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Infoaktuell Nr. 40/2023

„Wie viel Geschichte braucht die Zukunft?“

Lars Deile

/ 3 Minuten zu lesen

Ein Rückblick auf die 1990er-Jahre enthüllt eine bemerkenswerte Flut an Geschichtspräsenz. Doch welche Auswirkungen hat der stetige Blick auf Vergangenes auf die Gegenwart?

„Historisierende“ Bauwerke wie der Wuppertaler Hauptbahnhof (1848) stellen einen Bezug zur Vergangenheit her. (© picture-alliance/akg, Rainer Hackenberg)

Anfang der 1990er-Jahre machte der Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann (1938–2002) eine bemerkenswerte Beobachtung, als er schrieb: „So viel Geschichte wie heute war nie.“ Und möglicherweise hat sich das seitdem noch einmal erheblich gesteigert. Historikerinnen und Historiker freut das selbstverständlich, doch auch Museen, Archiven und Andenkenverkäufern kommt das zugute. Aber ist es wirklich gut, wenn alles und jede und jeder immer auch sofort in seinen Bezügen zur Vergangenheit gesehen wird? Droht dann nicht notwendigerweise Bewegungslosigkeit wie bei jemandem, der in seiner vollgestopften Wohnung keinen Schritt vor den anderen setzen kann? In Rom traut sich kaum ein Bauunternehmen den Baggerlöffel ins Erdreich zu senken, weil schon nach kurzer Zeit ein Baustopp zu erwarten ist, der durch den Fund einer antiken Latrine droht.

„Wie viel Geschichte braucht die Zukunft?“, fragte 1998 der britische Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012) und griff dabei die gleiche Frage auf, die der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) bereits mehr als 100 Jahre zuvor gestellt hatte, als er über den „Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ (1874) nachdachte. Nietzsche kritisierte seine Zeit, in der großbürgerliche Villen wie Burgen aussehen konnten oder Bahnhöfe wie antike Tempel. Dieser als Historismus bezeichnete Baustil kombinierte auch gern wahllos irgendwelche Stile, Hauptsache, es sah alt und beeindruckend aus. Die Bezüge suchte er in der Vertrautheit der Vergangenheit. Eine radikal neue Vision für das Bauen und Leben der Zukunft setzte erst wieder das „Bauhaus“ in den 1920er-Jahren.

Es gab eine Zeit – in Deutschland etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders die späten 1960er- und frühen 1970er-­Jahre, vielleicht bis hinein in die 1990er-Jahre –, da wurde abgeräumt und neu gestaltet. Saarbrücken und Bielefeld bekamen ihre Stadtautobahnen (für den Ostwestfalendamm wurden dafür immerhin 120 innerstädtische Häuser abgerissen). „Die Legende von Paul und Paula“ (1973) – einer der großen Liebesfilme der DDR – beginnt mit der Sprengung alter Wohnhäuser. Und als sich der Staub legte, stieg aus diesem Schutt die Silhouette moderner Plattenbauten auf. Bis in diese Zeit blieben vielerorts die Kriegsruinen alter Kirchen und Stadtschlösser unangetastet stehen. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden sie abgerissen und an ihre Stelle Rechenzentren gebaut (Potsdam an der Stelle der Garnisonkirche, 1968) oder Bürgerparks angelegt (Braunschweig auf dem Gelände des abgerissenen Stadtschlosses, 1960).

All das ist heute kaum mehr vorstellbar. In Bielefeld wird über Tempo 30 auf der Stadtautobahn diskutiert. In Stuttgart gab es breite Bürgerproteste gegen den Teilabriss des alten Bahnhofs und in Potsdam wurden für den Landtag das Stadtschloss nachgebaut und der Turm der Garnisonkirche – allerdings auch in diesem Fall gegen erheblichen Protest. Auch Braunschweig hat seine Schlossfassade wieder, hinter der sich heute – ganz konsequent – ein Einkaufszentrum verbirgt.

Der französische Historiker François Hartog hat versucht, diese Zeitbezüge zu ordnen und spricht von Historizitätsregimen (Régime d’historicité, 2003). Das ist im Deutschen etwas missverständlich: Worum es ihm aber geht, ist die Herausarbeitung vorherrschender Formen, in denen in einer Zeit Bezüge zu anderen Zeiten hergestellt werden. Im Anschluss an Reinhart Koselleck macht Hartog eine Dominanz von Vergangenheitsbezügen bis in die Zeit um 1800 aus.

Wer sich bis dahin die Zukunft vorstellen wollte, konnte sich an der Vergangenheit orientieren, weil alles der einen andauernden göttlichen Ordnung unterlag. Selbst wenn sich die Einzelerscheinungen änderten, die Welt blieb für die Menschen bis in die Frühe Neuzeit im Wesentlichen die Gleiche. Mit Industrieller Revolution, Französischer Revolution und den mit diesen Entwicklungen in engerem und weiterem Zusammenhang stehenden Umwälzungen änderte sich auch die Erfahrung von Zeit. Die Moderne ist durch Beschleunigung gekennzeichnet, wie das der Soziologe Hartmut Rosa beschrieben hat. Was heute „in“ ist, ist morgen schon wieder „out“. Alles strebt auf die Zukunft zu.

Die Moderne glaubt an den Fortschritt und sie ist zukunftsbezogen – oder war zukunftsbezogen? Hartog behauptet, dass diese Zuversicht angesichts von Klimawandel, Massenartensterben, globaler Migration und anderem gründlich erschüttert ist, wenn nicht endgültig ruiniert.

Eine Möglichkeit, dieser unsicher gewordenen Zukunft zu entkommen, ist ein gesteigerter Bezug auf die angeblich „gute alte Zeit“, also eine Flucht in die Vergangenheit. Der Philosoph Hermann Lübbe hat diese Nostalgie als ein Zeichen unserer Zeit identifiziert. Je mehr sich ändert, je schneller sich die Welt ändert, umso größer sei das Gefühl des Verlorenseins und das Bedürfnis nach Vertrautem steigt. Die Konjunktur von Geschichte wäre also ein untrügliches Zeichen dafür, dass diese Welt zu fremd geworden ist und aus den Fugen scheint.

Lars Deile ist Professor für Didaktik und Theorie der Geschichte. Er arbeitete nach einem Studium in Jena und Dublin als Lehrer für Geschichte und Englisch am Thüringer Sprachengymnasium in Schnepfenthal. Nach Stationen in Greifswald und Berlin ist er seit 2016 an der Universität Bielefeld tätig. Neben seinen Interessen für die Bildungsgeschichte der Moderne und für Geschichtskulturen der Gegenwart denkt er insbesondere darüber nach, was Geschichte ist und wie sich demzufolge historisches Lernen verstehen und gestalten lässt. Er hat zum Fest veröffentlicht, zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und zum Geschichtsunterricht. Zuletzt erschienen „Prüfen im Geschichtsstudium“ (2023 mit Frank Sobich), „Historical Understanding: Past, Present and Future“ (2022 mit Zoltán Boldizsár Simon) und „Geschichtsdidaktische Grundbegriffe“ (2021 mit Jörg van Norden u. a.).
Kontakt: E-Mail Link: lars.deile@uni-bielefeld.de