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Geschichte ist (nicht) überall | Geschichtskultur im Unterricht | bpb.de

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Infoaktuell Nr. 40/2023

Geschichte ist (nicht) überall

Lars Deile

/ 6 Minuten zu lesen

Überall dort, wo ein Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt wird, wird auch Geschichte praktiziert. Ihre Einordnung und Deutung ist nicht nur Aufgabe von Historiker:innen.

Im englischen Bristol reißen Aktivistinnen und Aktivisten der Black Lives Matter-Bewegung (BLM) die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston vom Sockel und werfen sie in ein Hafenbecken. (© picture-alliance, Ben Birchall)

Ein Kaffeefleck, eine Geschichtsstunde, die Streaming-Serie „Vikings“, das Holocaust-Denkmal in Berlin, Yuval Hararis Bestseller „Sapiens“ in seiner Comic-Ausgabe oder die alljährliche Familienfeier zum Geburtstag der Tante. Was haben diese Dinge gemeinsam? Wo all das doch so unterschiedlich ist, in Formen und Absichten?

All diese Beispiele sind Zeitreisen. Es sind Gegenstände, Rituale, Diskussionen, Bauwerke, Texte, durch die und in denen Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar wird. Es ist zwar nicht die Vergangenheit selbst, aber es sind Einladungen – mitunter auch Zumutungen –, durch die Menschen, die im Hier und Heute leben, Bezüge zur Vergangenheit herstellen (müssen).

Vergangenheit und Geschichte

Es reicht eigentlich, von all diesen Dingen schlicht als „Geschichte“ zu sprechen. Und es reicht insbesondere, wenn zwischen „Vergangenheit“ und „Geschichte“ als in der Gegenwart repräsentierter Vergangenheit unterschieden wird, obwohl oft von beidem als „Geschichte“ die Rede ist. Die Vergangenheit ist vergangen und uns in der Gegenwart nicht mehr zugänglich.

Das Buch, das im Frühjahr zum Geburtstag verschenkt ­wurde, hat mittlerweile Knicke und Risse und vielleicht Sandkörner zwischen den Seiten vom Lesen am Strand im Sommer. Die erste Begegnung ist unwiederbringlich verloren, denn Zeitreisen gibt es nicht. Aber Menschen können sich an ­Momente der Vergangenheit erinnern, sie können Bezüge herstellen zwischen ihrer Gegenwart und der Vergangenheit. Genau das ist Geschichte. Geschichte ist vergegenwärtigte Vergangenheit, nicht die Vergangenheit selbst.

Alles kann Geschichte haben. Geschichte wird jeden Tag praktiziert, immer wieder, überall. Immer dann, wenn Bezüge zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hergestellt werden, wird jede und jeder zum Historiker, zur Historikerin. Zugegeben, professionell Geschulte in Universitäten, Museen und Archiven sind durch ihr Studium oder ihre Ausbildung handwerklich qualifiziert und haben einen reflektierten Umgang mit Geschichte erlernt, aber Geschichte gehört grundsätzlich zum Leben aller Menschen dazu.

Von „Geschichte“ zu sprechen, würde eigentlich reichen, wenn die Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar ist. Einen Begriff wie den der „Geschichtskultur“ bräuchte es dafür nicht. Und diese Geschichte hat der Kaffeefleck, der aus einer Unachtsamkeit in der Vergangenheit entstanden ist, ebenso wie die Doktor­arbeit einer Historikerin. Im Hier und Jetzt legen beide Zeugnis ab, sind andauernde Spuren zu vergangenem Geschehen.

Manche würden einwenden, dass eine solche Auffassung zu wenig sei, dass Geschichte etwas Wertvolles hervorhebt, dass Geschichte der Welt Orientierung verleiht, „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ ist, wie es der Historiker und Kulturwissenschaftler Jörn Rüsen ausdrückt. Geschichte wäre dann eine Praxis, mit der sich Menschen in der Welt orientieren, etwas, das hilft, zwischen richtig und falsch, gut und böse, wichtig und unwichtig zu unterscheiden, eine Praxis, bei der die Welt als mehr wahrgenommen wird als nur der Moment der eigenen Gegenwart. Aus Geschichte erwächst Verantwortung – für Geschehenes und auch für noch nicht Geschehenes. All diese Aufladung von Geschichte ist modernen Menschen sehr vertraut. Geschichte ist nicht nur vergegenwärtigte Vergangenheit, sie ist ein ganzes Weltbild.

So ist das zumindest in der modernen Geschichtsschreibung, also seit etwa 200 Jahren. Davor war das durchaus anders, wie dem komplexen, aber aufschlussreichen Werk des Historikers Reinhart Koselleck (1923–2006) entnommen werden kann. Im europäischen Mittelalter bis hinein in die Vormoderne war die Historie lediglich die Beschreibung vergangenen Geschehens, aus der gelernt werden konnte, weil die Welt in ihrer göttlichen Ordnung immer gleich blieb. Der Wechsel der Erscheinungen bedeutete eben noch keine Wesensveränderung der Welt und das Wesen der Welt wurde religiös erfasst.

Seit dem 19. Jahrhundert meint Geschichte immer eine Beschreibung des Vergangenen und gleichzeitig auch seine sinnvolle Einordnung in den Fortgang der Welt, seine Deutung. Weil die Welt als sich rasant verändernd wahrgenommen wurde, konnte Geschichte zu einer Deutung dieser Veränderung werden, in der Regel als Fortschritt. Eine Philosophie der Geschichte ist in der modernen Welt also immer gleich mitgedacht, wenn von Geschichte die Rede ist, und auch eben diese Deutungen von und über Geschichte sind ständigem Wandel unterworfen.

So sind Buchtitel wie „Der lange Weg nach Westen“ des Historikers Heinrich August Winkler entstanden und deshalb ist 2020 die Statue von Edward Colston (1636–1721, britischer Sklavenhändler und Politiker) in Bristol im Fluss versenkt worden.

Hat also alles Geschichte? Der Kaffeefleck und auch der Kaffeefleck, der nach mehrmaligem Waschen dann doch wieder rausgegangen ist? „Geschichte ist ihrer kürzesten Definition nach das, womit wir nicht fertig werden“, hat der Historiker Ulrich Raulff einmal gesagt. Der Kaffeefleck hat sie also nur, solange er uns irritiert. Solange wir uns an dem abarbeiten, was uns überliefert ist, weil es uns stört oder weil es uns wichtig ist, solange hat es Geschichte, solange sind wir mit der Vergangenheit beschäftigt, im Guten wie im Schlechten.

Alles, was wir nach langem Überlegen dann doch ruhigen Gewissens in den Müll werfen, hat keine Geschichte mehr. Es lässt sich im privaten Bereich oft beobachten, wie sich dieser Prozess vollzieht, ein Prozess, der durchaus nicht nur in eine Richtung verlaufen muss. Wenn Großeltern sterben, heben deren Kinder oft noch viele Dinge auf, weil sie über diese Dinge mit ihren Eltern verbunden sind (oder zerstören bewusst all diese Dinge, um Geschichten zu beenden). Enkelkinder entsorgen dann Jahre später die Dinge, mit denen sie nichts verbinden können (oder fragen nach etwas, das den Eltern nie etwas wert gewesen war).

Geschichte ist etwas Dynamisches. Alles, was an die Vergangenheit erinnert, kann verschwinden, sodass diese scheinbar nicht existiert hat; was an die Vergangenheit erinnert, kann aber auch wieder auftauchen. Deshalb reicht die Vergangenheit zwar in besonderer Weise in die Zeitgeschichte als Geschichte der noch Lebenden hinein, sie kann sich aber auch auf weit entfernt liegende Zeiten beziehen.

Erinnerungskultur oder Geschichtskultur?

Es gibt immer wieder Gruppen, Vereine, Parteien, aber auch Einzelpersonen, die versuchen, bestimmte Geschichten sichtbar(er) zu machen, ihnen breite Akzeptanz und Allgemeingültigkeit zu verschaffen. So entstehen Denkmäler, egal ob für Arminius bei Detmold oder für den Holocaust wie in Berlin. Etwas, was Einzelnen wichtig ist, woran sie sich erinnern und dauerhaft erinnern wollen, wird öffentlich gemacht und soll dann wieder individuell von anderen erinnert werden. Derart appellativische (d. h. benennende, klassifizierende) Geschichtspolitik ist Teil von Geschichtskultur.

Geteilte Erinnerung kann so funktionieren, je größer und differenzierter die angesprochenen Erinnerungskollektive sind, desto unwahrscheinlicher ist jedoch eine breit geteilte Erinnerungskultur. Ein kollektives Gedächtnis, wie das die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann bezeichnet, ist eine schöne Metapher, meist aber eher Wunsch als Realität. Dem gegenüber verweist der Begriff der Geschichtskultur deutlich besser auf die Dynamik und Brüchigkeit geteilter Erinnerungen.

In der Schule geben sich Lehrkräfte redlich Mühe, das, womit diese Gesellschaft noch nicht fertig sein will oder soll, Schülerinnen und Schülern so nahe zu bringen, dass diese Dinge auch für sie Bedeutung erlangen (wie z. B. die deutsche Wiedervereinigung). Das ist der Kern von Erziehung, von generationeller Weitergabe, insbesondere im staatlich organisierten Bereich der Bildung. Aber es ist auch offensichtlich, dass dieses Unterfangen in vielen Fällen scheitern muss. Entweder weil das Erbe offensiv abgelehnt wird – so wie das die 68er-Bewegung ihren Eltern gegenüber tat oder wie das auch Gruppen wie Extinction Rebellion tun –, oder weil das, was Eltern wichtig ist und war, einfach nichts mehr mit der Lebenswelt der Kinder zu tun hat. Deshalb scheint die deutsche Teilung heutigen (westdeutsch geprägten) Jugendlichen so weit entfernt wie die Schlacht bei Hastings (1066).

Beides, aktive Ablehnung von Verantwortung, aber auch das zunehmende Nichtbetroffensein, bedingen die zunehmenden Schwierigkeiten, dem Nationalsozialismus weiterhin den dominanten Platz im Geschichtsunterricht zuzuweisen, den er lange hatte. Und dieses Nichtbetroffensein erschwert erst recht die Besprechung von Themen wie der Goldenen Bulle, dem Reichsdeputationshauptschluss oder der Navigation einer griechischen Triere.

Aus diesem Grund wird schon seit Jahren von geschichtsdidaktisch versierten Historikerinnen und Historikern gefordert, nicht Vergangenheit zum Gegenstand des Geschichtsunterrichts zu machen, sondern Geschichte – der Historiker Achim Landwehr hat das besonders pointiert empfohlen. Die Dinge, die Menschen nach wie vor beschäftigen, über die Menschen sich streiten oder freuen, die sie glücklich machen und verbinden oder die ihnen nach wie vor den Schlaf rauben, die sollten sinnvollerweise im Geschichtsunterricht behandelt werden. Nur ist es gar nicht so einfach, beim Schreiben eines Lehrplans schon abzusehen, was Schülerinnen und Schüler in der Zukunft beschäftigen und umtreiben wird.

QuellentextGeschichtskultur, Public History, Erinnerungskultur

Um Begriffe und Deutungshoheiten rund um „Geschichtskultur“ wird in der Wissenschaft nach wie vor gerungen. Mit Begriffen wie „Public History“, „Erinnerungskultur“ oder „Angewandte Geschichte“ wird ein Feld reklamiert, das zumindest teilweise als mit „Geschichtskultur“ identisch verstanden werden könnte. Die folgende Sammlung versucht, die Breite der Ansätze abzubilden:

„Fachwissenschaft, schulischer Unterricht, Denkmalpflege, Museen und andere Institutionen werden über ihre wechselseitigen Abgrenzungen und Unterschiede hinweg als Manifestationen eines übergreifenden gemeinsamen Umgangs mit der Vergangenheit in Augenschein genommen und diskutiert. ‚Geschichtskultur’ soll dieses Gemeinsame und Übergreifende bezeichnen. Sie rückt die unterschiedlichen Strategien der wissenschaftlichen Forschung, der künstlerischen Gestaltung, des politischen Machtkampfes, der schulischen und außerschulischen Erziehung, der Freizeitanimation und anderer Prozeduren der öffentlichen historischen Erinnerung so in den Blick, dass sie alle als Ausprägungen einer einzigen mentalen Kraft begriffen werden können. So synthetisiert sie auch Universität, Museum, Schule, Verwaltung, die Massenmedien und andere kulturelle Einrichtungen zum Ensemble von Orten der kollektiven Erinnerung und integriert die Funktionen der Belehrung, der Unterhaltung, der Ablenkung, der Aufklärung und anderer Erinnerungsmodi in die übergreifende Einheit der historischen Erinnerung.“

Jörn Rüsen, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann u. a. (Hg.): Historische Faszination: Geschichtskultur heute, Köln 1994, S.3–26, hier: S.4

„Geschichtskultur ist die Art und Weise, wie eine Gesellschaft kulturell mit wissenschaftlich erforschter Geschichte umgeht. Sie schließt alle Formen von belletristischen, künstlerischen, ästhetischen und publizistischen Verarbeitungen von historiografischem Wissen ein. Diese Medienereignisse (z. B. Spielfilme) und Handlungen (z. B. Reenactments) sind Praktiken der Vergangenheitsvergegenwärtigung. Sie spielen sich in jener Gegenwart ab, die die Lebenszeit unserer Schülerinnen und Schüler ist. Deshalb ist Geschichtskultur inhaltlich nicht lehrplanfähig. Lehrplanautoren können nicht wissen, welche geschichtskulturellen Ereignisse (‚Events‘) eintreten werden, wenn ihre Pläne in Kraft gesetzt worden sind.“

Vadim Oswalt / Hans-Jürgen Pandel, Vorwort, in: Dies. (Hg.): Handbuch Geschichtskultur im Unterricht, Frankfurt a. M. 2021, S.9f., hier: S.9

„Das, was Wissenschaftshistoriker/innen besonders im Kontext der Naturwissenschaften unter dem Stichwort ‚Wissenschaftspopularisierung’ diskutieren, ist – bezogen auf die Geschichte – also nichts anderes als ‚Public History’, zumal in beiden Forschungsfeldern gefordert wird, Wissenschaftspopularisierung als interaktiven Prozess aufzufassen – als Prozess, der von Rück- und Wechselwirkungen lebt. Er liefert damit Einblicke in die Gesellschaft der jeweils untersuchten Epoche und vollzog – und vollzieht – sich natürlich nicht nur nüchtern-wissenschaftlich, sondern durchaus unter Einschluss unterhaltender und inszenatorischer Aspekte. Als Akteure fungieren sowohl Wissenschaftler als auch wissenschaftliche Laien sowie die zeitgenössischen Medien, die in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen.“

Stefanie Samida, „Public History als Historische Kulturwissenschaft. Ein Plädoyer“, in: Docupedia-Zeitgeschichte (17.6.2014). Online: https://docupedia.de/zg/Public_History_als_­Historische_Kulturwissenschaft

„Es erscheint […] sinnvoll, ‚Erinnerungskultur‘ als einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur. Versteht man den Begriff in diesem weiten Sinn, so ist er synonym mit dem Konzept der Geschichtskultur, aber er hebt stärker als dieses auf das Moment des funktionalen Gebrauchs der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke, für die Formierung einer historisch begründeten Identität ab.“

Christoph Cornelißen, „Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methode – Perspektiven“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S.548–563, hier: S.555

Lars Deile ist Professor für Didaktik und Theorie der Geschichte. Er arbeitete nach einem Studium in Jena und Dublin als Lehrer für Geschichte und Englisch am Thüringer Sprachengymnasium in Schnepfenthal. Nach Stationen in Greifswald und Berlin ist er seit 2016 an der Universität Bielefeld tätig. Neben seinen Interessen für die Bildungsgeschichte der Moderne und für Geschichtskulturen der Gegenwart denkt er insbesondere darüber nach, was Geschichte ist und wie sich demzufolge historisches Lernen verstehen und gestalten lässt. Er hat zum Fest veröffentlicht, zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und zum Geschichtsunterricht. Zuletzt erschienen „Prüfen im Geschichtsstudium“ (2023 mit Frank Sobich), „Historical Understanding: Past, Present and Future“ (2022 mit Zoltán Boldizsár Simon) und „Geschichtsdidaktische Grundbegriffe“ (2021 mit Jörg van Norden u. a.).
Kontakt: E-Mail Link: lars.deile@uni-bielefeld.de