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Die Anerkennung der Vielen

Meltem Kulaçatan

/ 14 Minuten zu lesen

Offene Gesellschaften treffen nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Skepsis. Denn sie stellen mitunter Gewohntes infrage und fordern zu neuem Interessenausgleich auf. Wie werden in einer modernen, pluralen, rechtsstaatlichen Demokratie Fragen der Identität, der Zugehörigkeit nach Geschlecht, Herkunft, Religion sowie der Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben ausgehandelt?

Die Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters Shermin Langhoff (4. v. l.) und die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan (1.v.l.) setzen sich mit der postmigrantischen Gesellschaft auseinander. Werkstattgespräch mit dem damaligen Außenminister und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Berlin 2014. (© picture-alliance, Eventpress Hoensch)

Das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft wurde in Deutschland zunächst in der Kunst- und Theaterszene etabliert. Ursprünglich stammt der Begriff "postmigrantisch" aus der Literaturwissenschaft und der Theaterszene Kanadas und bedeutet so viel wie "nach der Migration". In der Bundesrepublik Deutschland bezieht er sich auf den Zeitraum seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die prominenteste Vertreterin in Deutschland war zunächst die gegenwärtige Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin Shermin Langhoff. Sie und weitere Kunstschaffende setzten sich dafür ein, dass die Hochkultur in Deutschland, also die bildenden Künste, Literatur, Tanz und Theater, die Vielfalt der Gesellschaft abbilden müsse. Dazu kann es beispielsweise gehören, auch nicht-herkunftsdeutsche Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Kunstschaffende zu engagieren, um die Werke der deutschen Klassiker auf der Bühne darzustellen und zu vertreten.

Mit dieser Initiative verband sich die grundsätzliche, kritische Frage, weshalb der Beitrag dieser nicht-herkunftsdeutschen Menschen für die hiesige Gesellschaft bislang so wenig beachtet und repräsentiert wird. In ihrem 2015 erschienenen Aufsatz "Jenseits ethnischer Grenzen" griff die Kulturanthropologin Regina Römhild diesen Impuls auf und fragte, wie eine Gesellschaft dargestellt werden könne "die von Beginn an durch Migrationsbewegungen in jeder Hinsicht wesentlich geprägt ist". Der Begriff "postmigrantisch" fand in der Folge einen Eingang in die Wissenschaft und bildet seither neben seiner Anwendung auf den Bereich der Hochkultur eine wissenschaftliche Analysekategorie, auf die im Folgenden noch mehrfach eingegangen wird. Ein Beispiel dafür bietet die Migrationsforscherin Naika Foroutan in ihrem 2019 erschienenen Buch "Die postmigrantische Gesellschaft".

Auf Basis dieser Überlegungen sollen aktuelle Debatten in den Zusammenhang der postmigrantischen Gesellschaft sowie der hiesigen Geschlechterdiskurse eingeordnet und Frauen und Frauenrechte unter der erweiterten Perspektive einer pluralen und diversen Gesellschaft betrachtet werden. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Bedeutung und die konzeptionelle Dimension von Diversität. Landläufig werden darunter Attribute von Menschengruppen wie Geschlecht, Religionszugehörigkeit, soziale Herkunft und Staatsbürgerschaft verstanden. Bei Diversität im wissenschaftlichen Verständnis geht es darüber hinaus um sozial geschaffene oder wahrgenommene Unterschiede und Ungleichheiten sowie den gesellschaftlichen Umgang damit. (siehe auch Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, hg. von Beate Kortendiek u. a. 2019, S. 1053 ff.)

In einem zweiten Schritt erfolgt die gegenwärtige Einordnung. Ausgehend vom Geschlechterdiskurs in Deutschland werden Überlegungen zur Vielfalt in unserer Gesellschaft aufgegriffen, die eng mit den Vorstellungen über das Geschlechterverhältnis verknüpft sind.

Postmigrantische Gegenwartsbeschreibung

Die postmigrantische Gegenwartsbeschreibung nimmt verschiedene Entwicklungen in den Blick, die einerseits als spannungsgeladen, andererseits aber auch als positiv wahrgenommen werden. Migration muss, so der empirische Befund, als eine globale Normalität verstanden werden; sie ist keine Ausnahmeerscheinung. Dazu passt wenig die Besessenheit und Aufgeregtheit in der Diskussion um Migration, die die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus konstatiert und zur Frage veranlassen, ob in Migrationsdebatten überhaupt Migration verhandelt wird: "Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass es dabei nicht immer wirklich um Migration im Sinne der akademischen Definitionen von Wanderung geht. […] An Beispielen des Forschens, Sprechens und Lehrens über Muslim_innen lässt sich nachvollziehen, dass Migration als Label dient, mit dem Ausgrenzung legitimiert, geschaffen und thematisiert wird. Andere Ausgrenzungslabels wie Hautfarbe oder soziales Milieu geraten in den Debatten um Partizipation und Zugehörigkeit zwar in den Hintergrund, sind aber zweifelsohne weiterhin wirksam und schnell mobilisierbar." (so Spielhaus in ihrem 2018 erschienenen Aufsatz "Zwischen Migrantisierung von Muslimen und Islamisierung von Migranten", S. 138 f.).

In diesen Debatten und Überlegungen um Zugehörigkeit und Partizipation werden sogenannte hybride Lebensentwürfe zusammengefügt, also gemischte und zusammengesetzte (Lebens-) Erzählungen von Menschen der zweiten und dritten Migranten-Generation im deutschsprachigen Raum. Dem Migrations- und Bildungsforscher Erol Yıldız zufolge gehen diese Generationen mit den ihnen zugeschriebenen ethnischen Markierungen sowohl kreativ als auch subversiv um. Hybride Narrative erschließen sich damit als ein produktives, innovatives gesamtgesellschaftliches Potenzial. Es findet eine umgekehrte kulturelle Aneignung statt, die durchaus der Gesellschaft den Spiegel vorhält, sie also zum Blick auf sich selbst veranlasst. Eines der prominentesten Beispiele aus der Künstlerszene im deutschsprachigen Raum bietet die Schauspielerin und Kabarettistin I˙dil Nuna Baydar, die in ihrer Rolle als Kunstfigur "Jilet Ays¸e" der "Ghettobraut aus Berlin-Neukölln" auf Bild.de bzw. YouTube die ihr zugeschriebenen Merkmale als Türkin, Frau und Muslimin umkehrt und parodiert.

Die Politikwissenschaftlerin Sybille De la Rosa spricht in diesem Zusammenhang von einer Art notwendigem "Storytelling" – einer Erzählmethode, die es ermöglicht, die Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten und die einen "emotionalen Zugang zu Minderheitenpositionen ermöglicht". Dieses Potenzial leiste einen wesentlichen Beitrag zu einer Erweiterung demokratietheoretischer Ansätze und einer freiheitlich orientierten Gesellschaft.

Bei dieser Form der gesellschaftlichen Betrachtung – und das betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche wie die Lebenswirklichkeiten der Menschen, die Arbeitswelt, die Kunst und die Literatur – rücken Überschneidungen, Grenz- und Zwischenräume sowie simultane Zugehörigkeiten in den Vordergrund. Simultane Zugehörigkeiten können beispielsweise arabisch-deutsch, türkisch-deutsch, italienisch-deutsch sein oder weitere Mehrfachzugehörigkeiten. Die Betrachtungsformen eröffnen andere Sichtweisen auf die moderne Migrationsgesellschaft und stellen Menschen in den Vordergrund, die ansonsten wenig Repräsentation und Gehör erhalten.

Mit Blick auf die gesellschaftliche Analyse betont die Migrationsforscherin Naika Foroutan den Wert politischer Allianzen, die in der postmigrantischen Situation entstehen und Menschen mit und ohne Migrationshintergrund "auf der Basis einer geteilten Erfahrung oder Haltung” zusammenführen, um "Widerstand gegen Rassismus und Diskriminierung” zu leisten. Zwei Ziele stehen bei diesen Allianzen im Vordergrund: das Eintreten für eine plurale Gesellschaft sowie die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft mit der Weiterentwicklung des demokratischen Gleichheitsanspruchs.

Der Begriff postmigrantisch bietet darüber hinaus ein Analyseraster, das auch auf frauenrechtliche (In)Fragestellungen und Geschlechterdiskurse in der postmigrantischen Situation angewendet werden kann. Mit ihm lassen sich die Veränderungsprozesse gesellschaftlicher Strukturen und Vorannahmen kritisch in den Blick nehmen und Fragen danach stellen, wie die diverse Einwanderungsgesellschaft als gemeinsamer Raum in der pluralen Demokratie verstanden wird und ausgebaut werden kann. Die postmigrantische Situation ist eine Situation der stetigen Neuverhandlungen.

Frauen- und Geschlechterfragen werden zunehmend und immer deutlicher von Akteurinnen gestellt und diskutiert, die heterogene Herkunftsbiografien besitzen. Mit entsprechenden Allianzpartnerinnen untersuchen und kritisieren sie soziale Ungleichheitsverhältnisse, die auf das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen verschiedener Kategorien wie Race, Class und Gender zurückgehen. Race – Herkunft, vielfach mit dem zu problematisierenden Begriff Ethnie im Deutschen übersetzt – Class – soziale Herkunft – sowie Gender – also das soziale Geschlecht – bieten Analysegrundlagen, um politische Forderungen und Ansprüche zu repräsentieren, in Frage zu stellen und zu verhandeln. Die genannten Faktoren lassen sich unter dem Oberbegriff Intersektionalität als Analysekategorie zusammenfassen. Mit ihr benennt und untersucht man die komplexen Beziehungen und Verflechtungen auf Basis von Geschlecht, Herkunft, sozialer Ungleichheit und Diskriminierungserfahrungen. Die Soziologin Floya Anthias erweitert sie um ein Mehrebenenmodell. Dazu gehören a) die Ebene der Diskriminierungserfahrung, b) die Akteursebene, c) die institutionelle Ebene und d) die Ebene der Repräsentation.

Diversität in der Stadtgesellschaft

Frankfurt ist die internationalste und folglich diverseste Großstadt in ganz Deutschland. So jedenfalls das Ergebnis des Entwurfs eines Integrations- und Diversitätskonzepts, das 2009 und 2010 für das Dezernat für Integration der Mainmetropole erstellt wurde. In Frankfurt leben circa 750.000 Menschen. Ungefähr die Hälfte von ihnen stammt aus einer Familie mit Zuwanderungsgeschichte. Dabei sind 177 Sprachen in Frankfurt vertreten. In den Stadtteilen Bockenheim und Gallus ist die Sprachenvielfalt am Größten. Das Amt für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) in Frankfurt erklärt dazu, dass eine moderne Integrationspolitik folgendes beinhaltet: "Ziel einer modernen Politik der Vielfalt ist die Herstellung von Chancengleichheit und Akzeptanz. Die Stadt ist gefordert, ein konfliktarmes Zusammenleben der Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zu fördern. Das Frankfurter Integrations- und Diversitätskonzept formuliert Integrationspolitik daher als eine Gesamtstrategie, die in alle Politik- und Gesellschaftsbereiche hineinreicht".

Deutlich wird in dieser Ausrichtung, dass es sich um gesamtpolitische gesellschaftliche Aufgaben handelt, die alle Menschen betreffen. Oberstes Ziel ist dabei, die Chancengleichheit in einer von Diversität und pluralen Lebenswirklichkeiten geprägten Stadt zu ermöglichen. Zum Selbstverständnis des AmkA in Frankfurt gehören auch die Belange von gleichgeschlechtlichen Paaren sowie der Einsatz gegen Homo- und Transfeindlichkeit. Das AmkA beteiligt sich seit 2004 jährlich am Internationalen Tag gegen Homo- und Transfeindlichkeit (IDAHOT), der jeweils am 17. Mai stattfindet: "Der IDAHOT steht jedes Jahr unter einem eigenen Motto. Im Jahre 2016 war der Schwerpunkt ‚Mentale Gesundheit‘, 2017 kreiste alles um ‚Junge LSBTIQs und Familien‘, während 2018 ‚Alliances for Solidarity‘ (‚Allianzen für Solidarität‘) in den Vordergrund gerückt wurden. Kranzniederlegungen am Frankfurter Engel, einem Mahnmal der Homosexuellenverfolgung, finden jedes Jahr ebenso statt wie Community-Veranstaltungen. Sie thematisieren ebenso wie die Gedenkveranstaltungen den Ausschluss, die Gewalterfahrungen und die Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität."

Darüber hinaus hat sich die Stadt Frankfurt an der "Erklärung der Vielen" beteiligt. Dabei handelt es sich um eine bundesweite Aktion in Deutschland. Kultur- und Kunstschaffende sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Bildung und Wissenschaft beteiligen sich daran. Die Unterzeichnenden betonen die Bedeutung demokratischer und künstlerischer Freiheit, die zunehmend beispielsweise von Seiten rechtspopulistischer Parteien bzw. Strömungen in Frage gestellt wird. Die Mainmetropole setzt sich so gegen jede Form von Rassismus, Homo- und Transphobie, Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus und Islamophobie ein.

Diversität in der Arbeitswelt

Diversität als Konzept lässt sich unterschiedlichen Disziplinen wie der Soziologie, der Sozialpsychologie oder der Politikwissenschaft zuordnen. In Deutschland findet sich das Konzept im wirtschaftlichen Bereich, also in der Arbeitswelt, als Diversity Management wieder. In der "Charta der Vielfalt" werden die Vorteile von Diversität im Arbeitsleben wie folgt beschrieben: "Die Umsetzung der ‚Charta der Vielfalt‘‚ in unserer Organisation hat zum Ziel, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Vorurteilen ist. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht und geschlechtlicher Identität, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität. Die Anerkennung und Förderung dieser vielfältigen Potenziale schafft wirtschaftliche Vorteile für unsere Organisation."

Das Konzept zielt darauf ab, Menschen allein aufgrund ihrer individuellen Eigenschaften anzuerkennen. Eine jüngere Entwicklung, die sich an diese Forderung anschließt, ist die Einführung der Geschlechterkategorie "divers". Seit dem 1. Januar 2019 wird sie in Deutschland neben männlich und weiblich anerkannt und beispielsweise in Stelleninseraten sichtbar. Hintergrund ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017, wonach die bloße Entscheidung zwischen weiblich und männlich gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht verstößt. Demzufolge muss ein drittes Geschlecht in das Personenstandsregister aufgenommen werden, denn: "Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, werden in beiden Grundrechten verletzt, wenn das Personenstandsrecht dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt".

Zu den Betrachtungsebenen von Diversität zählen also die Herkunft eines Menschen, das Alter, das Geschlecht, die Religionszugehörigkeit, die sexuelle Orientierung sowie gegebenenfalls eine Behinderung, die unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Was sich in der Charta der Vielfalt unter dem Begriff Diversity Management zunächst kompliziert anhört, lässt sich beispielsweise in der Arbeitswelt einfacher umsetzen, als zunächst vermutet: Die Autorin und Journalistin Teresa Bücker erklärte in einem Interview im Rahmen dieses Beitrags am 2. März 2019 mit Blick auf eine diverse Unternehmenskultur folgendes: "Aus meiner Erfahrung arbeiten Menschen am besten, wenn sie privat keinen Stress haben. Wichtig ist die gegenseitige Unterstützung für alle. Ich denke, wenn alle Teammitglieder sehen, dass sie diese Unterstützung auch bekommen, dann ist das Verständnis zum Beispiel für Eltern auch da. Und man lernt über die Einstellung auf Eltern mit anderen Situationen umzugehen, wie Todesfällen, Krankheiten und anderen Belastungssituationen, die alle Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen irgendwann einmal haben werden. So eine Kultur muss wachsen, aber es lohnt sich, das zu versuchen!".

Teresa Bücker zeichnet kein geschöntes Bild der modernen Arbeitswelt und der Arbeitssituation als solche. Vielmehr beschreibt sie deren Herausforderungen und hebt Kriterien und Lösungen hervor, die eine diverse Unternehmenskultur schaffen, verstetigen und als eine Selbstverständlichkeit gewährleisten. Obwohl Fragen im Zusammenhang einer modernen Unternehmenskultur häufig im Themenbereich von Familie und beruflicher Gestaltung diskutiert werden, beinhaltet der Anspruch, eine diversitätsfreundliche Unternehmenskultur zu schaffen, mehr als die bloße Sensibilität für Beschäftigte, die Eltern sind. Sensible Anpassungsstrategien, die das Ziel haben zu integrieren und nicht weitere ausschließende Mechanismen zu verstärken, bedürfen einer gemeinsamen Offenheit und eines gemeinsamen Bewusstseins, wie Teresa Bücker aus ihrer Arbeitspraxis und ihrer Rolle als Vorgesetzte beschreibt.

Diversität im Kontext von gesellschaftlichen Konfliktlinien

Die Vielfalt von Menschen und ihren Lebenswirklichkeiten wird oftmals dann in der Öffentlichkeit diskutiert, wenn gesellschaftliche Spannungen auftreten, die entsprechend politisch artikuliert werden oder als Gewährleistung von demokratisch verankerten Rechten eingefordert werden.

Zur Diversität und den damit verbundenen Herausforderungen und Spannungsverhältnissen gehören auch die gegenwärtigen Diskussionen über Integration, die freie Religionsausübung und die zunehmende Infragestellung der im Grundgesetz verankerten Religionsfreiheit.

In Deutschland besitzt fast jede vierte Person einen sogenannten Migrationshintergrund. Im Jahr 2017 waren das laut dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes 26,5 Prozent in Westdeutschland und 6,8 Prozent der Gesamtbevölkerung in Ostdeutschland. Das Bundesland mit den meisten Herkunfts-diversen Menschen ist Nordrhein-Westfalen (26,2 %). Zwei Drittel der Menschen mit Migrationsbiografie sind selbst in die Bundesrepublik eingewandert, ein Drittel ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Im Jahr 2017 hatten 39,1 Prozent der Kinder unter fünf Jahren in Deutschland familiäre migrationsbiografische Wurzeln. Von den insgesamt 19,3 Millionen Menschen mit migrationsbiografischer Herkunft waren im Jahr 2017 9,8 Millionen Deutsche und 9,4 Millionen Nicht-Deutsche.

Zu unserer Gesellschaft gehört also ein gewisses Maß an "Durcheinander" – so die Journalistin Carolin Emcke in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016 in der Frankfurter Paulskirche – bestehend aus unterschiedlichen Herkünften, Religionen, Muttersprachen, sexuellen Orientierungen sowie Traditionen und Bräuchen und der "Offenheit und Einfühlung" in die Vielfalt, mit denen das Alltagsleben gestaltet wird.

Dieses "Durcheinander" kann zuweilen zu Unbehagen oder gar Ablehnungen führen: In fast allen Ländern Europas sind politische Parteien sowie Gruppierungen aktiv, deren Programme mit Forderungen nach "homogenen Völkern" und "echten und ursprünglichen" Traditionen einhergehen. Sie positionieren sich gegen die offene Gesellschaft. Vielfältige Gesellschaften werden folglich abgelehnt.

Der Soziologe Aladdin El-Mafaalani spricht demzufolge von der mittlerweile größeren Sichtbarkeit von Menschen, die an einem Tisch mit Platz nehmen, der zuvor nur für ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen gedacht war. Dort möchten sie nun ihre Lebensvorstellungen sowie Forderungen einbringen und die Gesellschaft dadurch aktiv mit gestalten. Dazu gehören unter anderem Menschen mit Zuwanderungsbiografien, Trans-Menschen sowie Frauen, die sich für den weiteren und stärkeren Ausbau und gegen die Abwicklung von frauenrechtlichen Zielsetzungen einsetzen; es sind Menschen, die sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Islamfeindlichkeit engagieren, sowie Menschen, die ihre Stimmen für andere erheben.

Quellentext Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

[…] Experimentelle Studien […] für die Arbeitsmarktbeteiligung von Migrant*innen […] dokumentieren […] Diskrepanzen zwischen dem Versprechen der Gleichheit und der empirischen Realität.

Beispielsweise zeigte die Ökonomin [Doris] Weichselbaumer in einer IZA-Studie (In einem Feldversuch versendete die Wissenschaftlerin rund ein Jahr lang fast 1500 fiktive Bewerbungen an Unternehmen in Deutschland und analysierte die Rückmeldungen der Personalabteilungen), dass hier aufgewachsene Bewerberinnen mit besten Deutschkenntnissen und "deutscher" Bildungs- und Ausbildungsbiographie dennoch erheblich benachteiligt werden, wenn sie einen türkisch klingenden Namen haben und sich noch dazu auf dem Bewerbungsfoto mit Kopftuch zeigen. Bewerbungen mit typisch deutschen Namen, in dieser Studie "Sandra Bauer", bekommen in 18,8 % der Fälle eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch, während identische Bewerbungen mit einem türkischen Name wie "Meryem Öztürk" nur in 13,5 % der Fälle eine positive Rückmeldung erhielten. Als Weichselbaumer zusätzlich die ansonsten gleiche Bewerbung der fiktiven türkischstämmigen Bewerberin Meryem Öztürk mit einem Kopftuch versendete, sank die Rate für eine positive Rückmeldung auf 4,2 %. Somit muss sich eine Person mit Kopftuch 4,5-mal öfter bewerben als eine gleich qualifizierte Person mit dem Namen Sandra Bauer, um eine Einladung zum Bewerbungsgespräch zu erhalten (Weichselbaumer 2016).

[…] [Hier] zeigt sich eine Ambivalenz zwischen der offiziellen politischen Anerkennung, dem Selbstbild und der Wirklichkeit. Auf der einen Seite gibt es das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG), welches die Gleichbehandlung von Frauen und Minderheiten auf dem Arbeitsmarkt festschreibt. Gleichzeitig findet die hier aufgezeigte Ungleichbehandlung empirisch nachweisbar statt. Dabei werden die Ungleichheiten und die mangelnden Einstellungen von Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt oft mit einer geringeren Qualifikation erklärt. Die Ergebnisse […] [von Doris] Weichselbaumer weisen hingegen auf Diskriminierung von Bewerberinnen mit Kopftuch bzw. Migrationshintergrund hin. Dabei nahm die Diskriminierung zu, wenn sich die fiktiven Bewerberinnen auf höher qualifizierte Stellen bewarben. So wurden sie eher als Sekretärinnen in Betracht gezogen denn als Bilanzbuchhalterinnen. "Im Westen wird das Augenmerk stets auf die Situation von Frauen in muslimischen Kulturen gerichtet, selten jedoch beschäftigen wir uns mit der Diskriminierung von Musliminnen durch die westliche Gesellschaft", kritisiert Weichselbaumer [in einem Interview, abgedruckt im Spiegel vom 20. September 2016]. […]

Das normative Paradoxon zeigt hier: Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem Leistungsmythos, der in Deutschland als grundlegend für die Entscheidungen zur Bewertung von Qualifikation gilt und den Selbstanspruch sowie das Selbstbild der politischen Kultur in diesem Land prägt – und der nachweisbaren Präferenz für Arbeitskräfte auf der Basis von Kultur, Ethnizität, Religion oder Nationalität anstelle von Leistungsentscheidungen. Die Kolleg*innen Koopmans, Veit und Yemane haben ebenfalls experimentelle Korrespondenz-Studien mit identischen Bewerbungen durchgeführt und dabei ein höchst unterschiedliches Einladungsverhalten auf Basis ethnischer Präferenzen dokumentiert, wobei muslimische Bewerber*innen bei gleicher Qualifikation schlechter abschnitten als Bewerber*innen mit Migrationshintergründen aus nicht-muslimischen Ländern (Koopmans/Veit/Yemane 2018). Ähnliches hatten zuvor die Kollegen vom Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration mit der Einmündung migrantischer Schulabgänger*innen in den Ausbildungsweg nachgewiesen, wo ebenfalls bei gleicher Qualifikation (experimentell manipulierte Zeugnisse und Bewerbungsunterlagen) die Einladungsquote für Jugendliche mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund signifikant geringer war (Schneider/Weinmann/Yemane 2014). […]

Naika Foroutan, "Die postmigrantische Gesellschaft", © transcript Verlag Bielefeld 2019, S. 88 ff.

QuellentextNicht tragbar?

[…] Dana Diezemann ist transident, sie gehört von Geburt dem männlichen Geschlecht an, identifiziert sich aber als weiblich. Dafür gibt es heutzutage viele Begriffe: transsexuell, transgender – aber wie viele andere Betroffene bevorzugt Dana den Begriff "transident", denn der lege den Fokus nicht auf die Sexualität oder das Geschlecht der Betroffenen, sondern auf ihre Identität.

[…] Innerlich war sie schon immer eine Frau, erklärt die 52-Jährige. Sie wusste es nur lange Zeit nicht. "Ich habe in meiner männlichen Rolle funktioniert", sagt sie. […] Erst 2012 kam der Umbruch: […] Dana wurde zur "Teilzeitfrau", wie sie es beschreibt: Von Montag bis Freitag ging sie als Mann zur Arbeit, am Wochenende probierte sie sich als Frau aus. Doch die Teilzeitfrau war keine Dauerlösung, das Versteckspiel mit der eigenen Identität wurde zur Belastung […].

Im Job war Diezemann sehr geschätzt. Mit dem öffentlichen Coming-out […] änderte sich das, erzählt sie: "Als klar wurde, aus Daniel wird jetzt Dana, ging es los." Die Probleme begannen schleichend. Stück für Stück verlor die Produktmanagerin ihre Zuständigkeiten an neue Kollegen. Plötzlich leitete sie das Produktmanagement nicht mehr, sondern war Beraterin. […]

Die Restriktionen mehrten sich: Diezemann – zuvor ständig unterwegs – hatte bald "Messeverbot", erzählt sie. "Ich durfte nicht sichtbar sein. Meine Frau sagt, sie haben sich geschämt für mich." Dana Diezemann wurde vor der Außenwelt versteckt. In den letzten Wochen und Monaten saß sie tagelang ohne Arbeit im Büro. […] Bis zur gerichtlichen Namens- und Personenstandsänderung im Herbst 2015 war es ihr außerdem verboten, bei der Arbeit als Frau aufzutreten. Keine Kleider, kein Nagellack, keine Absatzschuhe, kein neues Namensschild. […]

Diezemann ist kein Einzelfall. Dass transidente Personen Opfer von Diskriminierung, Mobbing oder gar Gewalt am Arbeitsplatz werden, ist nach einer Studie des Instituts für Diversity- und Antidiskriminierungsforschung (IDA) vom November 2017 eher die Regel als die Ausnahme. 83 Prozent der befragten Transidenten wurden demnach schon in "mindestens einer Form" am Arbeitsplatz diskriminiert. Fast ein Drittel gab an, Opfer von Mobbing oder Psychoterror gewesen zu sein. Insgesamt, so das Fazit der Studie, erleben transidente Personen "deutlich häufiger" Diskriminierung als lesbische oder schwule Beschäftigte. […]

Keiner habe jemals offen zu ihr gesagt, dass man sie im Betrieb nicht haben wolle. Nur ein Vorgesetzter suchte offen das Gespräch: Er habe mit ihrer Wandlung ein Problem, sagte er. […] Diezemann nennt das Gespräch heute "wertvoll": "Der war wenigstens ehrlich." Ein männlicher Vorgesetzter war es auch, der ihr im Jahr 2017 sagte, sie sei für das Unternehmen "nicht mehr tragbar". […]

Danach fiel sie in die Arbeitslosigkeit. Auch das sei keine Seltenheit im Lebenslauf transidenter Personen, bestätigt Petra Weitzel, die den Verein "Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität" (DGTI) leitet und in der Szene gut vernetzt ist. Nach einer Kündigung wieder einen Job zu finden, falle vielen Transidenten schwer, sagt sie […]. Und Diezemann bestätigt: "Die meisten Transidenten verlieren ihre Beziehung, die meisten verlieren ihren Job. Und einige verlieren sich selbst." Dana Diezemann versucht, sich in der Selbständigkeit "durchzubeißen" […]. In ein festes Arbeitsverhältnis möchte sie gar nicht mehr zurück. […]

Dass Transidente mit ihrer Identität und Angleichung so offen umgehen wie Dana Diezemann, ist selten. Nach der Studie der IDA sprechen "70 Prozent aller trans*-Befragten" mit wenigen oder gar keinen Kollegen und Führungskräften über ihre Geschlechtsidentität. Das überrascht umso mehr, betont die Studie doch die besondere "lebensgeschichtlich bedingte" Kompetenz, die Transidente mit sich brächten. Diezemann kann da nur zustimmen. Sie verstehe beide Welten, die der Männer wie die der Frauen. "Ich bin der Klebstoff zwischen verschiedenen Charakteren, ich bringe sie alle zusammen." […]

Wie es weitergeht, weiß Dana Diezemann noch nicht – finanziell ebenso wenig wie persönlich. Das macht ihr Angst. Doch sie bereut keinen ihrer Schritte, denn auch wenn es sich vielleicht nicht so anhöre: "Ich habe momentan das beste Leben. Es tut richtig gut, endlich ich zu sein – ohne mich zu verbiegen."

Lea Weinmann, "Nicht tragbar", in: Süddeutsche Zeitung vom 6. Juli 2019

Was es für Betroffene bedeutet, von Menschen, die sich selbstverständlich als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft verstehen, immer wieder auf diese öffentliche Rolle reduziert zu werden, veranschaulicht der Hashtag #vonhier. Initiiert von der Journalistin Ferda Ataman zeigt er Problematiken, die mit der stetigen Frage nach der "echten und ursprünglichen" Herkunft verbunden sein können, anhand der persönlichen Erfahrungen, die Menschen unter diesem Hashtag beschreiben. Vanessa Vu, Redakteurin für Politik und Gesellschaft bei Zeit Online, erwähnt den Hashtag in einem Artikel vom 27. Februar 2019 und beschreibt ihre persönliche Reaktion auf diese Frage: "[...] [I]ch spreche darüber zu meinen Bedingungen. Ich entscheide, wann ich wie viele Facetten von mir herauskehre. Wann ich nur #vonhier sein will und wann ich mehr sein will. Wo-kommst-du-her-Fragende stört es, dass ich mir dieses Recht nehme. Ich kann beobachten, wie sich ihre Gesichtszüge verhärten, wie sie nach meiner höflichen Ablehnung zu antworten nach den immer gleichen Rechtfertigungen greifen. Sie waren nur neugierig. Im Alltag werden Menschen völlig unvermittelt nach teils traumatischen Erfahrungen mit Rassismus gefragt, nach teils gewaltvollen Familiengeschichten. Mir widerstrebt diese Ignoranz. Die Leute können sich ja denken, dass Flucht und Migration keine harmlosen Themen sind. Sie wissen doch, was auf der Welt passiert."

Vanessa Vu rückt mit ihren Gedanken die Verletzlichkeit von Menschen in den Mittelpunkt und fordert, es den Angesprochenen selbst zu überlassen, ob und wie sie darauf antworten möchten. Der Tisch, um im Wortlaut des Soziologen El-Mafaalani zu bleiben, erweitert sich. Ein anderes Beispiel dafür sind die biografischen Erfahrungen von Laura Cazès, Projektkoordinatorin und Referentin bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Sie erklärt in diesem Zusammenhang, dass Diskriminierung viele Gesichter haben kann. Insbesondere bei neuen Begegnungen muss sie sich ständig zu ihrer jüdischen Herkunft erklären. Gänzlich andere Erfahrungen macht sie hingegen dort, wo Diversität als fester und gängiger Bestandteil der Lebenswirklichkeiten von Kindern und Jugendlichen verstanden wird und somit ein geschützter Raum geboten wird.

Integration bedeutet El-Mafaalani zufolge mehr Streit, was er als positives Zeichen für die sich gewandelte diverse(re) Gesellschaft sieht. Die Sozialwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Naika Foroutan konstatiert dagegen kritisch eine zunehmende "Bipolarität" zwischen denjenigen, die Pluralität befürworten und anderen, die Pluralität ablehnen, und bezeichnet diese Situation als einen "Kernkonflikt unserer heutigen Zeit".

Dieser Kernkonflikt ist gegenwärtig in fast allen Nationalstaaten Europas anzutreffen und stellt eine Herausforderung für die Bewahrung und den Ausbau demokratischer Verhältnisse dar. Bespielhaft für ein Bündnis, das sich um Aushandlungsprozesse in der postmigrantischen Gegenwart bemüht, ist die 2008 gegründete Deutschlandstiftung Integration. Vorsitzender des Stiftungsrats ist der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Angela Merkel ist die Schirmherrin der Stiftung. Sie will besonders jungen Menschen mit Migrationshintergrund durch gezielte Förderung Chancen eröffnen. Als im Jahr 2019 das 70-jährige Bestehen der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes, gefeiert wurde, begleitete die Deutschlandstiftung Integration dies mit einer bundesweiten Öffentlichkeitskampagne unter dem Motto "Mein Deutschland. Ich lebe hier auf gutem Grund". Menschen mit Migrationsbiografien machen darin die Diversität der deutschen Gesellschaft sichtbar, werben für die Werte des Grundgesetzes und für den Erhalt der Demokratie im Sinne eines gemeinsamen Raumes aller in diesem Land lebenden Menschen.

Lösungsansätze gegen Diskriminierung: das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz

Eine rechtliche Handhabe gegen Diskriminierung aufgrund der Herkunft, der Geschlechtszugehörigkeit, der Religion, des Alters, einer Behinderung oder der sexuellen Identität sah der Gesetzgeber in der Einrichtung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), das im Jahr 2006 in Deutschland in Kraft trat. Bekannter ist das AGG unter dem Namen Antidiskriminierungsgesetz. Der Hintergrund der Implementierung sind rechtliche Forderungen auf Basis von EU-Richtlinien, welche die Mitgliedstaaten dazu verpflichteten, ein Antidiskriminierungsgesetz auf nationaler Ebene einzuführen. Ziel ist es, Rechtsansprüche gegen Arbeitgeber oder Private zu garantieren, wenn sie gegen die gesetzlichen Diskriminierungsverbote verstoßen.

Diskriminierungsverbot heißt auch Benachteiligungsverbot. Menschen dürfen demzufolge aufgrund ihrer Eigenschaften oder Merkmale nicht ungleich behandelt werden. Laut dem Diskriminierungsverbot gehören dazu: Geschlecht, "ethnische" Herkunft, Hautfarbe, Sprache, Religion, politische und sonstige Anschauungen, nationale oder soziale Herkunft, die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen und Status. Zu den Befürwortern des AGG gehören feministisch orientierte Personen in der Rechtswissenschaft, in Gewerkschaften und in Verbänden, die sich für die Belange von Menschen mit Behinderung einsetzen. Sie sahen vor Einführung des AGG im Falle einer Diskriminierung wenig Aussicht für Betroffene, die eigenen Interessen vor Gericht erfolgreich geltend zu machen.

Im Gegensatz zu anderen EU-Mitgliedstaaten sowie den USA und Australien hatte es in Deutschland deutlich länger gedauert, entsprechende rechtliche Maßnahmen und Neujustierungen vorzunehmen. Gegner des AGG sahen in den Maßnahmen einen tiefen Einschnitt in die Privatautonomie. Der ursprüngliche Entwurf aus dem EU-Parlament im Jahr 2004 wurde entsprechend verändert, im Nachgang modifiziert und kritischen Stimmen zufolge in seiner ursprünglichen rechtlichen Zielsetzung abgeschwächt.

Antidiskriminierungsstellen und Integrationsbeauftragte bemängeln, dass trotz des gültigen AGG Teilbereiche der öffentlichen Institutionen und Verwaltungen nach wie vor ungeregelt sind. Dazu gehören beispielsweise Universitäten, Kindergärten, Schulen und Behörden. Erfahrungen vor Ort zeigen sogar mitunter, dass dort weiterhin häufig Diskriminierung stattfindet. Kritische Stimmen fordern deshalb umfassende strukturelle Veränderungen, die rechtliche Handhabungen für die Betroffenen eröffnen.

QuellentextÜber die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern

Auszüge aus der Dankesrede "Anfangen" von Carolin Emcke anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016

[…] Nicht alle, aber viele, die vor mir hier standen, haben nicht allein als Individuen, sondern sie haben auch als Angehörige gesprochen. Sie haben sich selbst verortet in einem Glauben oder einer Erfahrung, in der Geschichte eines Landes oder einer Lebensform – und darauf reflektiert, was das heißt, als chinesischer Dissident, als nigerianischer Autor, als Muslim, als Jüdin hier in der Paulskirche zu sprechen, in diesem Land, mit dieser Geschichte.

[…] Sie waren eingeladen und sie wurden ausgezeichnet, weil sie sich für ein universales Wir einsetzten – und doch haben sie oft auch als Angehörige einer bedrängten Gruppe, eines marginalisierten Glaubens, einer versehrten Gegend gesprochen. Das ist durchaus bemerkenswert, denn es ist keineswegs gewiss, was das heißt: angehörig oder zugehörig zu sein. […] Im Deutschen kennt der Begriff "gehören" mehrere Verwendungen: 1) jemandes Besitz zu sein, aber auch 2) Teil eines Ganzen zu sein, zu etwas zu zählen, sowie 3) "gehören" als an einer bestimmten Stelle passend zu sein und 4) für etwas erforderlich zu sein. […]

Ist Zugehörigkeit […] etwas, das aufscheint im Zusammensein mit anderen, oder etwas, das aufscheint, wenn man als einziger aus einer Gemeinschaft herausfällt? […] Ist zugehörig, wer als zugehörig erkannt wird, und ist anders zugehörig, wem diese Anerkennung verweigert wird? Wem gehört also dieses An-gehören – einem selbst oder den anderen? Gibt es das nur in einer Form oder in verschiedenen? Und vor allem: Wie viele Kontexte und Verbindungen können für mich in diesem Sinne relevant und wichtig sein? Wie viele Schnittmengen gibt es von Kreisen, in denen ich passend bin und aus denen ich mich als Individuum zusammensetze? […]

Menschenrechte sind kein Nullsummenspiel. Niemand verliert seine Rechte, wenn sie allen zugesichert werden. Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist der Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft.

Verschiedenheit ist kein Grund für Ausgrenzung. Ähnlichkeit keine Voraussetzung für Grundrechte. Das ist großartig, denn es bedeutet, dass wir uns nicht mögen müssen. Wir müssen einander nicht einmal verstehen in unseren Vorstellungen vom guten Leben. Wir können einander merkwürdig, sonderbar, altmodisch, neumodisch, spießig oder schrill finden. […]

"Die Verschiedenheit verkommt zur Ungleichheit", hat [der bulgarisch-französische Schriftsteller und Wissenschaftler] Tzvetan Todorov einmal geschrieben, "die Gleichheit zur Identität." Das ist die soziale Pathologie unserer Zeit: dass sie uns einteilt und aufteilt, in Identität und Differenz sortiert, nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten spaltet, um damit Ausgrenzung und Gewalt zu rechtfertigen.

[…] Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfern sucht, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. Es schmälert den Raum, in dem wir einander denken und sehen können. Es macht manche sichtbar und andere unsichtbar. Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden. Es begrenzt die Phantasie, in der wir einander Möglichkeiten und Chancen zuschreiben. Mangelnde Vorstellungskraft und Empathie aber sind mächtige Widersacher von Freiheit und Gerechtigkeit. . […]

Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. […] Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.

Ist das mühsam? Ja, total. Wird das zu Konflikten zwischen verschiedenen Praktiken und Überzeugungen kommen? Ja, gewiss. Wird es manchmal schwer sein, die jeweiligen religiösen Bezüge und die säkulare Ordnung in eine gerechte Balance zu bringen? Absolut. Aber warum sollte es auch einfach zugehen? Wir können immer wieder anfangen. Was es dazu braucht? Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen: Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.

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Zusammenfassung und Ausblick

Die Diversität in unserer Gesellschaft erfordert sowohl einen breiteren Blick als auch die Bildung von Bündnissen und, Interessenvertretungen sowie den Interessenausgleich. Eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen ist hierbei die Überwindung der Spaltung zwischen denjenigen, die eine plurale Gesellschaft befürworten, und denjenigen, die ihr skeptisch bis gegnerisch gegenüberstehen. Gelegentlich lassen sich bereits Forderungen nach dem Abbau von Grundrechten erkennen, die, konsequent fortgesetzt, zu einer illiberalen Demokratie führen können. Wichtige Lösungsansätze für eine gerechtere und egalitärere Gesellschaft sowie eine Stärkung des Gemeinwohls sind die Anerkennung von Diversität und das Teilen von Macht. Dazu gehört auch die Gewährleistung einer ausgewogenen politischen Machtverteilung zwischen den Geschlechtern, die sich auch darin ausdrückt, dass maßgebliche Positionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gleichermaßen mit Frauen und Männern besetzt werden, ohne Diskriminierung aufgrund von Race-, Class- und Gender-Kategorisierungen. Damit werden zumindest Optionen geschaffen und der Weg zu einer fairen gesellschaftlichen Repräsentation geebnet. Bis dahin bleibt allerdings noch einiges zu tun, um das Ziel der Anerkennung der Vielen zu erreichen.

Dr. Meltem Kulaçatan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am FB Erziehungswissenschaften, Institut für Pädagogik der Sekundarstufe mit Schwerpunkt Islam, an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Religiöse Selbstentwürfe junger Musliminnen und Muslime in pädagogischen Handlungsfeldern, Radikalisierung von Frauen und jungen Mädchen im Kontext des islamistischen Extremismus, Religiöse Selbstpositionierung, Gender und Bildungsmotivation, Geschlechtergerechtigkeit und Gender im Islam sowie Migration und Integration in Deutschland und Europa.