Diese Diagnose wird nicht von allen Historikerinnen und Historikern geteilt, aber sie hat doch einiges für sich. In jedem Fall ist es erklärungsbedürftig, dass es Zeiten gibt, die ein großes Bedürfnis nach Geschichte haben, und andere, in denen das weniger der Fall ist. Geschichte ist nicht immer gleich bedeutsam. Das Interesse an ihr unterliegt erheblichen Schwankungen und auch die Formen, Funktionen und die an ihrer Gestaltung beteiligten Menschen wandeln sich. Um auf diesen Wandel hinzuweisen, ihn zu beschreiben und vielleicht auch zu beeinflussen, bietet sich der Begriff der Geschichtskultur in besonderer Weise an.
Der Begriff der Kultur war in den 1990er-Jahren in aller Munde. Es war die Rede unter anderem von Esskultur, Verwaltungskultur, Feierkultur, Unternehmenskultur, Kommunikationskultur. Der Begriff lässt sich an fast jedes andere Nomen anhängen und markiert damit eine bestimmte Dynamik, eine Art und Weise, wie mit etwas umgegangen wird, die Formen, in denen das geschieht, vor allem aber die Veränderung dieser Formen. Eine gewisse Wertschätzung ist ebenfalls damit verbunden, auch wenn die Kulturwissenschaften den älteren, bildungsbürgerlichen Begriff der Hochkultur ablehnen, weil der immer auch die Abwertung anderer Kulturen miteinschließt.
In diesem Zusammenhang kam der Begriff „Kultur“ in die Wissenschaften und löste dort einen cultural turn (kulturelle Wende) aus, also eine Veränderung thematischer und methodischer Ansätze. So wurde auch die Kulturgeschichte (wieder)entdeckt, der es insbesondere um die Erforschung handlungsleitender Wertvorstellungen und die Vermittlungsprozesse zwischen Individuum und Gesellschaft geht.
Auch in der Geschichtsdidaktik schlug sich diese Wende nieder. Wirksam wurde das Konzept vor allem, als Jörn Rüsen 1994 begann, „Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken“ anzustellen. Bis heute sind Rüsens nicht ganz einfach zu durchdringende Überlegungen ein wesentlicher theoretischer Referenzpunkt. Vielleicht hat aber der Geschichtsdidaktiker Hans-Jürgen Pandel noch prägnanter auf den Punkt gebracht, was mit Geschichtskultur gemeint ist, nämlich „die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte umgeht“.
QuellentextDimensionen der Geschichtskultur
Wissenschaftler:innen ist es eigen, ein Feld möglichst gut ordnen zu wollen, um Übersicht zu gewinnen. Dabei entstehen immer wieder aber auch neue Probleme. Warum wird das eine Phänomen hierhin sortiert und nicht dahin? Wie kommen die unterschiedlichen Schubladen zustande, in die einsortiert wird? Und was verbergen die getroffenen Kategorisierungen an zugrunde liegenden Wertvorstellungen?
Jörn Rüsens Einteilung kann als Klassiker gelten. Immer, wenn über Geschichtskultur geschrieben wird, wird auf Rüsens drei Dimensionen verwiesen, und das zunächst mit gutem Recht. Rüsen geht von anthropologischen Grundgegebenheiten aus, von mentalen Operationen, und ordnet diesen jeweils geschichtskulturelle Dimensionen zu. So wie jeder Körper räumlich durch Länge, Breite und Höhe definiert ist, will Rüsen auch alle Geschichtskultur durch drei Hauptmerkmale bestimmt sehen: ästhetisch, politisch und kognitiv. Die Ordnung ergibt sich durch das jeweils markanteste Merkmal.
Die Logik dieser Ordnung hat etwas Bizarres. Entweder ist sie eher willkürlich oder in ihrer anthropologischen Herleitung problematisch, weil angenommen wird, dass Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten gleich seien. Dass der Geschichtswissenschaft eine so große Bedeutung zugeschrieben wird, ist vielleicht eher eine Wunschvorstellung und immer wieder wird mit guten Gründen vorgeschlagen, weitere Dimensionen hinzuzufügen: eine ökonomische, eine didaktische, eine ethische oder religiöse (die Rüsen selbst zuletzt ergänzt hat). Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Bernd Schönemann hat allein vier Erweiterungen vorgeschlagen, eine institutionelle, eine professionelle, eine mediale und eine publikumsspezifische Dimension. Für all das gibt es gute Gründe. Allerdings verblasst so auch die pragmatische Kraft von Rüsens Trias, mit der es eben sehr einfach ist, geschichtskulturelle Phänomene quasi zu vermessen, sie zu beschreiben und zu vergleichen.
Sollen geschichtskulturelle Phänomene geordnet werden, ließe sich gut auch nach Handelnden und Medien unterscheiden. Als differenzierende Kriterien könnten angelegt werden:
Akteur:innen: Reenactmentgruppen, Hobbyfotograf:innen, Briefmarkensammler:innen, Universitätsprofessor:innen, Geschichtslehrer:innen, Museumsfachleute, Kriminalbeamt:innen, Archivar:innen, Bibliothekar:innen, Denkmalpfleger:innen u. a.
Adressat:innen: jede und jeder, individuell und/oder kollektiv
Funktion: Bildung, Unterhaltung, Werbung, kommerzielle Zwecke, Propaganda, Herrschaftslegitimation, Protest, Bewahrung von Vergangenheit für die Zukunft (Unsterblichkeitsstreben), Veränderung der Geschichtsdeutung u. a.
Institutionen: Universitäten, Schulen, Museen, Archive, Bibliotheken, historische Kommissionen, Denkmalpflege, Vereine, Stadt- und Gemeindeverwaltungen, Firmen, politische Parteien, Gedenkstätten u. a.
Medien: wissenschaftliche Texte, Schulbücher, historische Ausstellungen, politische Reden, Zeitungsartikel, Fernsehdokumentationen, National- und Kriegerdenkmäler, historische Feste, historische Romane und Sachbücher, historische Bildungsreisen, Mittelaltermärkte, Reenactments, historisch kostümierte Gastronomie, historische Computerspiele, Musik u. a.
Was zeigt sich an diesen Versuchen? Geschichtskulturelle Phänomene sind allgegenwärtig. Sie sind komplex. Wer sie entdecken, beschreiben, vergleichen und verstehen will, ist gut beraten, sich ein Raster zu bauen, um der Vielfalt der Phänomene habhaft zu werden. Genau das macht das Verstehen der Welt herausfordernd und anregend zugleich.