungen die Menschen in der DDR an ihren Staat hatten – und auch gar nicht haben mussten, weil ein anderer Staat, die Bundesrepublik, sich ihnen gegenüber in der Verantwortung zeigte. Das Grundgesetz spielte deshalb eine nicht zu überschätzende Rolle im Transformationsprozess der Jahre 1989 und 1990.
[...] In der DDR waren wir mit einem ganz anderen Verfassungsverständnis konfrontiert. Die Verfassung war Ausdruck der marxistisch-leninistischen Ideologie. Sie hatte laut ihrer letzten Fassung von 1974 eine klare Zielbestimmung: In "Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche" war "das Volk der Deutschen Demokratischen Republik" dabei, die "entwickelte sozialistische Gesellschaft" zu gestalten. Das Volk kam ansonsten in der Verfassung nicht mehr vor, jedenfalls nicht an den entscheidenden Stellen. "Alle politische Macht in der Deutschen Demokratischen Republik wird von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt", heißt es vielmehr – ein wichtiger Unterschied zu dem entsprechenden Satz im Grundgesetz: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Diese Formulierung war übrigens noch in der ersten DDR-Verfassung von 1949 enthalten.
[...] Die DDR war ein Trainingslager für die moderne Form der Untertanen. Wir beginnen erst zu begreifen, wie tief diese Entwöhnung vom mündigen Bürger in uns sitzt und wie anstrengend und manchmal auch schmerzhaft der Abschied davon ist. Zu der Entmündigung gehört die Reduktion der eigenen Wahrnehmung auf das, was der Obrigkeit genehm oder gerade noch tragbar erschien. Dieser Verlust der Fähigkeit zur eigenständigen Erkenntnis offenbart sich dann auch in der gebrochenen Rückschau auf das Leben in Unfreiheit: Der Staat, der uns bevormundete, kümmerte sich wenigstens um uns. Dass wir mit ihm zugrunde gegangen wären, hätten wir uns nicht wenigstens in den Monaten der friedlichen Revolution von seiner "Fürsorge" verabschiedet, dies sehen viele von uns heute immer weniger.
Wer in der DDR-Verfassung in ihrer letzten Fassung von 1974 blättert, wird feststellen, dass das dichte Netz aus Lügen, das Diktaturen zu weben verstehen, einen Staat suggerierte, der sich in seiner Verpflichtung auf die Menschenrechte sehen lassen konnte. [...] Tatsächlich steht in dieser Verfassung auch, dass das "Post- und Fernmeldegeheimnis unverletzbar" ist und nur auf gesetzlicher Grundlage eingeschränkt werden kann. Für die umfassende Überwachung des Postverkehrs und der Telefongespräche gab es diese gesetzliche Grundlage zu keiner Zeit – den Stasi-Minister Mielke und seine Mannen interessierte die Verfassung offensichtlich wenig. Bei der Textlektüre aber konnte man den Eindruck gewinnen, die DDR habe mit den modernen Demokratien vieles gemein. [...]
Joachim Gauck, "Verfassungsverständnis in Ostdeutschland", in Stephan Detjen (Hg.), In bester Verfassung?! 50 Jahre Grundgesetz, Köln 1999, Seite 214f.
Grundrechte in Landesverfassungen
Fast alle Landesverfassungen haben einen eigenen Grundrechtskatalog. In vier Ländern – Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – erklärt die Landesverfassung die Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte des Grundgesetzes zum Bestandteil der Verfassung. Außerdem haben alle Länder ein Landesverfassungsgericht (wenn auch nicht immer mit der Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde oder etwas Vergleichbares zu erheben).
Bundesrecht bricht Landesrecht, deshalb hat es für den Einzelnen keine Auswirkungen, wenn Landesverfassungen bestimmte Grundrechte nicht oder zumindest nicht in dem Ausmaß vorsehen wie das Grundgesetz. Die Länder können aber weitergehen, indem sie bestimmte Rechte zusätzlich festschreiben, etwa in Bayern den Zugang zu Seen. Das gilt vor allem dann, wenn der Fall, um den es geht, von Landesrecht bestimmt wird. In jedem Fall aber können und müssen auch landesrechtliche Vorschriften am Grundgesetz gemessen werden.
Grund- und Menschenrechtsschutz in Europa
Die Grundrechte des Grundgesetzes sind nicht die einzigen, auf die sich Menschen in Deutschland berufen können. Der Gesetzgeber, jede Behörde und jedes Gericht muss auch die Europäische Menschenrechtskonvention beachten und häufig auch die Grundrechte, die in der Europäischen Union gelten. Die Gründe für die Geltung der Menschenrechtskonvention und der Europäischen Grundrechte sind unterschiedlich. Trotzdem haben Menschenrechtskonvention und europäische Grundrechte vieles gemeinsam: Beide sind eine Folge der Einbindung der Bundesrepublik in internationale Institutionen. Die hat das Grundgesetz in Artikel 24 von Anfang an als Möglichkeit vorgesehen – vor allem in der Hoffnung, dass eine stärkere internationale Zusammenarbeit friedenstiftend wirken würde. .
Dieser Gedanke stand auch hinter den Bemühungen um eine enge europäische Zusammenarbeit. Konkrete Ideen für eine europäische Einigung hatte es schon nach dem Ersten Weltkrieg gegeben, unter anderem mit der 1922 gegründeten Paneuropa-Union oder den 1925 von der SPD in ihrem Heidelberger Programm angestrebten "Vereinigten Staaten von Europa". Vor dem Hintergrund des gerade zu Ende gegangenen Zweiten Weltkriegs nahmen diese Pläne schnell Gestalt an. Schon 1946 etwa sprach sich Winston Churchill für eine Art "Vereinigte Staaten von Europa" aus. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist eine frühe Ausprägung dieser Idee. Die Konvention und die Grundrechte der Europäischen Union sind aber auch in ihren konkreten Inhalten eng miteinander verbunden.
Europäische Menschenrechtskonvention
Die Europäische Menschenrechtskonvention – fertiggestellt 1950, in Kraft seit 1953 – hat in den 1960er-Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR oder EuGHMR, nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof, EuGH, in Luxemburg) lässt sich mit den Verfassungsgerichten in nationalen Rechtsordnungen vergleichen.
Die Konvention ist einer der ersten und der wichtigste unter den völkerrechtlichen Verträgen, die im Rahmen des Europarats, einer seit 1949 bestehenden, derzeit 47 Mitgliedstaaten umfassenden internationalen Organisation, geschlossen wurden. Inhaltlich war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 Vorbild.
Allerdings war von Anfang an klar, dass die Konvention – anders als die Erklärung – für die Mitgliedstaaten verbindlich sein sollte. Tatsächlich kann heute dem Europarat nur beitreten, wer die Konvention anerkennt. Ihm gehören sehr viel mehr Staaten an als der EU. Die Türkei beispielsweise ist seit 1949 Mitglied, also fast von Anfang an. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind auch weitere Staaten beigetreten, die geographisch nicht vollständig auf dem europäischen Kontinent liegen, wie Russland oder auch Aserbaidschan. Inhaltlich wurde der Katalog der Rechte nach und nach in Zusatzprotokollen erweitert und ergänzt.
Heute enthält die Konvention in erster Linie nach wie vor die klassischen Freiheitsrechte, aber auch wirtschaftliche wie das Recht auf Eigentum, kulturelle wie das Recht auf Bildung und politische wie das Wahlrecht. Diese Rechte gelten für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger eines Mitgliedstaates unmittelbar, allerdings in anderer Weise als die Grundrechte des Grundgesetzes. Während diese als Verfassungsrecht über dem einfachen Recht stehen, teilweise sogar nicht beschränkt werden können, gelten die Rechte aus der Konvention in den Mitgliedstaaten als einfaches Recht.
Trotzdem muss alle öffentliche Gewalt sie beachten, also nicht nur Behörden und Gerichte, sondern auch der Gesetzgeber. Denn die Mitgliedstaaten haben sich völkerrechtlich verpflichtet, die Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger zu wahren. Ein Staat, der diese Rechte – und Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – missachtet, verstößt also gegen Völkerrecht. Das kommt tatsächlich vor. In aller Regel aber bemühen sich die Mitgliedstaaten, den Entscheidungen des Gerichts zu folgen. Tun sie das nicht, drohen ihnen Schadensersatzklagen vor dem Menschenrechtsgerichtshof. Noch wichtiger ist aber der politische und moralische Makel, als Konventions-Verweigerer dazustehen.
Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem entschieden, dass die Rechte der Konvention über einen Umweg in Deutschland stärker gelten als das einfache Recht: Sie müssen bei der Auslegung der Grundrechte berücksichtigt werden. Ihr Inhalt fließt also in die Grundrechte ein und ist damit im deutschen Recht mit Verfassungsrang verankert. Allerdings sind die Rechte der Konvention in Deutschland nach wie vor viel weniger bekannt als die Grundrechte – manchmal auch den Behörden und Gerichten.
Bis 1998 konnten sich nur Staaten oder eine Kommission des Europarats an den Straßburger Gerichtshof wenden. Gegen eine Ausdehnung auf Individualbeschwerden hatten sich die meisten Mitgliedstaaten lange gesträubt. 1998 änderten sie aber grundlegend das Verfahren vor dem Gericht, und seitdem können auch einzelne Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs herbeiführen. Wie bei der deutschen Verfassungsbeschwerde auch, muss der Beschwerdeführende dafür selbst unmittelbar betroffen sein, in dem Land, gegen das er Beschwerde erhebt, die zumutbaren gerichtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben und einige andere Voraussetzungen erfüllen. Mit der Individualbeschwerde hat die Konvention eine praktische Bedeutung bekommen, die für internationale Menschenrechtserklärungen einzigartig ist. Seitdem ist der Gerichtshof in seinen Entscheidungen selbstbewusster geworden und wirkt immer mehr in die nationalen Rechtsordnungen hinein.
Wie wichtig der Gerichtshof ist, zeigt sich auch daran, dass häufig grundlegende politische Entscheidungen in Straßburg überprüft werden, zum Beispiel die Entscheidungen deutscher Strafgerichte zum Schießbefehl an der Mauer oder umstrittene Parteiverbote in der Türkei. In Deutschland ist das Gericht spätestens mit seinen Entscheidungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Möglicherweise gefährliche Straftäter, die ihre Haftstrafe abgesessen haben, können unter bestimmten Umständen mit der Sicherungsverwahrung weiter eingesperrt bleiben – früher bis zu zehn Jahre lang. Diese Zehnjahresgrenze hob der Gesetzgeber 1998 auf. 2009 entschieden die Straßburger Richter, dass das nur für die Zukunft hätte gelten dürfen, nicht also für alle die, die schon verurteilt waren. Das Recht der Sicherungsverwahrung wurde daraufhin stark verändert, einige der betroffenen Straftäter kamen frei.
QuellentextDie Sicherungsverwahrung
Es gab wohl nur wenige Fachleute in Deutschland, für die die Nachricht im Juli 2009 nicht aus heiterem Himmel kam: Teile des deutschen Rechts der Sicherungsverwahrung verstießen laut einer Kammer des EGMR gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
Die Folge: Möglicherweise gefährliche Straftäter müssten freigelassen werden – für viele undenkbar. So undenkbar, dass die mündliche Verhandlung wenige Monate zuvor praktisch ohne Journalisten auf den Zuschauersitzen stattgefunden hatte. Die Sache schien auch gar zu kompliziert.
Die Sicherungsverwahrung, das ist die Möglichkeit, Straftäter auch nach verbüßter Haft nicht freizulassen, wenn Gutachter und Gerichte sagen, dass sie noch gefährlich sein könnten. Immer war klar, dass das eine einschneidende Maßnahme ist, die nur unter strengen Voraussetzungen möglich sein kann.
Zu diesen Voraussetzungen zählten schwere Vorstrafen, eine hohe Wahrscheinlichkeit des Rückfalls, regelmäßige Begutachtung.
Die Sicherungsverwahrung ist älter als die Bundesrepublik. Anfangs allerdings konnte sie höchstens zehn Jahre dauern. Das wurde 1998 geändert – und zwar rückwirkend; also auch mit Wirkung für die, die schon verurteilt waren.
Und genau darum ging es in der Entscheidung von 2009. Dort hatten die Richter über die Beschwerde eines Mannes zu urteilen, der immer wieder wegen schwerer Straftaten in Haft saß. Zuletzt war er 1986 verurteilt worden, und zwar zu einer Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Er versuchte immer wieder, mit juristischen Mitteln dagegen vorzugehen.
Schließlich, als die zehn Jahre um waren, auch mit dem Argument: Keine Strafe ohne Gesetz zur Tatzeit, und da hätte er eben nach zehn Jahren Verwahrung entlassen werden müssen.
Rückwirkende Strafen darf es auch nach deutschem Recht nicht geben. Deshalb nahmen auch deutsche Juristen das Argument zuerst sehr ernst. Mit einer ausführlichen Begründung entschied aber schließlich das Bundesverfassungsgericht:
Von einer Strafe kann man hier nicht sprechen. Die Sicherungsverwahrung ist – so wie zum Beispiel auch die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt oder der Entzug der Fahrerlaubnis – eine Maßregel der Besserung und Sicherung. Für die gelte das Rückwirkungsverbot nicht, auch nicht analog, auch nicht – in diesem Fall – der Grundsatz des Vertrauensschutzes.
Die Straßburger Richter aber entschieden: Egal, wie das deutsche Recht es nennt, die Sicherungsverwahrung wirkt wie eine Strafe. Entsprechend gelten deren Regeln. Dabei spielte auch eine Rolle, dass mindestens in einzelnen Gefängnissen in Deutschland die Sicherungsverwahrung fast genau wie die Strafhaft vollzogen wurde.
Deutschland rief die "Große Kammer" des Straßburger Gerichts an, in der Hoffnung, die werde die Entscheidung zurücknehmen. Diese schloss sich jedoch 2009 ihren Kollegen an. Die Entscheidung lautete nicht, dass nun alle betroffenen Straftäter freizulassen wären, solche Konsequenzen kann das Gericht nicht fordern.
Aber die Entscheidung hat zur Folge, dass solche Verstöße zu beenden sind. Und zwar, nimmt man den Gerichtshof ernst, nicht nur in dem einen Fall, sondern in allen, auf die die Argumentation zutrifft.
Gerichte reagierten zuerst unterschiedlich. Das Bundesverfassungsgericht entschied schließlich: Freizulassen ist, wer nicht ganz besonders gefährlich ist.
Und die Verfassungsrichter forderten insgesamt ein neues Recht der Sicherungsverwahrung. Denn schließlich hat der Täter seine Strafe verbüßt, er darf überhaupt nur noch zum Schutz der Allgemeinheit festgehalten werden.
Inzwischen hat der Bundestag ein Gesetz zu den Voraussetzungen der Verwahrung erlassen und auch Standards dafür aufgestellt, wie sie vollzogen wird. Weil der Täter seine Strafe ja verbüßt hat, muss sich der Vollzug soweit möglich von der Strafhaft unterscheiden. Möglichst frühzeitig muss mit dem Täter, vor allem mit Therapien, gearbeitet werden, um seine Entlassung zu ermöglichen. Umsetzen müssen das die Bundesländer.
Wegen der einschneidenden Konsequenzen – vielerorts überwachten Polizisten die Freigelassenen rund um die Uhr – erfuhr der Menschenrechtsgerichtshof teilweise deutliche Kritik. Inzwischen dreht sich die Diskussion aber vor allem darum, wie die Vorgaben von Gerichtshof und Verfassungsgericht umzusetzen sind.
Gudula Geuther
Grundrechte in der Europäischen Union
Bei der Europäischen Menschenrechtskonvention geht es um Menschenrechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten des Europarats, und zwar um Schutz gegenüber ihren Staaten. Wenn vom Grundrechtsschutz in der Europäischen Union die Rede ist, steht etwas Anderes im Vordergrund: der Schutz gegenüber der EU selbst oder gegenüber dem eigenen Staat, wenn er EU-Recht ausführt. Hier treten die Grundrechte der einzelnen Mitgliedstaaten in den Hintergrund, weil es sonst kaum ein einheitliches europäisches Recht geben könnte. Dann muss aber ein anderer Grundrechtsschutz für die EU-Bevölkerung an diese Stelle treten. Grundrechte in der Union sollen also nicht einfach noch eine zusätzliche Möglichkeit bieten, Rechte einzuklagen, sondern sie sollen verhindern, dass die Bürgerinnen und Bürger gerade gegenüber der EU rechtlos dastehen.
Dass ein solcher Schutz nötig ist, hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) früh festgestellt. Allerdings war zuerst nicht ganz klar, woher die Grundrechte kommen sollten. Die bestehenden Verträge, die ursprünglich nur die engere wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa zu regeln hatten, sahen keine solchen Rechte vor. Von Anfang an hat es der EuGH abgelehnt, die Grundrechte der Mitgliedstaaten anzuwenden – denn sonst sähe das einheitliche europäische Recht in den verschiedenen Staaten unterschiedlich aus. Eine erste Lösung fanden die Luxemburger Richter 1969: Ein deutscher Sozialhilfeempfänger wehrte sich gegen eine Vorschrift aus Brüssel. Er sollte verbilligte Butter mit Zuschüssen der Europäischen Gemeinschaft bekommen. Dafür musste er allerdings im Laden einen Gutschein vorlegen, auf dem sein Name stand. Er fand, sein Name gehe den Verkäufer nichts an. Der EuGH gab ihm Recht. Er interpretierte die Vorschrift – wie auch andere Länder in Europa – so, dass der Name nicht auf dem Gutschein erscheinen musste und berief sich dafür auf die Grundrechte als allgemeine Grundsätze der Gemeinschaftsordnung. Das bedeutete: In den ersten Jahren entnahm der EuGH die europäischen Grundrechte allen Grundrechten der Mitgliedstaaten, die er verglich und aus denen er Gemeinsamkeiten herausfilterte. Das tut er bis heute.
Zusätzlich gilt aber auch in der EU die Europäische Menschenrechtskonvention. Dies hat die EU selbst so entschieden, obwohl sie nicht Mitglied des Europarates und der Konvention ist – allerdings gibt es seit 2009 rechtlich die Möglichkeit zum Beitritt, und dieser wird angestrebt. Immer wieder richtet sich der EuGH auch nach Entscheidungen der Straßburger Richter, in denen sie die Menschenrechte auslegen. Mehr Grundrechtsschutz und vor allem für die Bevölkerung besser erkennbare Grundrechte erhoffen sich die Vertragsstaaten durch einen neu geschaffenen, bindenden Text: Der EU-Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, enthält zum ersten Mal einen eigenen Grundrechtskatalog, die "Charta der Grundrechte der Europäischen Union". Auch wenn dieser Katalog nicht im Hauptteil des Vertrages steht, ist er verbindlich. Ausnahmen gelten allerdings für Großbritannien, Polen und Tschechien.
QuellentextDer Fall Tanja Kreil: Frauen in der Bundeswehr
Die Anlagentechnikerin Tanja Kreil bewarb sich 1996 bei der Bundeswehr, um Instandsetzungselektronikerin zu werden. Das aber erlaubte das deutsche Recht damals nicht.
Frauen standen in der Bundeswehr seinerzeit nur die Militärmusik und der Sanitätsdienst offen. Schon das Grundgesetz bestimmte in Artikel 12a, dass Frauen keinen "Dienst mit der Waffe" leisten durften, und zwar, wie die meisten Juristen glaubten, auch nicht freiwillig. Das hatte historische Gründe.
Als 1956 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und 1968 im Grundrechtekatalog verankert wurde, hatten die Parlamentarier noch den Zweiten Weltkrieg vor Augen, in dem junge Frauen als Flakhelferinnen starben – oder auch, wenn sie ängstlich waren, kriegsgerichtlich verurteilt wurden.
Auch Politikerinnen, die nach damaligen Vorstellungen eine weitgehende Gleichberechtigung wünschten, fanden, der Dienst mit der Waffe widerspreche der "Natur und Bestimmung der Frau". Die Bundeswehr lehnte Tanja Kreil noch 1996 wegen ihres Geschlechts ab.
Vor Gericht berief sich die junge Frau unter anderem auf die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie. Denn die verbietet eine Diskriminierung wegen des Geschlechts auch beim Berufszugang – es sei denn, ein bestimmtes Geschlecht wäre "unabdingbare Voraussetzung" für die Arbeit.
Als diese Richtlinie in Brüssel geschrieben wurde, wird kaum jemand dabei an das Militär gedacht haben. Trotzdem und obwohl die äußere Sicherheit weiterhin Sache der Mitgliedstaaten ist, war klar: "Unabdingbar" ist das männliche Geschlecht nicht für jede Arbeit beim Militär außerhalb von Musik und Sanitätswesen.
Der EuGH entschied: Der Ausschluss von Frauen sei zu pauschal und allgemein.
Das deutsche Parlament änderte das Grundgesetz. Frauen dürfen seitdem – freiwillig – zur Bundeswehr, wenn sie persönlich für die jeweilige Tätigkeit geeignet sind. Tanja Kreil war übrigens nicht unter den ersten Frauen, die eingestellt wurden – sie hatte es sich anders überlegt.
Ihr Fall aber verdeutlicht: Eine bloße europäische Richtlinie – flankiert vom Grundrecht auf Gleichberechtigung, das auch in Europa gilt – kann sich gegen deutsches Verfassungsrecht durchsetzen. Und auch Sachverhalte, die auf den ersten Blick rein nationale Angelegenheiten zu sein scheinen, können von europäischem Recht und europäischen Grundrechten geprägt sein.
Gudula Geuther
Lange Zeit wurde kritisiert, dass der EuGH mehr Wirtschafts- als Grundrechtsschutz gewähre. Das hat sich geändert. Mit Entscheidungen wie der zur Vorratsdatenspeicherung (siehe Art. 10 GG, S. 46 f.) setzt der EuGH ganz bewusst grundrechtsfreundliche Akzente.
Dass Europa Grundrechte braucht, liegt also schlicht daran, dass es europäisches Recht gibt, das in Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen kann, in vielen Lebensbereichen, vom Wirtschafts- und Sozialrecht bis zum Umweltrecht. Das führt dazu, dass sich die Gerichte der Mitgliedstaaten mit der Anwendung ihrer eigenen Grundrechte zurückhalten müssen, wenn sie selbst europäisches Recht anwenden.
Täten sie das nicht, würde auf einmal zum Beispiel ein deutsches Gericht eine europäische Norm wegen Grundrechtsverletzung aufheben – obwohl das an sich nicht in seiner Kompetenz liegt. Trotzdem ist diese Zurückhaltung der deutschen Gerichte nicht ganz selbstverständlich. Denn um das Europarecht umzusetzen, handeln ja meist deutsche Behörden. Die sind dabei natürlich immer noch an die deutschen Grundrechte gebunden.
In jedem Fall könnte zwischen Europäischem Recht und deutschem (oder spanischem, italienischem etc.) Grundrechtsschutz ein Konflikt bestehen. Das war früher, was Deutschland betrifft, tatsächlich so: Das Bundesverfassungsgericht entschied 1974, es werde weiterhin europäisches Recht daraufhin überprüfen, ob es mit den Grundrechten vereinbar sei. Das gelte solange (daher der Name der Entscheidung: Solange I) es auf europäischer Ebene keinen Grundrechtekatalog gebe, der dem des Grundgesetzes entspricht.
Von den Bemühungen des EuGH um den Grundrechtsschutz ließen sich die Verfassungsrichter zwölf Jahre später überzeugen. Das Bundesverfassungsgericht, so entschied es selbst 1986, werde sich zurückhalten, solange der EuGH einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleiste (Solange II). Dass dies der Fall ist, ist inzwischen wohl nicht mehr umstritten. In ihrer Entscheidung zum Vertrag von Maastricht drohten die Richter zwar an, einzuschreiten, wenn die EU ihre Kompetenzen überschreite. Deren Grundrechtsschutz hat das Gericht aber seit den 1980er-Jahren nicht angezweifelt.
Grund- und Menschenrechte weltweit
Die Welthungerhilfe geht davon aus, dass es in 56 von 192 Staaten schlecht um die Menschenrechte bestellt ist. Einige dieser Länder gewähren Grundrechte auf dem Papier. Dass die Idee von Menschenrechten trotzdem zumindest theoretisch anerkannt ist, zeigt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Dabei handelt es sich um keinen völkerrechtlichen Vertrag. Staaten, die der UNO beitreten, erkennen sie aber automatisch an. Ursprünglich hatten sie die Mitgliedstaaten ohne Gegenstimmen angenommen – wenn auch bei acht Enthaltungen. Über die tatsächliche Verwirklichung dieser Rechte sagt das freilich wenig aus. Sieben Menschenrechtsabkommen – konkretere völkerrechtliche Verträge, die jeweils verschiedene Staaten ratifiziert haben – legen Rechte nieder. Sie sind zwar international nicht einklagbar, schaffen aber zumindest Maßstäbe.
Das sieht zum Teil anders aus bei sogenannten regionalen Schutzmechanismen. Neben der Europäischen Menschenrechtskonvention mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben zwei weitere Organisationen Klagemöglichkeiten geschaffen: In der Organisation der Amerikanischen Staaten, OAS, sind alle 35 Staaten Nord- und Südamerikas Mitglied. In 24 von ihnen, darunter weder die USA noch Kanada, ist die Interamerikanische Konvention der Menschenrechte verbindlich. Fast alle diese Staaten haben sich dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte unterworfen, der sehr weitgehende Kompetenzen hat. Er kann zum Beispiel Gesetze eines Staates für unwirksam erklären, wenn sie gegen Menschenrechte verstoßen.
Die Afrikanische Charta der Menschenrechte umfasst einen breiten Katalog von Rechten. Fast die Hälfte der 53 Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union hat ein 2004 in Kraft getretenes Zusatzprotokoll ratifiziert, das die Errichtung eines Afrikanischen Gerichtshofes der Menschenrechte und Rechte der Völker vorsieht. 2009 hat der Gerichtshof sein erstes Urteil gefällt.
QuellentextVom unbekannten Blatt Papier...
[...] Eine Verfassung ist nur so stark wie der Glaube der Bürger an die Grundsätze, die sie formuliert. Kraftloser als das Grundgesetz [...] hat kaum je eine demokratische Verfassung begonnen. Das Gefühl, das sie bei den Westdeutschen hervorrief, war weder Begeisterung noch Ablehnung, sondern Teilnahmslosigkeit.
[...] Im März 1949 beteuerten 40 Prozent der künftigen Bundesdeutschen, das entstehende Grundgesetz sei ihnen gleichgültig, 33 Prozent zeigten sich mäßig interessiert, nur 21 Prozent versicherten, sie seien "sehr interessiert". Sechs Jahre später, nachdem das Besatzungsstatut erloschen und die Bundesrepublik zumindest teilweise souverän geworden war, befanden nur 30 Prozent der Bundesbürger das Grundgesetz für gut, fünf Prozent hielten es für nicht gut, 14 Prozent waren unentschieden, aber 51 Prozent gestanden: "Kenne die Verfassung nicht."
[...] Das Versprechen, das das Grundgesetz damals den Deutschen gegeben hat, konnte nur von ihnen selber eingelöst werden. Sie waren dazu erst in der Lage, nachdem sie sich wieder ihrer selbst bewusst geworden waren, in ihrer Schuld und ihrer Würde. Damals waren sie es nicht. Sie haben die Sprache nicht verstanden, in der das Grundgesetz zu ihnen sprach. Das war kein Wunder, denn seine Sprache ist zuvor in Deutschland nicht gesprochen worden. Es sprach von der Einheit für Deutschland – das hatte auch schon die Verfassung der Paulskirche von 1848 getan. Es sprach von der Freiheit für die Deutschen – die hatte bereits die Weimarer Verfassung verheißen. Vor allem aber und vom ersten Artikel an sprach es von der Würde des Menschen als Fundament von Staat und Gesellschaft. Das war fremd und in Deutschland unerhört. [...]
Christian Bommarius, Das Grundgesetz. Eine Biographie, Berlin 2009, Seite 10 ff.
...zur inneren Achse der Republik
[…] Während draußen das Land noch in Trümmern lag [...] und die Menschen einen dritten Weltkrieg fürchteten, zogen die Autoren des Grundgesetzes der Republik ein neues Rückgrat ein. Ein konstitutionelles Rückgrat, das Westdeutschland nicht nur wieder eine demokratische Haltung ermöglichte, […] sondern dem Land auch eine innere Achse gab, um die fortan alle großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen kreisten. Wie keine zweite Verfassung der Welt ist das Grundgesetz in Deutschland zum Medium und Maßstab des Politischen geworden.
Alle Verfassungsfragen sind Machtfragen, hat Ferdinand Lassalle geschrieben, der Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie. In der Bundesrepublik aber, so ließe sich ohne Übertreibung sagen, wurden alle Machtfragen zu Verfassungsfragen. Worüber das Land auch immer stritt, es stritt mit dem Grundgesetz in der Hand.
Das begann mit dem Kampf um die Wiederbewaffnung Anfang der fünfziger Jahre. Im Kern ging es dabei um das Selbstverständnis des kriegsversehrten Landes, um den Abschied vom strikten Pazifismus der unmittelbaren Nachkriegszeit, um die Wiedererlangung der Souveränität. Verhandelt und entschieden wurden diese fundamentalen Fragen aber anhand der Einfügung einer "Wehrverfassung" ins Grundgesetz. Auch die tumultösen Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze […] entzündeten sich an dem Plan, die Verfassung zu ergänzen – um Regeln für den Ausnahmezustand. Der Streit darüber wurde neben Vietnam zum zweiten großen Mobilisierungsthema der Studentenbewegung.
Kaum ein gesellschaftlicher Großkonflikt, der fortan nicht die Form des Verfassungsdisputs gefunden hätte: [...] Seien es die juristischen Schlachten um die Gleichberechtigung, den Paragrafen 218, Kruzifixe und Kopftücher in Klassenräumen oder zuletzt das Rauchverbot, um nur einige der spektakulärsten Fälle zu nennen. [...]
Viele der Verfassungsauseinandersetzungen sind der Republik gut bekommen, die meisten haben sie entschieden liberaler gemacht. Die Spiegel-Affäre 1962 etwa – der Versuch des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß, das Hamburger Nachrichtenmagazin wegen eines missliebigen Artikels zu kriminalisieren – endete mit einem Sieg der Meinungsfreiheit, dem Rücktritt von Strauß, und es machte staatliche Zensurwillkür in der Bundesrepublik endgültig unmöglich. Der juristische Kampf der Anti-AKW-Bewegung um die Kundgebungen in Brokdorf stärkte die Demonstrationsfreiheit, und der teils hysterische Streit um die Volkszählung 1983 bescherte dem Land ein fundamentales neues Grundrecht: die Freiheit jedes Einzelnen, über seine Daten selbst zu bestimmen.
Es gab jedoch auch gegenläufige Entscheidungen. Die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs beispielsweise ließ Karlsruhe gleich mehrmals scheitern, das Grundrecht auf Asyl demontierte der Bundestag 1992 in einer informellen Großen Koalition, und seit dem 11. September 2001 beharken sich Bundesregierung und Verfassungsgericht erbittert in der Frage, wie viel Freiheit dem Kampf gegen den Terror geopfert werden darf.
Ohne das immer neue Ringen um das Grundgesetz ist die Entwicklung der Bundesrepublik nicht zu verstehen. [...]
So sehr haben sich die Deutschen an das letzte Wort aus Karlsruhe gewöhnt, dass es ihnen schwerfällt, sich eine andere Form der Entscheidung, etwa durch Mehrheitsbeschluss, überhaupt nur vorzustellen. Dem Gericht schadet das nicht, auch nicht der Verfassung. Der Politik schon eher. Und womöglich sogar der Demokratie.
Ganz zu verstehen ist die verbreitete Fixierung auf das Grundgesetz nur, wenn man noch einmal zurückblendet auf den Moment, als es geschrieben wurde. 1948/49, angesichts von Völkermord und restloser Staatsperversion, waren sich die Grundgesetz-Autoren einig, dass das Recht die Macht fortan nicht nur einhegen und steuern sollte: Das Recht sollte die Macht geradezu ersetzen, die Verfassung den Staat ablösen. Das war nach den Exzessen des Machtmissbrauchs durch die Nazis ein einleuchtender Impuls.
Heute [...], nach 60 Jahren liberaler Rechtsstaatlichkeit, spricht aus der "Überkonstitutionalisierung" der Politik weniger Misstrauen gegenüber der Macht als vielmehr eine tief sitzende Skepsis gegenüber der Demokratie: Die Deutschen vertrauen ihren Richtern mehr als ihren Abgeordneten.
Das ist ein irritierender Preis für den überwältigenden Erfolg des Grundgesetzes. Die enorme Popularität der Verfassung zieht auch zunehmend deren Banalisierung nach sich. Immer häufiger sucht Berlin selbst Detailfragen im Grundgesetz zu fixieren. 52-mal wurde es seit 1949 bereits geändert, weit häufiger als die amerikanische Verfassung in mehr als 200 Jahren. [...]
Jeder neue Grundgesetz-Artikel bedeutet eine Selbstentmachtung der Politik. Je mehr in der Verfassung festgeschrieben wird, desto weniger kann das Parlament frei entscheiden. Und desto mehr landet am Ende in Karlsruhe. Aber es scheint fast, als trauten sogar die Politiker den Richtern mehr als sich selbst. [...]
Heinrich Wefing: "Der Bonner Reflex", in: Die Zeit, Nr. 19 vom 30. April 2009