Das Bundesverfassungsgericht ist eine der angesehensten Institutionen der Bundesrepublik Deutschland. In Umfragen konkurriert es regelmäßig mit der Polizei um die höchsten Popularitätswerte. Das dürfte ganz unterschiedliche Gründe haben, die sich auch aus seiner Stellung im politischen Gefüge ergeben. Ein Grund ist aber, dass den Richterinnen und Richtern in Karlsruhe die Rolle als Hüter und Bewahrer der Grundrechte zugeschrieben wird.
Auch wenn das an sich Aufgabe aller staatlichen Stellen ist – das Bundesverfassungsgericht hat beim Schutz der Grundrechte tatsächlich eine besondere Funktion. So wie in manchen Bundesländern, aber anders als in vielen anderen Staaten der Welt kann sich mit der Verfassungsbeschwerde jedermann an das Gericht wenden. In dieser Funktion ist es also ein "Bürgergericht", nicht nur ein Staatsgerichtshof, der über die Streitigkeiten anderer Staatsorgane entscheidet. Handelt es sich um ein Gesetz, das Grundrechte verletzt und nicht nur um ein Gerichtsurteil, einen Verwaltungsakt oder eine Verordnung, dann kann sogar kein anderes Gericht als nur das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für verfassungswidrig und nichtig erklären: Nur ihm steht die sogenannte Verwerfungskompetenz zu. Diese Ausschließlichkeit soll verhindern, dass unterschiedliche Gerichte ändern können, was die demokratisch gewählten Abgeordneten mehrheitlich gewollt haben.
Selbstverständlich können die Abgeordneten – zusammen mit dem Bundesrat – die Gesetze aus eigener Initiative ändern, eben auch für den Fall, dass sie sie inzwischen selbst für verfassungswidrig halten. Tatsächlich wartet der Bundestag, wenn ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht liegt, aber oft ab, wie es entscheiden wird.
Wie die meist sehr knapp formulierten Grundrechte im Einzelfall auszulegen sind, ist nicht immer von Anfang an klar ersichtlich. Das Parlament oder eine Behörde werden sich in aller Regel bemühen, die Grundrechte zu beachten. Dabei kann es jedoch vorkommen, dass sie Gesichtspunkte übersehen oder die Wirkung eines Grundrechts anders einschätzen, als das später durch das Bundesverfassungsgericht geschieht. Die Karlsruher Richter bestimmen also letztlich immer wieder, wie die Grundrechte genau aussehen. Auch deshalb haben sie eine herausgehobene Aufgabe bei ihrem Schutz.
Entstehung
Schon bei den Beratungen zum Grundgesetz in Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat bestand Einigkeit darüber, dass es so etwas wie ein Verfassungsgericht geben sollte, eine Instanz also, die entscheidet, wenn sich oberste Staatsorgane nicht einig sind. Wie ein solches Gericht aber in der Bundesrepublik konkret aussehen sollte, war anfänglich umstritten. Verschiedene Vorbilder standen zur Auswahl: Die – tatsächlich nie umgesetzte – Paulskirchenverfassung von 1848 wollte ihr höchstes Bundesgericht nach dem Supreme Court der USA ausrichten. Wie er sollte es höchstes Gericht und Verfassungsgericht in einem sein, also neben anderen auch verfassungsrechtliche Befugnisse bekommen. Dagegen hatte Bayern bereits 1850 mit dem Bayerischen Staatsgerichtshof eine Institution geschaffen, die allein auf die Verfassung spezialisiert war, und in der Weimarer Republik hatte es ebenfalls einen Staatsgerichtshof gegeben.
Auch der Parlamentarische Rat entschied sich schließlich für ein solches eigenständiges, spezialisiertes Verfassungsgericht. Aber als das Grundgesetz in Kraft trat, war vieles noch offen. Dies war unter anderem dem Bewusstsein geschuldet, dass ein Gericht, welches über die Auslegung der Verfassung entscheidet, welches Parteien verbieten und Gesetze für nichtig erklären kann, auch eine politische Instanz ist – ob es will oder nicht. Viele der Väter und Mütter des Grundgesetzes misstrauten nach den Erfahrungen mit der Justiz im Nationalsozialismus den Berufsrichtern, andere fürchteten eine politische Einflussnahme durch die Parteien. So einigte man sich schließlich nur auf bis heute gültige Grundregeln: Die Hälfte der Verfassungsrichter – auch innerhalb der beiden Senate – wird vom Bundestag, die andere Hälfte vom Bundesrat bestimmt. Nicht alle Verfassungsrichter sollen Berufsrichter sein. Wer Verfassungsrichter ist, kann außerdem nicht gleichzeitig der Regierung, dem Bundestag oder dem Bundesrat angehören.
Auch die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Staatsgefüge war anfänglich nicht ganz klar: Nach dem Text des Grundgesetzes ist es zwar unter den "Organen der Rechtsprechenden Gewalt" als erstes aufgeführt. Dass es aber nicht nur ein Gericht ist, sondern ein eigenes Verfassungsorgan, welches die anderen (Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung) als gleichberechtigt akzeptieren, musste es sich erst erkämpfen – in erster Linie durch Urteile, die ihm die gebührende Achtung verschafften.
Viele wesentliche Fragen, die das Bundesverfassungsgericht betrafen, wurden aber in der Folgezeit durch ein einfaches Gesetzgebungsverfahren entschieden, also mit einfacher Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Im "Gesetz über das Bundesverfassungsgericht" von 1951 fand Aufnahme, was die Besonderheit des Gerichts im internationalen Vergleich ausmacht: die Verfassungsbeschwerde. An die hatten zwar auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes schon gedacht. Unter den Aufgaben des Gerichts im Grundgesetz steht sie aber erst seit 1969. Als letztes Verfassungsorgan nahm das Bundesverfassungsgericht 1951, zwei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, seine Arbeit in Karlsruhe auf. Damals gehörten jedem der beiden Senate noch zwölf Richter an. Seit 1963 sind es acht.
QuellentextMachtkämpfe
[…] Ihre Vorrangstellung in der Hierarchie der neuen Verfassungsordnung mussten sich die Karlsruher Richter erst einmal erkämpfen. […] Kaum hatte der Nachzügler unter den Verfassungsorganen im September 1951 seine Arbeit aufgenommen, gab es erste Abwehrreaktionen. Besonders die Justiz reagierte wie auf ein schwer verträgliches Implantat.
[…] Die westdeutsche Justiz war von den Entnazifizierungsmaßnahmen der Siegermächte weitgehend verschont geblieben. Corpsgeist und fester Glaube an eine unpolitische Rolle der Justiz im "Dritten Reich" hatten die Zäsuren der Jahre 1945 und 1949 weitgehend ungebrochen überdauert. Nur wenige Richter und Staatsanwälte, die in den Jahren des Nationalsozialismus aus ihren Ämtern gedrängt worden waren, konnten nach Kriegsende ihre Karrieren fortsetzen. Umso kontinuierlicher verliefen die Laufbahnen jener, die dem NS-Regime in der Richterrobe gedient hatten. Fast zehn Jahre nach dem Ende des "Dritten Reichs" waren rund drei Viertel der Richter beim Bundesgerichtshof "alte" Justizjuristen, an den Oberlandesgerichten waren es sogar fast 90 Prozent.
Auch im Bundesverfassungsgericht fanden sich Richter, die in das nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt waren. […] Die Mehrzahl der Gründungsmitglieder des Bundesverfassungsgerichts allerdings (in jedem der beiden Senate saßen damals noch zwölf Richter) waren keine Funktionsträger des NS-Justizapparates gewesen. Zahlreiche von ihnen hatten unter dem Regime gelitten. […]
Ganz anders […] die bruchlosen Karrieren, die man am Bundesgerichtshof, dem Obersten Bundesgericht für Zivil- und Strafsachen, studieren konnte. An seiner Spitze stand als erster Präsident Hermann Weinkauff, der zu einem der energischsten Gegenspieler des Bundesverfassungsgerichts werden sollte. […]
Unter der Ägide Weinkauffs setzte der BGH alles daran, die Auslegung des Grundgesetzes nicht allein dem neuen Bundesverfassungsgericht zu überlassen. Einen formalen Hebel glaubte der BGH im später aufgehobenen Paragraf 80 Absatz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes gefunden zu haben. Danach konnten sich untere Gerichte – anders als heute – nicht direkt an das Bundesverfassungsgericht wenden, wenn sie Zweifel an der Vereinbarkeit einer Rechtsvorschrift mit dem Grundgesetz hatten. Entsprechende Vorlagen mussten über die oberen Bundesgerichte eingereicht werden – in der Zivilgerichtsbarkeit also über den BGH. Dieser verband die Weiterleitung der Anträge fortan mit ausführlichen Gutachten, in denen die Richter ihren Anspruch unterstrichen, bei der Auslegung des Grundgesetzes maßgeblich mitzureden.
Noch 1953 hatte Verfassungsgerichtspräsident [Hermann] Höpker-Aschoff die obersten Bundesgerichte in einem Rundschreiben zu beratenden Stellungnahmen ermuntert. Zwei Jahre später aber erkannte man, dass die Gutachten zum Instrument eines höchstrichterlichen Machtkampfs geworden waren. Kurz und knapp erklärte daher das Bundesverfassungsgericht: "Gutachten des weiterleitenden Gerichts zur Vorlage sind unzulässig." Die Präsidenten der anderen obersten Bundesgerichte reagierten mit einem Affront: In einer gemeinsamen Stellungnahme erklärten sie das Gutachten-Verbot für irrelevant. […]
[Mit dem Lüth-Urteil – Anm. d. R.] […] zogen die Verfassungsrichter […] endgültig die Auslegungsmacht über das Grundgesetz an sich. Das rechtstechnische Instrument dazu war die Formel von der "mittelbaren Drittwirkung" der Grundrechte. Sie besagt, dass sich ihre Wirkung in anderen Bereichen des Rechts, also Zivil-, Arbeits- oder Verwaltungsrecht, nicht direkt entfaltet, sondern vermittelt über die Normen des einfachen Rechts, die im Lichte der Verfassung interpretiert werden müssen.
Hinter dieser Formel verbirgt sich noch einmal die Auseinandersetzung um die höchstrichterliche Deutungshoheit: Geht man von einer unmittelbaren Wirkung der Grundrechte im einfachen Recht aus, können auch die einfachen Gerichte eine direkte Interpretationsmacht über die Verfassung beanspruchen. Es gab neben dem ideologisch aufgeladenen Machtkampf mit dem BGH durchaus Versuche, dem Bundesverfassungsgericht auf diesem Wege die Alleinherrschaft über das Grundgesetz streitig zu machen. […]
Als das Bundesverfassungsgericht drei Jahre nach der Lüth-Entscheidung seinen zehnten Geburtstag feierte, hielt (der Staatsrechtler – Anm. d. Red.) Rudolf Smend den Festvortrag.
[…] Nach einem Jahrzehnt des Ringens um richterliche Macht sowie Bedeutung und Grenzen der Verfassung konnte Smend eine Bilanz ziehen, die seitdem unangefochtener Teil der bundesdeutschen Staatsräson ist: "Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne."
Marion Detjen / Stephan Detjen / Maximilian Steinbeis, Die Deutschen und das Grundgesetz, München: Verlagsgruppe Random House GmbH 2009, S. 81 ff.
Das Bundesverfassungsgericht (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 129 015)
Das Bundesverfassungsgericht (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 129 015)
Zusammensetzung
In jedem der beiden Senate sitzen acht Richterinnen oder Richter. Die Hälfte davon kommt aus den obersten Bundesgerichten (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof, Bundessozialgericht, Bundesarbeitsgericht), aber auch die anderen müssen Juristen sein, zum Beispiel Professoren. Jede dieser Stellen ist für die Richterwahl dem Bundestag oder dem Bundesrat zugeordnet. Beide entscheiden mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln über die Besetzung. Das soll verhindern, dass die jeweilige Mehrheit besonders parteigebundene Richter nach Karlsruhe schickt. Tatsächlich führt dieses Verfahren dazu, dass sich die beiden großen Parteien im Bund – CDU/CSU und SPD – einig werden müssen.
Der Nachteil dieses Verfahrens besteht also darin, dass diese beiden Gruppierungen die Richterstellen, die es zu besetzen gilt, untereinander "aufteilen". Kleinere Parteien kommen nur dann zum Zug, wenn das eine der großen will. Das war lange Zeit – in schwarzgelben und rotgelben Koalitionen – der Fall, die FDP bekam also ein Vorschlagsrecht. Unter Rot-Grün hatten auch die Grünen einmal die Möglichkeit zur Mitsprache.
Gegenüber diesem Nachteil des Zwangs zur Einigung verweisen Befürworter auf die Vorteile. Als einer davon gilt der, dass besonders extreme Parteigänger nur schwer eine Mehrheit finden. In der Praxis einigen sich wenige Politiker in Bundestag und Bundesrat. Schon dieser Einigungsdruck führt dazu, dass es sich in aller Regel um anerkannte Juristen handelt. Dazu kommt, dass in den Diskussionen in den Kammern oder den beiden Senaten Argumente zählen; auch die Parteien haben also ein Interesse daran, dass ihre Kandidaten fachlich versiert sind. Über den vorgeschlagenen Kandidaten entscheidet im Bundestag ein Ausschuss, im Bundesrat das Plenum.
Trotz solcher Schwierigkeiten bei der Richterwahl hat sich diese Praxis nach ganz überwiegender Auffassung bewährt. Das liegt auch daran, dass die Richter nicht wiedergewählt werden können, in ihrer meist zwölfjährigen Amtszeit also von den Parteien, die sie unterstützt haben, unabhängig sind.
Kritik am Verfahren der Richterwahl wird aber auch deshalb laut, weil sie wenig durchschaubar ist. Als Alternativen werden zum Teil die öffentliche Befragung oder zumindest die Vorstellung im Parlament vorgeschlagen. Viele befürchten aber davon eine stärkere Polarisierung und Politisierung der Richterwahl oder auch eine Vor-Festlegung des Richters in Einzelfragen, der dann nicht mehr offen für Entwicklungen oder für den konkreten Fall wäre, über den er zu entscheiden hat.
Über Verfassungsbeschwerden entscheidet zuerst eine Kammer, bestehend aus drei Richtern eines Senats. Meist bleibt es auch dabei. Nur wenn die zugrunde liegende Frage nicht früher schon einmal entschieden wurde, legen die drei sie dem achtköpfigen Senat vor. Früher war für Verfassungsbeschwerden vor allem der Erste Senat zuständig. Inzwischen gibt es eine solche Trennung kaum noch. Welche Kammer und welcher Senat zuständig ist, ergibt sich aus den Inhalten der Verfahren. Jeder Richter und damit dann auch seine Kammer und sein Senat ist für bestimmte verfassungsrechtliche Fragen zuständig. Entscheidet ein Senat, spricht er für das ganze Gericht.
Aufgaben
Das Bundesverfassungsgericht ist rein formal, auf die innere Struktur des Gerichtswesens bezogen, nicht das höchste Gericht in der Bundesrepublik Deutschland. Man kann es zwar so nennen, weil die anderen Gerichte seine Entscheidungen beachten werden. Es ist aber nicht das höchste Gericht im Instanzenzug aus Beschwerde, Berufung und Revision. Das liegt daran, dass es eben nur für einen Ausschnitt der Frage zuständig ist, ob ein anderes Gericht richtig geurteilt hat oder nicht, nämlich für die Fragen, die sich aus der Verfassung ergeben. Es ist also keine "Superrevisionsinstanz".
/DE/Verfahren/Jahresstatistiken
/2016/statistik_2016_node.html (unter A. VI.))
Karlsruhe hat das Wort (© http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2016/statistik_2016_node.html (unter A. VI.))
Karlsruhe hat das Wort (© http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2016/statistik_2016_node.html (unter A. VI.))
Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gelten zwar meistens nur für den konkreten Fall, in aller Regel halten sich aber auch andere Richter an ihre Grundgedanken. Trotzdem kann es sein, dass ein Richter, eine Behörde oder der Bundestag eine verfassungsrechtliche Frage anders entscheidet. Das kann manchmal – negativ – ein Zeichen für die Missachtung des Gerichts sein. Es kann aber auch – positiv – dazu führen, dass die Verfassungsrichter eine Frage, die sich inzwischen anders darstellt, überdenken können, zum Beispiel weil sich gesellschaftliche Anschauungen geändert haben.
Eines von vielen Beispielen ist der Umgang mit der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft. Nachdem der Gesetzgeber die Möglichkeit für gleichgeschlechtliche Paare geschaffen hatte, eine Partnerschaft mit Rechtswirkungen einzugehen, entschied zuerst mehrfach eine Kammer des Zweiten Verfassungsgerichtssenats, das bedeute nicht, dass die Ehe nicht trotzdem privilegiert werden dürfe, die ja eigens in Artikel 6 geschützt ist. Der Erste Senat sah das später anders. Als er über eine Betriebsrente entscheiden musste, befand er, diese stehe auch dem Hinterbliebenen eines gleichgeschlechtlichen Partners zu, aus Gründen der Gleichbehandlung. Eine unterschiedliche Behandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft müsse jeweils begründbar sein. Diese Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, eigene Entscheidungen zu überdenken, führt dazu, dass die Grundrechte offen für Entwicklungen bleiben und nicht "versteinern". In einigen Fällen gelten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aber nicht nur für den konkreten Fall, sondern für alle, mit Gesetzeskraft. Das ist vor allem so, wenn es ein Gesetz für nichtig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht kann allerdings nur entscheiden, wenn es in einem der von Grundgesetz und Gesetz vorgesehenen Verfahren angerufen wird, also, wenn es gefragt wird.
In den meisten Verfahren, die das Grundgesetz vorsieht, ist das Verfassungsgericht Staatsgerichtshof. Es klärt also Zweifelsfragen und Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen oder zwischen Bund und Ländern, es kann Parteien verbieten. Für den Grundrechtsschutz sind vor allem drei Verfahrensarten wichtig: die abstrakte und die konkrete Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde. Davon bedarf es nur bei der abstrakten Normenkontrolle keines konkreten Anlasses (deshalb: abstrakt).
Unter bestimmten formalen Voraussetzungen kann die Bundesregierung bzw. eine Landesregierung oder (mindestens) ein Drittel der Abgeordneten des Bundestages ein Gesetz nach Karlsruhe schicken, das sie für verfassungswidrig halten. Das kann nicht nur, aber natürlich auch die Grundrechte betreffen. Ähnlich bei der konkreten Normenkontrolle: Hier gibt es einen konkreten Fall, über den ein Richter zu entscheiden hat. Er hält aber das Gesetz, das er für die Lösung des Falles anwenden müsste, für verfassungswidrig. Das aber darf er – wegen der Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts – nicht selbst entscheiden. Er legt die Frage also in Karlsruhe vor, die Richter klären, wie es um das Gesetz steht, und mit diesem Beschluss oder Urteil in der Hand kann der Richter das konkrete Verfahren dann so oder so beenden.
QuellentextDie Karlsruher Republik
[…] Im großen Saal des Bundesverfassungsgerichts knistert Nervosität wie vor einem Gewitter. Fotografen drängen sich um die Richterbank, Anwälte wühlen in ihren Akten oder nesteln noch einmal an ihren Krawatten. Es ist einer jener Tage, an denen das ganze Land nach Karlsruhe schaut. Einer der Prozesse, die die Nation erhitzen. […]
Zwei Minuten vor zehn tritt Amtsmeisterin Karin Hörner durch die Tür in der Stirnwand des Saales […]. Politiker, Anwälte, Journalisten, Zuhörer werden wie auf Kommando ruhig und erheben sich. Einen Moment lang zögert Karin Hörner, dehnt die Stille, dann ruft sie: "Das Bundesverfassungsgericht!", und herein kommen die acht Richter in ihren feuerwehrroten Roben, der Gerichtspräsident […] vorneweg.
Die acht treten an ihre Plätze unter einem riesigen Bundesadler aus Pinienholz, schauen einen Augenblick lang schweigend in den Saal, der Saal schaut zurück, die Fotoapparate der Bildreporter klackern, dann ist der Moment der Erhabenheit vorbei. Die Richter nehmen, noch während sie stehen, ihre Barette ab, als sei ihnen die altertümliche Verkleidung ein wenig lästig, sinken in ihre milchkaffeebraunen Ledersessel, breiten ihre Papiere aus – und sprechen Recht. Im Namen des Volkes.
Sylvia Thimm[, die] Wirtin der Berliner Kneipe Doors[,] sitzt in der ersten Reihe des Verfassungsgerichts. Gemeinsam mit zwei anderen Wirten hat sie gegen das Rauchverbot in Eckkneipen geklagt. Jetzt fällt das Urteil. Sylvia Thimm glüht vor Aufregung. Sie sucht den Blick ihres Prozessvertreters […]. Der nickt ihr begeistert zu, ballt die linke Hand: gewonnen!
Man muss einmal einen solchen Moment erlebt haben, um zu verstehen, was das ganz Unwahrscheinliche des Bundesverfassungsgerichts ausmacht. Da kommt eine Wirtin aus Prenzlauer Berg, der nicht passt, was die große Politik mit ihrer Kneipe vorhat. Eine Frau, die loszieht und Klage erhebt. Sylvia Thimm gegen den Gesetzgeber. […]
Und am Ende triumphiert die Wirtin über alle Widersacher. Das Rauchverbot fällt. Ob das richtig war oder nicht, darüber lässt sich streiten. Aber es sind Urteile wie dieses, die den Ruf des Bundesverfassungsgerichts ausmachen. Urteile, in denen ein einzelner Bürger ein Gesetz aushebelt.
Selbstverständlich ist das nicht. Die Verfassungsbeschwerde, die schärfste juristische Waffe des Bürgers im Ringen mit dem Staat, ist eine relativ neue Erfindung. Viele Rechtsstaaten, auch alte Demokratien, kennen nichts Vergleichbares. […]. [E]rst die Verfassungsbeschwerde hat das Grundgesetz lebendig gemacht. Und das Bundesverfassungsgericht populär. […]
Umso kurioser, dass fast nichts über dieses Gericht bekannt ist. […] Nach außen gibt sich das Bundesverfassungsgericht ganz offen, zugänglich, transparent. Es sitzt in fünf flachen Würfeln aus Glas, Stahl und Aluminium, unter alten Bäumen, gleich neben dem Karlsruher Schloss. […]
Aber die durchsichtige Architektur ist auch eine optische Täuschung. Denn im Innern des Gerichts liegt eine Blackbox. Eine Macht, die die Republik immer wieder erregt, die aber keine Gestalt hat. 16 Richterinnen und Richter, die Gesetze ändern, Parteien verbieten, Bundespräsidenten entlassen können, deren Gesichter aber fast niemand kennt. […]
Erik Goetze […] sitzt in einem hellen Büro im zweiten Stock des "Richterrings", des Gebäudes, in dem die Richter ihre Arbeitszimmer haben. […] Auf Goetzes Schreibtisch landet jedes Schriftstück, das beim Verfassungsgericht ankommt. Jeder Brief, jedes Fax, zwischen 30 und 60 Neueingänge pro Tag. […]
Seit der Gründung des Gerichts 1951 hat es fast 7000 Entscheidungen getroffen, fast alle mit endlos langen Begründungen; hinzu kamen über 130.000 Beschlüsse der mit nur je drei Richtern besetzten "Kammern", die vor allem über die Annahme von Verfassungsbeschwerden entscheiden [Stand: 2009]. […]
Nach einem fein ausgeklügelten System verteilt Goetze die Arbeit auf die beiden Senate des Gerichts. […] Jeder Senat hat acht Richter […]. Jeder der Richter hat drei oder vier wissenschaftliche Mitarbeiter. Hinzu kommt ein Stab von Zuarbeitern, rund 150 Leute, Bibliothekare, Saaldiener in blauen Uniformen mit feinen roten Streifen, sogar ein eigener Baureferent.
Sein Geld, rund 23 Millionen Euro pro Jahr, bekommt das Gericht direkt aus dem Bundeshaushalt. Niemand, kein Minister, kein Kanzler, kein Präsident kann den Karlsruhern hineinreden, nicht in ihre Urteile und auch nicht in ihre alltägliche Arbeit. Über dem Verfassungsgericht gibt es nur den blauen Himmel. Und den lieben Gott. […]
Würde man einmal alle Verfassungsbeschwerden aneinanderreihen, man bekäme eine Sittengeschichte der Republik. Eine Enzyklopädie des alltäglichen deutschen Ärgers. Kein […] Bereich des öffentlichen Lebens, über den das Bundesverfassungsgericht nicht urteilt[:] über die Strafbarkeit des Beischlafs von Geschwistern […], über den Einsatz von Wahlcomputern, über das rituelle Schächten von Schafen und über die Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Strafgefangener beim Kauf von Kosmetika.
[…] Kaum eine der prägenden politischen Debatten der Republik, die nicht irgendwann in Karlsruhe gelandet wäre: die Wiederbewaffnung, die Kriegsdienstverweigerung, die Ostverträge und der Nato-Doppelbeschluss, Numerus clausus und Abtreibung, Mauerschützen und Asylbewerber. […]
Kein Wunder, dass viele Politiker nicht sonderlich gut auf das Gericht zu sprechen sind. Schließlich setzt sich jedes Mal, wenn Karlsruhe ein Gesetz kassiert, beim Publikum der Eindruck fest: Die in Berlin können es nicht. Die haben nicht einmal die Verfassung gelesen. Die müssen korrigiert werden. […]
In juristischen Bibliotheken gibt es tonnenweise Bücher über das eigentümliche Verhältnis zwischen Gericht und Politik. Und tatsächlich: Dass acht Richter aushebeln können, was die gewählten Vertreter des Volkes in Bundestag und Bundesrat mit Mehrheit beschlossen haben, das ist demokratietheoretisch starker Tobak. […]
Nicht nur haben sich die Bürger der Bundesrepublik daran gewöhnt, dass das Verfassungsgericht meist das letzte Wort gegenüber Parlament und Regierung hat. Mehr noch: Gerade dieser Umstand trägt enorm zur Beliebtheit des Gerichts bei. Anders gesagt: Karlsruhes Popularität hat auch mit einer verbreiteten Abneigung gegen die Mühsal des demokratischen Entscheidungsprozesses zu tun. […]
Zwar werden auch seine Richter streng nach Parteiproporz ausgewählt, in einem Hinterzimmergefinger, neben dem die Papstwahl in Rom geradezu durchsichtig wirkt. Aber als Institution schwebt Karlsruhe über dem Berliner Schlachtfeld. Lobbyisten haben dort keinen Einfluss, es gibt keine taktischen Hakeleien, keine Schaumschlägerei, nur langes Schweigen – und irgendwann ein Urteil. […]
Heinrich Wefing: "Ein deutsches Geheimnis", in: Die Zeit Nr. 27 vom 25. Juni 2009
Die Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde war 1951, als das Bundesverfassungsgericht seine Arbeit aufnahm, etwas Einmaliges. Jeder kann sie erheben, wenn er glaubt, in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten von der öffentlichen Gewalt (also staatlichen Stellen) verletzt zu werden. Inzwischen haben einige andere Staaten wie Spanien, Litauen, Tschechien und Ungarn das Institut der Verfassungsbeschwerde übernommen. Beim Bundesverfassungsgericht macht diese Verfahrensart den weit überwiegenden Anteil aller Verfahren aus: 2008 waren es 97 Prozent der eingehenden Verfahren. Das große Vertrauen, das die Verfassungsbeschwerde genießt, könnte erstaunen, angesichts der realen Erfolgsergebnisse: Nur ein Teil der Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden wird überhaupt begründet. Häufig bekommt der Verfassungsbeschwerdeführer ein Formblatt zur Antwort, auf dem wenig mehr steht als "Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen." Nur etwa zwei Prozent der Verfassungsbeschwerden haben Erfolg. Das liegt auch daran, dass viele die Voraussetzungen dieses Verfahrens unterschätzen:
Wer eine Verfassungsbeschwerde erhebt, muss begründen, dass ein Gesetz, eine Verordnung, ein Urteil nicht einfach verfassungswidrig ist, sondern ihn selbst unmittelbar in eigenen Rechten verletzt.
Bei diesen Rechten, die verletzt sein sollen, muss es sich um Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte handeln. Hier zeigt sich, dass das Gericht eben keine "Superrevisionsinstanz" ist.
Und – soweit das irgend möglich ist – muss der Verfassungsbeschwerdeführer vorher alle gerichtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.
Dazu kommen Fristen und andere formale Voraussetzungen.
Trotz all dieser Hürden geht ein großer Teil der Grundrechtsentwicklung - vielleicht der größte - auf die Verfassungsbeschwerde zurück.