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Politische Willensbildung | Großbritannien | bpb.de

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Politische Willensbildung

Roland Sturm

/ 16 Minuten zu lesen

Queen Elizabeth II. mit Prinz Philip, dem Duke of Edinburgh im House of Lords in London am 17. November 1999. Mit deutlicher Mehrheit hat das britische Parlament am 7. März 2007 für eine radikale Reform des Oberhauses gestimmt. Mit 337 zu 224 Stimmen votierten die Abgeordneten für die Ausarbeitung eines Gesetzes, das anders als bisher die Wahl aller Mitglieder des House of Lords vorsieht. (© AP)

Einleitung

In Großbritannien gab es lange Zeit keine gesetzlichen Regeln für Parteien. Parteien wurden als Ausdruck gesellschaftlicher Initiativen verstanden, für die der Staat nicht verantwortlich ist und die er nicht mit Steuermitteln finanzieren sollte. Es gibt deshalb auch keine sehr verlässlichen Daten über die Entwicklung der Parteimitgliedschaften oder die Finanzierung der Parteien. Erst 1998 führte die Konservative Partei Mitgliedsbeiträge ein. Es kann aber festgehalten werden, dass sich aktive Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien weit eher in Interessengruppen verschiedenster Art organisieren als in Parteien. Die Zahl der Mitglieder aller Parteien wird auf 600 000 bis 700 000 geschätzt. Die Vogelschutzvereinigung (Royal Society for the Protection of Birds) alleine hat dagegen schon über 800 000 Mitglieder.

Alle britischen Parteien sind heute finanziell in Schwierigkeiten. Deshalb hat der Einstieg in die staatliche Parteienfinanzierung begonnen. 2001 trat der Political Parties Election and Referenda Act (PPERA) in Kraft, der von den Parteien einen jährlichen Rechenschaftsbericht verlangt, in dem alle lokalen Spenden über 200 Pfund und alle nationalen über 5000 Pfund auszuweisen sind. Der PPERA nennt auch eine Höchstsumme für die Wahlkampfausgaben der Parteien und verbietet Wahlkampfspenden aus dem Ausland. Das Gesetz führte einen Fonds aus Steuermitteln für die Programmarbeit der Parteien ein, der von der neugegründeten Electoral Commission verwaltet wird. Zusätzlich erhielten die Parteien Mittel, damit sie ihren neuen Berichtspflichten gerecht werden können, sowie eine stärkere finanzielle Unterstützung ihrer Fraktionsarbeit im Parlament. 2007 beschloss das Parlament, die einzelnen Abgeordneten bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit finanziell zu unterstützen.

Parteiensystem

Das britische Parteiensystem wird häufig als Zweiparteiensystem bezeichnet, weil sich in der Nachkriegszeit immer nur zwei Parteien, die Konservative Partei und die Labour Party, in der Ausübung der Regierungsmacht abwechselten. Die Zahl der Parteien im Parlament ist jedoch größer, und es ist heute schwierig geworden, von einem im ganzen Vereinigten Königreich auf gleiche Weise funktionierenden Parteienwettbewerb zu sprechen.

Konservative Partei

Die Konservative Partei (Tories) ist die Nachfolgepartei der Tory Party, der Partei des landbesitzenden niederen Adels, der gentry. Es gibt kein formales Gründungsdatum der Partei. Sie bildete sich in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Benjamin Disraeli (1804-1881) formte die Konservativen organisatorisch und programmatisch zu einer patriotisch orientierten potenziellen Volkspartei. Außenpolitisch sollte die Nation das gemeinsame Interesse am Erhalt und dem Erblühen des britischen Weltreiches (Empire) einen, und im Innern sollte eine Sozialreformgesetzgebung die Klassengegensätze abmildern.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg musste Großbritannien zwar von seinem Empire Abschied nehmen, die zunächst wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung der Partei fand aber genügend Anknüpfungspunkte in der Tradition des Konservatismus. Ihre Nachkriegspremiers Winston Churchill (1951-1955), Sir Anthony Eden (1955-1957), Harold Macmillan (1957-1963) und Sir Alec Douglas-Home (1953-1964) standen pragmatisch orientierten Mitte-Rechts-Regierungen vor, die sich an einigen wenigen ideologischen Grundsätzen orientierten. Es ging ihnen darum, nationale Traditionen und Institutionen zu verteidigen (Gott, König und Vaterland), die Freiheit des Individuums zu wahren und Staatseingriffe in die Wirtschaft zu begrenzen. Wirtschaftlicher Liberalismus paarte sich aber oft auch mit einem sozial motivierten Paternalismus, der sozialpolitische Korrekturen der Marktwirtschaft legitimierte. Edward Heath versuchte als Premier (1970- 1974) erfolglos, der Partei ein stärker wirtschaftsliberales Profil zu geben. Heathregierte als überzeugter Europäer und führte 1973 sein Land in die EG.

Erst Margaret Thatcher machte in den 1980er Jahren die Anhänger einer wohlfahrtsstaatlichen Politik zur Minderheit in ihrer Partei. Sie legte die Konservativen auf einen strikt marktwirtschaftlichen und der europäischen Integration kritisch gegenüberstehenden Kurs fest. Margaret Thatcher verkörperte ebenso wie schon ihr Vorgänger Edward Heath einen neuen Typ des Tory-Parteiführers. Beide waren soziale Aufsteiger und nicht, wie das für Parteiführer der Konservativen Partei vorher üblich war, Repräsentanten der Oberschicht. Heath war der erste Parteivorsitzende, der durch eine Wahl der Parlamentsfraktion der Konservativen Partei bestellt wurde. Vor 1965 beruhte die Auswahlentscheidung für dieses Amt auf internen Absprachen.

1997 wurde die Wahl des Parteivorsitzenden durch die Mitgliedschaft der Partei eingeführt. Eine Vorauswahl, die das Feld der Kandidat(inn)en auf zwei reduziert, trifft die Parlamentsfraktion. Seit 2005 führt David Cameron die Partei. Er galt zunächst als Reformer, der Labour die Meinungsführerschaft bei innenpolitischen Themen entreißen könnte, sah sich aber auch mit den langfristigen Problemen seiner Partei konfrontiert.

Ihre Mitgliedschaft ist nach eigenen Angaben von drei Millionen Mitgliedern 1950 auf circa 320 000 im Jahr 2005 gesunken. Viele der traditionellen Spender aus der Industrie haben sich als Geldgeber der Partei zurückgezogen. Die Mitgliedschaft der Partei ist überaltert. Folgenreich ist der weiterhin hohe Stellenwert einer Anti-Haltung zur Europäischen Union, der die Partei auch in der internationalen Zusammenarbeit Konservativer Parteien isoliert.

QuellentextNew Tory gegen New Labour?

[...]Ein gesellschaftlicher Stimmungswandel hat Großbritannien erfasst. Der Sieg der Konservativen bei den Kommunalwahlen am 1. Mai (2008 - Anm. d. Red.) zeigt: Die Konservativen werden nicht mehr als Antipartei betrachtet, die sich um niemanden kümmert, weil sie glaubt, das Individuum sei ohne den aufdringlichen Staat besser dran. Nein, die Tories sorgen sich, genauer: Ihr Vorsitzender David Cameron sorgt sich, und zwar mit taktischer Emotionalität.
Der Klimawandel liegt ihm am Herzen, er fühlt Verantwortung für die sozial Schwachen und versteht die Ängste des Normalverbrauchers, der mit steigenden Benzinpreisen zurechtkommen muss. Der Staat ist nicht länger das Feindbild, er übernimmt Verantwortung und mischt sich unverhohlen in die Angelegenheiten des Individuums ein. Iain Duncan Smith, Tory-Vordenker für Soziales, schlägt beispielsweise vor, den ärmsten Familien Sozialarbeiter ins Haus zu schicken, um ihnen aus dem Kreislauf von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Gewalt und Kriminalität herauszuhelfen. "Es gibt eine Form der sozialen Verwahrlosung, die vererbbar geworden ist", erklärt er. Der soziale Aufstieg aus der Unterschicht sei demzufolge nur "durch den direkten Eingriff des Staates" möglich.
Mit diesem Schwenk in die Mitte wiederholen die Tories ein Stück politische Geschichte. Labours Wahlsieg 1997 gelang erst, nachdem Tony Blair und der jetzige Premier Gordon Brown ihre Partei aus ihrer sozialistischen Tradition herausgelöst und sich soziale Gerechtigkeit mit Hilfe der Marktwirtschaft auf die Fahnen geschrieben hatten.
Insofern ist Cameron New Labours größter Erfolg. Offenbar hat er seinen größten Makel in den Augen der Wähler überwunden. Cameron ist nämlich ein toff, ein feiner Pinkel, der in Eton zur Schule ging und die High Society zu seiner Hochzeit auf dem Landsitz eines Vetters einlud. In dem egalitären gesellschaftspolitischen Klima der vergangenen vierzig Jahre hatten Sprösslinge der Oberklasse wie er keine Chance in der Politik.
Margaret Thatcher war die Tochter eines Kleinbürgers, ihr Nachfolger John Major der Sohn eines Zirkusartisten. Cameron ist der erste Zögling aus reichem Hause, der sich nicht für seine Herkunft entschuldigt. Mit einer ähnlichen Haltung hat der Tory-Kandidat Boris Johnson jetzt in der Londoner Bürgermeisterwahl erstmals eine Mehrheit der Wähler gewonnen.
Wie erklärt sich die plötzliche Wiederentdeckung der feinen Pinkel? Die Briten stecken schon seit einigen Jahren in der nationalen Sinnkrise. Nun besinnen sie sich auf die alte Idee von der Klassengesellschaft. Nach Einkommensgruppen aufgeteilt, gehören die meisten Briten heute der Mittelklasse an, gefühlsmäßig aber bezeichnen sich knapp sechzig Prozent als Mitglieder der working class. Zu diesen Wählern hat Labour inzwischen, etwa durch Browns unsoziale Steuerpolitik der vergangenen Wochen, den Bezug verloren. Labour gilt als Partei der Bürokraten, abgehoben und selbstzufrieden. Im Vergleich zu diesen grauen Funktionären wirken toffs wie Johnson und Cameron erfrischend und unkonventionell.
Mit ihrer Neujustierung, nah am Volk und politisch liberal, haben die Konservativen sich freilich so eng an der Seite von Labour positioniert, dass sie inhaltlich einigermaßen profillos dastehen. Die Tories wollen einen effizienteren Staat schaffen. "Wir sind die besseren Manager", sagt der Schatzkanzler im Schattenkabinett, George Osborne. Nur dass sich damit allein keine Wahl gewinnen lässt. Einer der intellektuellen Vordenker der Partei bringt es auf den Punkt: "Uns fehlt der Urtext. Wir wissen, was wir wollen und was wir können, aber damit wissen wir immer noch nicht, wofür wir stehen."
New Labour ließ sich leicht auf einen Punkt bringen. New Tory noch nicht.

John F. Jungclaussen, "Gefühl mit Kalkül", in: DIE ZEIT Nr.20 vom 8. Mai 2008

Liberale Demokraten

Bis 1920 hatte die Liberale Partei als zweite große Partei die britische Politik entscheidend mitbestimmt. Sie war die 1859 gegründete Nachfolgeorganisation der Whigs, der Partei des Großgrundbesitzes und der reichen Kaufleute. Die Hauptthemen des von William Gladstone (1809- 1898) geprägten Liberalismus des 19. Jahrhunderts waren die Förderung des Freihandels, der im Interesse des aufstrebenden industriellen Bürgertums lag, sowie eine Autonomieregelung für Irland, die Irland ein begrenztes Maß an Selbstregierung (Home Rule) gewährt hätte. Auch in anderen Fragen, wie der Erweiterung des Wahlrechts, der Abschaffung der Sklaverei, der Kinderschutzgesetzgebung, im Armenrecht, bei der Fabrikgesetzgebung, der Arbeitszeitregulierung oder der Kommunalverwaltungsreform, war die Liberale Partei die politische Vorkämpferin.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Liberalen als stärkste Oppositions- bzw. potenzielle Regierungspartei von der Labour Party abgelöst. Sie erreichten zwar bei Wahlen regelmäßig Stimmenanteile zwischen zehn und 20 Prozent, aber meist nicht mehr als ein Dutzend Parlamentssitze. Die Liberale Partei entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Hort der Kriegsgegner und der ökologisch orientierten Individualisten. Auch Anhänger der europäischen Integration, des Föderalismus, sowie der Einführung eines Verhältniswahlsystems suchten in ihr eine politische Heimat. Die Partei ist besonders engagiert in der Kommunalpolitik, in der sie ihre politische Basis hat. Hier kann sie auf ein großes Reservoir von Aktivisten mit Fachwissen in konkreten politischen Fragen, wie der Bildungs- oder der Gesundheitspolitik, zurückgreifen.

1988 schlossen sich die Liberalen mit der Sozialdemokratischen Partei, einer rechten Abspaltung der Labour Party, zu einer Partei namens Liberal Democrats zusammen. Erster neuer Parteivorsitzender wurde Paddy Ashdown, der diesen Vorsitz bis 1999 innehatte. Ashdown gab 1997 den traditionellen Kurs, gleichen Abstand zu den beiden großen Parteien zu halten, auf. Er sah die Zukunft der Liberal Democrats an der Seite der Labour Party. Heute ist die Frage der Nähe der Liberal Democrats zu einer der großen Parteien wieder offen. Die Liberal Democrats sind in vielen Politikbereichen, besonders in der Wirtschafts- und Gesellschafts-, Bürgerrechts- und Umweltpolitik, aber auch als Gegner der Beteiligung Großbritanniens am Irak-Krieg, links von der Labour Party angesiedelt. Anders als sowohl die Konservative Partei wie auch Labour befürworten über 90 Prozent ihrer Mitglieder höhere Steuern, um höhere Ausgaben des Staates zu ermöglichen. Die seit 2007 von Nick Clegg geführten Liberal Democrats haben circa 76000 Mitglieder.

Labour Party

Die Labour Party wurde im Jahre 1900 (damals noch unter dem Namen Labour Representation Committee, der heutige Name entstand 1906) von den Gewerkschaften als ihr politischer Arm gegründet. Das erklärt nicht nur die auch heute noch wichtige finanzielle Abhängigkeit der Labour Party von den Gewerkschaften, sondern auch ihre interne Organisation. Individuelle Mitgliedschaften und die kollektiven Mitgliedschaften von Gewerkschaften und sozialistischen Organisationen bestehen nebeneinander. Kollektive Mitgliedschaften entstehen dadurch, dass Organisationen, wie vor allem die Gewerkschaften, mit ihren Beiträgen Mitgliedsbeiträge für die Labour Party einziehen. Tony Blair setzte 1995 für Labour-Parteitage eine Obergrenze von 50 Prozent der Delegiertenstimmen aus dem Gewerkschaftslager durch. Die andere Hälfte der Delegiertenstimmen kommt aus den Wahlkreisvertretungen. Der Parteiführer, der bis 1981 allein von der Parlamentsfraktion bestimmt wurde, wird seitdem von einem Wahlgremium gewählt, dem Vertreter der Gewerkschaften, der Parteiverbände in den Wahlkreisen und der Abgeordneten angehören. Seit der letzten Parteireform von 1993 verfügen diese drei Gruppen über jeweils ein Drittel der Stimmen. 2007 verloren die Gewerkschaften das Recht, auf Parteitagen Resolutionen einzubringen.

In der Regierungszeit Clement Attlees (1945-1951), der überraschend die ersten Nachkriegswahlen gegen den Kriegspremier Winston Churchill gewann, wurden mit einer Politik der Verstaatlichungen und sozialpolitischen Reformen (unter anderem Gründung des National Health Service, des Nationalen Gesundheitsdienstes und Einrichtung eines Systems der umfassenden Sozialversicherung) die Grundlagen des britischen Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit geschaffen. Erst in den 1960er Jahren kam die Labour Party mit Harold Wilson an der Spitze (1964-1970) wieder in die Regierungsverantwortung, scheiterte aber mit ihrem wirtschaftlichen Modernisierungsprogramm nicht zuletzt am Widerstand der Gewerkschaften. Der Versuch Wilsons nach 1974 und seines Nachfolgers James Callaghan (1976-1979) durch gemeinsame Entscheidungen der Regierung mit den Gewerkschaften in der Lohn- und Einkommenspolitik sowie in der Preispolitik, einen Interessenausgleich mit den Gewerkschaften herbeizuführen, stürzte das Land in eine tiefe Wirtschaftskrise, die auch den Produktivitätsrückstand der britischen Wirtschaft deutlich machte. Die politische Allianz von Labour Party und Gewerkschaften zerbrach 1978/79 an der mangelnden Bereitschaft der Gewerkschaften, ihre Mitgliedschaft auf den unabdingbaren, aber schmerzlichen Weg der industriellen Restrukturierung in Großbritannien einzustimmen.

Im Zuge der programmatischen und organisatorischen Erneuerung der Labour Party, die der Parteivorsitzende Neil Kinnock 1983 begann und die seine Nachfolger John Smith (1992-1994) und Tony Blair konsequent fortsetzten, begann die Partei, die innerparteiliche Demokratie durch die Mobilisierung der individuellen Mitglieder zu stärken und von Staatseingriffen in die Wirtschaft sowie von der Europafeindlichkeit Abschied zu nehmen. In einem breiten innerparteilichen Diskussionsprozess setzte sich eine Orientierung an marktwirtschaftlichen Prinzipien durch. Seit 1993 wird auch darauf geachtet, dass sowohl die Vertreter der Wahlkreisorganisationen als auch die der Gewerkschaften vor ihrer Stimmabgabe bei Parteitagen das Votum ihrer Basis einholen.

Tony Blair "erfand" quasi mit der griffigen Bezeichnung New Labour die Partei neu und versuchte sie im Parteienwettbewerb jenseits von rechts und links als einzigen Hort vernünftiger und pragmatischer Politik zu positionieren. 2007 übernahm Gordon Brown die Führung der Labour Party. Er setzt weniger als sein Vorgänger auf politische Imagepflege. Das Schlagwort "New Labour" verschwand schon in den letzten Blair-Jahren aus der öffentlichen Debatte. Brown vertraute bis zum Einsetzen der weltweiten Finanzkrise im Herbst 2008 in ökonomischer Hinsicht weiterhin auf die hilfreichen Wirkungen der Märkte, sieht in der Europäischen Union vor allem eine Wirtschaftsvereinigung und stellt die Vertretung nationaler Interessen sowie die Bekämpfung des Terrorismus in den Vordergrund seiner Politik.

Die Labour Party hat sich vom sozialistischen Vokabular und der sozialistischen Programmatik getrennt. Hohen Symbolwert hierfür hatte die 1995 durchgesetzte Streichung des Artikels 4 aus dem Parteistatut, der die Partei zu einer Politik der Verstaatlichungen verpflichtete. Die Partei versucht, sich finanziell und organisatorisch, soweit dies möglich ist, von den Gewerkschaften zu lösen. Angesichts des Mitgliederrückgangs der Gewerkschaften ist dies ohnehin erforderlich. 2004 waren nur noch 22 der 199 Gewerkschaften kollektive Mitglieder der Labour Party. 2005 hatte die Labour Party circa 215 000 individuelle Mitglieder.

Parteien der nicht-englischen Territorien

Seit Anfang der 1970er Jahre hat sich das Parteiensystem Nordirlands von dem Großbritanniens abgekoppelt und orientiert sich nur noch an den Konfliktlinien in Nordirland. Auf der unionistisch-protestantischen Seite repräsentieren die aus der Konservativen Partei hervorgegangene Ulster Unionist Party die gemäßigte Strömung und die Democratic Unionist Party (gegründet und bis 2008 geleitet von Ian Paisley, dem früheren nordirischen Regierungschef) den schlagkräftigsten Teil der radikalen Strömung. Auf der nationalistisch-katholischen Seite ist das gemäßigte Gegenüber der Ulster-Unionisten die aus der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre hervorgegangene Social Democratic and Labour Party. Der radikale Flügel der Nationalisten unterstützt Sinn Féin, den von Gerry Adams geführten politischen Arm der Irisch Republikanischen Armee (IRA).

In Schottland und Wales hat sich ein Mehrparteiensystem etabliert. Neben den drei traditionellen britischen Parteien, der Konservativen Partei, der Labour Party und den Liberal Democrats, stellen sich auch nationalistische Parteien, sowie die Grünen erfolgreich der politischen Konkurrenz. In Schottland war die Labour Party lange Zeit mit großem Abstand die stärkste Partei. Heute wird sie von der Scottish National Party (SNP) herausgefordert, die die Konservative Partei als zweistärkste Partei abgelöst hat und seit der letzten schottischen Parlamentswahl 2007, bei der sie die Labour Party knapp überflügelte, eine Minderheitsregierung in Schottland stellt. Die Liberal Democrats und die Konservative Partei sind in Schottland heute die kleineren Parteien. In Wales waren die Nationalisten (Plaid Cymru) nicht ganz so erfolgreich, obwohl sie seit 2007 an einer Koalitionsregierung mit der Labour Party beteiligt sind. Dominierende Partei in Wales ist die Labour Party, zweitstärkste Kraft ist Plaid Cymru, gefolgt von der Konservativen Partei und den Liberal Democrats.

Wahlen

Wahlen finden in Großbritannien für das nationale Parlament in Westminster, die Parlamente in Nordirland, Schottland und Wales, für die Kommunalparlamente und für das Europaparlament statt. Bei Kommunalwahlen ist die Wahlbeteiligung traditionell niedrig (40 Prozent und weniger), bei Europawahlen lag sie oft noch deutlich darunter (1999: 24 Prozent, 2004: 38,2 Prozent). Auch bei nationalen Wahlen (general elections) hat die Wahlbeteiligung, die in der Regel zwischen 72 und 78 Prozent der Wahlberechtigten lag, deutlich abgenommen (2001: 59,4 und 2005: 61,2 Prozent).

Das traditionelle britische Wahlsystem ist das relative Mehrheitswahlsystem in Einpersonenwahlkreisen, auch first-past-the-post-System genannt. Als Abgeordneter gewählt ist derjenige Wahlkreisbewerber, der mehr Stimmen erreicht als irgendeiner der Mitkonkurrenten. Wer, symbolisch gesprochen - wie beim Pferderennen - zuerst den Kopf am "Zielpfosten" (first-past-the-post) vorbeischiebt, gewinnt. Die für die anderen Kandidaten abgegebenen Stimmen werden bei der Verteilung der Parlamentssitze nicht berücksichtigt. Das ganze Land wird zur Wahl der gegenwärtig 646 Unterhausabgeordneten in eine entsprechende Zahl von Wahlkreisen (constituencies) unterteilt. Die Gesamtzahl der Wahlkreise spiegelt die Bevölkerungsentwicklung wider. Es wird darauf geachtet, dass die Bevölkerungszahl in jedem Wahlkreis ungefähr gleich ist. Die Grenzlinien der Wahlkreise werden von vier unabhängigen Wahlkreiskommissionen (boundary commissions), je einer für England, Schottland, Wales und Nordirland, frühestens alle zehn Jahre und nicht später als alle 15 Jahre angepasst. Wahlberechtigt sind alle geistig gesunden Britinnen und Briten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und nicht Mitglieder im Oberhaus sind. Um gewählt zu werden, müssen Kandidaten 21 Jahre alt sein, dürfen nicht geisteskrank sein und nicht dem Oberhaus angehören. Sie dürfen keine Gemeinschuldner sein, nicht wegen Wahlbetrugs verurteilt sein, keine mehrjährige Gefängnisstrafe absitzen müssen, bestimmte öffentliche Ämter nicht innehaben, wie Berufsrichter, Civil Servant, Soldat oder Polizist, und sie dürfen kein bezahltes Kronamt angenommen haben.

Das Wahlsystem stellt eine enge Verbindung von Wahlkreis und Abgeordnetem her. Weil Minister einem der Häuser des Parlamentes angehören müssen, verlieren sie mit einer Niederlage in ihrem Wahlkreis auch jegliche Chance auf ein Regierungsamt. Der gewählte Abgeordnete ist für alle Bürgerinnen und Bürger seines Wahlkreises der traditionelle Ansprechpartner in politischen und sozialen Fragen aller Art und ihr "Botschafter" im Londoner Parlament. Er ist im Wahlkreis in der Regel gut bekannt, muss aber nicht alteingesessen sein, um Wahlchancen zu haben. Während des Wahlkampfes gehen vielfach die Kandidaten in ihrem Wahlkreis von Tür zu Tür, um möglichst direkt mit einer großen Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in Kontakt zu kommen. Ein britischer Wahlkampf ist weit kürzer und billiger als ein deutscher und kommt mit einem geringeren Einsatz von Werbemitteln, wie Plakaten oder Popkonzerten, aus.

Beim Ausscheiden eines Abgeordneten aus dem Parlament werden in seinem Wahlkreis Nachwahlen (by elections) abgehalten, um einen neuen Wahlkreisvertreter zu bestimmen. Pro Jahr finden durchschnittlich etwa fünf Nachwahlen statt. Sie nehmen häufig die Form von Popularitätstests der Regierung an. Allerdings sollten ihre Ergebnisse nicht überbewertet werden. Sie spiegeln meist lokale Umstände wider oder auch nur eine taktische oder temporäre Protesthaltung der Bevölkerung. Die Trends, die sich bei den Nachwahlen abzeichnen, werden daher bei den folgenden Parlamentswahlen selten in vollem Umfang bestätigt.

Politische Folgen des Wahlsystems

Wahlergebnisse in Großbritannien seit 1945

Das first-past-the-post-System ist in erster Linie ein mehrheitsbildendes Wahlsystem. Es verzerrt die Stimmenergebnisse regelmäßig zugunsten der großen Parteien und sorgt dadurch in der Regel für klare Mehrheiten, die eine Regierungsbildung ohne Koalitionspartner ermöglichen. Alleine die großen Parteien können sich in der Regel in einer ausreichenden Zahl von Wahlkreisen Siegeschancen ausrechnen. Die Stimmenanteile von kleineren Parteien reichen nur in einigen Wahlkreisen zum Sieg aus, entweder weil diese Parteien hier ihre Hochburgen haben oder weil aus taktischen Gründen die Anhänger einer der großen Parteien mit denen der kleineren Partei stimmen, um in einem bestimmten Wahlkreis die andere große Partei mit vereinten Kräften zu schlagen (taktisches Wählen). Die Folge ist eine Unterrepräsentation der kleinen Parteien im Parlament gemessen an ihrem Stimmenanteil. So erreichte beispielsweise die Allianz aus Sozialdemokraten und Liberalen 1983 einen Stimmenanteil von 25,4 Prozent, erhielt aber nur 3,5 Prozent der Sitze. Die Unterstützung für die Labour Party war bei der gleichen Wahl nur unwesentlich größer (27,6 Prozent). Sie erhielt aber 32 Prozent der Sitze. Bei der Wahl 1997 erzielte die Nachfolgepartei der Allianz, die Liberal Democrats, nur noch einen Stimmenanteil von 16,8 Prozent. Ihr Anteil an Parlamentssitzen wuchs aber dank taktischen Wählens vieler Labour-Anhänger, die für liberale Kandidaten stimmten, auf sieben Prozent. 2005 erhielten die Liberal Democrats 22 Prozent der Wählerstimmen. Das Wahlsystem "übersetzte" diesen Stimmenanteil in einen Anteil der Parlamentssitze von 9,6 Prozent.

Kritiker des britischen Wahlsystems fordern schon seit dem 19. Jahrhundert, dieses durch ein "gerechteres" und damit meinen sie, ein den Wählerwillen besser widerspiegelndes Verhältniswahlsystem zu ersetzen. In Nordirland war die durch das Mehrheitswahlsystem zementierte Unterrepräsentation des katholisch-nationalistischen Bevölkerungsteils eine der Ursachen für den Ausbruch des Nordirlandkonfliktes Anfang der siebziger Jahre. Seither gilt dort für Kommunal-, Parlaments- und Europawahlen das auch in der Republik Irland übliche single-transferable-vote-System (STV). STV führt zu einer stärkeren Berücksichtigung auch kleinerer Parteien, weil in jedem Wahlkreis mehr als eine Person gewählt wird (meist fünf oder sechs). Die Wählerinnen und Wähler haben je eine Stimme (single vote) und nummerieren die Kandidaten der Parteien nach ihren jeweiligen Präferenzen. Im Wahlkreis gewählt ist zunächst, wer genügend erste Präferenzen der Wähler auf sich vereint, umeine bestimmte Wahlzahl zu erreichen. Diese erste Zählung reicht für die Bestimmung aller Wahlkreisvertreter nicht aus. In nächsten Zählungen werden deshalb die schwächsten Kandidaten aus der Zählung herausgenommen. Die zweiten, dritten und weitere Präferenzen ihrer Wähler werden dann berücksichtigt (transferable vote), um weiteren Kandidaten zu ermöglichen, die Wahlzahl zu erreichen. Dadurch kann der relativen Stärke der Parteien in der Wählerschaft deutlicher Rechnung getragen werden, so dass in Nordirland beide Bevölkerungsgruppen adäquat repräsentiert werden. Das STV wird seit 2007 auch bei schottischen Kommunalwahlen angewandt.

Zusammensetzung des Unterhauses

Für die Wahlen zum schottischen Parlament und zur walisischen Versammlung, sowie für die Europawahlen 1999 wurden neue Wahlsysteme eingeführt. Die Abgeordneten der Europawahlen werden durch Verhältniswahl mit Hilfe regionaler Listen gewählt, die die Parteihauptquartiere zusammenstellen. Die Abgeordneten des schottischen Parlaments werden nach dem additional membership system (AMS) gewählt, also einem System, das zu den gewählten Wahlkreisabgeordneten noch entsprechend dem Kräfteverhältnis der Parteien nach Verhältniswahl gewählte Abgeordnete regionaler Listen hinzufügt.

Referenden

Der Prozess der politischen Willensbildung durch Wahlen wird ergänzt durch das Instrument des Referendums. Referenden waren in der britischen Politik bis zum Regierungsantritt Tony Blairs eher die Ausnahme. Dies ist nicht erstaunlich, denn nimmt man die Doktrin der Parlamentssouveränität ernst, so können Referenden keine Bindewirkung für die Gesetzgebung des Parlamentes haben. Die Bevölkerung jedoch nur für eine Art Meinungsumfrage an die Wahlurnen zu rufen, scheint nicht nur unsinnig, sondern auch politisch unklug. Kein Politiker kann es sich leisten, das bei Referenden erzielte Meinungsbild zu ignorieren. Referenden gibt es deshalb vor allem aus taktischen Gründen, wenn die amtierende Regierung eine Entscheidung nicht alleine verantworten wollte (gescheiterte Referenden über die Einrichtung von Regionalparlamenten in Schottland und Wales 1979) oder eine Entscheidung wegen eines Konfliktes innerhalb der Regierung vermeiden wollte (Referendum über den Beitritt zur EG 1975, JA-Stimmen: 67,2 Prozent, Wahlbeteiligung: 64,5 Prozent). Die Regierung Blair vertraute bei Entscheidungen in vielen Politikbereichen auf das Instrument des Referendums: Parlamente für Schottland und Wales (1997), Wiedereinführung des 1986 von der Regierung Thatcher aufgelösten Londoner Stadtrates (1997), Friedensabkommen für Nordirland (1998). So schuf sie Legitimation für die nachfolgende Gesetzgebung des Parlaments.

Wählerverhalten

Die Parlamentswahlen 2005 haben erneut bestätigt, dass das Wahlverhalten in Großbritannien, wie in allen anderen westlichen Demokratien, immer stärker von Themen und Präsentation der Kandidaten in den Medien und immer weniger von traditionellen Parteibindungen bestimmt wird. In den 1960er Jahren war die mit der sozialen Lage der einzelnen Wählerinnen und Wähler einhergehende Parteipräferenz relativ eindeutig bestimmbar. Die Konservativen galten als Partei der Wirtschaft und der Landbesitzer, also der Mittelschichten und der Reichen, während die Umverteilungsforderungen der Labour Party in besonderem Maße für die Arbeiterschaft und die Ärmeren in der Bevölkerung attraktiv waren. 1964 unterstützten circa drei Viertel der Wählenden aus der Mittelschicht die Konservative Partei und zwei Drittel der Wählenden aus der Arbeiterschaft die Labour Party. 2005 waren zwar entsprechend unterschiedliche Profile der konservativen und der Labour-Wähler noch zu erkennen, aber die Anteile für die Labour Party in den Mittelschichten und der Arbeiterschaft hatten sich deutlich angenähert und dasselbe gilt für die jeweiligen Wähleranteile der Konservativen Partei. Neben der abnehmenden Bedeutung sozialstruktureller Faktoren für die Wahlpräferenzen ist auch ein Rückgang der Parteiidentifikation zu beobachten. 1966 identifizierten sich 84 Prozent der Wähler stark mit einer der Parteien, 2005 waren es 45 Prozent. Damit wird es insgesamt verlockender für Wähler, sich kurzfristig und nach persönlichen Interessen sowie nach programmatischen und Kandidatenpräferenzen zu entscheiden und das vor allem die eigene Geldbörse betreffende Pro und Contra einer Wahlentscheidung ins Kalkül zu ziehen. Die britischen Wählerinnen und Wähler reagieren auf politische Alternativen immer weniger aufgrund bestimmter Überzeugungen, sondern immer mehr als "Konsumenten" des politischen Angebots.

Regional konzentriert sich die Unterstützung für die Labour Party auf Schottland und Wales sowie den englischen Norden und die englischen Großstädte. In Südengland konkurrieren häufig vor allem die Konservativen und die Liberal Democrats um die Wählerstimmen. Neben traditionelle Strukturen des Parteienwettbewerbs tritt heute der Wettbewerb um politische Schlüsselkompetenzen: Welcher Partei traut der Wähler beispielsweise eher zu, für eine florierende Wirtschaft zu sorgen oder Recht und Ordnung zu garantieren? Diese Schlüsselkompetenzen wurden nach 1945 traditionell eher der Konservativen Partei zugewiesen. 1997 war für die Konservative Partei ein Wendejahr. Der Partei war es nach dem durch die Finanzmärkte 1992 erzwungenen Austritt des Pfunds aus dem Europäischen Währungssystem nicht gelungen, die wirtschaftspolitische Meinungsführerschaft zurückzugewinnen. Die Labour Party profilierte sich zudem als Partei der "harten Hand" in der Politik der Kriminalitätsbekämpfung. Es wurde auch deutlich, dass die Konservative Partei erhebliche Defizite bei der Mobilisierung der Jungwähler, der Wähler aus ethnischen Minderheitengruppen und der weiblichen Wähler hat. Selbst das Unternehmerlager, auf das die Partei als Verbündeten immer zählen konnte, stand nicht mehr geschlossen hinter ihrem teilweise europaskeptischen Programm. Seit der Entscheidung Tony Blairs von 2003, Truppen in den Irak zu schicken, vor allem aber nach seinem Rücktritt, ist der Streit um politische Schlüsselkompetenzen zwischen den Parteiführern Cameron (Konservative) und Brown (Blairs Nachfolger) neu entbrannt.

QuellentextDebattenkultur

[...] Die Debatten von "Intelligence Squared" liefern einen intellektuellen Schlagabtausch, der seinesgleichen in der britischen Hauptstadt sucht. Man nennt sie schon "the hottest thing in town".
Die Streitgespräche folgen formal stets denselben Regeln: Je drei Kombattanten verteidigen die "motion", die Ausgangsthese, je drei halten dagegen. Diskutiert wird im Wechsel, unter strenger Aufsicht des chairman, der schon mal kräftig dazwischengeht, wenn die Redezeit überzogen wird: "Sie setzen sich sofort wieder hin!" Das Publikum stimmt zweimal ab, zu Beginn und gegen Ende. An den Stimmwanderungen lässt sich dann der wahre Sieger des Abends ermitteln.
Die Masterminds hinter "Intelligence Squared" ("Intelligenz hoch zwei") sind Jeremy O'Grady und John Gordon, beide erfolgreiche Medienunternehmer. Jeremy ist Chefredakteur von "The Week". John betreibt die Agentur Xtreme Information. Sie kennen sich aus Cambridge. Es war die Sehnsucht nach der universitären Debattenkultur, wie sie schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Cambridge und Oxford gepflegt wird, die sie dazu brachte, ihre Erfahrungen auf die hauptstädtische Bühne zu übertragen.
Beim ersten Debattenabend vor sechs Jahren versammelte sich nur ein Häuflein von Freunden und Bekannten. Mundpropaganda und eine gutsortierte E-Mail-Liste halfen. Heute sind binnen weniger Tage 300 Tickets verkauft für Streitgespräche wie: "Maggie Thatcher war die Retterin Großbritanniens", "Wer Afrika helfen will, soll es in Ruhe lassen" (mit Bob Geldof) oder "Monogamie ist nicht gut für die menschliche Seele". Fast jedes Thema lässt sich zur provokanten Kampfthese zuspitzen.
Mehrere Sponsoren haben sich inzwischen gefunden, und die Debatten werden regelmäßig fürs Fernsehen aufgezeichnet. Das ist durchaus im Sinne der Erfinder. Denn während sich zum Beispiel die Hochschul-Weltmeisterschaften im Debattieren am "British Parliamentary Style" orientieren, der eine intensive Mitwirkung des Publikums nicht vorsieht, will "Intelligence Squared" genau das: die Zuschauer einbinden und unterhalten.
Davon lebt denn auch so ein Abend in der Royal Geographical Society. Generäle, Minister, Professoren und Studenten finden sich ein - immer aber meinungsstarke Briten, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Über Sinn und Zweck eines Referendums zum Vertrag von Lissabon wurde am selben Abend gestritten, an dem auch das Unterhaus über Europa diskutierte. "Wir sind das Parlament von Knightsbridge", sagte der Moderator im vollbesetzten Theater. Da waren die Köpfe der Europa-Gegner im Publikum längst blutrot angelaufen. "Betrug", schallte es von der rechten Seite. "Alles Verräter", krächzte ein weißhaariger Herr mit Tweedkappe. "Ihr wollt unser Land aufgeben!" Dabei fuchtelte er so wild mit den Armen, dass sein Sitznachbar in Deckung gehen musste.
Außenwirkung ist bei den Happenings durchaus erwünscht. Das war schon das Prinzip der 1823 gegründeten Oxford Union Society, des wohl berühmtesten Debattierclubs der Welt. Malcom X trat dort auf oder Richard Nixon, gleich nach Watergate. Legendär die Debatte aus dem Jahr 1939, als zum Verdruss von Winston Churchill eine Mehrheit dafür stimmte, dass "dieses Haus" unter keinen Umständen für König oder Land kämpfen würde. Die Abstimmung, wurde später behauptet, soll sogar dazu beigetragen haben, dass Hitler seine Expansionspläne weitertrieb.
Fragen von Krieg und Frieden sind auch 70 Jahre später der Renner bei Intelligence Squared. Bei den Abenden über den Irak und Iran (Titel der Debatte: "Es ist besser, Iran zu bombardieren, als zu warten, bis es die Bombe hat") reichten die Kapazitäten der Royal Geographical Society nicht aus. Man wich aus in die Methodist Central Hall gegenüber von Westminster, wo 1946 die erste UN-Vollversammlung tagte.
Würden sich in Berlin 2000 Menschen finden, die jeweils 50 Euro zahlen für einen politischen Themenabend? Zwar erfreut sich in Deutschland das Debattieren vor allem an Schulen und Universitäten zunehmender Beliebtheit - der erste Debattierclub an einer deutschen Universität entstand 1991, und seither sind viele weitere gegründet worden. Doch ließe sich ein größeres Publikum dafür begeistern, abends, zur besten Sendezeit?
[...] Auch haben die Deutschen längst nicht so viel Übung in öffentlichen Auftritten wie die Bewohner der Britischen Inseln, die seit Generationen Darstellung und freie Rede trainieren. Die "English Speaking Union" (ESU) fördert "debating" schon an der Grundschule. Und im Kindergarten geben selbst die Kleinsten ihre Wochenenderlebnisse nicht etwa im Kreis sitzend zum Besten, sondern müssen auf dem Stuhl stehend zur Klasse reden: "Speakers' Corner" im Kleinformat.[...]

Jutta Falke-Ischinger, "Red du nur!", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. August 2008