Einleitung
Das politische Denken in Großbritannien, seine kulturelle und emotionale Verbundenheit mit außereuropäischen Weltregionen ist ohne die historische Erfahrung des britischen Weltreiches nicht zu verstehen. Immer noch ist Königin Elizabeth II. Staatsoberhaupt von 15 der 52 Commonwealth-Staaten. In der Vereinigung der Commonwealth-Länder treffen sich alle zwei Jahre die Staatsoberhäupter der meisten früheren britischen Kolonien.
Den meisten Briten sind beispielsweise Indien, Pakistan, Australien, Kanada, Neuseeland, Südafrika, Zimbabwe oder die Westindischen Inseln schon deshalb immer gegenwärtig, weil es sich dabei um die traditionellen Wettkampfgegner in ihrem Nationalsport Cricket handelt, aber auch weil ihre eigenen Vorfahren aus diesen Ländern stammen bzw. ihre Verwandten in diesen Ländern leben. Neben diesen traditionellen und kulturellen Banden haben die ökonomischen jedoch an Gewicht verloren.
Dieser Trend verstärkte sich mit dem Beitritt des Landes zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Warum Butter aus Neuseeland und Lammfleisch aus Australien mit europäischen Zöllen belastet werden, bedurfte lange Zeit der Erklärung.
Auflösung des Empires
Großbritannien war im Zeitalter des Imperialismus von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges die führende Seemacht und eine der Weltmächte. Der britische Monarch war gleichzeitig Kaiser des indischen Subkontinents. Großbritanniens Weltreich umfasste in seiner größten Ausdehnung um 1920 nahezu ein Viertel der Erde und der Menschheit. Die britische Kolonialherrschaft war nach dem Muster der indirect rule organisiert, das heißt, London übte eine Art "Oberhoheit" über die einzelnen Territorien aus und behielt die politischen und sozialen Systeme der Kolonien weitgehend bei. Dennoch war zumindest im 19. Jahrhundert mit der Herrschaftsausübung ein zivilisatorisches Sendungsbewusstsein verbunden. Der britisch-indische Schriftsteller Rudyard Kipling (1865-1936) schilderte in seinen Indien-Büchern und Erzählungen das Wesen des britischen Imperiums und die Mission des gebildeten weißen Mannes, den Gott dazu ausersehen habe, die Kolonialvölker zu erziehen und zu zivilisieren. Das Empire erscheint in dieser Perspektive als eine Art Vormundschaft für die noch nicht mündigen Kolonialvölker.
Nach dem Zweiten Weltkrieg musste der Abschied vom Empire schrittweise vollzogen werden und hinterließ zum Teil bleibende schmerzliche Erinnerungen in der britischen Politik und Kultur. Hier einige der folgenreichsten Ereignisse:
1947 wurde Indien auf Druck der von Mahatma Gandhi geführten Volksbewegung in die Unabhängigkeit entlassen. Das Empire verlor damit eine seiner Säulen.
1956 scheiterte eine britisch-französische Militärintervention zum Schutz des Suez-Kanals, dem früheren Tor zu den britischen ostafrikanischen und arabischen Kolonien, den der ägyptische Staatspräsident Nasser gegen den Widerstand der meist britischen und französischen Aktionäre der Kanalgesellschaft nationalisiert hatte. Dieser militärische Fehlschlag machte deutlich, dass der Weg zurück zu ehemaliger kolonialer Größe für das Vereinigte Königreich verloren war und es nun seine Rolle in der Weltpolitik und seine politischen Ziele neu definieren musste.Aus dieser Verunsicherung erwuchsen Unbehagen und Selbstzweifel. Die selbstkritische Suche der jungen Generation nach einem neuen Bild des eigenen Landes gab der politischen Linken Auftrieb und provozierte eine ganze Generation gesellschaftskritischer Schriftsteller, die in die Literaturgeschichte als Gruppe der "Angry Young Men" einging (John Osborne, Arnold Wesker, Alan Sillitoe, David Storey, John Braine).
1968 nahm die britische Regierung ihr Versprechen zurück, verfolgte Asiaten aus ihren früheren ostafrikanischen Kolonien jederzeit aufzunehmen und verband dies mit einer Verschärfung der Antidiskriminierungsgesetzgebung, die dazu dienen sollte, die Integration von bereits im Land befindlichen Zuwanderern zu erleichtern. In der Folgezeit wurde der Zuzug aus den früheren Kolonien, der oft aus Konflikten in Folge ihrer neu gewonnenen Unabhängigkeit resultierte, durch Änderung des britischen Staatsangehörigkeitsrechts kanalisiert: Nicht automatisch hatte jeder Commonwealth-Bürger ein Niederlassungsrecht in Großbritannien.
Großbritannien ist heute eine europäische Mittelmacht mit einer Berufsarmee. Nach den Daten des britischen Verteidigungsministeriums, die dieses jährlich im April veröffentlicht und die für 2007 und 2008 noch provisorisch sind, betrug die Truppenstärke im April 2008 187 060 Personen. Hinzu kommen 3860 Angehörige des Gurkha-Regiments, die in Nepal rekrutiert werden. Die Verteidigungsausgaben machen circa 2,5 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Die Streitkräfte sind so aufgestellt, dass sie sich in nur einem einzigen militärischen Konflikt engagieren können und daneben eine kleinere Aufgabe zu meistern in der Lage sind. Weltweite Bedeutung hat Großbritannien als einer der Nuklearstaaten mit Sitz im UN-Sicherheitsrat.
In den 14 britischen Überseegebieten leben noch circa 231 000 Menschen, die meisten davon in der Karibik (Bermuda 2007: 64 000 Einwohner, Cayman Islands 2006: 53 252 Einwohner). Umstrittene Überseegebiete sind zum einen noch die Falkland-Inseln, um deren Besitz 1982 Krieg geführt wurde und auf die Argentinien noch heute Anspruch erhebt. Zum anderen erkennt Spanien die Zugehörigkeit des Felsens Gibraltar zu Großbritannien nicht an, die die 27 000 Einwohner Gibraltars allerdings in ihrer Mehrheit befürworten.
Sonderbeziehungen zu den USA
Die Sonderbeziehungen Großbritanniens zu den USA beruhen auf historisch-kulturellen Gemeinsamkeiten, einer engen Allianz in den beiden Weltkriegen und nicht zuletzt auf den häufig besonders guten persönlichen Beziehungen der Regierungschefs. In politisch-kultureller Hinsicht ist nicht nur von Bedeutung, dass die USA ihre Wurzeln in den ehemaligen britischen Kolonien der Neu-England-Staaten an der amerikanischen Ostküste haben, die im 17. Jahrhundert von in England religiös verfolgten Protestanten gegründet wurden. Britisches politisches Denken beeinflusste auch die Debatten um die amerikanische Staatsgründung. Der britische Vordenker der konstitutionellen Monarchie, John Locke (1632-1704), hatte mit anderen Vertretern der Whig-Partei bereits 1688 eine Verfassung für die nordamerikanische Kolonie Carolina konzipiert und gab den amerikanischen Verfassungsvätern in der Folgezeit die wohl wichtigsten geistigen Anregungen.
Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten sich die Gesellschaften in den USA und Großbritannien weitgehend ohne staatliche Vorgaben. In den USA prägte die auf Einwanderung und Eigeninitiative beruhende Eroberung des Westens die politische Entwicklung. Großbritannien wurde zum Mutterland der "industriellen Revolution", die auf den Erfindungsreichtum und den Unternehmergeist seiner Bürger zurückzuführen war. Im Unterschied zu den kontinentaleuropäischen Ländern galt die Modernisierung der Gesellschaft sowohl in den USA als auch in Groß-britannien nicht als Aufgabe des Staates. In beiden Ländern ist deshalb das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre eigene Fähigkeit, pragmatische Lösungen für Probleme zu finden und auch Verantwortung für Mitbürger, zum Beispiel durch Spenden- und Sponsorentätigkeit zu übernehmen, bis heute ausgeprägt. Mit dem politischen Aufstieg der USA im 20. Jahrhundert änderten sich auch die Muster des Kulturtransfers. Dieser geht heute eher von Amerika aus. Ohne sprachliche Übertragungsprobleme erreicht Hollywood das britische Massenpublikum in Film und Fernsehen und schafft gesellschaftliche Vorbilder.
In den beiden Weltkriegen entwickelte sich ein enges Militärbündnis zwischen den USA und Groß-britannien, das auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fortlebte. Trotz mehrjähriger heftiger Proteste der Friedensbewegung gegen die Stationierung von amerikanischen Cruise Missile-Raketen auf britischem Boden hielten alle britischen Regierungen an diesem NATO-Beschluss fest. Und trotz ihrer Bedenken wegen des damit verbundenen Bruchs internationalen Rechts erlaubte die Regierung Margaret Thatchers 1986 als einzige in Europa den USA, den Luftraum und die Flugplätze des Landes für einen militärischen Vergeltungsschlag gegen Libyen zu nutzen. Die USA kooperierten ebenso bereitwillig im Falkland-Krieg mit Großbritannien, obwohl das Land auch die herrschenden Militärs in Argentinien unterstützte. Die Informationen der amerikanischen Satellitenaufklärung trugen wesentlich zum britischen Sieg im Falkland-Krieg bei. Großbritannien war auch immer die erste europäische Macht, die sich an der Seite der USA im Konflikt mit dem Irak engagierte. Am Golfkrieg 1991 nahmen circa 43 000 britische Soldaten teil, und Ende des Jahres 1998 beteiligte sich Großbritannien an der Bombardierung des Irak. 2003 entsandte Tony Blair erneut Truppen in den Irak trotz einer Demonstration von einer Million Menschen in London gegen den Krieg.
Grundlage gemeinsamer Außenpolitik ist neben militärischer Zusammenarbeit eine große Übereinstimmung zwischen beiden Ländern hinsichtlich des Einsatzes für die Durchsetzung demokratischer Prinzipien und das Respektieren von Menschenrechten unter Anerkennung der weltpolitischen Führungsrolle der USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Übereinstimmung in politischen Grundwerten gilt als so unspektakulär, dass von ihr häufig kaum Kenntnis genommen wird.
Besonders enge persönliche Beziehungen gab es zwischen dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und Premierministerin Margaret Thatcher sowie den Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush und Premierminister Tony Blair. Bill Clintons Wahlkampf, seine Art auf die Bürger zuzugehen und der Image-Wandel seiner Partei vom Anwalt des Wohlfahrtsstaates hin zum Verfechter einer an Effizienz und Leistungsfähigkeit der Wirtschaft orientierten Politik wurden zum Vorbild und Erfolgsrezept für Tony Blairs Kampf um die Regierungsmacht. Nach dem Ende der Amtszeit Clintons und insbesondere nach den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 wurde Tony Blair der wichtigste außenpolitische Verbündete von Präsident George W. Bush. Große Übereinstimmung gab es zwischen beiden Regierungschefs auch in wirtschaftspolitischen Grundpositionen, insbesondere im Hinblick auf eine positive Bewertung der Globalisierung.
Britische Europapolitik
Großbritannien schloss sich der EG erst 1973 an, nachdem erste Verhandlungen 1961 bis 1963 über seine Beteiligung am französischen Veto gescheitert waren. Der Beitritt kam zu einem Zeitpunkt, als die von der ersten Phase der europäischen Integration ausgehenden wirtschaftlichen Wachstumskräfte ihre Wirkung bereits verloren hatten und die EG-Länder sich mit den Auswirkungen des weltweiten Ölschocks konfrontiert sahen. Diese widrigen ökonomischen Umstände schienen die britischen EG-Kritiker zu bestätigen, die von einem EG-Beitritt keinerlei Vorteile für ihr Land zu erkennen vermochten. Hauptargument der EG-Gegner war und ist ihre Befürchtung, dass die Souveränität des britischen Parlamentes bei Entscheidungen über zentrale Anliegen der britischen Politik durch die Übertragung von Zuständigkeiten auf die Institutionen der EU ausgehöhlt wird. Die konservativen Kritiker sehen hierin einen Verfassungsbruch, die politische Linke befürchtete in den 1970er Jahren, dass die EG ihr nationale Entscheidungen für eine sozialistische Politik unmöglich machen könnte.
Labour-Regierungen und konservative Regierungen haben die Rolle Großbritanniens in der EU in der Praxis meist sehr ähnlich definiert. Für sie blieb die EU eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft, ein Absatzmarkt für britische Güter und - im Hinblick auf den Abbau von Handelsbarrieren im gemeinsamen Binnenmarkt seit 1993 - eine wettbewerbspolitische Herausforderung.
Für die konservative Regierung befand sich die Zustimmung zum europäischen Binnenmarkt im Einklang mit der marktwirtschaftlichen Ausrichtung ihrer Politik. Eine Vertiefung der politischen Integration im Unterschied zu der von ihr geförderten wirtschaftlichen Integration wurde von der Regierung Thatcher dagegen vehement abgelehnt. Die oppositionelle Labour Party vollzog in den 1980er Jahren einen weitgehenden Wandel von der Europaskepsis hin zur Hoffnung auf Europa. Diese Umorientierung wurde ihr auch durch innenpolitische Entwicklungen erleichtert. Die europakritische Haltung der Regierung Thatcher konnte als Außenseiterposition in Europa kritisiert werden. Politische Forderungen der Labour Party, vor allem im sozialen Bereich, fanden Bestätigung in der europäischen Politik (Beispiel: Europäische Sozialcharta).
QuellentextBeitrittsmotive im Zeitenwandel
[...] Warum ist Großbritannien den Europäischen Gemeinschaften, also der heutigen EU, beigetreten? [...] Ein Hauptbeweggrund für den Beitritt war ganz eindeutig "decline", also die Erfahrung des zumindest relativen Niedergangs. [...] Auch wirtschaftlich hat man in den 60er Jahren das Gefühl gehabt, die EWG der Sechs erlebe ein "Wirtschaftswunder", erreiche hohe Wachstumsraten, und Groß-britannien werde zum kranken Mann Europas.
Aber wirklich auffallend an diesen Quellen aus den 60er und 70er Jahren ist die politische Motivation, nicht die wirtschaftliche. Zunächst einmal fällt auf, dass im Kontext des Kalten Krieges - und dieser Kontext ist sehr wichtig - die sicherheitspolitische Bedeutung eines starken und kohäsiven Westeuropa von den Briten immer wieder betont wird, auch in den öffentlichen Debatten zum EG-Beitritt Anfang der 70er Jahre. Das tat auch Margaret Thatcher, die den Beitritt damals freudig befürwortete. Ein starkes und einiges Europa wurde auch - und das ist für die Briten immer wichtig - ausdrücklich von den Vereinigten Staaten gewollt und unterstützt. [...] Das war gerade für die Regierungen von Harold Mac-Millan und Harold Wilson ausschlaggebend, weniger für jene von Edward Heath.
Das Leitmotiv dieses Entscheidungsprozesses ist jedoch ein anderes, nämlich die Obsession der britischen Eliten von "the world role", der Rolle Britanniens in der Welt. Großbritannien soll "groß" bleiben - es gilt, "to keep the great in Great Britain". [...] Und diese postimperiale Angst der Briten, nicht mehr zu sein als [...] eine kleine Insel jenseits des Kanals, ist wirklich ein ausschlaggebendes Motiv.
[...] Diese Obsession von der Weltrolle geht einher mit einer Obsession von dem, was man im Englischen "leadership" nennt: Führung. Wir müssen führen. [...] Willy Brandt hat dies wunderbar festgehalten nach einem Besuch des damaligen britischen Außenministers George Brown 1967, als es um den zweiten Antrag auf EG-Mitgliedschaft ging. Willy Brandt zitiert George Brown folgendermaßen: "Willy, you must get us in so we can take the lead." Eine treffende, aber zugleich fast parodistische Zusammenfassung: Ihr müsst uns reinbringen, damit wir die Führung übernehmen können!
Das war allerdings ein Beweggrund der Eliten, nicht des Volkes, nicht der öffentlichen Meinung. Das Volk wurde nicht gefragt. Erst Anfang der 60er Jahre machte man sich Sorgen um die öffentliche Meinung. [...] Es kam zum Volksentscheid im Januar 1975. Nach einer Gallup-Meinungsumfrage waren 55 Prozent der Briten für einen Austritt aus der EG, nur 45 Prozent für das Drinbleiben. Also machte man eine große Propagandakampagne und bekam eine "Ja"-Entscheidung: 67 zu 33 Prozent.
[...] Wie beantworten die Briten heute die Frage, im Präsens: Warum gehört Großbritannien zur Europäischen Union? [...] Trotz all der leidenschaftlichen Debatten über Europa in Großbritannien wird diese zentrale Frage sehr wenig und schon gar nicht systematisch gestellt. Die britische Öffentlichkeit antwortet selber, wenn sie befragt wird: Wir wissen unglaublich wenig über die EU; wir vertrauen bei diesem Thema unseren eigenen Zeitungen nicht; wir vertrauen den europäischen Institutionen nicht; es ist uns sowieso ziemlich egal.
[...] Wenn man versucht, Bilanz zu ziehen, kommt man ganz schnell zu dem, was man im Englischen die "counterfactuals" nennt, also zu den Alternativhypothesen: was wäre, wenn? Für die Pro-Europäer: Was wäre, wenn es die Europäische Union nicht gäbe? Hätten wir noch den größten Binnenmarkt der Welt? Wären die meisten Länder Europas Demokratien? Gäbe es Frieden auf dem ganzen Kontinent? Für den Euroskeptiker ist die große hypothetische Frage: Was wäre, wenn Großbritannien austräte? [...]
Denn Großbritannien ist nicht mehr das, was es einmal war. Schon aufgrund der Devolution spielen die schottische und die walisische Meinung eine bedeutende Rolle. Das geht ja so weit, dass bei den Nationalisten der Scottish National Party spekuliert wird: Wenn die Engländer sich entscheiden, aus der EU auszutreten, dann treten wir aus dem Vereinigten Königreich aus und wechseln sozusagen die Union. Wir gehen von einer Union zur anderen, vom United Kingdom zur Europäischen Union. [...]
Auch der geopolitische Kontext hat sich vollkommen verändert. Man braucht Europa nicht länger gegen die Sowjetunion zu stärken - die gibt's nicht mehr. Die Amerikaner sind gar nicht mehr so begeistert über die europäische Integration und die Rolle Großbritanniens in Europa, manchmal stehen sie der sogar ausgesprochen negativ gegenüber. Das wirtschaftliche Verhältnis zwischen Britannien auf der einen Seite und Frankreich und Deutschland auf der anderen hat sich gewandelt. Damals: Wirtschaftswunder Deutschland, England als kranker Mann Europas; heute, zumindest in der Perzeption Gordon Browns: Wirtschaftswunder Großbritannien, Deutschland als kranker Mann Europas. Ich rede nur von der Perzeption.
Hinzu kommt die Erweiterung: Die Europäische Union der 25 ist natürlich eine völlig andere Union und wird allein deswegen kein föderalistischer Superstaat sein. Und nach dem französischen "Nein" zum Verfassungsvertrag sowie fortschreitender Erweiterung befürchten manche Franzosen, wie Alain Duhamel es am Abend des französischen "Nein" zusammengefasst hat, "c'est peut-être la naissance de l'Europa anglaise" - es sei vielleicht die Geburtsstunde des britischen oder des englischen Europa, ein lockerer Zusammenschluss, ein "Commonwealth" Europas, eine immer breitere Freihandelszone. Denn in Großbritannien wird diese kontinentale Sicht überhaupt nicht wahrgenommen. [...] Wir bekommen vielleicht ein britisches Europa, aber die Briten werden die Letzten sein, die das begreifen.[...]
Timothy Garton Ash, "Warum gehört Großbritannien zu Europa?", in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2006, S. 701 ff.
Andauernde Europaskepsis
Nach Margaret Thatchers Rücktritt 1990 schien eine konstruktivere britische Europapolitik möglich. Ihr Nachfolger John Major sprach davon, er wolle die britische Politik im Herzen Europas ansiedeln. Die Verhandlungen über den Maastrichter Vertrag wurden von Großbritannien 1991 aber wieder im alten Stil der Abgrenzung von den Partnerländern geführt. Großbritannien setzte seinen Anspruch durch, in der Europäischen Währungsunion und hinsichtlich der Sozialcharta eigene Wege gehen zu dürfen. Um jegliche Hinweise auf die zukünftige Gestalt Europas zu vermeiden, verhinderte John Major erfolgreich die Aufnahme des Begriffs "föderal" in das Maastrichter Vertragswerk.
Der innerparteiliche Konflikt zwischen Euroskeptikern und europafreundlichen Abgeordneten spaltete die Konservative Partei und sorgte für ein äußeres Erscheinungsbild der Tories, das entscheidend zu ihrer Wahlniederlage 1997 beitrug.
Die 1997 neugewählte Regierung Blair nahm die europafreundliche Rhetorik aus der ersten Regierungszeit John Majors wieder auf. Im ersten Regierungsjahr übertrug sie der Zentralbank (Bank of England) die alleinige Verantwortung für die Gestaltung der Zinspolitik und vollzog damit den ersten Schritt zur Unabhängigkeit der Zentralbank, die eine der Voraussetzungen für die Teilnahme am Euro ist. Außerdem trat sie der Sozialcharta bei.
Weitere Integrationsschritte innerhalb der EU trafen aber auch bei der Regierung Blair auf Vorbehalte. Das Ziel der politischen Union war für sie keine Meßlatte für den Erfolg ihrer Politik. Die Regierung Blair sprach lieber von europäischer Kooperation als von Integration. Das angekündigte Referendum über den Beitritt Großbritanniens zum Euro fand nie statt, weil Tony Blair fürchtete, diese Abstimmung zu verlieren. Ein Referendum zum Lissaboner Reformvertrag von 2007 möchte Gordon Brown aus dem gleichen Grund vermeiden. Er reiste nicht einmal zur offiziellen Unterzeichnungszeremonie an, um für die britische Öffentlichkeit die geringe Bedeutung des Vertrags zu demonstrieren. Die Vertiefung der europäischen Integration wird von Gordon Brown noch stärker blockiert als von Tony Blair. Die Erweiterung der EU, auch um die Türkei, wird als politischer Hebel hierfür gesehen. An einer Reihe von Integrationsfortschritten, wie dem Euro, dem Schengen-Abkommen (Europa ohne Grenzkontrollen), der Sicherung sozialer Rechte und der Grundrechtecharta, beteiligt sich das Vereinigte Königreich nicht. In ökonomischen und sozialen Fragen gab es bislang einen Grundsatzkonflikt zwischen der britischen Position einer freien Marktwirtschaft und der kontinentaleuropäischen einer sozialen Marktwirtschaft. Es bleibt abzuwarten, ob die Übernahme von Bankanteilen in Staatsbesitz, die im Oktober 2008 erfolgte, um im Zuge der Finanzkrise das Finanzsystem vor dem Zusammenbruch zu retten, in eine grundsätzliche Neuorientierung mündet. In Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) unterscheidet sich die britische Position, die in der GASP eine Ergänzung zu den militärischen Kapazitäten der USA sieht, beispielsweise von der französischen, die für eine eigenständige Rolle Europas plädiert
Nachdem das Unterhaus im März 2008 mit 346 zu 206 Stimmen dem Vertrag von Lissabon zugestimmt hatte, ratifizierte das House of Lords den Vertrag im Juni. Nach vollzogener Unterschrift der Königin hat Großbritannien damit als 19. EU-Land den Vertrag angenommen. Ein hoher Anteil der Bevölkerung wäre jedoch lieber dem Vorbild Irlands gefolgt und hätte einem Referendum den Vorzug gegeben. Nach den Umfragedaten der EU hielten 2008 nur 30 Prozent der Briten die EU-Mitgliedschaft ihres Landes für eine gute Sache.
QuellentextUnterschiedliche Wellenlänge?
Die deutsch-britischen Beziehungen
Ginge es allein nach den öffentlichen Verlautbarungen, dann stünde es um das deutsch-britische Verhältnis glänzend. [...]
Doch im Tagesgeschäft stellt sich das bilaterale Verhältnis seit der deutschen Vereinigung häufig anders dar. Trotz wiederholter Anläufe scheint es bis heute nicht ganz zu gelingen, die für die Nachkriegsjahrzehnte so oft angeführte "Beklommenheit" (unease) abzulegen. Das hat sich beispielsweise auf deutscher Seite in der Sorge vor der Persistenz negativer Stereotypen im britischen Deutschlandbild ausgedrückt, insbesondere in Rückgriff auf die NS-Zeit. Anstöße, hier gegenzusteuern, die in den vergangenen Jahren sowohl die Deutsche Botschaft in London als auch das Goethe-Institut unternommen haben, waren nicht immer von Erfolg gekrönt.
Der deutsche Botschafter, Thomas Matussek, hatte zum Jahrestag des Kriegsendes Gelegenheit, den Rat seines britischen Kollegen in Berlin, Sir Peter Torry ("Die Deutschen sollten nicht so empfindlich reagieren") zu beherzigen. Der konservative "Sunday Telegraph" empfand es offenbar als absatzsteigernd, ein nachdenkliches Interview mit dem Botschafter im Innern des Blattes mit der provokanten Schlagzeile "German Ambassador: Get Over It" anzukündigen - ganz so, als habe der Botschafter nichts anderes im Sinn, als den Briten ihre Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu verleiden. Tatsächlich hatte sich Matussek besorgt darüber gezeigt, dass man in Großbritannien zu wenig über das zeitgenössische Deutschland wisse und die Gefahr bestehe, dass die jüngere Generation beider Länder auseinander driften könnte. Auch aus britischer Sicht sind die Vergangenheit und der Umgang mit ihr immer wieder Irritationspunkte. Auf Befremden stießen zuletzt die Debatte über den britischen Luftkrieg gegen deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg und die Forderung nach einer Entschuldigung, die zeitgleich zum Staatsbesuch von Königin Elisabeth II. im Oktober 2004 aufkam.
In einer groß angelegten Umfrage unter Jugendlichen zur wechselseitigen Wahrnehmung, deren Ergebnisse das Goethe-Institut und der British Council 2004 vorstellten, hieß es zum Deutschlandbild junger Briten: "Überraschenderweise sind der 2. Weltkrieg und die deutsche Nazi-Vergangenheit sogar für die junge Generation der Briten immer noch präsent." Während junge Deutsche viel über Großbritannien wüssten, es als "erfolgreiche multikulturelle Gesellschaft" beschrieben, die modern und zukunftsorientiert sei, sei der Kenntnisstand junger Briten über Deutschland eher gering: "Mit dieser Wissenslücke haben die jungen Briten eine etwas negativere Wahrnehmung Deutschlands." [...]
Zwar trifft es zu, dass die "guten Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien (...) inzwischen selbstverständlich geworden" sind. Echte Konfliktpunkte gibt es kaum. Die bereits Ende der achtziger Jahre als "stille Allianz" bezeichnete enge Kooperation funktioniert in vielen Bereichen völlig reibungslos. [...]Aber es besteht ein Defizit fort, das Anthony Nicholls zuletzt auf die Formel "Always Good Neighbours - Never Good Friends?" brachte. [...]
Auf deutscher Seite sind es im Wesentlichen die Enttäuschungen über die ambivalente und lavierende britische Haltung gegenüber der EU, die das Verhältnis beeinträchtigen. Hier sind beide Länder zu oft auf unterschiedlicher "Wellenlänge". Dabei dürfte es auch dann bleiben, wenn das für beide Staaten wichtigste außenpolitische Verhältnis, das zu den USA, deutscherseits nach den Belastungen während des Irak-Krieges wieder vollständig hergestellt sein sollte.
Ohne Zweifel werden Großbritannien und Deutschland gute Nachbarn bleiben, aber das große Potenzial, das in dem bilateralen Verhältnis steckt, wird sich erst entwickeln können, wenn sich die europapolitischen Vorstellungen annähern. Davon ist auf absehbare Zeit nicht auszugehen.
Henning Hoff, "Deutsche und Briten seit 1990, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47/2005