Lebenswirklichkeiten und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für das Zusammenleben von Menschen haben sich in den vergangenen 50 Jahren in Deutschland erheblich verändert und sind heute durch eine bunte Vielfalt gekennzeichnet: Neben den klassischen Kernfamilien mit und ohne Migrationsgeschichte gibt es nicht eheliche Lebensgemeinschaften, Patchwork- und Stieffamilien, Regenbogenfamilien, multilokale Familien (Haushalte, in denen mindestens eine Person zusätzlich einen weiteren Wohnsitz nutzt) sowie alleinerziehende Mütter und Väter.
Darüber hinaus begegnen wir bi- und multinationalen Familienkonstellationen und in jüngster Zeit verstärkt Flüchtlingsfamilien. Eine ganz neue, wenn auch zahlenmäßig noch sehr kleine Lebensform wird als "Co-Parenting" ("gemeinsame Elternschaft") bezeichnet; dabei kommen Menschen zusammen, um ihren Kinderwunsch zu verwirklichen, ohne jedoch ein Liebespaar zu sein. Dieser Begriff wird häufig aber auch verwendet, um Familienarrangements zu beschreiben, wenn sich Eltern getrennt haben, die Erziehung ihrer Kinder aber trotzdem weiter gemeinsam mit gleichen Rechten wahrnehmen und gestalten.
Zudem steigt die Zahl asiatischer oder osteuropäischer "Leihmütter", die Paaren in Deutschland, die ungewollt kinderlos geblieben sind, gegen Geld helfen, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. So entstehen neue globale Märkte, auf denen sich zugleich die tiefe Kluft der Lebensverhältnisse zwischen armen und reichen Ländern widerspiegelt. Eine sich rasant entwickelnde Reproduktionsindustrie stellt immer neue Angebote wie das Einfrieren von Eizellen ("Social Freezing") bereit und erweckt damit die Hoffnung, über den Zeitpunkt, seinen Kinderwunsch zu verwirklichen, völlig selbstbestimmt entscheiden zu können. Diese Entwicklungen stellen für Staat und Gesellschaft große Herausforderungen dar, etwa im Hinblick auf die rechtlichen Regelungen von Elternschaft. Und schließlich entstehen neue Lebens- und Wohnformen im Alter, in denen nicht nur Verwandte, sondern auch Nachbarn und Freunde füreinander sorgen und ihren Alltag gemeinsam organisieren.
Auf den ersten Blick erscheinen die Buntheit und das Nebeneinander dieser Lebensformen als ein Zugewinn an Freiheit, selbst entscheiden zu können, wie die persönlichen Lebensentwürfe gestaltet werden. Dabei wird jedoch leicht übersehen, dass es nicht die einzelnen Personen sind, sondern die Haushalts- und Familienformen, in denen grundlegende Weichenstellungen für die Entstehung sozialer und geschlechtsspezifischer Ungleichheit erfolgen: Erst über die Einbindung des oder der Einzelnen in Haushalts- und Familienformen ergeben sich ungleiche Chancen am Arbeitsmarkt und letztlich eine reale Ungleichheit der Lebenschancen von Frauen und Männern, Müttern und Vätern, Eltern und Kindern. Hinzu kommt, dass beispielsweise 13 Prozent der staatlichen Familienleistungen in Deutschland an die reichsten zehn Prozent der Privathaushalte fließen, den untersten zehn Prozent der Privathaushalte in Armutslagen aber lediglich sieben Prozent der familienpolitischen Ausgaben zugutekommen.
Darüber hinaus zeigen viele wissenschaftliche Studien, dass sich der Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft oder das Eintreten eines Hilfe- und Pflegebedarfs bei älteren Familienangehörigen als ein Knotenpunkt erweist, an dem es immer wieder zu einer "Retraditionalisierung" von Geschlechterrollen kommt: Frauen übernehmen dann hauptverantwortlich die Haus- und Sorgearbeit, begnügen sich mit einem Minijob oder arbeiten in kleiner Teilzeit (10 bis 15 Wochenstunden), während Männer oft wieder in die Rolle des Allein- oder Hauptverdieners geraten, obwohl sich viele Paare eigentlich eine partnerschaftliche Arbeitsteilung vorgestellt hatten. Die Folge: Frauen bleiben – ungeachtet ihrer heute guten und sehr guten Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse – sehr oft weit unter ihren beruflichen Möglichkeiten und riskieren im Fall einer Trennung oder Scheidung, mit ihren Kindern in Armut zu geraten.
Was ist Familie?
2018 gab es in Deutschland rund 11,44 Millionen Familien. Familie im statistischen Sinne umfasst alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, das heißt Ehepaare, nicht eheliche gleich- und gemischtgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sowie alleinerziehende Väter und Mütter mit ledigen Kindern im Haushalt. Einbezogen sind in diesen Familienbegriff neben leiblichen Kindern auch Stief-, Pflege- und Adoptivkinder ohne Altersbegrenzung.
Der Siebte Familienbericht der Bundesregierung von 2006 versteht unter Familie ein soziales Netzwerk besonderer Art, das sowohl hetero- als auch gleichgeschlechtlich und zudem generationenübergreifend zusammengesetzt ist und täglich neu hergestellt wird. Familie ist also ein Ort, an dem Menschen unterschiedlicher Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, eine soziale Gemeinschaft, in der mindestens eine erwachsene Person (gleich welchen Geschlechts) und mindestens zwei Generationen eingebunden sind. Diese Definition trägt der eingangs skizzierten Vielfalt und Dynamik familialer Lebensformen Rechnung und geht damit über die engere Vorstellung hinaus, bei Familie handele es sich lediglich um eine Gruppe, in der ein Ehepaar mit seinen direkten Nachkommen zusammenlebt.
Aus übergeordneter makrosoziologischer Perspektive werden Familien aber auch als Investoren in soziale Netzwerke und als gesellschaftliche Leistungsträger definiert: Es ist die ganz überwiegend von Frauen erbrachte unbezahlte Alltags- und Versorgungsarbeit, die in erzieherischer und versorgungswirtschaftlicher Hinsicht zu vielfältigen produktiven Leistungen führt, ohne die eine Gesellschaft und ihre Volkswirtschaft überhaupt nicht existieren können. Kinder erwerben im alltäglichen familialen Zusammenleben ihre Beziehungs- und Konfliktfähigkeit, bestimmte Wertorientierungen, aber auch Daseins- und Sprachkompetenzen, um im Leben bestehen zu können.
Angesichts der hohen Bildungsbedeutsamkeit der Herkunftsfamilie als der primären Sozialisationsinstanz brauchen Eltern und Kinder heute von Anfang an eine gute Begleitung und Unterstützung, um ihre erzieherischen Kompetenzen zu stärken. Sind es doch Motivation, Frustrationstoleranz und selbstregulatorische Fähigkeiten im Kindesalter, die jenes "Sozialisationsgepäck" ausmachen, das auch im weiteren Lebenslauf dazu beiträgt, berufliches Fachwissen zu erwerben sowie das eigene Leben und dessen Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen.
So betrachtet, erzeugt Familie gemeinsame Güter für die Gesellschaft, die jedoch nur dann entstehen, wenn junge Erwachsene überhaupt bereit sind, sich für Kinder zu entscheiden und Zuneigung sowie Zeit in sie zu investieren. Diese gemeinsamen Güter, das "Humanvermögen" einer Gesellschaft, entstehen zwar in privaten Lebensformen auf der Basis von Zuneigung, Liebe und persönlichem Glück, kommen aber allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute. Solche Leistungen kommen überhaupt nur zustande, wenn Menschen auf der privaten Ebene soziale Netzwerke aufbauen und pflegen. Es sind Solidargemeinschaften, die auch in Krisensituationen und beim Älterwerden mental und materiell füreinander einstehen. Solche Solidarbeziehungen sind allerdings auch zwischen Verwandten denkbar, etwa wenn ein Kind bei seiner Tante aufwächst, oder sie können auf bestimmten sozialen Regelungen beruhen, die eine soziale Elternschaft begründen, etwa Adoption.
Das familienpolitische Manifest der Heinrich-Böll-Stiftung von 2017 geht noch weiter und verweist darauf, dass familiale Netzwerke auch Menschen ohne verwandtschaftliche oder durch Adoption geregelte Bindungen einschließen sollten: "Verantwortung wird nicht ausschließlich innerhalb der Ehe gelebt oder in einer Liebesbeziehung übernommen: Freundinnen und Freunde etwa oder Nachbarn und Nachbarinnen helfen sich gegenseitig und stehen füreinander ein. Auch Senioren-WGs, die sich stetig entwickelnden neuen Lebens- und Wohnformen, zum Beispiel in Genossenschaften oder Mehrgenerationenhäusern, beruhen oft auf sozialen Beziehungen und nicht auf der Verwandtschaft der Bewohnerinnen und Bewohner. Diese Vielfalt der Lebensformen steht allerdings einem relativ eng gefassten rechtlichen Regelungswerk gegenüber, das bei weitem nicht auf alle Gemeinschaften anwendbar ist. Obwohl auch in den neuen Verantwortungsgemeinschaften ein Teil der Betreuungs-, Sorge- und Pflegearbeit für Kinder, kranke oder alte Menschen übernommen wird, werden diese vom Staat sozialrechtlich nur dann zur Kenntnis genommen, wenn es seinen fiskalischen Interessen dient, wie zum Beispiel bei der Anrechnung des Einkommens in einer Bedarfsgemeinschaft. Wer aber Pflichten hat, sollte auch garantierte Rechte haben." (so zitiert im HBS-Bericht 2017 auf S. 11). Nach Auffassung der Heinrich-Böll-Stiftung müssen die vielfältigen Sorge- und Solidarbeziehungen, ganz gleich in welcher Lebensform sie gestaltet werden, im Alltag gleichermaßen unterstützt und rechtlich abgesichert werden, nicht zuletzt, um soziale Schieflagen zu vermeiden.
Solche Perspektiven haben in der einschlägigen Familienforschung lange Zeit ebenso wenig Beachtung gefunden wie die empirisch unübersehbaren Geschlechterasymmetrien in Paarbeziehungen. Das Prinzip der fordistischen Spezialisierung auf die unbezahlte, den Frauen zugewiesene Sorgearbeit einerseits und auf die bezahlte, den Männern vorbehaltene Erwerbsarbeit andererseits wurde als für das Familiensystem durchweg funktional und zielführend erklärt. Diese männliche Perspektive der Familienforschung haben bereits 1990 die Frauenforscherinnen Sigrid Metz-Göckel und Elke Nyssen mit ihrer pointierten These "Die Familie des Mannes ist nicht die Familie der Frau" nachdrücklich hinterfragt: Es ging ihnen darum, sowohl die völlig unterschiedliche Alltagswirklichkeit von Müttern und Vätern als auch die Asymmetrie in den ehelichen Machtverhältnissen zu thematisieren und damit einen stärkeren Bezug der Frauenforschung zur Realität anzumahnen.
Im Bemühen, die positiven Leistungen der "klassischen Kernfamilie" nachzuweisen, ignorierte der Mainstream der Familienforschung zudem über viele Jahrzehnte die "dunklen Seiten der Familie". Die Verbindung zwischen wissenschaftlichen Theorien und realen sowie empirisch belegten Phänomenen, wie die Gewalt gegen Frauen und Kinder, fehlte im deutschen Sprachraum fast vollständig. Solche Themen wurden selbst dann noch unbeirrt ausgeblendet, als Mitte der 1970er-Jahre die ersten Zufluchtsstätten für misshandelte Frauen und ihre Kinder eingerichtet wurden.
Das hat sich inzwischen geändert, zumal nach wie vor erheblicher Handlungsbedarf besteht. Denn bis heute wird auch in westlichen Demokratien ein hohes Ausmaß an Gewalt gegen Frauen ausgeübt, insbesondere durch männliche Partner und Ex-Partner, was auch als Ausdruck fortbestehender Ungleichheiten und Hierarchien im Geschlechterverhältnis zu werten ist. Ökonomische, kulturelle und soziale Dimensionen von Geschlechterungleichheit befördern nicht zuletzt Gewalt gegen Frauen in unterschiedlichen Lebenskontexten. Wie aktuell und dringlich das Problem von sexueller Gewalt in westlichen Gesellschaften darüber hinaus in der Arbeitswelt ist, hat schließlich auch das #MeToo offenbart, welches ab Mitte Oktober 2017 im Zuge des Skandals um den US-amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein Verbreitung in den sozialen Netzwerken fand. Dem Filmproduzenten werfen Dutzende Frauen aus der Filmindustrie vor, er habe sich jahrzehntelang der sexuellen Belästigung, der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung schuldig gemacht. Harvey Weinstein wurde daraufhin entlassen und aus zahlreichen Berufsvereinigungen ausgeschlossen. Anfang März 2020 wurde er in einem ersten Verfahren zu 23 Jahren Haft verurteilt.
Der Gender Care Gap
Nach wie vor sind Frauen und Mütter hauptverantwortlich für ein intaktes Familienleben, indem sie den größten Teil der alltäglichen Haus- und Sorgearbeit für Kinder, ihre Partner und hilfebedürftige Familienangehörige übernehmen. Care-Arbeit umfasst alle "Leben erhaltenden, lebensnotwenigen Tätigkeiten, ohne die Gesellschaften nicht existenzfähig wären und wirtschaftliches Wachstum unmöglich wäre", so die feministische Schweizer Wirtschaftswissenschaftlerin Mascha Madörin. Im Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2017 wurde erstmals ein Indikator berechnet, der die unterschiedlichen Zeitbindungen von Frauen und Männern für eine gesellschaftlich notwendige Arbeitsform − die unbezahlte Care-Arbeit – in Deutschland ausweist: der sogenannte Gender Care Gap. Er erfasst den relativen Unterschied in der täglich für Care-Arbeit verwendeten Zeit zwischen Männern und Frauen.
Wie die Datenanalyse ergab, übernehmen Frauen in Deutschland über alle Bildungs-, Berufs- und Altersgruppen hinweg, aber auch in unterschiedlichsten Haushaltskonstellationen deutlich mehr an unbezahlter Arbeit als die männlichen Vergleichsgruppen. Der Gender Care Gap betrug 2012 in Deutschland insgesamt 52,4 Prozent, das heißt: Frauen wandten täglich anderthalb Mal so viel Zeit für unbezahlte Care-Arbeit auf wie Männer. Deutlich größer ist der Gender Care Gap in Paarhaushalten mit Kindern, dort beträgt er sogar 83,3 Prozent (siehe auch Abschnitt Sorgearbeit im Kapitel Gender-Datenreport).
Nur wenige Eltern mit kleinen Kindern leben ihr Ideal. (© Quelle: Berechnungen auf Basis von Familien in Deutschland (FiD). Zitiert nach: DIW-Wochenbericht Nr. 46/2013)
Nur wenige Eltern mit kleinen Kindern leben ihr Ideal. (© Quelle: Berechnungen auf Basis von Familien in Deutschland (FiD). Zitiert nach: DIW-Wochenbericht Nr. 46/2013)
Differenziert nach Altersgruppen zeigt sich der größte Gender Care Gap, also die auffälligste geschlechtsspezifische Differenz in der Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern, im Alter von 34 Jahren. Frauen leisten in diesem Alter täglich mehr als doppelt so viel Care-Arbeit, nämlich 5:18 Stunden, Männer lediglich 2:31, was einem Gender Care Gap von 110,6 Prozent entspricht. Insgesamt sind die größten Diskrepanzen der Zeitverwendung für Care-Arbeit demnach in der sogenannten Rush Hour des Lebens zu finden, in der sich wichtige Lebensereignisse und -entscheidungen bündeln. In diesem Zeitraum erfolgen häufig die Partnerwahl und die Verwirklichung des Kinderwunschs; es werden aber auch die Weichen für eine gelingende Berufsbiografie gestellt – meist zuungunsten der Mütter. Diese faktische Rückkehr hin zu traditionellen Geschlechterrollen, die in Paarhaushalten häufig nach der Geburt von Kindern eintritt, wird auch durch andere Studien vielfach belegt und widerspricht den ursprünglichen Vorstellungen vieler Paare, eine in etwa paritätische Arbeitsteilung zwischen bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Sorgearbeit leben zu wollen.
QuellentextGründe für die Beibehaltung der traditionellen Rollenverteilung
[…] Bloß weil die klassische Rollenverteilung noch immer weit verbreitet ist, bedeutet das nicht, dass alle Paare so auch leben wollen. Wunsch und Wirklichkeit klaffen in vielen deutschen Familien weit auseinander. […] Die Duisburger Wissenschaftlerin [Ute] Klammer hat eine Erklärung für die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit: "Die Paare wollen ja egalitär leben – doch der Knackpunkt ist immer das erste Kind." Mit der Geburt setze häufig eine "Retraditionalisierung der Geschlechterrollen" ein. Das heißt: Ein modernes gleichberechtigtes Paar betritt den Kreißsaal – und verlässt ihn als Mutti und Vati. Anschließend sorgt der Mann vorrangig fürs Geld, die Frau vorrangig für die Kinder. […]
Schuld daran sind aber nicht nur traditionelle Rollenbilder, die sich über Jahrhunderte in die DNA einer Gesellschaft eingeschrieben haben. Schuld sind ebenso oft Gesetze, Regeln und ökonomische Zwänge. Sie sind es, die einer gleichberechtigten Partnerschaft beim Geldverdienen entgegenstehen.
[…] "Ich werde dich auf Händen tragen, heißt es unter Verliebten. Aber niemand fragt: Wie weit? Und kannst du auch das Gepäck stemmen?" Das sagt der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer. "Paare, die eine Beziehung auf Augenhöhe anstreben, sollten früh darüber sprechen, was jeder unter Augenhöhe versteht. Und was sie bedeutet, wenn ein Kind kommt. Für solche Paare wäre es dann zum Beispiel eine Möglichkeit, dass beide Partner in halber Vollzeit arbeiten."
Gelingt ein solches Arrangement, verspricht es sogar viel Glück. […] Nur hat eine solche Glück verheißende Beziehung auf Augenhöhe in Deutschland zwei Widersacher: Der eine ist der deutsche Sozialstaat. "Der setzt für Frauen immer noch zahlreiche Anreize, sich in langfristige Abhängigkeiten zu begeben", sagt die Wissenschaftlerin Klammer, Mitglied im Sozialrat der Bundesregierung. "Und das bedeutet in den meisten Fällen: in ein Modell zulasten der Frau."
Dazu gehört das Ehegattensplitting im Steuerrecht, das Ehepaare begünstigt, bei denen der eine Partner viel und der andere wenig verdient. Dieser Steuervorteil verleitet zum Beibehalten einer traditionellen Arbeitsteilung und bietet Paaren […] kaum finanziellen Anreiz, gleichberechtigt zu leben.
Ein Problem ist auch das System der Hinterbliebenenrente, dem die Vorstellung der Hauptverdiener-Ehe bis zum Tode zugrunde liegt, als sei sie ein Naturgesetz. Auch das zementiert das Ungleichgewicht der Geschlechter beim Geldverdienen (und gewährt zudem kaum Schutz, wenn eine solche Ehe zerbricht).
Und schließlich gehört dazu die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenkasse, die die kinderlose Gattin (nur im Ausnahmefall ist es ein Gatte) des Spitzenverdieners kostenlos aufnimmt – während die unverheiratete, berufstätige Mutter ihre Beiträge selbst erwirtschaften muss. […]
Der zweite Widersacher der Augenhöhe ist: das Geld. Die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen ist der stärkste Motor der Ungerechtigkeit, und sie bringt zugleich das Geschlechterrollengefüge in Schieflage. […]
Dem Patriarchat allein ist dieser Umstand aber nicht anzulasten. Die Frauen sind auch selber schuld: Sie seien im Beruf weit weniger über Geld motiviert als Männer, sie kämpften häufig auch nicht hart genug für mehr Gehalt, sagt Klammer. Wichtiger sei vielen eine sinnvolle Tätigkeit und ein kollegiales Klima. "Wenn dann das erste Kind kommt, ist es ökonomisch völlig rational, dass die Mutter als weniger Verdienende zurücksteckt." Aus dieser Falle finden die meisten Frauen – mögen sie noch so schlau, kompetent und tüchtig sein – nie wieder heraus: Während sie allenfalls Teilzeit arbeitet, macht er Vollzeit Karriere. Sein Gehalt wächst und wächst und damit auch der Lohnabstand in der Partnerschaft und die Abhängigkeit. […]
Kerstin Bund / Marcus Rohwetter, "Wenn Mama das Geld verdient", in: DIE ZEIT Nr. 49 vom 29. November 2018, Beilage Nr. 3 Geld und Liebe, S.8 ff.
Im Vergleich der Haushalte von alleinerziehenden Müttern und Vätern wurde ebenfalls ein relativ großer Gender Care Gap von 76,5 Prozent ermittelt. Die finanziellen Ressourcen alleinerziehender Mütter reichen offensichtlich nicht aus, um Anteile der notwendigen Care-Arbeit an Dritte zu übertragen, um sich zu entlasten. Anders die alleinerziehenden Väter: Ihre Erwerbsposition und die damit erzielten Einkommen erlauben offenbar die Inanspruchnahme von haushaltsnahen Dienstleistungen oder aber sie verfügen über (weibliche) Verwandtschaftsnetzwerke, die sie zumindest an den Werktagen erheblich unterstützen.
Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass der durchschnittliche Gender Care Gap von 52 Prozent etwa so groß ist wie eine weitere Kennzahl, der sogenannte Gender Pension Gap. Er beschreibt den relativen Unterschied der Alterssicherungseinkommen von Frauen und Männern und lag 2015 bei 53 Prozent. Das heißt, in Deutschland beziehen Frauen im Durchschnitt um 53 Prozent geringere eigene Alterssicherungseinkommen als Männer, also nicht einmal die Hälfte.
Im Fokus: unterschiedliche familiale Lebensformen
Paarfamilien
Ehepaare, die mit ledigen Kindern unter 18 Jahren in einem Haushalt leben, hatten 2017 in Deutschland mit 69,7 Prozent den weitaus größten Anteil unter allen Familienformen. Nicht eheliche Lebensgemeinschaften mit ledigen Kindern waren mit 11,4 Prozent vertreten und haben sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Weitere 18,9 Prozent sind Ein-Eltern-Familien mit minderjährigen Kindern – davon waren 89 Prozent alleinerziehende Mütter. Im Vergleich von West- zu Ostdeutschland (einschließlich Berlin) fällt auf, dass in den ostdeutschen Bundesländern lediglich 51 Prozent der Eltern verheiratet sind, in den westdeutschen Bundesländern sind es dagegen fast drei Viertel der Eltern.
Als übergreifende aktuelle Trends in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern lassen sich deutschlandweit eine Kindzentrierung und der Wandel vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt ausmachen. Das Kind mit seinen spezifischen Bedürfnissen und Fähigkeiten steht im Mittelpunkt des pädagogischen Bemühens und ein eher gewähren lassender respektive demokratischer Erziehungsstil mit mehr Mitspracherechten für die Kinder ist an Stelle früherer autoritärer Erziehungsformen getreten. Außerdem geht mittlerweile eine steigende Anzahl von (verheirateten) Müttern einer Erwerbstätigkeit nach; wobei es sich allerdings größtenteils um eine Teilzeitbeschäftigung oder um einen Minijob handelt.
QuellentextWann ist ein Junge ein Junge? – Rollenklischees im Erziehungsalltag
[…] Wir Eltern und Erwachsene, ein Großteil der Gesellschaft, können uns darauf verständigen, dass Kleidungstücke, Verhalten oder Farbvorlieben kein Geschlecht haben. Doch selbst wenn sich Mutter und Vater eines Kindes darüber einig sind, bei der Erziehung auf stereotype Rollenzuweisungen verzichten zu wollen: Sie können ihnen nicht entkommen. Denn diese Stereotype sind immer und überall präsent. Von Anfang an. […] Betreten wir eine x-beliebige Kinderabteilung im Kaufhaus: Wer hier Babybodys jenseits von Rosa und Hellblau kaufen will, muss lange suchen. Und die Zwangseinteilung setzt sich fort. Püppchen hier, Actionspielzeug da. […]
Geschlecht ist eine sehr wirkmächtige Kategorie, die auch in vermeintlich aufgeklärten Zeiten dazu herangezogen wird, Kinder in eine Identitätsnorm zu pressen – anstatt sie einfach ausprobieren zu lassen, welche Rolle zu ihnen passt. Das gilt auch und gerade für Jungen. Während es dank emanzipatorischer Bemühungen in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr gelungen ist, die starren Vorgaben für Mädchen zu lockern, zeigen Studien, auch international betrachtet, immer wieder, dass sich bei unserem Jungsbild nicht viel getan hat. "Richtige" Jungs sind stark, sportlich und wild. Nun spricht überhaupt nichts gegen diese Charaktereigenschaften. Sie haben nur erstens kein Geschlecht und werden zweitens konsequent als Ausschlusskriterium gegen Jungen verwendet. So und nicht anders haben sie zu sein.
[…] Jungen sind viel mehr als das, worauf sie oft reduziert wurden und immer noch werden. Sie sind emotional, zärtlich, ängstlich, überschwänglich, bedrückt, anschmiegsam und kreativ. […] Und ich bin überzeugt davon, dass in jedem Jungen diese Eigenschaften stecken. Oder zumindest gesteckt haben – bis man ihm klargemacht hat, dass er sich aufgrund seines Geschlechts so nicht zu verhalten hat.
Das heißt nicht, dass diese Jungen nicht auch genau so sind oder sein können, wie man es klassischerweise von ihnen erwartet. Es bedeutet nur, dass sie unter der sorgfältig geschlechtsnormierten Oberfläche über ein reiches Reservoir an Ideen, Bedürfnissen und Gefühlen verfügen, die ihnen ständig versagt und schlechtgeredet werden. […]
Die Wurzel des Problems, vor dem Pädagogen und Eltern stehen, ist die Definition dessen, was ein Junge ist und wie er sich zu geben hat, um als Junge zu gelten. Mit dem Finger auf andere zu zeigen und ihnen ihre Vorurteile vorzuwerfen hilft dabei wenig. Der Großteil der Erzieherinnen und Lehrer möchte alle Kinder bestmöglich unterstützen. Und die überwältigende Mehrheit der Eltern würde ihrem Sohn niemals in böser Absicht ein pinkes Fahrrad oder ein Schönheitsschaumbad vorenthalten.
Es ist nur so, dass viele bei solchen Wünschen irritiert, überfordert und besorgt sind: Was machen wir jetzt mit dem Jungen? […] Der Kleine tut ja niemandem etwas, er hat nichts falsch gemacht. Aber es gibt kein Recht darauf, die eigenen Stereotype und Vorurteile nicht hinterfragen zu lassen. So unantastbar die Würde des Menschen ist, so antastbar sollten seine Vorurteile und sein Klischeedenken sein. […]
Egal, in welchem Licht man es betrachtet – unsere Söhne verdienen unsere Liebe und Unterstützung. Wir sollten nicht zulassen, dass sie ihr Geschlecht an Dingen beweisen müssen, die kein Geschlecht haben. […]
Der Journalist Nils Pickert, 40, hat vier Kinder und lebt in Münster.
Nils Pickert, "Her mit dem Glitzer", in: Die Zeit Nr. 5 vom 23. Januar 2020, Beilage Familie, S. 7 ff.
Steuerpolitische Anreize und die Mitversicherung in der Krankenkasse des Partners tragen mit dazu bei, dass bezahlte Erwerbsarbeit und unbezahlte Sorgearbeit zwischen Vätern und Müttern ungleichgewichtig aufgeteilt werden – trotz heute guten und sehr guten weiblichen Bildungs- und Berufsabschlüssen. Das ist umso bemerkenswerter, als sich im Gefolge der Bildungsexpansion seit drei Jahrzehnten in Deutschland eine steigende Tendenz zu Ehehomogenität zeigt: So heiratet ein Arzt beispielsweise nicht mehr eine Krankenschwester, sondern ebenfalls eine Akademikerin. Beide Partner haben ähnliche Lebensbedingungen und potenzieren diese durch ihre Heirat. Demzufolge schließen sich Kreise des sozialen Verkehrs voneinander ab und der Heirats- und Beziehungsmarkt wird zunehmend zu einer Institution, die soziale Ungleichheit in Deutschland zusätzlich verstärkt.
Die nach der Geburt von Kindern über alle Bildungsgruppen hinweg erfolgende Rückkehr zu traditionellen Geschlechterrollen ist bei heterosexuellen Ehepaaren besonders ausgeprägt. Obwohl der Anteil der Väter, die in Elternzeit gehen, seit 2006 von 3,5 auf 35 Prozent gestiegen ist und sich mehr als die Hälfte aller Väter wünscht, stärker an der Kinderbetreuung teilzuhaben, fallen Wunsch und Wirklichkeit bei der partnerschaftlichen Aufgabenteilung nach wie vor stark auseinander. Vollzeiterwerbstätige Väter in Deutschland arbeiten durchschnittlich über 45 Wochenstunden und damit länger als im europäischen Durchschnitt. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum sich insbesondere junge Frauen mit einer akademischen Ausbildung oft schwer mit der Entscheidung für ein Kind tun. Sie gewinnen den Eindruck, dass die Männer allgemein und auch der eigene Partner letztlich doch am traditionellen Ernährermodell festhalten wollen. Vor allem in modernen gehobenen Milieus (Performer, Postmaterielle, Etablierte) wünschen sich Männer in einer Partnerschaft endlich eine Familie und fragen ihre Partnerin, ob sie nicht auf ihren Job verzichten würde – finanziell könne man sich das leisten, so Carsten Wippermann in der im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung 2016 herausgegebenen Studie "Was junge Frauen wollen" auf S. 14. [Anm. zu den Milieus: Die DELTA-Milieus basieren auf zwei Jahrzehnten kultursoziologischer Forschung der Lebenswelten von Menschen des gleichnamigen Instituts für Sozial- und Ökologieforschung. Die empirischen Studien behandeln zum einen die grundlegenden Lebensauffassungen und Lebensweisen, zum anderen spezifische Themen und Fragestellungen (z. B. Bildung, Konsum, Geschlechterrollen, Gesundheit, Ernährung) und basieren auf fundierten sozialwissenschaftlichen Theorien und Methoden zu den sozialen Milieus. Der Autor Carsten Wippermann ist der Institutsgründer.]
Auch die Studie "Männer-Perspektiven. Auf dem Weg zu mehr Gleichstellung?", die ebenfalls der Soziologe Wippermann 2016 im Auftrag des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) erstellt hat, zeigt zwar ein insgesamt deutlich wachsendes Interesse von Männern am Gleichstellungsthema und eine verbreitete allgemeine Zustimmung zu wesentlichen Zielen der Gleichstellungspolitik wie Entgeltgleichheit oder mehr Frauen in Führungspositionen. Die Ergebnisse belegen indessen ebenfalls, dass diese verbale Zustimmung bei vielen Männern in deutlichem Widerspruch zu ihren Haltungen in Bezug auf konkrete politische Umsetzungsmaßnahmen und Gesetze und noch stärker zu ihrer persönlichen Bereitschaft steht, sich im Sinne einer fairen Aufgabenverteilung stärker an der Übernahme von unbezahlter Haus- und Sorgearbeit zu beteiligen.
Diese widersprüchlichen Befunde werden von ihnen individuell "aufgehoben", indem sie den Gleichstellungsbegriff mit Inhalten und Kriterien füllen, die der eigentlichen Idee von Gleichstellung fundamental entgegenstehen: "Beispielsweise sehen sehr viele Männer vom Typus ‚der überlegene, harte, unabhängige Mann’ Gleichstellung dann erfüllt, wenn der Mann der Hauptverdiener ist und seine Partnerin ihm den Haushalt führt und Kinder erzieht. Und Männer vom Typus ‚der resistente, am Status quo festhaltende moderne Mann’ sind der Auffassung, dass Frauen selbst an der Entgeltungleichheit schuld seien, denn sie verdienten weniger als Männer, weil sie sich den falschen Beruf, die falsche Branche, das falsche Unternehmen ausgesucht hätten oder schlicht schlecht verhandelt hätten. Gleichstellung sehen Vertreter dieser beiden Männlichkeitstypen in ihrer Partnerschaft erreicht, weil es in ihrer Partnerschaft keine Konflikte über die Rollenverteilung gebe – auch wenn sie faktisch in einer (teil-)traditionellen Rollenteilung leben und die finanziellen Machtverhältnisse asymmetrisch zugunsten des Mannes verteilt sind" (Studie Männerperspektiven, S. 145) In einigen Milieus (etwa bei Konservativen, Traditionellen, der bürgerlichen Mitte, Etablierten, Benachteiligten) gibt es aber auch dezidierte Gleichstellungsgegner (13 %) und weitere elf Prozent, die offen für ein Festhalten an der bewährten "natürlichen" Geschlechterordnung eintreten und etablierte Vorstellungen von Gleichstellung diskreditieren, massiv relativieren oder ersetzen. Speziell Anhängerinnen und Anhänger einer maskulinistischen Weltanschauung sowie rechtsextremer und national-konservativer Parteien diffamieren alles, was mit dem Wort "Gleichstellung" verbunden ist, als "Gender-Ideologie". Dieses festgelegte Denkschema zwischen "Herren" und "Unterworfenen" erinnert an das Zeitalter des Kolonialismus.
QuellentextErfahrungen aus dem Rollentausch beim Geldverdienen
[…] Suchen nach sechzig Jahren gesetzlich verfügter Gleichberechtigung die Frauen noch immer nach dem Ernährer? Und halten die Männer tatsächlich nach einer Frau Ausschau, die ihnen diesen Status bitte schön nicht streitig macht? Haben fünf Jahrzehnte moderner Feminismus jenes archaische Rollenbild in den Köpfen der Menschen nicht überwinden können: Der Mann erlegt das Mammut und füttert Weib und Kinder? Bringen vertauschte Rollen beim Geld die Liebe aus dem Gleichgewicht?
Die Soziologin Christine Wimbauer von der Humboldt-Universität Berlin erforscht die Zufriedenheit von Paaren seit zwanzig Jahren. Sie stellt fest, dass sich beim unfreiwilligen Rollentausch zwei bedrohliche Tendenzen verstärken können: Die Frau schätzt den Hausmann nicht ausreichend oder verachtet ihn sogar heimlich. Und der Hausmann redet seinerseits die Ernährerrolle seiner Frau klein, schätzt sie also auch nicht. "Beides ist eine echte Gefahr für die Beziehung."
Ein Mann, der sich ausschließlich um Haus und Kinder kümmert, sei gesellschaftlich noch nicht akzeptiert, sagt die Soziologin. Folglich fühle er sich oft von allen Seiten in seiner Männlichkeit bedroht: von der eigenen Frau, seiner sozialen Umwelt – und häufig auch von sich selbst. Der Frau, die unfreiwillig ihre Familie ernährt, ergehe es aber nicht besser. "Auch wenn der Mann zu Hause bleibt, leistet sie trotzdem den Hauptteil der Haus- und Familienarbeit", sagt Wimbauer.
Forscher der Universitäten Chicago und Singapur haben auf Basis verschiedener repräsentativer Befragungen von US-Haushalten diesen irrationalen Effekt 2015 nachgewiesen: Verdient sie mehr als er, macht sie nicht weniger, sondern sogar noch mehr im Haushalt, als es bei Paaren mit männlichem Haupternährer der Fall ist. Die Wissenschaftler erklären das so: Die Frau wolle ihrem ohnehin in seiner Männlichkeit gekränkten Partner nicht auch noch das unliebsame Fensterpolieren und Kloputzen zumuten. Deshalb reinige sie nach einem Achtstundentag Bad und Küche eben selbst. Mit dem Resultat, dass angesichts der Doppelbelastung auch bei ihr der Frust wachse. Da verwundert es nicht, dass die untersuchten US-Paare mit vertauschten Rollen nicht nur messbar weniger glücklich waren und über mehr Streit in der Ehe berichteten – das Risiko, sich scheiden zu lassen, war bei ihnen um 50 Prozent höher.
[…] Stefan Woinoff […] [hat eine] Praxis für Psychotherapie […]. Woinoff sagt einen Satz, der klingt, als käme er aus dem vergangenen Jahrtausend: "Das archaische Beuteschema hat uns noch immer fest im Griff." Wie bitte? Woinoff holt aus: In ferner Zeit, als die Menschen noch Jäger und Sammler waren, versprach ein großer, starker Partner bessere Überlebenschancen für den Nachwuchs. Was früher Körpergröße und Muskelmasse waren, seien heute Einfluss und Prestige. Im Prinzip gehe es aber um dasselbe: Sicherheit der Frau durch den männlichen Status. "Frauen suchen auch heute noch eher einen Mann, der ihnen im Status überlegen ist", glaubt Woinoff.
Status müsse aber nicht immer Macht und Geld bedeuten. "Ein intelligenter oder irgendwie außergewöhnlicher Mann kann den Status ebenfalls verkörpern", sagt Woinoff. […] Aber immer gelte, so Woinoff: "Die Frau möchte ihren Mann bewundern."
Die Hausmänner, die zu Woinoff kommen, lassen sich daher Erstaunliches einfallen, um ihre Frauen zu beeindrucken: Der eine renoviert nebenher kurz mal einen Bauernhof, ein anderer schreinert Möbel, ein dritter arbeitet an einem Roman. […] Männer können keine Kinder kriegen, deshalb müssen sie offenbar auf andere Art schöpferisch werden, um eheliche Anerkennung zu ernten. Erklärt das, weshalb es Intellektuelle, Künstler oder Musiker an der Seite erfolgreicher Gutverdienerinnen besser aushalten? Sie ziehen ihr Selbstbewusstsein womöglich aus anderen, immateriellen Quellen und lassen sich als – aus der Rolle des Ernährers ausgebrochene – Paradiesvögel in ihrer Männlichkeit nicht so leicht destabilisieren. […]
Kerstin Bund / Marcus Rohwetter, "Wenn Mama das Geld verdient", in: Die Zeit Nr. 49 vom 29. November 2018, Beilage Nr. 3 Geld und Liebe, S. 6 ff.
Allerdings sehen auch 13 Prozent der Frauen ihr Wunschbild im traditionellen Haupternährer, weitere 15 Prozent im "Lifestyle-Macho" und immerhin 35 Prozent im "starken Mann", der am Status quo festhält. Somit sind Frauen in erheblichem Umfang aktiv an der sozialen Reproduktion des Modells hegemonialer Männlichkeit beteiligt. Die Studie "Geschlechterrollen bei Deutschen und Zuwanderern christlicher und muslimischer Religionszugehörigkeit" des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge von 2013 zeichnet auch für Migranten und Migrantinnen mit christlicher und muslimischer Religionszugehörigkeit ein differenziertes Bild über Geschlechterrollen und die praktizierte Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern in der Familie. Sozioökonomische Faktoren wie Bildung und Alter erwiesen sich im Vergleich zum Faktor "Religionszugehörigkeit" insgesamt als deutlich stärkere Einflussfaktoren auf Geschlechterrollenbilder und die familialen Arbeitsteilungsmuster. Das traf für praktizierende Muslime und Christen gleichermaßen zu. Lediglich eine Minderheit der Muslime (17 %) und Christen (11 %) vertrat patriarchale Ansichten, die als frauenbenachteiligend einzustufen seien.
Ein-Eltern-Familien
Jede fünfte Familie ist heute eine Ein-Eltern-Familie. Zum größten Teil (89 %) sind es Mütter mit ihren Kindern. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist ihr Anteil an der Bevölkerung spürbar angestiegen. Obwohl mehr als drei Viertel der alleinerziehenden Mütter (78 %) in Deutschland über einen mittleren bis hohen Bildungsabschluss verfügen und sechs von zehn alleinerziehenden Müttern erwerbstätig sind, ist das Risiko, als Alleinerziehende in Armut zu geraten und dort zu verbleiben, seit 2005 um 6,6 Prozent auf 41,9 Prozent angestiegen, während es für Paare mit zwei Kindern um 11,7 Prozent gesunken ist. Im Bundesdurchschnitt sind alleinerziehende Mütter etwa fünfmal häufiger als Paarfamilien auf staatliche Transferleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) angewiesen. Von den 1,92 Millionen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren, die sich im SGB-II-Bezug befinden, leben rund 968.750 in Alleinerziehenden-Haushalten. Kinderarmut in Deutschland ist somit zur Hälfte auf die Armut von alleinerziehenden Müttern zurückzuführen. Das liegt unter anderem daran, dass nur jedes zweite Kind vom anderen Elternteil Kindesunterhalt bezieht.
Das hohe Armutsrisiko von alleinerziehenden Müttern ist zum einen eine Folge der tradierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung mit der überproportionalen Übernahme von unbezahlter Sorgearbeit der Mütter in Paarbeziehungen, die sie nach einer Trennung oder Scheidung hart trifft. Zum anderen zeigt sich der Geschlechterbezug aber auch darin, dass viele der als typisch "weiblich" geltenden Sorgeberufe es aufgrund niedriger Löhne und Gehälter nicht ermöglichen, eigenständig eine Existenz zu sichern. Zudem verfehlen familienpolitische Leistungen für Alleinerziehende oft ihre Wirkungen: So haben beispielsweise Maßnahmen für eine steuerliche Entlastung Alleinerziehender kaum dazu beigetragen, das Armutsrisiko dieser Familienform zu verringern. Grund ist, dass lediglich diejenigen Alleinerziehenden hiervon profitieren, die überhaupt ein zu versteuerndes Einkommen in nennenswerter Höhe erzielen.
Wie wissenschaftliche Analysen bereits vor Jahren belegt haben, strebt die große Mehrheit der Alleinerziehenden eine Erwerbstätigkeit an, durch die sie finanziell unabhängig sind, also möglichst eine Vollzeitbeschäftigung oder vollzeitnahe Teilzeit. Die Chance, sich durch eigene Erwerbstätigkeit zu finanzieren, steht und fällt allerdings mit den Möglichkeiten, die Kinderbetreuung zufriedenstellend und den Bedürfnissen von Kindern entsprechend gewährleisten zu können. Die Ausübung einer Berufstätigkeit hat umgekehrt auch Konsequenzen für die Organisation und Bewältigung der vielfältigen familiären Aufgaben, gerade angesichts der Alleinverantwortung, die viele dieser Mütter (und Väter) tragen. Alleinerziehende sind demzufolge auf Arbeitsplätze angewiesen, die ihnen ein ausreichendes Einkommen für die gesamte Familie sichern und ihnen zugleich genügend zeitliche Freiräume eröffnen, damit sie aufgrund der umfassenden Sorgeverantwortung für ihre Kinder unvorhersehbare Ereignisse im Alltag (z.B. das plötzliche Auftreten einer fieberhaften Erkrankung ihres Kindes) bewältigen können.
In dem Modellprojekt "Ergänzende Kinderbetreuung, Notfallbetreuung und Beratung für Einelternfamilien in Deutschland", das zwischen 2014 und 2017 an drei Projektstandorten in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz durchgeführt wurde, zeigte sich ein sehr großer Bedarf: "Die Wartelisten waren lang und hinter vielen Anfragen standen Fälle großer Dringlichkeit und Verzweiflung, in denen ohne ergänzende Kinderbetreuung der Verlust des Arbeitsplatzes drohte, ein Arbeitsplatzangebot nicht angenommen oder eine Ausbildung nicht angetreten werden konnte." Hier zeigt sich, wie notwendig es für das Gelingen des Alltags zwischen Beruf und Familie ist, passgenaue und bezahlbare Unterstützungsangebote für Alleinerziehende zu schaffen.
Multilokale Familien
In den vergangenen Jahren hat sich zudem die Lebensform der multilokalen Familie weiter etabliert. Es handelt sich um Arrangements, die auf steigende Scheidungs- und Trennungsraten und neue Lebensstile zurückzuführen sind. Aber auch erhöhte berufliche Mobilitätsanforderungen spielen eine Rolle. Diese erwerbsbedingte Mobilität betrifft vor allem Vieldienstreisende, Wochenendpendlerinnen und -pendler oder auch transnationale Familienkonstellationen. Eltern und ihre minderjährigen Kinder leben in dieser Familienkonstellation periodisch räumlich getrennt und der Familienalltag wird über verschiedene Wohnstandorte hinweg gestaltet.
Berufsmobilität betrifft dabei nicht mehr nur Hochqualifizierte und Beschäftigte in traditionell mobilen Berufen, sondern wird zunehmend auch für Geringqualifizierte und für Erwerbstätige in bislang nicht mobilen Berufsfeldern bedeutsam. Auch diese familiale Lebensform zeichnet sich ganz überwiegend durch geschlechtsspezifische Arbeitsteilungsmuster aus, indem die Haus- und Sorgearbeit von den Müttern übernommen wird, um den Vätern eine Erwerbsarbeit an einem anderen Standort zu ermöglichen. Damit Mütter in dieser Lebensform eine eigenständige Erwerbsarbeit ausüben können, sind auch hier spezifische und passgenaue Infrastrukturen zu ihrer Unterstützung unabdingbar, beispielsweise verlässliche Kinderbetreuung, auch innerhalb von Rand- und Ferienzeiten, haushaltsnahe Dienstleistungen wie Hol- und Bringdienste oder Haushaltshilfen.
Regenbogenfamilien
Mit der rechtlichen Möglichkeit, eine Lebenspartnerschaft eintragen zu lassen, ist seit 2001 eine weitere Familienform dazugekommen: die sogenannte Regenbogenfamilie. Dabei handelt es sich um Familien, in denen Kinder bei gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen. Laut Mikrozensus leben bei jedem 13. gleichgeschlechtlichen Paar Kinder mit im Haushalt. Da im Mikrozensus aber nur diejenigen gleichgeschlechtlichen Eltern gezählt werden, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft zusammenleben, dürfte der Anteil dieser familialen Lebensform insgesamt größer sein. Bemerkenswert ist zudem der Befund, dass die meisten Kinder mit dem Coming-out ihrer Eltern verhältnismäßig gut zurechtkommen. Kinder, die in eine eingetragene Lebenspartnerschaft gleichgeschlechtlicher Eltern hineingeboren wurden, haben das Spezifische dieses Familienarrangements erst mit zunehmendem Alter wahrgenommen, ein Teil der Kinder war sogar stolz auf diese Besonderheit.
Inwieweit auch in dieser Familienform Geschlechterasymmetrien fortbestehen, ist bisher zumindest in einigen explorativen Studien untersucht worden. Dabei zeigte sich, dass Erwerbsarbeit, Hausarbeit und Kindererziehung in gleichgeschlechtlichen Paarbeziehungen weit ausgewogener verteilt werden als bei heterosexuellen Paaren. Zudem gibt es Hinweise dafür, dass nicht die sexuelle Orientierung, sondern das Geschlecht der homosexuellen Eltern auf die Einstellungen und das Verhalten der Kinder zu wirken scheinen. So weisen insbesondere Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften von zwei Frauen aufwachsen, seltener ein geschlechtstypisches Rollenverhalten auf als Kinder aus heterosexuellen Partnerschaften.
Familien mit behinderten Kindern
Mütter und Väter mit behinderten und chronisch kranken Kindern – ganz gleich, in welcher Lebensform sie ihren Alltag leben – sind besonderen Herausforderungen ausgesetzt: Kinder und Jugendliche mit Behinderung weisen im Vergleich zu erwachsenen Menschen mit Behinderung einen wesentlich höheren Betreuungs- und Pflegebedarf auf. Hinzu kommt, dass über 50 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen auch über lange Zeiträume hinweg nachts betreut und gepflegt werden müssen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Nachtruhe der Eltern. Auch in dieser Lebensform fallen allerdings erhebliche Geschlechterasymmetrien auf, indem die Väter den Einkommenserwerb und die Mütter ganz überwiegend die unbezahlte Sorgearbeit übernehmen. Oft hat die Behinderung ihres Kindes eine Trennung der Ehepartner zur Folge, was für den dann alleinerziehenden Elternteil eine noch größere Belastung darstellt.
Werden die zumeist weiblichen Hauptpflegepersonen nach ihrem gesundheitlichen Befinden gefragt, so geben 40 Prozent von ihnen an, an einer (teilweise sogar chronischen) Krankheit zu leiden. 28 Prozent der Betroffenen sehen einen Zusammenhang zwischen ihrer eigenen Erkrankung und den permanenten Anforderungen der Pflegesituation. Deshalb benötigen insbesondere Mütter mit behinderten Kindern zum Beispiel einen Zugang zu Familienerholungsmaßnahmen mit guter fachlicher Begleitung, um wieder Kraft zu schöpfen, aber auch eine spürbare Entlastung im Alltag, etwa durch haushaltsnahe Dienstleistungen und eine passgenaue Kinderbetreuung mit geschultem Personal. Darüber hinaus bedarf es passender und verlässlicher Angebote für einen gelingenden beruflichen Wiedereinstieg, damit auch für diese Mütter der Zugang zum Erwerbsleben in den erlernten Berufsfeldern nicht auf Dauer verstellt bleibt.
Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen
Der Umfrage "Frauen der Sandwich-Generation" zufolge, die das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag von "Bild der Frau" 2014 durchführte, fühlen sich 82 Prozent der befragten Frauen zwischen 40 und 59 Jahren zwischen Beruf, Familie und der Pflege von Angehörigen immer wieder überfordert und geben an, eigentlich permanent unter Zeitnot zu leiden. 82 Prozent der Frauen, die pflegebedürftige Angehörige haben, betreuen diese selbst. Dabei sind etwa drei Viertel der 40- bis 59-jährigen pflegenden Frauen berufstätig, 30 Prozent sogar in Vollzeit.
Die Ungleichverteilung von unbezahlter Sorgearbeit und bezahlter Erwerbsarbeit fällt auch in dieser Familienform auf: Gut zwei Drittel der befragten Frauen sagen, sie erledigten alles oder das meiste an Haus- und Sorgearbeit. Ein genauso großer Teil der Männer räumt ein, den kleineren Teil, kaum etwas oder gar nichts zu übernehmen. Obwohl es grundsätzlich eine große Bereitschaft gibt, die Pflege der Eltern selbst zu leisten, berichteten die Betroffenen von einer erheblichen psychischen und zeitlichen Belastung, die negative Auswirkungen auf die gesamte Familie haben kann. Demzufolge benötigen auch sie zielgenaue Entlastungsmöglichkeiten, alltagsunterstützende Dienste ebenso wie konkrete Maßnahmen, um ihre psychische Gesundheit und ihre persönliche Lebensqualität zu verbessern, aber auch, um ihre Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Hier sind innovative Lösungen gefragt. So öffnen sich etwa gemeinnützige Familienerholungsstätten inzwischen durch eine zunehmend multifunktionale Ausgestaltung ihrer Einrichtungen für pflegende Angehörige mit an Demenz erkrankten Familienmitgliedern und erreichen damit neue Zielgruppen.
Zeitinseln in einer beschleunigten Gesellschaft ermöglichen – wichtiger denn je
Familie ist – in welcher Form sie auch gelebt wird − mit anspruchsvollen Herstellungsleistungen verbunden, welche hohe und äußerst unterschiedliche Anforderungen an die elterlichen Alltags- und Erziehungskompetenzen stellen. Der Begriff "Familie als Herstellungsleistung" meint dabei sowohl die Prozesse, in denen Familie im alltäglichen und biografischen Handeln als gemeinschaftliches Ganzes immer wieder neu geschaffen wird ("Doing family", siehe bei Literaturhinweise unter Karin Jurczyk), als auch die umfassenden Praktiken und Gestaltungsleistungen der Familienmitglieder, um Familie im Alltag lebbar zu machen.
Der Übergang zur Elternschaft und das alltägliche Zusammenleben mit Kindern stellen sich heute außerordentlich vielfältig dar: Die einen werden Eltern mit dem Anspruch einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung, tendieren zur "Professionalisierung" von Elternschaft und ringen um verlässliche Alltagsarrangements zwischen Familie und einer qualifizierten Berufstätigkeit für beide Partner. Andere schlittern in traditionelle Geschlechterrollen hinein oder lassen sich bewusst darauf ein, ohne über die langfristigen Konsequenzen nachzudenken. Elternschaft in bildungsfernen Milieus wiederum bedeutet oft die Verfestigung in Armut, was ein gelingendes Aufwachsen von Kindern nachweislich erschwert, besonders nach einer Trennung oder Scheidung.
Karikatur: Fehlende Erholungszeit für berufstätige Mütter. (© picture-alliance, KonzeptQuartier; Collage auf Basis von picture alliance / die KLEINERT.de / Willi Lutz)
Karikatur: Fehlende Erholungszeit für berufstätige Mütter. (© picture-alliance, KonzeptQuartier; Collage auf Basis von picture alliance / die KLEINERT.de / Willi Lutz)
Ein Bedarf an Unterstützung und Begleitung besteht über alle Bildungsgruppen und Lebensformen hinweg. Deshalb sind familienunterstützende Dienste gefordert, diese verschiedenartigen Bedarfslagen von Eltern und ihren Kindern sensibel zu erkennen und im Verbund unterschiedlicher örtlicher Einrichtungen tragfähige und passgenaue Angebote für ein gelingendes Familienleben bereitzustellen, die an den elterlichen Ressourcen ansetzen, sie einbeziehen und ihre Selbstwirksamkeitserfahrungen stärken. Denn Überlastung, Stress und das Gefühl, ständig unter Zeitnot zu stehen bzw. den vielfältigen Anforderungen zwischen Beruf und Familienalltag nicht genügen zu können, beeinträchtigen heutzutage häufig das physische und psychische Wohlbefinden von Eltern und Kindern.
In der repräsentativen Zeitverwendungsstudie "Wo bleibt die Zeit" des Statistischen Bundesamtes von 2012/13 gaben 57 Prozent der Mütter und 62 Prozent der Väter an, sich häufig unter Zeitdruck zu fühlen und für sich selbst nicht ausreichend Muße zu haben. Am stärksten brachten erwerbstätige Mütter den alltäglichen Zeitstress zwischen Beruf und Familie zum Ausdruck und wünschten sich eine stärkere Entlastung von der Alltagsarbeit. Das gilt auch für Väter. So trifft man in der Altersgruppe Anfang 40 bei Männern auf zwei völlig verschiedene Lebenswelten: die mit Kindern, in der die Freizeit weitestgehend mit der Familie verbracht wird, und die ohne Kinder, in der die Freizeittätigkeiten anders und die berufliche Mobilität weitaus flexibler sind. Beide konkurrieren auf dem Arbeitsmarkt miteinander, wobei Väter durchschnittlich sogar zwei Stunden länger pro Woche arbeiten als Männer ohne Kinder. In vielen familialen Lebensformen fehlt es demnach im Alltag immer häufiger an zusammen verbrachter Familienzeit, an Zeiten für die Partnerschaft, aber auch an Zeit für die persönliche Erholung. Es sind insbesondere die Mütter, die Abstriche an ihrer persönlichen Zeit vornehmen, um den Alltag zwischen Beruf und Familie zu bewältigen und zu koordinieren.
QuellentextStrategische Inkompetenz oder: Lernen, die Rolle, die man lebt, zu hinterfragen
[…] Als sogenannter moderner Vater werde ich oft gelobt, dass ich, anders als Männer früher, "Zeit mit den Kindern verbringe". Meine eigene Mutter sagt regelmäßig "Du machst ja so viel". Der Supermarkt-Kassierer kommentierte meinen Samstagseinkauf mit zwei Mädchen mit: "Das hätte es früher nicht gegeben." Das Familienministerium berichtet im "Väterreport", dass sich das Selbstverständnis "stark gewandelt" hat. Alles gut also? Ich bringe meine Tochter zur Kita und hole sie meist sechs Stunden später wieder ab, gehe aber trotzdem öfter zum Sport, als meine Frau zur Rückbildungsgymnastik kommt. Ich koche oft für die Familie, aber die Putzfrau organisiert meine Frau. Ich komme zum Kita-Fest (20 Minuten zu spät), in den Google-Kalender eingetragen hat es meine Frau.
B. macht auch wie selbstverständlich die Kinderarzttermine aus und organisiert Playdates mit anderen Kita-Kindern. Und wenn ich von ihrer oder meiner Mutter für mein Engagement gelobt werde, stöhnt sie entnervt auf. Weil sie nicht zu Unrecht das Gefühl hat, die gesamte Verantwortung und Planung liege implizit bei ihr – Fachbegriff in der Geschlechtergerechtigkeitsdebatte: "Mental Load" –, obwohl sie als Ärztin einen anspruchsvolleren und anstrengenderen Beruf hat als ich.
Zwar verbringen Väter heute deutlich mehr Zeit mit ihren Kindern als Männer in den 60er-Jahren – 70 Prozent der Deutschen finden diese Entwicklung gut oder sehr gut. Verbrachten Männer 1997 noch 17 Stunden mit ihren Kindern pro Woche, waren es 2007 laut Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft 22 Stunden und 2017 bereits 26. Aber es bleibt die Frage, ob knapp 20 Prozent Steigerung in einer Dekade eigentlich ein "starker Wandel" sind oder doch eher Schneckentempo.
Denn obwohl 60 Prozent der Eltern mit Kindern unter drei Jahren es ideal fänden, wenn sich beide Partner gleichermaßen in Beruf und Familie einbringen könnten, setzen nur 14 Prozent ein partnerschaftliches Modell um. Laut Berechnungen der UNO erledigen Frauen noch immer 2,6 Mal so viel Arbeit wie Männer im Haushalt und bei der Kinderbetreuung. Eine Umfrage des Economist in acht westlichen Ländern ergab 2017: 46 Prozent der Väter finden, dass die Arbeit gerecht verteilt sei – und 32 Prozent der Mütter. "Die Ideologie und gesellschaftliche Erwartungen haben sich schneller geändert als die Realität in den Familien", schreibt die US-amerikanische Psychologin Darcy Lockman in ihrem Buch "All the Rage". […] Man sollte sich deshalb nicht fragen, warum der gesellschaftliche Wandel so langsam vonstatten geht, sondern warum Männer sich so erfolgreich wehren. "Die kurze Antwort ist, es liegt in ihrem Interesse, eine Trennung der Sphären zu verstärken, die männliche Ideale untermauert und eine Geschlechterordnung aufrechterhält, die Männer vor Frauen bevorzugt", meint der Soziologe Scott Coltrane. [...]
Ich liebe mein Leben, habe wahrscheinlich seit meiner eigenen Kindheit nicht so oft so laut gelacht wie mit A. (3 Jahre) und I. (6 Monate). Trotzdem ist da immer eine Stimme in meinem Kopf, die sagt: Du warst jetzt schon den ganzen Sommer nicht segeln, Fußballtraining geht nur, wenn A. mal vor 20 Uhr einschläft, und was ist eigentlich im Winter, wenn die Powder-Wolken aus dem Süden in Richtung Alpenhauptkamm ziehen? Soll ich da etwa die ganze Zeit zu Hause sitzen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Frau und andere Mütter diese Gedanken auch haben.
Väter mit Babys haben jedoch mehr als doppelt so viel Freizeit wie Mütter, schreibt Darcy Lockman. Nicht weil Frauen keine Hobbys haben, sondern weil irgendjemand die verdammte Arbeit machen muss. "Männer vergessen gerne Sachen. Man kann das harmlos finden", schreibt Lockman. Oder man erkennt in der begrenzten Aufmerksamkeit eine Strategie, die nur dazu dient, Verantwortung abzuwehren. Männer, die sonst immer alles unter Kontrolle haben wollen, behaupten im eigenen Haus: Ich weiß nicht, wie das geht! Soziologen sprechen sogar von "strategischer Inkompetenz". Die Botschaft: Ich hab jetzt Wichtigeres zu tun, jemand anderes muss die Aufgabe erledigen (also die Mutter). Noch so ein Satz: "Ich würde es ja machen, aber sie ist meistens schneller." […] Viele Menschen schließen daraus, dass Frauen eben für die Rolle geboren wurden, deshalb Aufgaben an sich reißen und über irgendwelche biologischen Superkräfte verfügen.
Und Superkräfte hat B. auf jeden Fall. Sie sind nur nicht angeboren, sondern erlernt. Wissenschaftler der Universität von Tel Aviv haben Hirn-Scans bei Müttern und Vätern durchgeführt und bei den Frauen eine größere Aktivität in der Amygdala festgestellt, einem Hirnareal, das, sehr vereinfacht gesagt, für emotionale Prozesse zuständig ist. Die meisten Väter wiesen die Veränderung nicht auf. Als die Forscher dann allerdings in die Köpfe von homosexuellen Männern guckten, die sich full-time um ihr Baby kümmern, sahen sie: größere Aktivität in der Amygdala.
Dazu passt der Killersatz von Darcy Lockman: "Es ist die tägliche Erfahrung der Betreuung von Kindern – und nicht das biologische Geschlecht –, die das umfasst, was wir heute als Mutterschaft bezeichnen." Heißt: Ich könnte das auch alles. Dass ich es nicht tue, liegt an mir.
Sozialwissenschaftler nennen Beziehungen wie meine "Gender Legacy Couples": Während Paare bei Umfragen und Studien angeben, dass sie Entscheidungen gleichberechtigt treffen, begünstigen diese die Bedürfnisse und Ziele von Männern viel mehr als die der Frauen. Man redet mehr über moderne Rollenverteilungen, als die Rollen, die man lebt, zu hinterfragen. "Die Sprache der Gleichheit – der Glaube an den modernen, engagierten Vater – schafft einen Mythos, der für die Idee dieser Ehen zentral ist", schreibt Lockman. "So wird eine Art weibliche Unterordnung überdeckt, die in vielen modernen Haushalten des 21. Jahrhunderts sonst unerträglich wäre. Nämlich die Annahme, dass die Mutter für das Wissen, Planen und Machen verantwortlich ist, es sei denn, sie trifft andere Vorkehrungen." Noch so ein Killersatz.
An einem Freitag gehe ich mit B. essen […]. "Lass uns doch besser abstimmen", sage ich zu meiner Frau. "Ich würde dir gerne etwas abnehmen". […] B. sagt: "Mach gerne mehr. Ich würde aber jetzt lieber über schöne Dinge reden, geplant hab ich tagsüber genug." Ich finde, das ist eine gute Antwort. Denn mein erster Impuls war, dass meine Frau mir beibringen soll, wie sie die vielen Aufgaben erledigt. Aber das wäre ja nur ein weiterer Punkt auf ihrer To-do-Liste. Und: Warum brauche ich überhaupt Unterricht? Sollte ich es nicht selbst können, wollen und tun? Neben der Frage, ob unsere Aufgabenverteilung fair ist, muss ich vor allem herausfinden, ob ich mich damit zufriedengebe, oft nur Zuschauer zu sein.
Tobias Moorstedt, "Schatz, wo sind die Windeln?", in: Süddeutsche Zeitung vom 11. Januar 2020
Perspektiven
Eine zukunftsweisende und geschlechtergerechte Gesellschaftspolitik muss die keineswegs triviale Frage beantworten, wie künftig die Bereitschaft zur Übernahme von Sorgearbeit für andere gewährleistet und organisiert werden kann, um dadurch die Voraussetzungen für ein wirtschaftlich und sozial intaktes Gemeinwesen zu schaffen. Der Zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung formuliert dafür zwei grundlegende Handlungsempfehlungen:
Es muss selbstverständlich werden, dass Eltern einen Teil der Sorgearbeit gleichberechtigt in ihre Lebensläufe integrieren können, ohne sich deswegen gravierende Nachteile für ihre berufliche Entwicklung einzuhandeln: Die Sachverständigenkommission des Zweiten Gleichstellungsberichts hat für diese gleichstellungspolitische Sicht auf Erwerbs- und Sorgearbeitskonstellationen den Terminus "Erwerb- und-Sorge-Modell" vorgeschlagen.
Die bundesdeutsche Gesellschaft muss dringend eine Aufwertung der immer stärker nachgefragten und bisher größtenteils von Frauen ausgeübten sorgenden Dienstleistungsberufe vornehmen, die für eine familienunterstützende Infrastruktur von großer Bedeutung sind.
Eine gleichstellungsorientierte Gestaltung von Erwerbs- und Sorgearbeit für alle Menschen erleichtert es ihnen – unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit und konkreten Lebensform –, diese gesellschaftlich notwenigen Arbeitsformen im Lebensverlauf gleichberechtigt zu verbinden. Es gilt einen institutionellen und politischen Rahmen zu schaffen, der Doppelverdiener-Arrangements ohne Überforderung und damit eine Alternative zu Familienernährer-, Zuverdienst- und Doppel-Vollzeitmodellen in Gestalt des Erwerb-und-Sorge-Modells ermöglicht.
Mögliche Modelle für ein Arrangement von Sorge- und Erwerbsarbeit in Paaren. (© BMFSFJ: Zweiter Gleichstellungsbericht, Zusammenfassung, 2018, S.15)
Mögliche Modelle für ein Arrangement von Sorge- und Erwerbsarbeit in Paaren. (© BMFSFJ: Zweiter Gleichstellungsbericht, Zusammenfassung, 2018, S.15)
Ebenso wichtig ist eine Aufwertung der Berufsfelder, in denen überwiegend Frauen tätig sind: Berufe in den Bereichen Krankenpflege, Hauswirtschaft, Physiotherapie, Erziehung oder Altenpflege werden allesamt deutlich schlechter bezahlt als gewerblich-technische, männlich dominierte Berufe, obwohl die Anforderungen und Belastungen zwar anders, aber keineswegs geringer sind. In der alternden Gesellschaft Deutschlands entstehen derzeit gerade in den personen- und haushaltsnahen Sorgeberufen neue Arbeitsplätze, die nur bedingt durch Technik ersetzt werden können. In diesen Dienstleistungsberufen wird der Fachkräftemangel weiter zunehmen.
Deswegen stellt eine grundsätzliche Neubewertung und Aufwertung dieser Sorgeberufe als zweites Standbein für eine gut funktionierende Volkswirtschaft im 21. Jahrhundert eine vordringliche gesellschaftliche Aufgabe dar: Unabhängig davon, ob sie von Männern oder Frauen ausgeübt werden, müssen sie attraktiver werden und die Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand ermöglichen. Seit mehr als zwanzig Jahren aber haben Menschen, die in den genannten Dienstleistungsberufen personaler Versorgung tätig sind, nicht mehr am Produktivitätsfortschritt unserer Gesellschaft teilgehabt. Das muss sich nach Auffassung der Gleichstellungskommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht dringend ändern. Notwendig ist eine gesamtgesellschaftliche Diskussion darüber, was in unserer Gesellschaft "produktiv sein" bedeutet und ob es noch länger hinnehmbar ist, dass das Herstellen von Maschinen und Autos eine deutlich höhere materielle Anerkennung erfährt als die Betreuung und Erziehung von Kindern sowie die Pflege von kranken, behinderten oder alten Menschen.