Einleitung
In der Mitte des 18. Jahrhunderts begann in Groß-britannien der Prozess der Industrialisierung, der begleitet war von einer Effizienzerhöhung der landwirtschaftlichen Produktion. Bereits um 1840 waren weniger als 30 Prozent der Arbeitskräfte im Agrarsektor beschäftigt, im europäischen Durchschnitt waren es dagegen noch zwei Drittel. Die Industrialisierung drängte im 19. und 20. Jahrhundert die Landwirtschaft als Arbeitgeberin weiter in den Hintergrund.
Gegen Ende der 1950er Jahre verlagerte sich die wirtschaftliche Führungsrolle vom Industrie- zum Dienstleistungssektor. Die britische Wirtschaft ist heute eine Dienstleistungsökonomie. Sie ist im OECD-Länder-Vergleich überdurchschnittlich erfolgreich bei wissensintensiven Dienstleistungen (Telekommunikation, Banken und Versicherungen, Forschung und Entwicklung, Dienstleistungen für Unternehmen) und unterdurchschnittlich in den wachstumsschwachen Sektoren (Landwirtschaft, Verarbeitendes Gewerbe mit geringem Technikeinsatz).
Strukturelle Grundlagen
Das Vereinigte Königreich vermittelt noch immer das Bild eines grünen Landes. Circa 75 Prozent seiner Fläche werden landwirtschaftlich genutzt, 60 Prozent dieser Fläche sind Weideland unter anderem für etwa 20 Millionen Schafe. Trotzdem ist die Landwirtschaft heute für die britische Wirtschaftsleistung mit einem Anteil von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nur noch von marginaler Bedeutung. Der OECD-Bericht von 2007 beziffert den Anteil der Landwirtschaft (Agriculture, forestry and fishing) an der Gesamtzahl der Beschäftigten im Jahr 2006 auf 1,3 Prozent. Dies erklärt die im Vergleich zu anderen EU-Regierungen größere Entschlossenheit der britischen Regierung, wenn es in Brüssel um eine Reform der EU-Agrarpolitik und die Senkung ihrer Kosten geht.
Der Industriesektor hat seit dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls an Bedeutung für die britische Wirtschaft verloren. Laut OECD-Bericht von 2007 trug der Verarbeitende Sektor 2006 weniger als 15 Prozent zur Bruttowertschöpfung bei.
Traditionelle Industriezweige, wie Stahl, Kohle und Schiffbau oder die Textilindustrie, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch Millionen von Arbeitnehmern beschäftigten, bieten heute noch einige zehntausend Arbeitsplätze. Da die Zentren dieser Industrien in Nordirland, Schottland, Wales und Nordengland lagen, erlebten diese Industrieregionen einen raschen Niedergang, den die Regional- und Industrieansiedelungspolitik der Nachkriegsregierungen nur unwesentlich aufhalten konnte. 2006 waren laut OECD noch 22 Prozent der Beschäftigten in Industrie und Baugewerbe tätig, während der Dienstleistungssektor 76,4 Prozent beschäftigte. Führend in der Welt ist die britische Wirtschaft in den Feldern Telekommunikation (vodafone), Öl und Gas (BP) oder Pharmazie und Chemie (GlaxoSmithKline).
Produktivitätsdefizite
Schon seit Kriegsende beklagen Ökonomen die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der britischen Wirtschaft, insbesondere die Produktivitätsdefizite in der Industrie. Margaret Thatchers Politik, die auf schärferen Wettbewerb, einen Abbau staatlicher Regulierung und die Beseitigung von Gewerkschaftsblockaden bei der Modernisierung der Unternehmen setzte, verbesserte zwar Großbritanniens relative Position. Aber noch immer liegt die Produktivität in der britischen Industrie unter derjenigen der USA, Deutschlands oder Frankreichs. Wichtige Ursache hierfür sind der Mangel an geeignet ausgebildeten Fachkräften, aber auch an Grundkenntnissen der Schulabgänger, sowie das vergleichsweise geringe staatliche Engagement bei der Förderung von Forschung und Entwicklung.
Das Unternehmerlager ist traditionell ökonomisch, politisch und zum Teil auch organisatorisch gespalten zwischen schwachen klein- und mittelgroßen Unternehmen auf der einen und international engagierten Großunternehmen auf der anderen Seite. Ein jüngstes Beispiel für die unterschiedlichen Interessenlagen in der britischen Industrie ist die befürwortende Haltung der exportorientierten Großunternehmen zur Einführung des Euro, der viele Klein- und Mittelunternehmen skeptisch gegen-überstehen. Die überwiegende Zahl der industriellen Großbetriebe Großbritanniens ist im Besitz weltweit agierender Unternehmen, die ihren Hauptsitz nicht in Großbritannien haben. Der Anteil britischer Firmen mit ausländischen Besitzern ist im letzten Jahrzehnt von 30 Prozent auf 50 Prozent gewachsen. Damit sind die britische Wirtschaft und ihr Angebot an Arbeitsplätzen, noch stärker als dies für Deutschland gilt, von den Erfolgen und Misserfolgen der Weltwirtschaft und den Standortentscheidungen der internationalen Unternehmen abhängig.
Neben amerikanischen Unternehmen spielen japanische Investoren in einigen Sektoren der Wirtschaft, wie der Automobilindustrie (Toyota, Nissan, Honda) oder der Chip-Produktion (Fujitsu), eine besondere Rolle. Sie möchten auf dem europäischen Binnenmarkt präsent sein und bevorzugen Groß-britannien wegen der englischen Sprache, wegen der für alle Investoren attraktiven relativ niedrigen Steuersätze im Verein mit im europäischen Vergleich längeren Arbeitszeiten und niedrigeren Löhnen. Die Produktivität in Betrieben, die zu japanischen Konzernen gehören, ist gemessen am Landesdurchschnitt meist relativ hoch, so dass sich diese Betriebe auch überdurchschnittliche Löhne zur Beteiligung ihrer Mitarbeiter am Unternehmenserfolg leisten können. Dafür verzichten die Beschäftigten aber häufig in Firmenverträgen auf traditionelle Rechte, wie das Streikrecht oder das Recht zur Organisation in Gewerkschaften.
Dienstleistungssektor
Bedeutendster Wirtschaftssektor und Arbeitgeber für etwa 77 Prozent der Briten ist bislang der Bereich Dienstleistungen gewesen. Seine wichtigsten Sparten sind Banken, Versicherungen (zum Beispiel der Rückversicherer Lloyd's) und Finanzen. Die Londoner City ist neben New York und Tokio ein Weltfinanzzentrum. Hier wohnen nicht einmal 10 000 Menschen, aber mit Stand 2007 arbeiteten hier 200 000 (nach anderen Schätzungen sogar 400 000). 2005 wurden an der London Stock Exchange 43 Prozent des internationalen Aktienhandels abgewickelt, in New York 31 Prozent. 3179 britische und ausländische Unternehmen mit einer Gesamtmarktkapitalisierung von circa 10 500 Milliarden Pfund (2001) werden an der Londoner Börse gehandelt. Daneben gibt es eine Reihe von weiteren Finanzmärkten für alle relevanten Anlageformen (zum Beispiel Warentermingeschäfte, Futures und Optionen oder Eurobonds). 28 Prozent des BIP entstand 2004 in den Bereichen Finanz- und Geschäftsdienstleistungen. Während das Wachstumder Industrie im letzten Jahrzehnt stagnierte, wuchs der Finanzsektor viel schneller als die britische Wirtschaft insgesamt.
Die internationale Finanzkrise hat 2008 die britische Wirtschaft erschüttert. Der wirtschaftliche Motor des Landes, die Londoner City, wurde durch Bankenpleiten und die Krise am Aktienmarkt in besonderer Weise getroffen. Da erstaunt es nicht, dass der britische Regierungschef Gordon Brown als erster westlicher Regierungschef Banken verstaatlichte (Northern Rock und Bradford and Bingley) und ein 400-Milliarden-Pfund-Hilfspaket schnürte, so dass mit staatlichen Mitteln, aber um den Preis des Staatsbesitzes an Banken diesen wieder zu Liquidität verholfen wurde. Banken, wie die Royal Bank of Scotland, HBOS, Lloyds TSB, Barclays und die Bausparkasse Nationwide bekamen "frisches Geld" vom Staat nur, wenn sie diesen durch die Ausgabe von Vorzugsaktien zum Mitbesitzer machten. Staatseingriffe in die traditionell sich selbst regulierende City schienen den Verfechtern des freien Marktes, auch wenn sie selbst keinen anderen Weg sahen, systemwidrig. Die Regierung betonte, dass ihr Engagement bei den Banken zeitlich begrenzt sein soll. Die staatlichen Eingriffe in den Finanzsektor läuteten nur zum Teil ein Umdenken bezüglich der Rolle des Staates in der Wirtschaft ein. Im Vordergrund stand die Suche nach einer pragmatischen Lösung. Der Preis staatlicher Hilfe war für den Staatshaushalt besonders hoch. Die lange verteidigte Grenze der Staatsverschuldung von insgesamt 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fiel. Auch die Hoffnung mancher Schotten, ihr Landesteil könnte wirtschaftlich unabhängig handeln, wurde erschüttert. Schottland verlor seinen international erfolgreichen Finanzsektor (Royal Bank of Scotland, HBOS)
QuellentextRettungsmaßnahmen
Als erste Nation hat Großbritannien am Montag (13. Oktober 2008 - Anm. d. Red.) die konkreten Auswirkungen des Rettungsplanes für das Bankensystem bekanntgegeben. Die Konsequenz der Finanzkrise ist hier, dass die Banken Royal Bank of Scotland (RBS) und die mit HBOS fusionierende Lloyds TSB vorübergehend verstaatlicht werden. Außerdem muss die Geschäftsführung der RBS zurücktreten, die Vorstände und Verwaltungsratsvorsitzenden der betroffenen Banken werden für dieses Jahr keine Bonuszahlungen erhalten, die Dividenden werden gestrichen.
Mit diesen spektakulären Schritten wird nun der britische Rettungsplan umgesetzt, den die Regierung von Premierminister Gordon Brown am vergangenen Montag (6. Oktober - Anm.d. Red.) vorgestellt hatte und der auf dem Gipfeltreffen in Paris am Wochenende praktisch als Blaupause für ähnliche Rettungsaktionen in anderen Ländern der Welt galt. Während die Vorschriften zur Eigenkapitalvorsorge der Banken eine Eigenkapitalquote ("Tier 1") von 8 Prozent erfordern, verlangt das Schatzamt von den britischen Banken nun eine Eigenkapitalquote von 9 Prozent, solange die Finanzkrise und ihre Auswirkungen anhalten.
Da viele Banken schon einen hohen Anteil von Vorzugsaktien ausgegeben haben und die Ausgabe von Vorzugsaktien begrenzt ist, müssen Banken wie die RBS zur Kapitalerhöhung normale Stammaktien an den Staat emittieren. Dies erklärt, warum in Großbritannien jetzt nicht nur das Eigenkapital, sondern sogar das Kernkapital vieler Banken auf etwa 9 Prozent steigt. Das Kernkapital ist das Kapital, das Banken durch die Ausgabe von stimmberechtigten Stammaktien und nicht nur über die Ausgabe von Vorzugsaktien einsammeln.
Das britische Schatzamt hat [...] bekanntgegeben, dass es insgesamt 39 Milliarden Pfund Kapital in die RBS, Lloyds TSB und HBOS einschießen wird. Gleichzeitig hat es eine Kapitalerhöhung von Barclays unterzeichnet. Dies bedeutet, dass der britische Staat künftig mit 55 Prozent an der RBS beteiligt sein wird und mit 43 Prozent an Lloyds TSB, die gleichzeitig HBOS übernimmt.[...]
Bes, "Führung der Royal Bank of Scotland muss gehen", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.Oktober 2008
Um den fallenden Hauspreisen, die im Lande der Hausbesitzer so etwas wie der Brotpreis im Mittelalter sind, entgegenzuwirken, versuchte Premierminister Brown, zusätzlich die Banken zu einem Ausgleich durch ein günstiges Hypothekenangebot zu zwingen, wenn sie staatliche Hilfe entgegennehmen. Außerdem startete er ein Sonderprogramm in Höhe von 1,6 Milliarden Pfund, um Hauskäufe, u.a. durch Vorleistungen der Kommunen oder die Verschiebung der Steuerpflicht für den Immobilienerwerb, zu erleichtern. Dennoch sind die Zeiten vorbei, als die Briten mit kreditfinanzierten Häusern, die sie mit einer Wertsteigerung von 200 bis 300 Prozent weiterverkauften, noch überdimensionale Gewinne machen konnten. Die Zahl der Hausverkäufe fiel um die Hälfte, die Zahl der neu abgeschlossenen Immobilienverträge um fast 60 Prozent. Mit den fallenden Hauspreisen reduzierte sich auch die Möglichkeit, mit dem Wert der Immobilie als Sicherheit Kredite zu erhalten. Der verschuldete Durchschnittsbürgersah sich weit weniger als vorher in der Lage, Schulden zu begleichen bzw. seine Hypothekenzinsen zu bedienen. Für viele Hausbesitzer ist heute ihr Haus weniger wert als die Hypothekenzahlungen, die ausstehen.
QuellentextAuszug
[...] Es knirscht [...] am gesamten britischen Immobilienmarkt. Hypotheken werden teurer, Häuserpreise fallen, und das Vertrauen der Kunden sinkt. [...] Die steigenden Kreditkosten seien für viele Hausbesitzer "einfach zu viel", meint der Direktor der staatlichen Finanzaufsicht FSA, Clive Briault. Zudem sind Banken seit den Unsicherheiten an den Welt-Finanzmärkten zurückhaltender geworden bei der Kreditvergabe. "Wenn die Geldmärkte im Koma bleiben, werden nicht alle, die ein Darlehen wollen, auch eins erhalten können", sagt Michael Coogan, Generaldirektor beim Verband der Hypothekenvermittler.
[...] Was Hauskäufer als Vorteil empfinden, ist für Tausende Briten ein Schock: Ihr Immobilieneigentum, das für die Absicherung der Altersversorgung in Großbritannien viel wichtiger ist als in Deutschland, verliert an Wert. [...] Bereits eine Abflachung des Preisbooms wäre für viele Briten eine schmerzhafte Erfahrung. Für sie war es zur Gewohnheit geworden, ihre Eigenheime schon nach zwei oder drei Jahren gewinnbringend weiterverkaufen zu können. Bequem ließ sich so ein noch schöneres Häuschen erwerben. Auf der "Immobilien-Leiter" nach oben klettern, hieß dieses Spiel mit scheinbar hundertprozentiger Gewinnchance. Für viele Briten war der Aufstieg aus einer engen Studentenbude in ein komfortables Reihenhaus allenfalls als eine Frage der Zeit.
[...] In den grauen Vorstädten, dort wo sich Reihenhäuser aus viktorianischer Zeit an den Straßen entlang ziehen, wird das Immobilien-Roulette schnell zur Zitterpartie. Es geht um die sozialen Grundfesten der Gesellschaft. Der Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre hat die Probleme nur übertüncht. Jetzt zeigt sich, dass viele Briten über ihre Verhältnisse leben. Es ist wie das böse Erwachen nach einer durchzechten Partynacht. Wie im Rausch haben die Briten konsumiert. Sie haben vor allem mit Krediten Häuser, Autos und TV-Flachbildschirme gekauft. Jeder erwachsene Brite steht statistisch gesehen mit umgerechnet 46 000 Euro in der Kreide, wie die Beratungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers berechnete. Ein solcher Schuldenstand ist Rekord in Europa.[...]
Andreas Oldag, "Ende des Immobilien-Rausches", in: Süddeutsche Zeitung vom 12./13. Januar 2008
Privatisierung und Regulierung
Großbritannien gilt als der Vorreiter der Privatisierungspolitik und der Politik der Liberalisierung der Märkte in Europa, die inzwischen auch der Fortentwicklung des europäischen Binnenmarktes zugrunde liegt. Diesen Ruf hat das Land vor allem der Politik Margaret Thatchers nach ihrem zweiten Wahlsieg zu verdanken, die ihr Nachfolger John Major weiter fortführte. Der politisch willkommenste Aspekt der Privatisierungspolitik war ihr Beitrag zur Finanzierung der Staatshaushalte. Sie veränderte aber auch das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in Groß-britannien. Auch wenn die Privatisierungspolitik nie sonderlich populär war, schuf sie unumkehrbare Fakten. Keine zukünftige Regierung könnte sich die Entschädigungszahlungen leisten, die mit einer erneuten Verstaatlichung der privatisierten Wirtschaftszweige zu zahlen wären, ganz zu schweigen von dem verheerenden Vertrauensverlust für Investoren und Anleger, den eine solche Kehrtwende im weltwirtschaftlichen Kontext bedeutenwürde. Die Privatisierungspolitik erfasste nicht nur Bereiche der Wirtschaft, die in vielen anderen Ländern ohnehin nicht in der Hand des Staates sind, wie die Kohle- und Stahlindustrie, Werften oder Fluglinien. Privatisiert wurden auch Kernbereiche öffentlicher Aufgaben, wie die Strom-, Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung, sowie die Telekommunikation und der Schienenverkehr. Nur das Streckennetz der Bahn musste nach einigen Zugunglücken 2002 wieder in die Kontrolle eines staatlich kontrollierten Unternehmens (Network Rail) überführt werden.
Mit der Privatisierung von Kernbereichen staatlicher Aufgaben stellte sich das Problem, den Bürgerinnen und Bürgern eine effiziente Versorgung mit lebensnotwendigen Dienstleistungen zu einem angemessenen Preis zu garantieren. Aus öffentlichem Interesse schien es zum Beispiel durchaus wünschenswert, betriebswirtschaftlich unrentable Einrichtungen, wie bestimmte Verkehrsverbindungen oder die Wartung von Telefonzellen, aufrechtzuerhalten. Deshalb wurden neue Regulierungsbehörden mit entsprechenden Kontrollaufgaben geschaffen. Als entscheidend für den Erfolg dieser Aufsichtsämter hat sich in der Praxis das Engagement und das Amtsverständnis des Direktors der jeweiligen Aufsichtsbehörde herausgestellt. Er verhandelt direkt mit den Unternehmen über ihre Firmenpolitik und ihre Preisgestaltung. Anders als in Deutschland führen in Großbritannien Verbraucherschützer zu diesen Fragen, wie auch zu allen anderen Angelegenheiten, die die Bürgerinnen und Bürger als Konsumenten betreffen, eigene Untersuchungen durch und müssen angehört werden. Mit finanzieller Unterstützung des Staates arbeitet der National Consumer Council (Nationaler Verbraucherrat). Die größte private Konsumentenschutzvereinigung ist die Consumers' Association (Verbrauchergesellschaft) mit circa einer Million Mitgliedern.
Der bedeutende Einfluss, den staatliche Regulierungsbehörden seit der erfolgreichen Privatisierung so gut wie aller großen früheren Staatsunternehmen haben, deutet darauf hin, dass ein wichtiges Ziel der Privatisierungspolitik nicht erreicht wurde: Es entstand kein effizienter Wettbewerb. Gäbe es diesen, wären die Preiskontrollen überflüssig; sie könnten getrost der Mißbrauchsaufsicht der britischen Kartellbehörden (Office of Fair Trading - Büro zur Überwachung fairen Handels, Competition Commission - Wettbewerbsaufsicht) überlassen bleiben. Einem weiteren wichtigen Ziel, dem der breiten Streuung von Aktienbesitz im Volk, ist die Privatisierungspolitik auch nur in Ansätzen näher gekommen. Inzwischen greifen gegenläufige Tendenzen. Die Kleinanleger verkauften günstig erworbene Aktien rasch an institutionelle Anleger, wie Banken oder Versicherungen, die nun die privaten Dienstleister dominieren.
Unternehmerverbände und Gewerkschaften
Die britischen Unternehmerverbände sind weniger schlagkräftig und vermögen in weit geringerem Maße als die deutschen Unternehmerverbände die Willensbildungsprozesse im Unternehmerlager zu bündeln und nach außen zu repräsentieren. Dies hat vor allem drei Gründe:
die unterschiedlichen Interessen der Großbetriebe und der kleinen und mittleren Unternehmen;
die unterschiedlichen Interessen der in der Industrie und im Dienstleistungssektor (vor allem im Finanzdienstleistungssektor) tätigen Unternehmen, zum Beispiel im Hinblick auf staatliche Subventionszahlungen und
die geringe Rolle der Spitzenverbände der Unternehmen in der Tarifpolitik.
Lohnverhandlungen finden auf betrieblicher Ebene statt. Damit entfällt auch die Notwendigkeit, eine gemeinsame Position des Unternehmerlagers zu formulieren, die beispielsweise in Deutschland noch dazu beiträgt, Klein- und Großunternehmer zur Zusammenarbeit zu bewegen. Der größte Unternehmerverband ist die 1965 aus dem Zusammenschluss von Unternehmergruppen hervorgegangene CBI (Confederation of British Industry). Innerhalb der CBI hat sich als eigenständige Interessenvertretung der verarbeitenden Industrie der National Manufacturing Council gegründet. Als Lobbyorganisation wirkt das 1903 als eine Art Managerclub entstandene Institute of Directors. Die Handelkammern des Landes sind in der 1860 gegründeten ABCC, der Association of British Chambers of Commerce, zusammengeschlossen. Alle Unternehmerorganisationen zusammen haben circa 270 000 Mitglieder.
Die logische Entsprechung zur historischen Staatsferne der britischen Wirtschaft war die Zurückhaltung des Staates bei der Regelung betrieblicher Angelegenheiten und bei Tarifauseinandersetzungen. Der Betrieb ist die entscheidende organisatorische Ebene für Gewerkschaftstätigkeit. Die wichtigste Rolle bei Verhandlungen über Lohn- und Arbeitsbedingungen spielen auf der Seite der Arbeitnehmer die in den Betrieben gewählten Vertrauensleute der Belegschaft, die shop stewards. Shop stewards müssen keine Gewerkschaftsmitglieder sein, sind es aber häufig. General unions werden diejenigen Gewerkschaften genannt, die über Berufsgruppengrenzen hinweg Mitglieder organisieren. Diese historisch gesehen jüngste Organisationsstrategie der britischen Gewerkschaften ist heute die dominierende. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist in der Arbeitnehmerschaft die Bereitschaft, sich gewerkschaftlich zu organisieren, stetig gesunken. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ging von 54 Prozent 1979 auf ca. 29 Prozent 2007 zurück. Im öffentlichen Sektor beträgt dieser noch 60 Prozent, in der Privatwirtschaft nur 20 Prozent. Viele Kleingewerkschaften haben sich angesichts massiven Mitgliederschwundes anderen, zum Teil auch größeren Gewerkschaften angeschlossen, um schlagkräftig zu bleiben. Zum anderen haben General Unions den Vorteil, die vor allem in den 1970er Jahren für zahlreiche Streiks verantwortlichen Machtkämpfe der Kleingewerkschaften um Mitglieder und um die Abgrenzung von Berufsgruppen, die in die Organisations"hoheit" der jeweiligen Gewerkschaft fielen, überflüssig zu machen.
Die Anpassung der Gewerkschaftsorganisationen an wirtschaftliche Erfordernisse hat den Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften nicht aufhalten können. In ihren besten Zeiten hatten die Gewerkschaften 13,2 Millionen Mitglieder (1979). 2005 waren es noch ca. 7,6 Millionen. Die meisten (58) Gewerkschaften gehören dem 1868 gegründeten Gewerkschaftsdachverband Trades Union Congress (TUC) an. Er gab für sich für das Jahr 2006 fünf Millionen Mitglieder an.
Der TUC ist wenig schlagkräftig und hat seit den 1980er Jahren den Zugang zur Regierung verloren. In Fragen der Wirtschaftspolitik suchen auch Labour Regierungen heute den Rat der Unternehmer. Die Regierung Blair hat zwar einige Forderungen des TUC aufgenommen, wie zum Beispiel die Einführung eines staatlichen Mindestlohns oder die Erleichterung der Zulassung der Gewerkschaftstätigkeit in Betrieben. Die Anerkennung einer Gewerkschaft als betriebliche Interessenvertretung ist allerdings weiterhin an Voraussetzungen geknüpft, die nicht leicht zu erfüllen sind. Mehr als 50 Prozent der Beschäftigten müssen Gewerkschaftsmitglieder sein, und die Betriebsangehörigen müssen sich in ihrer Mehrheit bei einer Urabstimmung für diese Art der Interessenvertretung einsetzen. Nur noch in 31,7 Prozent der britischen Privatunternehmen gab es 2007 Gewerkschaftsmitglieder.
Regionale Entwicklungsunterschiede
Innerhalb Englands besteht ein deutliches wirtschaftliches Gefälle zwischen dem Süden und dem Norden des Landes. Die Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre hat die nördlichen Regionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf die traditionelle Großproduktion in den Bereichen Kohle, Stahl und Schiffbau angewiesen waren, durch Subventionsabbau und die Reduktion regionaler Förderprogramme weiter zurückgeworfen. Neue Wachstumsindustrien siedelten sich nicht im englischen Norden, sondern zunächst in der Gegend um London und in den West Midlands an. Gründe hierfür sind die bereits bestehenden Hochtechnologie-Einrichtungen an den dortigen Universitäten, sowie die Anbindung an die Rüstungsindustrie im Süden und an die Dienstleistungsmetropole London. Hinzu kommt, dass die neuen Industrien rohstoffunabhängig sind und deshalb landschaftlich intakte Investitionsstandorte mit einem ausreichenden Kulturangebot suchen, wie sie vor allem der englische Süden bietet.
Wachstumskern ist die Region Südosten. Hier sind die Arbeitslosenraten am niedrigsten und die Einkommen am höchsten. Schottland und Wales gehören zwar traditionell ebenfalls zu den benachteiligten Gebieten. In Schottland ist es aber zwischenzeitlich gelungen, eine eigene Hochtechnologie-Industrie aufzubauen. Südwales hat sich aufgrund aggressiven Werbens um ausländische Direktinvestitionen und dank gut ausgebildeter, auch zu Niedriglöhnen arbeitender Menschen überraschend schnell von einer Art englischem Ruhrgebiet zu einem bevorzugten Investitionsstandort ausländischer Firmen aller Art entwickelt. Ein Problemfall regionaler Entwicklung ist weiterhin Nordirland, das sich in erster Linie durch Zuschüsse aus dem britischen Haushalt finanziert. Der erfolgreiche Verlauf des Friedensprozesses ist aber von einem ermutigenden Engagement zahlreicher ausländischer Investoren begleitet.