Zwischen Wohlstand und Krise
Honeckers Wirtschafts- und Sozialpolitik
Zu Beginn der Honecker-Ära gelang es, die 1970 ausgebrochene Versorgungskrise zu überwinden, die als Ergebnis unrealistischer Wachstumsziele in der Industrie entstanden war. Das werteten Honecker und die Mehrheit im Politbüro als Zeichen für die Richtigkeit der neuen Wirtschaftsstrategie. Der neue Parteichef verkündete auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", die auf eine Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung ausgerichtet war. Das bedeutete in der Praxis, die Verbraucherpreise, Mieten und Kosten für Dienstleistungen durch ständig steigende Subventionen stabil zu halten und die Einkünfte der Arbeiter und Angestellten schrittweise zu erhöhen. Honecker gab zugleich die bevorzugte Förderung von Forschung und Entwicklung in bedeutsamen Technologiebereichen auf. Dadurch blieb einerseits im Staatsbudget mehr Platz für umfassende Sozialprojekte. Andererseits führte der politisch erzwungene Rückgang der Investitionen in Forschung und Entwicklung zu jener Krise in der Wirtschaft, die Anfang der 1980er Jahre dann offen ausbrach. Die technische Basis der Industrie konnte mit den internationalen Standards langfristig nicht mehr Schritt halten.
Die SED-Führung beschloss in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen. Der anhaltende Wohnungsmangel stand als dringend zu lösendes Problem im Vordergrund. Um die Arbeiter in den Industriezentren wie beispielsweise in Bitterfeld, Merseburg, Halle und Wolfen anspruchsvoll unterzubringen, wurden große Wohnkomplexe auf der grünen Wiese errichtet. Mit seinen mehr als 93 000 Einwohnern und eigenem Bürgermeister zählte Halle-Neustadt 1981 zu den größten zusammenhängenden "sozialistischen Stadtneugründungen" in der DDR. Der Schwerpunkt des Bauens lag von Anfang an beim Neubau, während man die Instandhaltung und Modernisierung von Altbauten vernachlässigte. Erst in den 1980er Jahren besann man sich darauf, ältere Gebäude zu sanieren und zu modernisieren. Die Plattenbauweise wurde in den 1970er Jahren zur alles dominierenden Bauform. Um die industrielle Form des Bauens realisieren zu können, überführte man die im Bauwesen tätigen Handwerksbetriebe in große Kaukombinate. Bis 1980 wurden circa 700000 Wohnungen errichtet oder modernisiert. Das Zentralkomitee der SED kündigte auf seiner 10. Tagung im Oktober 1973 an, die Wohnungsfrage als "soziales Problem" bis 1990 lösen zu wollen.
QuellentextWohnungstausch
[...] 1969 haben wir geheiratet. Unser erstes großes Problem war, wie wir zu einer Wohnung kommen. Man mußte mit mindestens vier bis fünf Jahren Warte-zeit rechnen, hatte man erst mal den Antrag gestellt. Da bekam ich mit, daß einige Kollegen in einer Straße in Weißensee Dachböden von Häusern aus den zwanziger Jahren zu Woh-nungen ausbauten. Sie taten das für sich selbst, aber mit betrieblicher Hilfe. Wir konnten mit von der Partie sein. [...] Im Oktober zogen wir in unsere zwei Zimmer mit Küche und Bad ein, und im Januar wurde Sebastian geboren. Ein gutes Jahr später kam Susanne zur Welt. Obwohl es eng wurde, haben wir gern dort gewohnt. [...] Aber wir bemühten uns natürlich um eine größere Wohnung. Nach etwa viereinhalb Jahren klappte es auch. Wir zogen um in eine Vier-Raum-Wohnung in einem typischen Neubauviertel. [...] In unserem Block befanden sich viele Vier- und Fünf-Raum-Wohnungen. Folglich lebten hier kinderreiche Familien. Oft hatte man durchaus den Eindruck, daß eine Menge Asoziale darunter waren. Schmierereien und Schmutz im Eingangsbereich, auf den Korridoren, in den Fahrstühlen. Es herrschte Anonymität, und es war frustrierend, in einer solchen Umgebung leben zu müssen, ohne an den Umständen etwas ändern zu können. [...] Diese Situation führte im Laufe der Zeit zu Spannungen in der Familie. Zwar hatten wir ein Grundstück im Wald gepachtet und einen kleinen Bungalow darauf errichtet, unsere Datsche, die wir jedes Wochenende aufsuchten. Aber die meiste Zeit mußten wir im Riesenneubau verbringen. Fünf Jahre blieben wir dort. [...] Wir träumten von einem eigenen Haus.Ein ehemaliger Kollege hatte in der Nähe gebaut. Vielleicht dadurch angeregt, begann Gisela 1979 am Anfang der Ferien von Haustür zu Haustür zu wandern, sie hat wirklich geklingelt und gefragt, ob jemand sein Haus verkaufen wolle. [...] [E]ines Tages hat es [...] geklappt! Die Nachbarin hier sagte zu ihr: "Versuchen Sie es doch mal nebenan." Der Mann war seit einem Jahr Witwer und trug sich mit dem Gedanken auszuziehen. [...] Wir [...] sind mit dem Herrn handelseinig geworden. Wir hatten ihm versprochen, daß wir nach seinen Wünschen eine Wohnung besorgen und den Umzug organisieren werden. Für das Haus wollten wir bezahlen, was er verlangte.
Er wünschte sich eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit moderner Heizung, nicht zu weit weg von einer Einkaufsgelegenheit, aber auch nicht weit entfernt von der vertrauten Umgebung. [...] Da sind wir dann in das Gebiet gefahren, das in Frage kam, und haben Anschläge mit dem Tauschangebot und unserer Telefonnummer auf den Tafeln in den Hauseingängen angebracht. Schon nach wenigen Tagen meldete sich eine Familie mit drei Kindern, die liebend gern in unsere Vier-Zimmer-Wohnung ziehen wollte. [...] Als alles organisiert war, wollten wir den Kaufvertrag machen. Dazu [...] brauchte man eine Genehmigung der Abteilung Wohnungspolitik des Stadtbezirks. Dort [...] erfuhren wir, daß dem Kauf und dem Umzug nicht zugestimmt werden könne, weil der Wohnraum für andere Bürger gebraucht werde. Es war bekannt, daß der Staat das Vorkaufsrecht hatte und [...] Häuser auch für Bürger, die ihm genehm und zu Diensten waren, mit Beschlag belegte.[...] [Gisela] hatte davon gehört, daß es beim Staatsrat eine Stelle für Eingaben der Bürger gibt. [...] Sie hat ihr Anliegen vorgetragen und das Schriftstück abgegeben. [...]
Es gab damals noch eine Vierwochenfrist für die Beantwortung solcher Eingaben. Genau nach vier Wochen traf bei uns ein Brief ein. Keiner wollte ihn öffnen. Als ich abends nach Hause kam, haben wir ihn gemeinsam aufgemacht – und die Freude war groß. Es handelte sich um eine Zusage. Sie wurde damit begründet, daß wir uns bereits so stark engagiert und den Ringtausch organisiert hatten. Für alle Beteiligten hätten wir Wohnraum gewonnen, deshalb sei unser Vorgehen von gesellschaftlichem Interesse. Im Stadtbezirk hatte man dagegen vorher kritisiert, daß wir das alles auf eigene Faust unternommen hatten. Was uns also einerseits vorgeworfen wurde, war nun andererseits die Begründung für den Zuschlag. [...]
Familienportrait von Joachim, 53 Jahre, Diplomingenieur, in: Gisela Helwig (Hg.), Die letzten Jahre der DDR – Texte zum Alltagsleben, Köln 1990, S. 18ff.
Zum Bündel der sozialpolitischen Maßnahmen gehörten ferner die Erhöhung der Mindestlöhne und Mindestrenten, die Arbeitszeitverkürzung für Frauen, besonders für solche mit Kindern. Die Zahl der bezahlten Urlaubstage wurde mehrmals erhöht, insbesondere berufstätige Mütter erhielten mehr Urlaub. Zudem gewährte man jungen Eheleuten zinslose Kredite bis zu 5000 Mark, die teilweise erlassen wurden, wenn die Paare Kinder bekamen. Die staatliche Kinderbetreuung wurde erheblich ausgebaut, sodass 1980 für 90 Prozent der Kinder im entsprechenden Alter ein Platz im Kindergarten zur Verfügung stand. Diese sozialen Leistungen hatten allerdings auch einen bevölkerungspolitischen Hintergrund: Sie sollten der rückläufigen Geburtenentwicklung in der DDR entgegenwirken, in deren Folge permanenter Arbeitskräftemangel entstanden war. Tatsächlich förderte das Sozialprogramm die Frauenbeschäftigung. 1980 gingen 87 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter einer Berufstätigkeit nach und erhielten so die Möglichkeit wirtschaftlich unabhängig zu werden.
QuellentextFrauen und Familienpolitik
Der Anfang war vielversprechend. Bereits der kurz nach Kriegsende erlassene Befehl Nr. 253 der Sowjetischen Militäradminis-tration (SMAD) vom 17. August 1946, der den Titel "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" trug, stellte entscheidende Weichen. "Befohlen" wurde im Duktus der Zeit "die gleiche Entlohnung für Arbeiter und Angestellte für die gleiche Arbeit, unabhängig von Geschlecht und Alter". [...]
Was von der SMAD schon anvisiert worden war, wurde in der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 konkret. Ohne Umschweife verkündete Artikel 7 Absatz 1: "Mann und Frau sind gleichberechtigt." [...] In Artikel 18 Absatz 5 der DDR-Verfas-sung hieß es weiter: "Die Frau genießt besonderen Schutz im Arbeitsverhältnis. Durch Gesetze der Republik werden Einrichtungen geschaffen, die es gewährleisten, daß die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann."
So revolutionär dieses Gesetz auf den ersten Blick erschien, so traditionell war das darin mitschwingende Familienideal. Nicht nur, dass die "Familienarbeit" weitgehend Frauensache blieb. Seit dem Beginn der fünfziger Jahre wurde sie noch dazu systematisch abgewertet. [...] [S]pätestens seit der Mitte des Jahrzehnts [durchzogen] Diffamierungskampagnen gegen die sogenannten "Nur-Hausfrauen" [...] die ostdeutsche Medienlandschaft. [...] [Es] wurde von zufriedenen Hausfrauen berichtet, die endlich den Schritt vom Herd zum Fließband geschafft hatten.
Dass sie abends an den Herd zurückkehrten, stand dabei außer Frage. Auch im 1965 verabschiedeten "Familiengesetzbuch" (FGB) war nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen, wem nach wie vor die Hauptverantwortung übertragen wurde. [...]
Die voll erwerbstätige sozialistische Frauenpersönlichkeit der frühen DDR wurde [in den 1970er Jahren] auf der propagandistischen Bühne von "unseren Muttis" abgelöst. Unter dem Motto "Beeinflussung der Reproduktionsfunktionen der Familie" – im DDR-Alltagsjargon als "Muttipolitik" verniedlicht – entwickelte die SED im Anschluss an ihren VIII. Parteitag das familienpolitische Konzept der folgenden Jahre. [...] Unter der Devise "Der Wille zum Kind" wurde [...] eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen in Gang gesetzt, um diesen Willen zu bestärken. Dazu gehörten vor allem diverse Freistellungsmöglichkeiten, die von der Arbeitszeit abgingen und es erlauben sollten, in diesen Zeiten Haus- und Erzie-hungsarbeit zu leisten. [...] Damit zollte die SED-Regierung zwar einerseits ihren Tribut an die Mühen der Hausarbeit, andererseits schrieb sie damit einmal mehr die vornehmlich weibliche Zuständigkeit für den Familienbereich fest und verschaffte Frauen noch dazu durch diese "Sonderkonditionen" eine Sonderstellung an ihrem Arbeitsplatz, die vom "Kollektiv" mit Argwohn betrachtet wurde. [...]
Dies ging nicht zuletzt zu Lasten des beruflichen Fortkommens. Im Sommer 1975 startete das Institut für Meinungsforschung der DDR eine Umfrage über die "Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft". [...] Ein Ergebnis beunruhigte besonders: Die wachsende Unzufriedenheit vor allem der "Frauen der Intelligenz" ließ sich nicht verhehlen. Sie zeigten eine geringere "Geburtenfreudigkeit" und eine generell größere Skepsis, ihren Beruf mit Familienpflichten vereinbaren zu können. [...]
[Z]u Beginn der siebziger Jahre waren fast so viele Frauen wie Männer an ostdeutschen Universitäten immatrikuliert. [...] Auf Spitzenpositionen waren Frauen hingegen weiterhin kaum vertreten. Im wissenschaftlichen Segment besetzten Frauen vor allem die Mitarbeiterstellen, ihr Anteil unter der Professorenschaft blieb hingegen bis zum Ende der DDR auf einem ähnlich niedrigen Niveau wie in Westdeutschland: 1954 lag der Anteil der Professorinnen bei 2,8 Prozent, 1964 bei 3,6 Prozent. Arbeitsgruppenleiterinnen an der Akademie, Chefärztinnen, Ministerinnen oder Betriebsleiterinnen musste man mit der Lupe suchen. Selbst die legendären Legionen von ostdeutschen Ingenieurinnen müssen ein Stück weit entzaubert werden: Ein Großteil der Frauen [...] wurde auf Nebenbranchen der Profession lanciert. [...]
Viele Frauen, namentlich die akademisch qualifizierten, schienen sehr wohl abgewogen zu haben, ob sich der Schritt an die Spitze überhaupt lohnte. Denn nur selten bedeutete in der DDR ein Karriere- sprung auch gleichzeitig eine Einkommensverbesserung, fast immer jedoch war ein Weitersteigen auf der Karriereleiter mit einer Vielzahl von neuen gesellschaftlichen Verpflichtungen gekoppelt und mit einem expliziten Ja zum Staat. Somit konnte es sich durchaus als das größere Plus erweisen, mit einer unteren oder mittleren Ebene der akademischen Laufbahn vorliebzunehmen. [...]
Hinter den sich seit den sechziger Jahren häufenden, freilich "streng vertraulichen" Klagen von Kaderfunktionären, trotz aller Anstrengungen keine willigen Frauen für Leitungsfunktionen zu finden, verbarg sich ein wachsendes Heer selbstbewusster Frauen, die sich ihren Lebensentwurf nicht aus den Händen nehmen lassen wollten. [...]
Dieser Strategie konnten sich zwar auch männliche Akademiker bedienen. Doch anders als ihre weiblichen Kollegen unterstanden sie weit stärker einem gesellschaftlichen Erfolgsdruck, der eine Rechtfertigung des Verharrens auf einer bestimmten Stufe der Karriereleiter deutlich schwerer machte. [...]
Gunilla Budde, "Die emanzipierte Gesellschaft", in: Thomas Großbölting (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 92 ff.
Trotz der zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die zu einer Verknappung des Warenangebots für die Bevölkerung führten, und der unzureichenden Versuche, ihrer Herr zu werden, ließ sich Honecker nicht von seinem Sozialprogramm abbringen. Auf dem IX. Parteitag der SED im Mai 1976 wurden dann sogar weitere Erhöhungen von Löhnen und Renten, eine Verkürzung der Arbeitszeit sowie eine Verlängerung des Erholungsurlaubs beschlossen. Partei und Regierung verabschiedeten außerdem ein ausgedehntes Konsumprogramm. Die Steigerung des Lebensstandards konnte jedoch nur mit einem kostspieligen erweiterten Import von westlichen Konsumprodukten realisiert werden, nicht zuletzt deshalb, weil die Partei die versprochenen Wohltaten zunächst schneller verteilte, als es die Volkswirtschaft der DDR erwirtschaften konnte. Da Honecker es ablehnte, sein Programm der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik auch nur marginal zu verändern, bekamen die Ministerien immer höhere Planvorgaben, die sie nur mit statistischen Tricks einhalten konnten.
Da in zunehmendem Maße mehr importiert als exportiert wurde, nahm bereits 1972/73 das Handelsdefizit gegenüber den westlichen Industriestaaten deutlich zu. So stieg die Verschuldung der DDR gegenüber dem "nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet" (NSW) von rund zwei Milliarden Valutamark (VM) – bei einem damaligen Umrechnungskurs von 1 $ = 1,90 VM – im Jahre 1970 auf über 22 Milliarden VM im Jahre 1979 an. Zum xistenziellen Problem wurde die Schuldenlast allerdings erst, als Anfang der 1980er Jahre die anstehenden Tilgungsraten und Zinsen nur durch kurzfristige ausländische Bargeldkredite unter denkbar ungünstigen Konditionen zurückgezahlt werden konnten. Der Bevölkerung wurde jedoch bis zum Schluss suggeriert, in einem "Wohlfahrtsstaat" zu leben. Dahinter stand die Vorstellung, durch Sozialpolitik Loyalität in der Bevölkerung erzeugen zu können.
Die sozialen Vorleistungen sollten sich in Honeckers Wirtschaftskonzept in besserer Arbeitsmotivation und höherer Arbeitsproduktivität niederschlagen. So war vorgesehen, die Arbeitsproduktivität zwischen 1971 und 1975 um 35 bis 37 Prozent, von 1976 bis 1980 um 30 bis 32 Prozent zu steigern. Erreicht wurden diese Ziele nie. Die ständigen Appelle zur Leistungssteigerung auf allen Gebieten, Parteischulung und Agitation zeigten wenig Erfolg.
Die sozialistische deutsche Nation
Honecker beendete nicht nur die von Ulbricht in den letzten Jahren vorgenommenen Reformexperimente, sondern setzte auch dem verbalen Festhalten an gesamtdeutschen Gemeinsamkeiten ein Ende. Schon auf dem VIII. Parteitag 1971 vertrat Honecker die These, dass sich mit dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in der DDR "ein neuer Typus der Nation, die sozialistische Nation" entwickle. Dieses Konzept schlug sich schließlich in der Verfassungsänderung von 1974 nieder, die am 7. Oktober in Kraft trat. Der erste Satz des Artikels 1 der Verfassung, der die DDR als einen "sozialistischen Staat deutscher Nation" bezeichnet hatte, wurde ersatzlos gestrichen. Jetzt lautete Artikel 1 nur noch: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."
Auch im neuen Programm der SED, das der IX. Parteitag im Mai 1976 verabschiedete und damit das Parteiprogramm von 1963 ersetzte, waren keine gesamtdeutschen Bezüge mehr enthalten. Die SED-Führung propagierte fortan das Konzept der "sozialistischen Nation". Sie umfasse das Volk der DDR und sei gekennzeichnet durch den souveränen sozialistischen Staat auf deren Territorium. Auf der anderen Seite hieß es, dass die Bevölkerung der DDR "deutscher Nationalität" sei. Daraus entwickelte sich dann die Formel "Staatsangehörigkeit: DDR, Nationalität: deutsch". Genauso war es auf allen offiziellen Formularen für DDR-Behörden einzutragen.
QuellentextDDR-Verfassungen im Vergleich
7. Oktober 1949, 6. April 1968 und 7. Oktober 1974
Präambeln:
1949: Von dem Willen erfüllt, die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbür-gen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben.
1968: Getragen von der Verantwortung, der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen, in Ansehung der geschichtlichen Tatsache, daß der Imperialismus unter Führung der USA im Einvernehmen mit Kreisen des westdeutschen Monopolkapitals Deutschland gespalten hat, um Westdeutschland zu einer Basis des Imperialismus und des Kampfes gegen den Sozialismus auf-zubauen, was den Lebensinteressen des Volkes widerspricht, hat sich das Volk der [DDR], fest gegründet auf den Errungenschaften der antifaschistisch-demokratischen und der sozialistischen Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung, einig in seinen Werktätigen Klassen und Schichten das Werk der Verfassung vom 7. Oktober 1949 in ihrem Geiste fortführend und von dem Willen erfüllt, den Weg des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie, des Sozialismus und der Völkerfreundschaft in freier Entscheidung unbeirrt weiterzugehen, diese sozialistische Verfassung gegeben.
1974: In Fortsetzung der revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse und gestützt auf die Befreiung vom Faschismus hat das Volk der [DDR] in Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche sein Recht auf sozial-ökonomische, staatliche und nationale Selbstbestimmung verwirklicht und gestaltet die ent-wickelte sozialistische Gesellschaft. Erfüllt von dem Willen, seine Geschicke frei zu bestimmen, unbeirrt auch weiter den Weg des Sozialismus und Kommunis-mus, des Friedens, der Demokratie und der Völkerfreundschaft zu gehen, hat sich das Volk der [DDR] diese sozialistische Verfassung gegeben.
Artikel 1, Auszug:
1949: Deutschland ist eine unteilbare Republik; sie baut auf den deutschen Ländern auf. [...] Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit.
1968: Die [DDR] ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die poli-tische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.
1974: Die [DDR] ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktäti-gen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.
Zusammenstellung durch den Verfasser. Nach: VERFASSUNG 1949, S. 11, 13; VERFASSUNG 1968, S. 5, 9; VERFASSUNG 1974, S. 5 f. In: Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bonn 2010, S. 508 f.
Deutsch-deutsche Annäherung und staatliche Anerkennung
Die offizielle Abgrenzung und die internationale Entspannungspolitik ermöglichten der DDR, ihrerseits vertragliche Vereinbarungen mit der Bundesrepublik Deutschland einzugehen. Nachdem die Westmächte und die Sowjetunion am 3. September 1971 das Berlin-Abkommen unterzeichnet und damit ihre gemeinsame und zugleich übergeordnete Verantwortung für Deutschland und Berlin bekräftigt hatten, konnte zwischen beiden deutschen Staaten als erste bilaterale Vereinbarung am 17. Dezember 1971 das "Transitabkommen" geschlossen werden. Das Abkommen sah vor, den Transitverkehr per Bahn, Schiff und auf den Straßen zwischen Westdeutschland und West-Berlin künftig ohne Behinderungen durch die Grenz- und Zollorgane der DDR abzuwickeln. Bis dahin war es an den Übergangsstellen oft zu schikanösen und zuweilen mit erheblichem Zeitaufwand verbundenen Grenzkontrollen gekommen. Im Mai 1972 folgte ein umfassendes Verkehrsabkommen zwischen beiden deutschen Staaten. Für die Menschen ergaben sich durch diese Normalisierung der deutsch-deutschen Beziehungen ganz konkrete Erleichterungen in Form von Besuchs- und anderen Kontaktmöglichkeiten.
Am 21. Dezember 1972 unterzeichneten die Regierungen der Bundesrepublik und der DDR den Grundlagenvertrag, der die deutsch-deutschen Beziehungen auf der Grundlage von Gleichberechtigung und gutnachbarlicher Zusammenarbeit auf eine neue Basis stellte. Der DDR wurden ihre Unabhängigkeit und Selbstständigkeit in ihren inneren und äußeren Angelegenheiten sowie die uneingeschränkte Achtung ihrer territorialen Integrität bestätigt. Dies markierte das Ende der westdeutschen "Hallstein-Doktrin". Der seit 1955 gültigen Doktrin hatte die Auffassung zugrunde gelegen, dass die Bundesrepublik Deutschland die einzige demokratisch legitimierte Vertretung des gesamten deutschen Volkes sei und demzufolge nur sie die Deutschen international vertreten dürfe. Sie hatte jenen Staaten, die die DDR diplomatisch anerkannten, den Abbruch diplomatischer Beziehungen angedroht (so 1957 Jugoslawien). Das bis 1969 angestrebte Ziel, die DDR außenpolitisch zu isolieren, gab die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt jetzt offiziell auf.
Die von der SED-Führung geforderte völkerrechtliche Anerkennung lehnte die Bundesregierung hingegen ab, da sie damit gegen das Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz der Bundesrepublik verstoßen hätte. Infolgedessen gab es auch keine Botschaften, wohl aber "Ständige Vertretungen" in Bonn und Ost-Berlin, die am 2. Mai 1974 ihre Arbeit aufnahmen. Als Vertreter der Bundesrepublik in der DDR wurde Günter Gaus, als Vertreter der DDR in der Bundesrepublik Michael Kohl akkreditiert. Auf der Grundlage dieses Abkommens wurden bis 1989 zahlreiche Verträge unterzeichnet, die den Handel und den Verkehr zwischen beiden deutschen Staaten regelten.
Der Grundlagenvertrag führte am 18. September 1973 zur Aufnahme der DDR und der Bundesrepublik in die Vereinten Nationen (UNO). Zugleich erkannten immer mehr Länder die DDR völkerrechtlich an. 1972 nahmen 22 und 1973 weitere 46 Staaten diplomatische Beziehungen zur DDR auf, darunter Frankreich und Großbritannien. Die Vereinigten Staaten von Amerika folgten 1974. Ende der 1970er Jahre unterhielt die DDR mit 132 Ländern diplomatische Beziehungen und arbeitete in allen wichtigen internationalen Organisationen mit. Die ökonomische und politische Abhängigkeit von der Sowjetunion lockerte sich jedoch nicht, zumal Honecker und Breschnew am 7. Oktober 1974 einen Freundschafts- und Beistandsvertrag abschlossen. Auch im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) diktierte die Sowjetunion nach wie vor die Bedingungen der wirtschaftlichen Kooperation. Die DDR war militärisch fest in das osteuropäische Militärbündnis, den Warschauer Pakt, eingebunden, in dem die UdSSR eine Vormachtstellung ausübte.
Am 1. August 1975 unterzeichneten in Helsinki 35 Staats- beziehungsweise Regierungschefs der europäischen Länder, der Vereinigten Staaten und Kanadas die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Die DDR gehörte wie die anderen osteuropäischen Länder zu den Unterzeichnern. Durch die Schlussakte hatten die Sowjetunion und die DDR zwar ein wichtiges außenpolitisches Ziel erreicht: Die deutsche Zweistaatlichkeit war international akzeptiert. Innenpolitisch bekam die SED-Führung jedoch durch den "Korb 3" der Schlussakte von Helsinki Probleme. Dort hatte der Westen vor allem die Verpflichtung zur Achtung der individuellen Menschen- und Bürgerrechte eingebracht, verbunden mit umfangreichen Forderungen nach menschlichen Erleichterungen hinsichtlich Reisen, Information und Kulturaustausch. In der DDR musste sich die politische Führung jetzt an diesen Verpflichtungen messen lassen. Nicht zuletzt konnte sich die entstehende Oppositionsbewegung auf den "Korb 3" der Schlussakte von Helsinki berufen.
Verstaatlichung von privaten Unternehmen und Handwerksbetrieben
1972 ließ die SED-Führung die noch bestehenden privaten Industrie- und Baubetriebe, die Betriebe mit staatlicher Beteiligung sowie die rund 2000 industriell produzierenden Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) und 500 Handwerksunternehmen in Staatseigentum überführen. Der Schwerpunkt der Verstaatlichungsaktionen lag in den südlichen Bezirken der DDR, deren Wirtschaft seit je durch kleinere und mittlere Betriebe geprägt wurde.
Die Leitung der DDR-Wirtschaft.
Die Leitung der DDR-Wirtschaft.
Nach den herrschenden Maximen der marxistisch-leninistischen Ideologie hatten damit die "sozialistischen Produktionsverhältnisse" gesiegt. Tatsächlich war es ein Pyrrhussieg, wie sich bald herausstellte. Es handelte sich nämlich vor allem um Betriebe, die Konsumgüter für die Bevölkerung und bedeutsame Zulieferungen für die Volkswirtschaft herstellten und teilweise auch wichtige Exportverpflichtungen zu erfüllen hatten. Das Potenzial des verstaatlichten Mittelstandes wurde nahezu vernichtet und konnte nicht wieder ersetzt werden, so dass sich die bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten verschärften.
Bildung von Kombinaten in der Industrie
Zugleich trieb die SED-Führung die bereits unter Ulbricht einsetzende Bildung von Kombinaten weiter, in denen große Industriebetriebe eines Industriezweiges bzw. einer Branche zusammengeführt und einer zentralen Leitung unterstellt wurden. Der Grundgedanke bei der Kombinatsbildung bestand darin, leistungsfähige ökonomische Einheiten zu bilden, Forschung und Entwicklung, Produktion und Absatz einschließlich des Außenhandels unter einer einheitlichen Leitung administrativ zu vereinen. Dieser Ansatz kam jedoch nicht zur Wirkung, da sich die Kombinate politisch und finanziell fest am Gängelband zentraler SED-Gremien, der ZK-Abteilungen und Politbüroentscheidungen sowie ministerieller Weisungen befanden. Am Ende der 1970er Jahre gab es circa 133 zentral geleitete Kombinate, die von einem Stammbetrieb aus von einem Generaldirektor geleitet wurden.
Das VEB Schwermaschinenbaukombinat "Ernst Thälmann" (SKET) gehörte mit mehreren zehntausend Beschäftigten und zahlreichen volkseigenen Maschinenbaubetrieben zu den größten Kombinaten in der DDR. Es exportierte u.a. Ausrüstungen für die metallverarbeitende und Hütten-Industrie wie komplette Walzstraßen in die Sowjetunion und das westliche Ausland und nahm damit eine wichtige Stellung im Außenhandel der DDR ein. Durch die zentrale Planung aller Produktionsabläufe einschließlich des Absatzes einer bestimmten Branche blieben die Kombinate jedoch unflexibel und konnten vor allem nicht rasch genug auf die sich verändernden Weltmarktbedingungen reagieren.
Hoffnungen der jungen Generation
Der von Honecker seit seinem Machtantritt verbreitete soziale Optimismus ließ Hoffnungen auf eine gewisse Lockerung keimen, insbesondere in jener Generation, die in der DDR aufgewachsen war. Tatsächlich fand sich die SED unter Honecker zu zeitweiligen Zugeständnissen bereit. So wurden die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im August 1973 in Ost-Berlin zu einem fröhlichen, weithin unbeschwerten Fest. Rund 25 000 Jugendliche aus 140 Ländern kamen in die "Hauptstadt der DDR" und feierten mit rund einer halben Million FDJ-Mitgliedern, die seit dem Mauerbau zum ersten Mal die Chance hatten, sich mit Jugendlichen aus anderen Ländern zu treffen. Gleichzeitig sorgte eine Vielzahl hauptamtlicher und inoffizieller Mitarbeiter des MfS dafür, unliebsame Zwischenfälle und vermeintliche "Störenfriede" des Scheins der Normalität auszuschalten.
Ferner verzichteten staatliche Instanzen auf bislang übliche Praktiken. Der Empfang westlicher Rundfunk- und Fernsehsender wurde nicht mehr kriminalisiert, Zeitungen und Zeitschriften aus der Bundesrepublik waren jedoch weiterhin nicht zugelassen. Jugendliche Radiohörer in der DDR orientierten sich überwiegend an den Programmen des Westens. Sie boten moderne Musik sowie heiß begehrte Informationen in Fülle und verzichteten auf Agitation. Hoch im Kurs standen die "Schlager der Woche" des in West-Berlin ausgestrahlten RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), der "Aktuelle Plattenteller" des Deutschlandfunks sowie diverse Sendungen von Radio Luxemburg, Europa-Welle-Saar und des amerikanischen Senders AFN (American Forces Network), der insbesondere von Jugendlichen in Ost-Berlin gern gehört wurde, weil dort moderne Popmusik rund um die Uhr lief. DDR-Programme waren dagegen weit weniger gefragt.
Gleichwohl unternahmen die DDR-Medien viel, um sich auf die jugendlichen Hörgewohnheiten einzustellen. Ab 1970 richteten sämtliche Radiostationen spezielle Rock- und Pop-Magazine, Hitparaden und Wunschsendungen ein, in denen auch westliche Titel liefen. Am häufigsten wurde der Jugendsender DT 64 gehört; es folgten die Sendungen "Musik für junge Leute" von Radio DDR I, "Beat-Kiste" von Stimme der DDR und die "Tip-Parade", die ebenfalls von Radio DDR I ausgestrahlt wurde. Darüber hinaus nahm das DDR-Fernsehen Jugendsendungen in das Programm. Die wöchentlich ausgestrahlte Jugendsendung "Rund" entstand zur Vorbereitung der X. Weltfestspiele 1973. Mit einem Mix aus Musik und Gespräch trat die Sendung modern und unterhaltsam in Erscheinung. Im Laufe der Jahre wurden die Gesprächsrunden jedoch immer propagandistischer.
Im Windschatten der X. Weltfestspiele erhielten auch Rock- und Beatgruppen wieder Zuspruch. Die populäre Leipziger "Klaus Renft Combo" sang mitten in der Ost-Berliner City ihr doppeldeutiges Lied "Ketten werden knapper", ein Lied, das zur Festivalhymne erkoren wurde.
QuellentextKetten werden knapper
Singt für alle, die alles wagen
Für die Leute in jedem Land
Die gemeinsam den Erdball tragen
Dass kein Mensch mehr noch steht am Rand.
Ketten werden knapper
Und brechen sowieso
Wie junger Rhabarber
Wie trockenes Stroh
An der Hand des Riesen
Der tausend Nasen hat
Der braucht nur zu niesen
Und wendet das Blatt [...]
T.: Gerulf Pannach, K.: Peter Gläser, M.: Klaus Renft Combo, 1972
In: Rauhut Michael (Hg.), Rock in der DDR, bpb-Zeitbilder, Bonn 2002, S. 55
Typisch für die überall entstehenden Rockgruppen waren Lieder mit deutschen Texten, in denen alltagssprachliche Botschaften, aber auch kritische Kommentare zum Leben mit täglich erlebten Widersprüchen auftauchten. Zu den bekanntesten und beliebtesten Rockgruppen der 1970er Jahre gehörten die "Puhdys", "Renft", "Electra-Combo", "Horst-Krüger-Band", "Stern Combo Meißen", "Lift" sowie "Karat". Den größten Hit der DDR-Rockgeschichte brachte die Berliner Band "City" 1977 mit dem Lied "Am Fenster" heraus. Die gleichnamige LP war die erste ostdeutsche Platte, die in der Bundesrepublik vergoldet wurde.
Kurze kulturpolitische Liberalisierung
In der liberalen Phase in der DDR der frühen 1970er Jahre hatte sich auch unter Schriftstellern und Künstlern so etwas wie Aufbruchstimmung breit gemacht. Dies umso mehr, als Kulturpolitiker der SED öffentlich erklärten, Kunst ließe sich nicht allein auf ihre ideologische Funktion reduzieren. Begriffe wie "Weite und Vielfalt" sahen jüngere Schriftsteller wie Reiner Kunze und Volker Braun als Ansporn für literarische Experimente und Selbstverwirklichung. Die populären Autoren wie Christa Wolf, Stephan Hermlin, Erwin Strittmatter und Hermann Kant griffen mit ihren Werken immer weniger Themen der unmittelbaren Gegenwart auf, sondern konzentrierten sich auf überzeitliche Fragen und Motive. Auf den Theaterbühnen sorgte dagegen Ulrich Plenzdorf mit seinem gesellschaftskritischen Gegenwartsstück "Die neuen Leiden des jungen W." für Aufsehen. Das 1972 uraufgeführte Bühnenstück erzählt die Geschichte eines siebzehnjährigen Lehrlings, der aus seiner kleinbürgerlichen Umwelt ausbrechen will und beim Lesen von Goethes Werk "Die Leiden des jungen Werthers" immer wieder Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Leben entdeckt. Die harsche Reaktion der Kulturpolitiker auf das Stück machte jedoch schon deutlich, dass sich an den Mechanismen der politischen Kontrolle über Kunst und Literatur nichts geändert hatte.
Quellentext... unsereiner kann es nicht
Hans-Peter: [...] Ich bekam sofort Lust, mich mit dem Jugendlichen, der da auf der Bühne stand, dem Edgar Wibeau, zu vergleichen, Parallelen zu ziehen zwischen seinem und meinem eigenen Leben [...]
Monika: Es war eine großartige Stimmung, alle klatschten wie verrückt, es wurde auch mit den Füßen getrampelt und gerufen, einfach aus Begeisterung. [...] Ich fand es einfach schau (damalige Jugendsprache, gleichbedeutend mit gut, außerordentlich, Anm. d. Red.), man konnte sogar herzlich lachen zwischendurch. Und dann noch so viele echte Probleme von Jugendlichen!
E.K.: Zum Beispiel?
Monika: Na, das ist jetzt schwer, es waren so viele. Zum Beispiel, daß dieser Edgar Wibeau nicht so langweilig leben will, daß ihm alles zu langweilig ist. Er hat den Drang nach was Besonderem, und das ist meiner Meinung nach eine ganz allgemeine Eigenschaft von Jugend-lichen. [...] Und das kam in vielen Sachen zum Ausdruck, auch daß er nicht ein-verstanden ist mit dem ganzen Trott, mit dem alltäglichen Trott. Da bricht er eben aus [...].
E.K.: Du hattest also ein bißchen das Gefühl, er hat es für dich mitgetan?
Monika: Er hat es fertiggebracht, unser-einer kann es nicht. Das muß eine ganz große Rolle gespielt haben bei dem Edgar, daß er [...] rauswollte aus seinem vorbestimmten Weg. Er will eben nicht immer alles nach Plan machen. [...]
E.K.: Ihr billigt also den Ausbruch Edgars aus der Gesellschaft, und ihr billigt, daß er selbst diesen Ausbruch mißbilligt?
Monika: Genau. Wegen dieses Widerspruchs habe ich es ja so bedauert, daß ich nach dem Theater niemand hatte, mit dem ich mich darüber unterhalten konnte.
Gerhild: Ich meine, dadurch wird ein Stück erst interessant, daß man veranlaßt wird, in verschiedenen Richtungen zu denken.
Gespräch der Redaktion mit vier Berliner Jugendlichen über "Die neuen Leiden des jungen W.", in: Neue Deutsche Literatur, Heft 3/1973. In: Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR, Köln 1982, S. 149
Darüber hinaus gab die politische Führung ihre bisherige Konzentration auf die Kunst im engeren Sinne auf und lenkte den Blick stärker auf Unterhaltung und Breitenkultur. Ein sichtbares Zeichen hierfür war die populäre Unterhaltungssendung "Ein Kessel Buntes", die am 29. Januar 1972 erstmals im Ersten Programm des Fernsehens der DDR ausgestrahlt wurde. Die Sendung galt als ein Aushängeschild der DDR-Unterhaltung, weshalb keine Kosten gescheut wurden, auch internationale Stars zu verpflichten. Zudem förderte der Staat jetzt mehr als zuvor vielfältige Formen der Laienkunst sowie folkloristische Zirkel, unterstützte Jugendclubs und Diskotheken mit finanzieller Ausstattung und baute das Netz der Kulturhäuser aus. Die staatliche Förderung der Jugend- und Freizeitkultur diente freilich auch dem Zweck, lokale Kunst- und Kulturinitiativen politisch unter Kontrolle zu behalten.
Die Grenzen der zeitweiligen kulturpolitischen Öffnung wurden deutlich, als der Liedermacher Wolf Biermann 1976 ausgebürgert wurde. Biermann, seit 1965 in der DDR mit einem totalen Auftritts- und Publikationsverbot belegt, gab auf Einladung der IG Metall am 13. November 1976 ein Konzert in Köln, auf dem er sich zwar eindeutig zur DDR bekannte, jedoch nicht an massiver Kritik an den Zuständen dort sparte. Im persönlichen Auftrag Honeckers wurde ihm daraufhin die Wiedereinreise in die DDR verwehrt und die DDR-Staatsbürgerschaft entzogen. Gegen die Ausbürgerung Biermanns protestierten am 17. November 1976 zwölf Schriftsteller – Stephan Hermlin, Stefan Heym, Christa und Gerhard Wolf, Volker Braun, Heiner Müller, Erich Arendt, Sarah Kirsch, Rolf Schneider, Franz Fühmann, Günter Kunert, Jurek Becker – und der Bildhauer Fritz Cremer mit einer öffentlichen Erklärung, in der sie die Partei- und Staatsführung aufforderten, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken.
Nach der Biermann-Affäre setzte ein bis zum Ende der DDR nicht abreißender Exodus von Schriftstellern und Künstlern ein, die vom "real existierenden Sozialismus" in der DDR endgültig genug hatten. Diejenigen, die es jetzt noch wagten, mit Kritik an der Kulturpolitik der SED an die Öffentlichkeit zu gehen, zerbrachen im Kreislauf von Auftritts- und Publikationsverboten, Verhören und Bespitzelungen. Die Diffamierung kritischer Autoren und die Abstrafung von Schriftstellern, die ihre Besorgnis über die repressive Kulturpolitik offen zum Ausdruck brachten, erreichte im Juni 1979 einen Höhepunkt, als neun Schriftsteller, darunter Stefan Heym, aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurden. Obgleich formal das Präsidium des Schriftstellerverbandes mit Hermann Kant an der Spitze die Verantwortung für die Ausschlüsse trug, konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass das SED-Politbüro unter Führung Honeckers mit diesem rigiden kulturpolitischen Akt deutliche Zeichen setzen wollte.
Herrschaft und Alltag in der Honecker-Ära
Nachdem Erich Honecker am 3. Mai 1971 das Amt des Parteichefs von Walter Ulbricht übernommen hatte, schaffte es der neue Mann an der Spitze, sich sowohl bei der eigenen Bevölkerung als auch bei den westlichen Beobachtern ein gewisses positives Ansehen zu verschaffen. Doch zog mit Honecker als Erstem Sekretär kein neuer Politikstil in das Politbüro ein. Die systembedingten Herrschaftsmethoden blieben dieselben und auch durch die Verfassungskorrektur von 1974 ergaben sich keine Veränderungen. Die politische Propaganda der Staatspartei, für ein besseres Leben in Wohlstand und Frieden zu sorgen, wirkte nicht mehr. Das Vertrauen der Bevölkerung war endgültig aufgebraucht, als klar wurde, dass die SED ihr Versprechen einer besseren Zukunft auch unter Honecker nicht einlösen konnte. Die zuletzt propagierte Losung vom Sozialismus in den Farben der DDR zeugte nur noch von der völligen Hilflosigkeit gegenüber den in der Gesellschaft aufgestauten Problemen.
Der Aufbau der SED.
Der Aufbau der SED.
SED
Die führende Rolle der SED blieb bis 1989 erster Verfassungsgrundsatz. Eine kleine Minderheit von elitären Führungskräften, die politischen "Führungskader", erhoben den Anspruch, alle Gesellschaftsbereiche steuern und kontrollieren zu wollen. Laut Statut der SED bildete zwar das vom Parteitag gewählte Zentralkomitee der SED das höchste Organ der Partei. Faktisch bestimmten jedoch das vom Zentralkomitee gewählte Politbüro – bestehend aus 16 Mitgliedern und sieben Kandidaten – sowie das Sekretariat des ZK die Richtung der Politik. Die eigentliche Machtzentrale der SED bildeten die rund 1500 hauptamtlichen Mitarbeiter des Zentralkomitees. Sie residierten in einem großen Gebäudekomplex im Zentrum Berlins. Hier wurden alle politischen, wirtschaftlichen, sozial- und kulturpolitischen Entscheidungen vorbereitet, die dann die verschiedenen Ministerien umzusetzen hatten. In ähnlicher Weise bestimmten die hauptamtlichen Apparate der SED in den Bezirken und Kreisen die regionale Politik. Hier hatten die Vorsitzenden des Rates der Bezirke und des Rates der Kreise eine ebenso nachgeordnete Stellung.
Der "demokratische Zentralismus" war das Organisationsprinzip der Partei. Danach erfolgte die politische Willensbildung in der Partei in einem kleinen Führungszirkel an der Parteispitze. Die Mitglieder hatten in den gewählten Gremien das zu legitimieren und umzusetzen, was in der engeren Führung beschlossen wurde. In diesem Sinne bestätigten Parteitage und selbst Tagungen des Zentralkomitees lediglich die Führungsbeschlüsse. Sie waren nicht der Ort, wo programmatische oder tagespolitische Entscheidungen nach kontroverser Debatte getroffen wurden. Die Einheit und Geschlossenheit der Partei wurde zu einem gleichsam sakrosankten Prinzip kultiviert, an dem das Handeln jedes Mitgliedes zu messen war. Entsprechend diesem obersten Grundsatz wurde jeglicher Ansatz innerparteilicher Opposition bekämpft und ausgeschaltet. Fraktionsbildung galt als schweres Vergehen gegen die Parteidisziplin und wurde in der Regel mit Ausschluss bestraft.
Der Marxismus-Leninismus als in sich geschlossenes Gedankengebäude galt für alle Parteimitglieder als Richtschnur ihres politischen Handelns. Für die Vermittlung dieser Ideologie wurde ein straff organisiertes Schulungssystem auf allen Ebenen aufgebaut. In der täglichen Praxis besaßen die Mitglieder der SED einen verschwindend geringen Einfluss auf die politischen Entscheidungen in Partei und Gesellschaft. Und dennoch: Die SED war kein homogenes, sondern ein lebendiges und vielgestaltiges Gefüge von Menschen, die in ihren Rollen als Parteimitglieder und zugleich als Individuen in verschiedenen gesellschaftlichen Bezügen handelten und beide Rollen selten deckungsgleich ausfüllten. Die SED stand seit ihrer Gründung vor einem Dilemma, das sie bis zu ihrem Ende im Jahre 1989 nicht aufzulösen vermochte: Sie sollte nach den Vorstellungen ihrer kommunistischen Gründer wie eine elitäre Kaderpartei agieren und wurde dementsprechend geleitet. Jedoch besaß sie in ihren über zwei Millionen Mitgliedern eine überaus heterogene Basis, in der unterschiedliche Motivationen, Auffassungen und Verhaltensweisen wirkten.
DDR-Staatsorgane
DDR-Staatsorgane
Im Jahre 1975 übersprang die SED erstmals die Zweimillionen-Grenze: Sie zählte zu diesem Zeitpunkt 2 014 893 Mitglieder und Kandidaten. So war die SED vom Charakter her sowohl Massen- als auch Kaderpartei. Dass die SED eben nicht ausschließlich ein Instrument ihrer Führung war, zeigte sich besonders auffallend, als sie im November/Dezember 1989 zerfiel. Das geschah eben zu jenem Zeitpunkt, als die Führung den Rückhalt nicht nur in der Gesellschaft endgültig und umfassend, sondern auch in der Parteibasis verloren hatte und diese Basis innerhalb weniger Monate wieder ganz in dieser Gesellschaft aufging.
Blockparteien
Die vier Blockparteien – Christlich-Demokratische Union (CDU), Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD), Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) – agierten in der Honecker-Ära als "Blockflöten" der SED ohne eigenes politisches Profil.
Innerhalb der Blockparteien gab es in manchen Fragen aber durchaus Diskrepanzen zwischen Führung und Mitgliedern. Nicht selten wurde der Eintritt in eine Blockpartei als Schritt verstanden, sich ausdrücklich gegen die SED-Mitgliedschaft zu entscheiden, um bescheidene Freiräume für politische Arbeit zu nutzen. Nachdem die Zahl der Mitglieder dieser Parteien seit den 1960er Jahren immer mehr abnahm, verzeichneten sie in den 1970er Jahren einen leichten Zugewinn. 1975 sah der Mitgliederstand der Blockparteien wie folgt aus: CDU 107 682 Mitglieder; DBD 90000 Mitglieder; NDPD 85 961 Mitglieder sowie LDPD 71 688 Mitglieder.
Massenorganisationen
Auch die großen Massenorganisationen – Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) und Freie Deutsche Jugend (FDJ) – blieben in der Ära Honecker weiterhin Herrschaftsinstrumente der SED. Dem FDGB mit seinen fast zehn Millionen Mitgliedern kam die Aufgabe zu, für hohe Arbeitsleistungen und die Erfüllung der Wirtschaftspläne im "sozialistischen Wettbewerb" zu sorgen. Als schlagkräftiger Hebel zur Durchsetzung der Interessen der Arbeiter konnte der FDGB nicht bezeichnet werden. Seine Arbeit beschränkte sich zunehmend darauf, den gewerkschaftlichen Feriendienst mit seinem ausgedehnten Netz von Ferienheimen (zwischen 20 und 50 Prozent aller Urlaubsplätze wurden über den FDGB vergeben) sowie die kulturelle Arbeit im Betrieb zu organisieren. Zentrale Leitungsgremien wie der Bundesvorstand waren mit Mitgliedern der SED besetzt, die oft auch eine Doppelfunktion in Staat und Partei ausübten. Der seit 1975 amtierende Vorsitzende, Harry Tisch, gehörte dem Zentralkomitee sowie dem Politbüro der SED an. Er war zudem Abgeordneter der Volkskammer und Mitglied des DDR-Staatsrates.
Der FDJ mit ihren circa 2,1 Millionen Mitgliedern wurde die Aufgabe zugewiesen, die heranwachsende Jugend in das politische System der DDR einzubinden und sie zu loyalen Staatsbürgern zu erziehen. Offiziell bezeichnete die SED-Propaganda die FDJ als "Kampfreserve der Partei". Das Ziel, die Mitglieder im Sinne der Ideologie des Marxismus-Leninismus zu beeinflussen, konnte jedoch nie in dem gewünschten Maße umgesetzt werden. Soziale Aufstiegschancen waren ohne eine Mitgliedschaft in der FDJ von vornherein gering, sodass die Mehrheit der Mädchen und Jungen im Alter zwischen 14 und 25 Jahren dieser Organisation angehörten. 1981 waren insgesamt 69 Prozent der jugendlichen Bevölkerung in der FDJ organisiert. Das höchste Organ war der Zentralrat der FDJ in Berlin. An dessen Spitze stand seit 1974 Egon Krenz, der zugleich dem Zentralkomitee der SED angehörte. Die Mitglieder trugen eine einheitliche Kleidung, eine blaue Bluse bzw. Hemd, das "Blauhemd", mit einem Sonnenemblem auf dem linken Ärmel. Der Gruß der FDJler hieß "Freundschaft". Dem Zentralrat der FDJ unterstanden die Kinderorganisation Junge Pioniere (Klasse 1 bis 3) und die Thälmann-Pioniere (Klasse 4 bis 7).
Neben der ideologischen Erziehung bestand eine wesentliche Aufgabe der FDJ darin, die Freizeitbetreuung ihrer Mitglieder zu organisieren. So war der Jugendverband sehr stark in die staatliche Jugendkultur eingebunden. Dazu gehörten Jugendklubs sowie Urlaubsreisen für junge Leute über die Reiseagentur Jugendtourist und zahlreiche Jugendhotels. Darüber hinaus organisierte die FDJ kulturelle Großveranstaltungen wie das jährliche Festival des politischen Liedes in Berlin. Einen zentralen Höhepunkt des Organisationslebens in den 1970er Jahren bildete das "Nationale Jugendfestival", das die FDJ vom 1. bis 3. Juni 1979 in Berlin veranstaltete. Dort trafen sich Hunderttausende von Jugendlichen zu politischen Kundgebungen und zahlreichen Kulturveranstaltungen. Das "Nationale Jugendfestival" diente ebenso wie die traditionellen Pfingsttreffen der FDJ der politischen Legitimation der DDR als eigenständiges Staatswesen. Der obligatorische Vorbeimarsch der teilnehmenden FDJ-Mitglieder an der Partei- und Staatsführung sollte die vorbehaltlose Zustimmung der DDR-Jugend zum politischen Kurs der SED-Führung zum Ausdruck bringen.
Als weitere wichtige Massenorganisationen sind der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) mit 1,4 Millionen Mitgliedern, der Deutsche Kulturbund der DDR (KB) mit über 250000 Mitgliedern, die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) mit sechs Millionen Mitgliedern sowie die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) mit mehr als 500000 Mitgliedern zu nennen. Mit diesen Mitte der 1980er Jahre gezählten Mitgliedern dieser Verbände schuf sich die politische Führung einen hohen Organisationsgrad in der Gesellschaft. Sie alle sollten verschiedene Zielgruppen im Sinne der SED-Politik erreichen und einbinden. Politische Mobilisierung und Aktivierung in den politischen Organisationen boten aber auch die Chance, lokale Interessen in den Städten und Gemeinden zu vertreten. Allerdings fiel es den "Bündnispartnern" unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen sichtlich schwer, diese Interessen auch wirklich zu vertreten. SED, Blockparteien sowie die Massenorganisationen FDGB, FDJ, DFD, Kulturbund und die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) waren mit Abgeordneten in der Volkskammer vertreten, deren Verteilung in einem festen Schlüssel geregelt wurde. So scheiterten insbesondere die Blockparteien aus strukturellen Gründen daran, Interessenvielfalt tatsächlich zu praktizieren.
Volkskammer
Die geänderte Verfassung von 1974 definierte wie auch schon ihre Vorgänger 1949 und 1968 die Volkskammer als höchstes konstitutionelles Organ. In der Verfassungspraxis spielte sie praktisch keine Rolle, denn sämtliche zentralen gesellschaftspolitischen Entscheidungen traf das SED-Politbüro. Alle Parteien und Massenorganisationen, die in der Volkskammer vertreten waren, bildeten den Dachverband "Nationale Front", der von einem Nationalrat und dessen Präsidium geleitet wurde. Das Präsidium hatte den Weisungen und Richtlinien der SED-Führung zu folgen. Für die Wahlen zur Volkskammer, die alle fünf Jahre stattfanden (1971, 1976, 1981, 1986), traten die Parteien und Massenorganisationen mit einer gemeinsamen und einzigen Liste der Nationalen Front an. Der Wahlsieg der "Kandidaten der Nationalen Front" suggerierte eine breite Legitimation der Staatsmacht durch die Bevölkerung, verschleierte jedoch das tatsächlich herrschende Machtmonopol der SED. Wahlen in den Bezirken, Städten und Gemeinden zu den "örtlichen Volksvertretungen" liefen nach demselben Muster ab. Seit Anfang der 1980er Jahre gab es auf örtlicher Ebene zumindest die Möglichkeit, zwischen einigen Kandidaten auf der Einheitsliste auszuwählen.
Die Nationale Front bildete in den Bezirken, Kreisen, Städten, Gemeinden und Wohngebieten Ausschüsse, in denen sich zahlreiche Menschen (1989: 405 000) für örtliche Belange engagierten, beispielsweise bei der Erhaltung des Wohnraums und der Anlage von Grün- oder Spielflächen. Die SED-Führung stellte in ihrer Propaganda dieses Engagement als Muster "sozialistischer Demokratie" heraus. Tatsächlich handelte es sich aber nicht um eine Parteinahme für den Staat, vielmehr wurden die regionalen Ausschüsse als Foren der Selbsthilfe gegenüber einer überforderten kommunalen Verwaltung genutzt.
In den vier Jahrzehnten ihrer Existenz verabschiedete die Volkskammer alle Gesetze einstimmig mit einer Ausnahme: Bei der Abstimmung über das "Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft" am 9. März 1972 votierten 14 Abgeordnete der Fraktion der CDU aus "Gründen christlicher Ethik" mit Nein und acht enthielten sich, weil die CDU und mit ihr die SED-Führung es sich nicht mit den heftig protestierenden Bischöfen beider christlicher Konfessionen in der DDR verderben wollten.
DDR-Wahlsystem
DDR-Wahlsystem
Staatsrat und Ministerrat
Der Staatsrat stellte formell das höchste staatliche Gremium der DDR dar. Sein Vorsitzender war zugleich Staatsoberhaupt der DDR. Nach dem Tod Ulbrichts am 1. August 1973 übernahm Willi Stoph im Oktober 1973 den Vorsitz im Staatsrat. Der Staatsrat bestand aus dem Vorsitzenden, seinen fünf Stellvertretern und 16 weiteren Mitgliedern, die durch die Volkskammer bestätigt wurden. Bis zur Änderung der Verfassung 1974 konnte der Staatsrat Erlasse mit Gesetzeskraft beschließen und Vorlagen an die Volkskammer behandeln. Er legte die Verfassung und Gesetze verbindlich aus und entschied über den Abschluss von Staatsverträgen. Durch die Verfassungsänderung trat er nur noch als ein Repräsentationsorgan in Erscheinung, und der Vorsitzende des Staatsrates verlor seine herausgehobene Stellung. Er verlieh Orden und Ehrenabzeichen, übte das Amnestie- und Begnadigungsrecht aus und legte militärische und diplomatische Ränge fest. Wichtige praktische Bedeutung erlangte das Sekretariat des Staatsrates mit seinen circa 200 Mitarbeitern, indem es Eingaben aus der Bevölkerung (sogenannte Staatsratseingaben) bearbeitete, in denen zumeist unzumutbare Wohnbedingungen im Vordergrund standen.
DDR-Ministerrat
DDR-Ministerrat
Der Ministerrat übte seit 1950 formal die Funktion der Regierung der DDR aus. Er wurde von der Volkskammer für fünf Jahre gewählt und von einem Vorsitzenden (Ministerpräsident) geleitet. Es gab zwei 1. Stellvertretende Vorsitzende und neun weitere Stellvertretende Vorsitzende. Zusammen mit einigen Fachministern bildeten sie das Präsidium des Ministerrates. Der Ministerrat verkörperte im Machtgefüge der DDR allerdings nur eine nachrangige Instanz zum Absegnen von Beschlüssen und Gesetzentwürfen der SED-Führung. Das Präsidium bereitete sämtliche Entscheidungen in Absprache mit den zuständigen Abteilungen des Zentralkomitees (ZK) der SED und dem SED-Politbüro vor. Die Sekretäre und Abteilungsleiter im ZK der SED konnten den Ministern Anweisungen erteilen. Von 1976 bis 1989 übte Willi Stoph die Funktion des Vorsitzenden des Ministerrates aus.
Staat und SED waren in der Honecker-Ära mehr als zuvor auch personell eng miteinander verflochten. Erich Honecker war seit 1971 nicht nur Erster Sekretär (ab 1976 Generalsekretär) der SED und ab 1976 Vorsitzender des Staatsrates. 1971 wählte die Volkskammer ihn auch zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, des obersten militärischen Gremiums der DDR. Er wäre für den Verteidigungsfall zum Oberbefehlshaber aller bewaffneten Kräfte der DDR geworden.
Der Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit als Machtapparat der SED
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war kein autonomes Schattenreich im politischen System der DDR, sondern als "Schild und Schwert der Partei" ein wichtiges Herrschaftsinstrument der SED und von den Weisungen und Befehlen der Parteiführung abhängig. Seine vornehmliche Aufgabe war es seit seiner Gründung 1950, als politische Geheimpolizei mit nachrichtendienstlichen Methoden jegliche Form politischer Gegnerschaft aufzuspüren und zu unterdrücken. Um ihm dabei größtmöglichen Spielraum zu geben, war eine Kontrolle der Tätigkeit durch die Volkskammer oder den Ministerrat nicht vorgesehen. Dies führte nicht zuletzt dazu, dass das MfS fernab jeglicher Rechtsstaatlichkeit agieren konnte.
In der Ära Honecker wuchs das MfS in eine neue Form von Herrschaftsausübung hinein. Neben den klassischen Unterdrückungsmethoden als Geheimpolizei versuchte das MfS unter seinem Chef Erich Mielke, der das Amt seit 1957 innehatte, als Akteur in alle Bereiche der Gesellschaft kontrollierend und steuernd einzugreifen. Hierfür war zunächst ein großer hauptamtlicher Apparat nötig, der seit den 1970er Jahren ständig wuchs. Waren im Jahre 1957 noch 17 000 Mitarbeiter hauptamtlich beschäftigt, so zählte die Personalabteilung des MfS im Oktober 1989 genau 91 015 Mitarbeiter. Sie sollten die politische Opposition überwachen und bekämpfen, zu der das MfS auch das gesamte Aktionsfeld der Kirchen rechnete sowie die seit Anfang der 1980er Jahre aufkommenden Umwelt-, Friedens- und Bürgerrechtsgruppen, die ebenfalls als Form der "politisch-ideologischen Diversion" begriffen wurden. Auch Liedermacher, Schriftsteller, bildende Künstler, Maler und Schauspieler wurden grundsätzlich und gleichermaßen verdächtigt, sich an staatsfeindlichen Aktionen zu beteiligen. Sie alle standen im Fokus von Bespitzelung, Überwachung und Repression.
Hierfür kamen verschiedene Formen von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Staatssicherheit zum Einsatz. Sie sollten nicht nur Informationen aus ihrem beruflichen und familiären Umfeld sammeln und weitergeben, sondern auch zur "Zersetzung" – also zur Zerstörung – jeglichen oppositionellen Ansatzes beitragen. Einen Schwerpunkt der Bespitzelungen bildeten u. a. Hochschulangehörige, Künstler und Ärzte, die das MfS den Berufsgruppen mit starken Ausreiseabsichten zuordnete. Dem Flucht- und Ausreisewillen sowie den bundesdeutschen Abwerbungsaktivitäten versuchte das MfS durch eine in den 1970 Jahren anschwellende flächendeckende Überwachung der genannten Berufsgruppen zu begegnen. Der Anteil der IM unter den Ärzten lag zwischen drei bis fünf Prozent und war damit etwas höher als der Prozentsatz von IM in der Bevölkerung insgesamt, der ungefähr im Durchschnitt bei zwei Prozent lag. Mitte der 1970er Jahre erreichte das IM-Netz mit über 200000 Mitarbeitern seine größte Ausdehnung. Die Motive für die heimlichen Bespitzelungen von Freunden, Kollegen, ja sogar Ehepartnern konnten verschieden sein: Sie reichten von politischen Überzeugungen, ganz persönlichen Interessen, beruflichem Karrierestreben bis hin zur Angst vor Repressionen der Staatsmacht. 1989 führte die Staatssicherheit 189 000 Inoffizielle Mitarbeiter, die zum überwiegenden Teil in der DDR eingesetzt waren. In der Bundesrepublik waren höchstwahrscheinlich – "geführt" von der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) unter Markus Wolf – rund 3000 Inoffizielle Mitarbeiter für das MfS tätig.
Auf der anderen Seite beschäftigte sich das MfS auch mit wirtschaftlichen Problemen und Mängeln des planwirtschaftlichen Systems. Aufgrund von Berichten ihrer IM gelangte die Staatssicherheit zu einer in der DDR nicht üblichen realitätsnahen Bestandsaufnahme. Da Mielke selbst dem Generalsekretär der SED Kenntnisse über die reale Wirtschaftslage nicht zumuten wollte, beschränkte er sich auf Informationen über Havarien in den volkseigenen Betrieben und darauf, einzelne Betriebsdirektoren für bestimmte Missstände verantwortlich zu machen.
Militarisierung der Gesellschaft
In deutlichem Kontrast zur internationalen Entspannung verstärkte die SED-Führung im Laufe der 1970er Jahre ihre innenpolitischen Bemühungen zur Militarisierung der Gesellschaft. Bereits seit 1971 war es für männliche Jugendliche nach Beendigung der Klasse 11 in den Sommerferien Pflicht, an einer zweiwöchigen vormilitärischen Ausbildung in einem Ausbildungslager der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) teilzunehmen. Im September 1978 führte das Volksbildungsministerium den Wehrunterricht als ein obligatorisches Unterrichtsfach für alle Schüler der 9. und 10. Klassen der Polytechnischen und Erweiterten Oberschulen ein. Auch an den Universitäten sollte den Studierenden ein sozialistisches Verständnis von "Wehrbereitschaft" vermittelt werden. Nach dem zweiten Semester mussten sich Studenten, die bereits die 18-monatige Wehrpflicht absolviert hatten, in einem Ausbildungslager der Nationalen Volksarmee (NVA) während der Semesterferien militärisch "ertüchtigen" lassen. Die Studentinnen wurden in diesen fünf Wochen in einem Lager für Zivilverteidigung (ZV) auf den militärischen Ernstfall vorbereitet, indem sie u.a. eine Ausbildung in Erster Hilfe und beim Verhalten in Katastrophensituationen, zum Beispiel bei Bränden oder Evakuierungen, erhielten. Im März 1982 stimmte die Volkskammer einem neuen Wehrdienstgesetz zu, das allen staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen die Verpflichtung übertrug, die Bürger, Schüler und Studenten auf den Wehrdienst vorzubereiten.
QuellentextWehrerziehung
Nur schwer kann man sich einen Staat vorstellen, der im tiefsten Frieden stärker militarisiert war als die DDR. [...] Wirtschaft, Familienpolitik, Volksbildung, Sport und Gesundheitswesen orientierten sich an den militärischen Erfordernissen. Ende der siebziger Jahre verstärkte sich dieser Trend und fand am 1. September 1978 seinen sichtbarsten Ausdruck in der Einführung der "Wehrerziehung" als obligatorisches Unterrichtsfach in den neunten und zehnten Klassen der Polytechnischen Oberschule. Die Grundsatzdirektive des Ministeriums für Volksbildung legte im Einvernehmen mit dem Minister für Nationale Verteidigung den Unter-richt zu "Fragen der sozialistischen Landesverteidigung" auf jeweils vier Doppelstunden fest. Hinzu kamen zwölf Ausbildungstage in der Klasse 9 zu jeweils acht Stunden im Lager für die Jungen beziehungsweise der Lehrgang "Zivilverteidigung" für alle Mädchen sowie für diejenigen Jungen, die nicht an der Wehrausbildung im Lager teilnehmen konnten, im Umfang von zwölf Lehrgangstagen zu jeweils sechs Stunden. Außerdem wurden drei Tage der "Wehrbereitschaft" durchgeführt. Das Ziel des Maßnahmenkatalogs bestand darin, "die Mädchen und Jungen mit ausgewählten Grundkenntnissen der Landesverteidigung vertraut machen und ihre Wehrbereitschaft fördern". [...] Schon seit den frühen fünfziger Jahren veranstalteten die Schulen Schießübungen mit Luftdruck- oder Kleinkalibergewehren, Geländespiele, Exerzierübungen und Werbeveranstaltungen für die NVA. Während aber bisher ihre Durch-führung bei der Pionierorganisation, der FDJ oder der GST gelegen hatte und deshalb durchaus die Möglichkeit bestand, sich der Teilnahme zu entziehen, demonstrierte der Staat nun seine Macht und zwang auch noch die letzten Außenseiter in die grauen Uniformen der Zivilverteidigung.
Selbst in den Kindergärten, die einheitlichen Bildungs- und Erziehungsplänen folgten, stand die Wehrerziehung auf dem Programm. In der mittleren Gruppe, also bei den Vier- bis Fünfjährigen, sah sie unter der Rubrik "Bekanntmachen mit dem gesellschaftlichen Leben" auch das Thema "Von den Menschen, die unsere Heimat schützen" vor und führte aus: "Die Beziehungen der Kinder zu den bewaffneten Streitkräften werden ver-tieft. Sie sammeln Bilder und unterhalten sich mit den Erziehern darüber; stellen nach Möglichkeit zu einem Angehörigen der bewaffneten Organe freundschaftliche Beziehungen her." Der Plan für die Sechs- bis Siebenjährigen baute diesen Programmpunkt aus: "Die Kenntnisse der Kinder über die Soldaten unserer Nationalen Volksarmee werden erweitert. Die bestehenden freundschaftlichen Beziehungen der Kinder zu diesen Menschen werden ge-pflegt. Durch diese engen Beziehungen der Kinder zu einzelnen Angehörigen der bewaffneten Organe werden bei den Kindern die Gefühle der Liebe und Zuneigung zu ihnen entwickelt. Sie wissen, unsere Soldaten sind auch Arbeiter. Sie schützen die Menschen und deren Arbeit und wachen darüber, daß wir fröhlich spielen können [...]."
Zur Ehrenrettung vieler Kindergärtnerinnen sei gesagt, daß sie die Anweisungen oft nicht ernst nahmen oder sogar bewußt unterliefen. Schwerwiegender als die oben angedeutete Veränderung ihrer Organisationsstruktur war die Tatsache, daß sich die Wehrerziehung nicht auf das Unterrichtsfach "Wehrkunde" beschränken, sondern ein durchgängiges pädagogisches Prinzip der klassenmäßigen sozialistischen Erziehung bilden sollte. In den Lesebüchern standen Geschichten über die tapferen Krieger der NVA und der Sowjetarmee, in Musik sang man nicht nur die traditionellen Lieder der Arbeiterbewegung, sondern auch Soldatenmärsche, in Kunst enthielt der Lehrplan das Motiv der Verteidigungsbereitschaft, nach dem die Kinder Panzer und Kanonen malen mußten. Sogar der Physiklehrer sollte das Prinzip der Federspannung anhand der "überlegenen Waffentechnik der sozialistischen Armeen" erklären.
Ob diese Übersättigung zu echter Begeisterung für den künftigen Waffendienst oder eher zu Überdruß und Ablehnung führte, bleibe dahingestellt. [...] Zumindest Abiturienten unterlagen massivem Druck, eine freiwillige Verpflichtungserklärung für den dreijährigen Dienst in der NVA zu unterschreiben oder sich für die Offizierslaufbahn zu bewerben, denn die Schulen mußten eine bestimmte Erfolgsquote vorweisen. Diese Zwangslage führte oft zu unverhüllten Drohungen durch Schulleitung und FDJ, Jugendliche vom Abitur auszuschließen oder mit schlechten Beurteilungen den Weg zur Universität zu verbauen, wenn sie dem "Wunsch" nicht nachkamen. Nicht alle waren so "abgebrüht", sich zunächst zu verpflichten und später zu widerrufen oder ein ärztliches Attest einzureichen. [...]
Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, 2., durchgesehene Aufl., Bonn 1999, S. 257ff.
Wenn die Volksarmeesoldaten ... Wenn die Volksarmeesoldatenin der Stadt marschieren,winken alle Kinder fröhlich,wollen's auch probieren.Marschieren, marschieren, links und rechts im gleichen TrittMarschieren, marschieren, links und rechts, wir halten Schritt.
Wenn die Volksarmeesoldatenauf dem Sportplatz üben,drücken sich die Kindernasenan den Zäunen drüben. Marschieren, marschieren ...
Wenn die Volksarmeesoldaten abends Wache stehen, können das die Kinder leider nur im Traume sehen. Marschieren, marschieren ...
Wenn die Volksarmeesoldaten mal nach Hause fahren, sind schon neue angekommen, Frieden zu bewahren. Marschieren, marschieren ...
In: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Das bewegte Jahrzehnt, bpb-Zeitbilder, Bonn 2003, S. 73
"Kirche im Sozialismus"
Nach dem Amtsantritt Honeckers als SED-Parteichef war der Druck der Partei und des von ihr beherrschten Staates auf die Christen und die Kirchen in der DDR keineswegs geringer geworden. In der herrschenden Ideologie des Marxismus-Leninismus galt Religion als Aberglaube und "Opium für das Volk". 1969 hatten sich die acht evangelischen Landeskirchen in der DDR auf Druck der SED-Führung von der gesamtdeutschen "Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)" rechtlich und organisatorisch getrennt und sich im "Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR" zusammengeschlossen. Bereits 1971 prägte der evangelische Kirchenbund unter seinem Vorsitzenden Bischof Albrecht Schönherr die Formel "Kirche im Sozialismus", nicht Kirche neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus, womit eine Orts- und Auftragsbestimmung gemeint sei. Die SED verstand darunter jedoch eine Kirche, die die sozialistische Gesellschaft uneingeschränkt bejaht, auf Kritik verzichtet und den SED-Staat nach innen und außen unterstützt. Die Kirche hingegen verdeutlichte, dass sie den sozialistischen deutschen Staat, indem sie ihn akzeptiere, verändern wolle. Sie machte ein Mitspracherecht in der Gesellschaft geltend und beharrte darauf, dass sich Kirche niemals auf den Kult beschränken lassen, andererseits aber auch niemals eine sozialistische Massenorganisation werden könne. Kirche im Sozialismus, das sollte heißen: weder Anpassung noch absolutes Nein zur sozialistischen Wirklichkeit, noch Rückzug in ein selbst geschaffenes Getto hinter Kirchenmauern. In Anbetracht der staatlichen Kirchenpolitik, die ständig zwischen Unterdrückung und Dialog pendelte, fiel es den Kirchen schwer, sich als Anwälte der Glaubens- und Gewissensfreiheit tatsächlich behaupten zu können.
Notlösungen in der Mangelwirtschaft
Am Ende der 1970er Jahre standen Partei und Regierung vor einem Widerspruch, der sich im Rahmen des bestehenden gesellschaftlichen Systems nicht auflösen ließ. Auf der einen Seite hatten die hohen Investitionen der sozialpolitischen Programme zu messbaren Ergebnissen geführt. Das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm, subventionierte Mieten und Grundnahrungsmittel, der Ausbau des staatlichen Gesundheitswesens, hoher Bildungsstandard sowie staatliche und betriebliche Kinderbetreuung erleichterten den Alltag. Auf der anderen Seite wuchs der Unmut in der Bevölkerung, und zwar nicht nur wegen der überall spürbaren staatlichen Gängelung und fehlender Demokratie. Die vollmundigen Versprechen Honeckers auf den Parteitagen der SED hatten Erwartungen geweckt, denen die heimische Konsumgüterindustrie angesichts der angespannten Wirtschaftslage nicht entsprechen konnte.
Die Misere der Mangelwirtschaft war in den staatlichen Verkaufsläden allgegenwärtig. Es fehlte vor allem an hochwertigen Textilien, zahlreichen technischen Konsumgütern, ästhetisch ansprechenden Wohnungseinrichtungen, Bettwäsche und vielem mehr. Selbst die Versorgung mit den "Waren des täglichen Bedarfs" wie Fleisch, Wurst, Obst und Gemüse konnte nicht durchgängig gesichert werden und schwankte regional beträchtlich, wobei Ost-Berlin aufgrund seiner politischen Bedeutung als "Schaufenster" zum Westen noch immer bevorzugt behandelt wurde. Abhilfe suchte die politische Führung durch die Schaffung besonderer Verkaufseinrichtungen, in denen man die äußerst knappen Konsumgüter anbot, die mit kostbaren Devisen aus dem westlichen Ausland importiert werden mussten. Ein Teil der importierten Waren stand der 1962 gegründeten
Einzelhandelskette "Intershop" zur Verfügung, in der Waren ausschließlich mit konvertierbaren Währungen bezahlt werden mussten. 1974 gab es 271 Intershops; der Umsatz ging in die Milliarden. Allein 1979 erwirtschafteten sie Einnahmen in Höhe von 450 Millionen Westmark (DM). Das Sortiment umfasste Nahrungsmittel, Alkohol, Tabakwaren, Kleidung, Spielwaren, Schmuck, Kosmetika, technische Geräte, Tonträger und vieles mehr. Seit 1974 durften dort auch DDR-Bürger einkaufen. Da sie Valuta jedoch nicht legal gegen Mark der DDR eintauschen konnten, blühte der illegale Umtausch. Für eine West-Mark mussten im Schnitt vier Ost-Mark gezahlt werden, Ende der 1980er Jahre sogar acht DDR-Mark.
Die Ausweitung der Intershops verbesserte in den 1970er Jahren zwar für einen Teil der Bevölkerung die Versorgungslage, bewirkte aber vor allem, dass es praktisch zwei Währungen in der DDR gab und sich eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft herausbildete. Das führte zu erheblicher Verstimmung aller derjenigen, die keine Verwandten und Bekannten im Westen oder andere Gelegenheiten hatten, an Westgeld zu kommen, oder die aufgrund ihrer beruflichen Stellung keinen Westkontakt pflegen durften. Auch in den Betrieben forderten Beschäftigte hier und da schon eine teilweise Entlohnung in Westmark. Daraufhin erklärte die SED-Führung, diese Läden seien keine "ständigen Begleiter des Sozialismus", sondern eine Übergangslösung. Bis zuletzt konnte sie die Existenz der Intershops nicht glaubhaft rechtfertigen.
Die Nachteile für diejenigen, die nicht über Westgeld verfügten, sollten durch die "Exquisit"- und "Delikat"-Läden ausgeglichen werden. In den "Exquisit"-Läden wurden vornehmlich Qualitätswaren der Textil-, Leder- und Pelzindustrie zu stark überhöhten Preisen verkauft, die jedoch in Mark der DDR bezahlt werden konnten. 1976 wurden diese Verkaufseinrichtungen ergänzt, indem für den Nahrungs- und Genussmittelbereich "Delikat"-Läden eingerichtet wurden. In den 1980er Jahren gab es etwa 300 "Exquisit"- und rund 550 "Delikat"-Läden. Dort konnten Waren aus der "Gestattungsproduktion" (in der DDR in Lizenz hergestellte westliche Erzeugnisse) und Importe für Mark der DDR gekauft werden. Die Folge war, dass preiswerte Waren aus den normalen Läden verschwanden und zu kräftig erhöhten Preisen unter anderem Namen in Exquisit- und Delikat-Läden wieder auftauchten. Dort waren dann auch Waren aus den Intershops für DDR-Mark zu haben, allerdings zu einem rund viermal höheren DDR-Mark-Preis. Dieser widersinnige Mechanismus im sensiblen Sektor der Konsumgüter sorgte ständig für Unmut in der Bevölkerung und zwang die SED-Führung zum Lavieren.
Die Befürchtung, dass eine allgemeine oder auch nur spezielle Preiserhöhung für bestimmte Waren des Grundbedarfs Unruhe auslösen könnte, ließ Honecker Versuche, die Verbraucherpreise für Nahrungsmittel und die stark subventionierten Mieten spürbar anzuheben, hartnäckig ablehnen. Für stabile Verbraucherpreise und Tarife sowie niedrige Mietpreise wurden 1977 insgesamt 44,3 Milliarden Mark aufgewendet. Ökonomisch waren die immensen Subventionen nicht zu vertreten. Sie mussten mit einer wachsenden Staatsverschuldung finanziert werden, die volkswirtschaftlich nicht kompensiert werden konnte.
Lebensstandard im Konsumsozialismus
Im Vergleich zu anderen Ländern des Ostblocks herrschte in der DDR am Anfang der 1980er Jahre ein hoher Lebensstandard. Verfügte Mitte der 1970er Jahre erst jeder vierte Haushalt über einen PKW, war es 1979 bereits jeder dritte. Auch der Ausstattungsgrad mit hochwertigen Konsumgütern wie Fernsehapparaten (90 Prozent), Kühlschränken (fast 100 Prozent) oder Waschmaschinen (80 Prozent) lag deutlich höher als in den meisten osteuropäischen Ländern. Das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm zeitigte erste Resultate. Großwohnsiedlungen wie Leipzig-Grünau, Berlin-Marzahn, Halle-Neustadt, Jena-Lobeda, Rostock-Lütten-Klein oder "Am Stern" in Potsdam kündeten davon, dass die Parteiführung damit beschäftigt war, die "Wohnungsfrage als soziales Problem" zu lösen. 1979 lebten in der am westlichen Stadtrand Leipzigs gelegenen Wohnsiedlung Grünau schon 16 500 Menschen. Ende der 1980er Jahre stieg die Zahl der Bewohner auf mehr als 80000, die in 36 000 Wohnungen lebten.
Wohnraum blieb dennoch knapp. Die meistgebaute Wohnung hatte drei Zimmer und maximal 66 Quadratmeter. Die engen Wohnungen und die monotone Architektur der Plattenbausiedlungen wurden als "Arbeiterschließfächer" verspottet. Zudem sorgte das Wohnumfeld der neuen Siedlungen für Unzufriedenheit. Die noch immer unzureichenden Einkaufsmöglichkeiten und Freizeiteinrichtungen, der Mangel an Dienstleistungen und die oft schlechte Verkehrsanbindung ans Stadtzentrum riefen Unzufriedenheit und Resignation hervor. Hinzu kam der rasante Verfall der Altbausubstanz in den historischen Innenstädten. Da auch in den 1980er Jahren über die Hälfte des Wohnungsbestandes aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammte, hatte ein großer Teil der Bevölkerung eine zunehmende Verschlechterung der Wohnqualität zu beklagen.
Die staatlich subventionierten Mieten blieben unverändert. Je nach Ausstattung betrugen sie zwischen 0,80 und 1,25 Mark pro Quadratmeter. Fernwärme oder Zentralheizung erforderten einen Aufpreis von 0,40 Mark. Kleine Altbauwohnungen kosteten deshalb nur selten mehr als 40 Mark Miete, das Entgelt für eine neue Drei-Raum-Wohnung lag bei 100 Mark. Die niedrigen Mieten galten für die SED-Führung als eine ihrer großen sozialpolitischen Errungenschaften. Doch kostendeckend waren diese politischen Preise natürlich nicht, der Verlust wurde einfach im Staatshaushalt verbucht. Die staatlichen Subventionen für das Wohnungswesen stiegen von 2,1 Milliarden Mark im Jahr 1971 auf 16 Milliarden Mark 1988.
Auch die Einkommen stiegen und sorgten für zusätzliche Kaufkraft. Doch allen Abgrenzungsbemühungen der politischen Führung zum Trotz blieb die Bundesrepublik mit ihren wesentlich besseren Lebensverhältnissen und ihrer im Westfernsehen präsentierten Konsumwelt für die Mehrheit der Ostdeutschen der Bezugspunkt für Vergleiche.