Das Reformpaket der 1960er Jahre
Wirtschaftsreformen
Auf dem VI. Parteitag im Januar 1963 wurde das "Neue Ökonomische System" (NÖS) beschlossen, das die Modernisierung der Wirtschaft zum Herzstück von Reformen erhob. Die staatlichen Betriebe sollten zu gewinnorientiert arbeitenden Wirtschaftsorganisationen werden. Als zentraler Maßstab diente jetzt nicht mehr der quantitative Umfang der Produktion (Tonnenideologie), sondern der Gewinn. Die Kräfte des Marktes wurden nicht mehr als "kapitalistischer Restbestand" behandelt; fortan sollten sie für ein effizienteres Wirtschaften nutzbar gemacht werden. Beabsichtigt war, Plan und Markt besser miteinander zu verbinden. Jetzt begann in der Wirtschaft ein langjähriges Experimentieren mit neuen Formen der Verwaltung und Organisation, um die volkseigenen Betriebe in flexible Warenproduzenten umzuwandeln. Die Direktoren staatlicher Betriebe erhielten mehr Kompetenzen und Eigenverantwortung, damit sie freier über Absatz, Finanzen, Arbeitskräfte und Rohmaterialien verfügen konnten. Von einem Aufblühen der Wirtschaft versprachen sich die Reformer im SED-Politbüro auch stimulierende Auswirkungen auf alle anderen Bereiche der Gesellschaft.
In das Zentrum des Wirtschaftsausbaus rückten die Chemie (Petrochemie, Kunstfaserherstellung) und der Maschinenbau (Werkzeugmaschinenbau, Chemieanlagen). Am 1. April 1964 nahm in dem kleinen Städtchen Schwedt an der Oder ein neues Erdölwerk den Betrieb auf, das Rohöl aus der Sowjetunion verarbeitete und veredelte. Es entwickelte sich zu einem gigantischen petrochemischen Kombinat (PCK Schwedt), das nicht nur zum wichtigsten Kraftstofflieferanten der DDR wurde, sondern auch seit Mitte der 1960er Jahre ausgebaut wurde, um die Textilindustrie mit Faserrohstoffen, die Landwirtschaft mit hochwertigem Stickstoffdünger und die Chemieindustrie mit petrochemischen Komponenten zu versorgen.
Chemische Erzeugnisse veränderten im Laufe der 1960er Jahre den Alltag der Bevölkerung. Zu einem bekannten Kunstfaserprodukt gehörten bügelfreie Hemden, Kittelschürzen und Einkaufsbeutel aus DEDERON – das war der Handelsname von Polyamidfasern in der DDR. Sie wurden in Chemiefaserwerken in Rudolstadt-Schwarza, Guben und in Premnitz hergestellt. Auch Möbel und Geschirr aus Plaste/Plastik gehörten jetzt zum Alltag. Die VEB Chemische Werke Buna in Schkopau führten zu dieser Zeit den Werbeslogan "Plaste und Elaste aus Schkopau" ein, wobei Plaste für starre und Elaste für elastische Kunststoffe stand.
Nach zwei Jahren fortwährender Experimente begann in den Jahren von 1965 bis 1967 die zweite Phase der Wirtschaftsreform. Das wirtschaftliche Reformkonzept wurde in der Verantwortung von zwei Parteifunktionären mit wirtschaftswissenschaftlichem Sachverstand erarbeitet, die das Wohlwollen Ulbrichts genossen und 1961 bzw. 1963 in das SED-Politbüro gewählt worden waren: Erich Apel, seit 1963 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, sowie Günter Mittag, seit 1962 ZK-Sekretär für Wirtschaft. Apel blieben nur wenige Jahre im Amt. Er nahm sich am 3. Dezember 1965 in seinem Dienstzimmer das Leben, nachdem sein Entwurf für den Fünfjahrplan der Jahre 1966 bis 1970 am 2. Dezember 1965 auf einer außerordentlichen Politbürositzung mit dem Verweis auf das persönliche Versagen des Planungschefs abgeschmettert worden war. Als Nachfolger bestimmte die Volkskammer den bisherigen Stellvertreter Apels, Gerhard Schürer, der die Plankommission bis zu ihrer Auflösung 1989 leitete.
"Überholen ohne einzuholen", lautete die Formel, mit der Parteichef Ulbricht Ingenieure, Betriebsleiter und Arbeiter zu "Höchstleistungen" im Systemwettstreit anfeuern wollte. In rasantem Tempo wurde versucht, eine leistungsschwache Wirtschaft binnen weniger Jahre in ein effizientes wirtschaftliches System umzuwandeln. Doch es häuften sich Spannungen im gesamten Wirtschaftssystem und herbe Rückschläge. Die Produktionspläne konnten nicht mehr erfüllt werden. Es kam 1970 zu empfindlichen Versorgungsschwierigkeiten, vor allem in der Zulieferindustrie. Betriebsdirektoren versuchten vergeblich, die Rückstände mit Sonderschichten an den Wochenenden aufzuholen, was unter den Belegschaften Unmut auslöste. Unter dem Eindruck der 1970 anschwellenden Wirtschaftskrise wurden die 1963 begonnenen Wirtschaftsreformen zur Jahreswende 1970/71 schließlich abgebrochen.
Insbesondere Günter Mittag, einer der maßgeblichen Architekten der Wirtschaftsreform, präsentierte sich plötzlich als ein heftiger Kritiker der seit dem VII. Parteitag 1967 getroffenen wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Nur durch diesen Schwenk auf die Seite der Reformgegner konnte er sich in der SED-Machthierarchie behaupten. Auch der Chef der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, der die Reformexperimente Ulbrichts und seiner Berater bislang unterstützt hatte, sprach sich vehement für einen Abbruch der Wirtschaftsreformen und eine Änderung der Investitionspolitik aus. Als besonderes Ärgernis betrachtete der oberste Planungschef den deutlichen, obschon im Vergleich zu späteren Jahren moderaten Anstieg der Auslandsverschuldung, vor allem in konvertierbaren Devisen. Dazu trugen seiner Meinung nach Investitionen in Prestigeobjekte ohne nennenswerten Nutzen bei, wie der Vergnügungspark in Berlin-Plänterwald, der am 4. Oktober 1969 eröffnet worden war, rund 20 Millionen Valutamark gekostet hatte und zeigen sollte, wie modern und lebenswert der Sozialismus war.
Letztlich scheiterten die Modernisierungsversuche in der Wirtschaft an den systembedingten Defiziten der staatlich gelenkten Planwirtschaft. Hinzu kamen die überzogenen Erwartungen. Die Ziele der Wirtschaftspläne wurden immer gewaltiger. Die angestrebten jährlichen Zuwachsraten in der Produktivität von fast neun Prozent entsprachen reinem Wunschdenken. Um in zukunftsträchtigen neuen Zweigen der Computertechnik und Elektronik konkurrenzfähig zu werden, fehlten strukturelle Mechanismen für den Technologietransfer zwischen der Forschung und der Produktion. Selbst bei einer angemessenen Konzentration des Industriepotenzials gab es angesichts der begrenzten Möglichkeiten in der DDR und ihrer Abhängigkeit von Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion, insbesondere bei Erdöl, nur geringe Chancen, tatsächlich "Weltniveau" zu erreichen.
Im Grunde scheiterten die Reformer mit dem Versuch, marktwirtschaftliche Mechanismen einzuführen, da sie aus politischen Gründen grundsätzlich an der Planwirtschaft festhielten und die SED-Spitze keinerlei Abstriche an ihrer uneingeschränkten Führungsrolle bei der Steuerung und Lenkung der Wirtschaft zulassen wollte. Einzelne Elemente der Selbstregulation und Dezentralisierung reichten nicht aus, um die starren Methoden der zentralstaatlichen Wirtschaftsplanung zu überwinden und Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit zu erreichen. Letztlich siegten machtpolitische Interessen über wirtschaftliche Notwendigkeit und ökonomischem Sachverstand.
Die "sozialistische Schule"
Bildung und Erziehung standen in den 1960er Jahren ebenfalls im Mittelpunkt der Gesellschaftspolitik, weil die SED-Führung das Bildungssystem als eine direkt staatlich kontrollierbare Instanz zur Sozialisation nachwachsender Generationen ansah. In ihm wurde gemäß der marxistisch-leninistischen Doktrin ein entscheidender Hebel zur weltanschaulichen Prägung der Heranwachsenden gesehen. Der pädagogischen Idealvorstellung entsprach das Leitbild der "allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit". Darin vereinten sich verschiedene Persönlichkeitsmerkmale: sozialistisches Klassenbewusstsein, Verantwortungsgefühl für das Kollektiv, allseitige Bildung, hohes fachliches Wissen und Können, Disziplin und kulturelle Interessiertheit. Dieser ideale Typus des "sozialistischen Menschen" sollte innerhalb, aber auch außerhalb des obligatorischen Schulsystems herangebildet werden. Die Kinder- und Jugendorganisationen der Jungen Pioniere und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) mit ihren vielen hauptamtlichen Erziehern, Pionierleitern und den FDJ-Sekretären nahmen im Bildungs- und Erziehungssystem einen wichtigen Platz ein.
Mit dem "Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungswesen" vom 25. Februar 1965 erhielt das Bildungssystem der DDR eine Struktur, die in ihren wesentlichen Bestandteilen bis 1989 stabil blieb. Es regelte alle Bildungs- und Ausbildungsstufen von der Vorschulerziehung bis zur Erwachsenenqualifizierung. Im Zentrum stand die zehnklassige polytechnische Oberschule, die sich sukzessiv zur obligatorischen Bildungseinrichtung entwickelte. Neben den umfassenden weltanschaulichen Aspekten der "sozialistischen Erziehung" war an den Lehrplänen der allgemeinbildenden Oberschulen eine deutliche Anpassung an die Personalbedürfnisse der Wirtschaft abzulesen. Der Schwerpunkt verlagerte sich auf mathematische und naturwissenschaftlich-technische Felder, auf denen das Niveau der Schulbildung entschieden angehoben wurde.
Im Jahre 1963 stellte das Volksbildungsministerium die Weichen für die Gründung von Spezialschulen und -klassen, in denen Jugendliche mit ausgeprägten künstlerischen oder sportlichen Fähigkeiten und vor allem solche mit besonderen Begabungen für technische und mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer gefördert wurden. Letzteres stellte eine direkte Verbindung zu den personellen Bedürfnissen der führenden Wirtschaftszweige und der Landwirtschaft her. Auf Grund der schulpolitischen und ideologischen Vorgaben blieb die Begabtenförderung jedoch bis zuletzt ein brisanter und umstrittener Aspekt der DDR-Pädagogik. Die 14 mathematisch-naturwissenschaftlichen Spezialschulen und acht Einrichtungen für Schüler mit besonderen künstlerischen Begabungen standen im Widerspruch zum offiziellen Anspruch absoluter Chancengleichheit, den das Gesamtschulsystem der DDR erhob.
QuellentextDiplomaten in Trainingsanzügen
[...] Die sportlichen Erfolge ihrer Athleten waren für die DDR-Führung ein entscheidendes Mittel in ihrem Kampf um internationale Anerkennung. Weder die Wirtschafts- noch die Sozialpolitik der SED konnten dem Arbeiter- und Bauernstaat zu Glanz und internationaler Anerkennung verhelfen. Es waren vielmehr jene erfolgreichen Sportler und Sportlerinnen, die die DDR weltweit vertraten. Nicht umsonst wurden sie von der DDR-Führung "Diplomaten in Trainingsanzügen" genannt. [...]
So wurde der Leistungssport in der DDR zentrales Staatsziel, in keinem anderen Land waren Sport und Politik so eng verflochten wie in der DDR. 22 besonders Erfolg und Medaillen versprechende Sportarten wurden ausgewählt. Sie wurden fortan mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gefördert. Ein vorbildliches, alle Bereiche umfassendes System der Sichtung und Erfassung potenzieller Olympiakader wurde aufgebaut. An den Kinder und Jugendsportschulen sowie an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig arbeiteten die besten Trainer und Wissenschaftler daran, künftige Olympiasieger herauszubringen. Alle auserwählten Sportler wurden dafür von ihrem normalen Schul- und Arbeitsalltag freigestellt. Neue Sportstätten boten für die Spitzensportler optimale Trainingsmöglichkeiten. Sogar Trainingslager im Ausland waren nicht verboten, wenngleich natürlich streng darauf geachtet wurde, dass derartige Ausflüge und die Wettkämpfe im Westen nicht zur Republikflucht genutzt werden konnten. [...]
Die Statistik beweist den Erfolg des Systems: Bis 1988 gewann die DDR allein bei olympischen Sommerspielen 454 und bei Winterspielen noch einmal 110 Medaillen. Damit belegte das Land, obwohl nur von 1964 bis 1988 als selbstständiges Land vertreten, in der ewigen olympischen Medaillenwertung noch 2004 den siebten Platz. Um die internationale Anerkennung durch sportliche Erfolge zu garantieren, war der Bereich vollständig unter staatlicher Kontrolle.
1974 entstand der Staatsplan 1425, in dem das flächendeckende Doping von Leistungssportlern festgeschrieben wurde, überwacht vom Ministerium für Staatssicherheit. [...] Heute weiß man, dass viele Sportlerinnen und Sportler dauerhafte Folgeschäden davongetragen haben. Die unterstützenden Mittel führten nicht nur zu Fruchtbarkeits- und Stoffwechselstörungen, sondern auch zu einem erhöhten Krebsrisiko und zu Leber- und Herzschäden. Die Dopingmedikamente wurden von den Trainern verabreicht. Die Jüngeren erhielten sie offiziell als "Vitaminpillen", die Älteren als "unterstützendes Mittel". Weder Sportler noch ihre Eltern wurden über die Stoffe und die Gefahren aufgeklärt. Wer nachfragte, lief Gefahr, aus der Trainingsgruppe ausgeschlossen zu werden. Das galt allerdings nicht nur für die Sportler, sondern auch für Trainer. [...]
Trotz des flächendeckenden Dopings wurden bei den internationalen Wettkampfkontrollen nicht mehr DDR-Sportler als aus den übrigen Ländern überführt. Wenn es wirklich mal einen positiven Befund gab, so handelte es sich entweder um eine von der SED-Führung bewusst herbeigeführte Disziplinierungsmaßnahme (etwa nach unerwünschten Westkontakten) oder schlicht um einen "Unfall". Denn eigentlich musste die lückenlose medizinische Überwachung der DDR-Leistungssportler jede positive Dopingprobe verhindern. So wurden in den Wochen vor großen internationalen Wettkämpfen etwa die Erfolg garantierenden Schwimmerinnen hormonell auf Männerkonzentrationen eingestellt. Tage vor dem Wettkampf und nach Absetzung der Mittel ging es dann zur internationalen Dopingkontrolle. [...] [Das Dopingkontrollinstitut in Kreischa] war [...] stets auf einem technisch brillanten Stand, zum Teil finanziert mit Devisen aus der Bundesrepublik. Das Geld stammte aus dem praktizierten Freikauf von Häftlingen und floss auf das sogenannte Honecker-Konto und von dort auch in die medizinische Einrichtung des Dopinglabors [...].
Michael Nickels, "Sport als Mittel zum Zweck", in: General-Anzeiger Bonn vom 2./3. Oktober 2010
Mit der Absicht, den Berufswunsch der Heranwachsenden zu steuern, hatte schon seit dem Schuljahr 1960/61 der polytechnische Unterricht als Lern- und Praxisbereich in der Oberstufe begonnen. Er gliederte sich in den vierzehntägigen "Unterrichtstag in der Produktion" (UTP) in Industriebetrieben oder in der Landwirtschaft und in das theoretische Fach "Einführung in die sozialistische Produktion" (ESP). Die Teilnahme der Schüler an der produktiven Arbeit in einem volkseigenen Betrieb galt als Vorbereitung auf die Ausübung industrieller und industrienaher Berufe. In den Jahren seit 1964 verschärfte das Volksbildungsministerium die Praxis des polytechnischen Prinzips, indem in den 9. und 10. Klassen der allgemeinbildenden Oberschule eine berufliche Grundausbildung in den Bereichen Chemie, Metallurgie, Elektrotechnik, Maschinenbau, Energiewirtschaft, Verkehrswesen, Landwirtschaft und Bauwesen eingeführt wurde. Diese Regelung wurde in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wieder aufgehoben. Sie demonstrierte, mit welchem Eifer die Bedürfnisse der Wirtschaft und die inhaltliche Ausrichtung des Bildungssystems in Übereinstimmung gebracht werden sollten.
Margot Honecker prägte als Ministerin für Volksbildung von 1963 bis 1989 Form und Inhalt der "sozialistischen Schule". Das Gesetz über das Bildungswesen von 1965 und die anschließende Reform der Lehrpläne trugen zu einem beträchtlichen Teil ihre Handschrift. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann Erich Honecker, der im Mai 1971 die Nachfolge von Walter Ulbricht als Erster Sekretär des ZK der SED antrat, galt sie in ihren ersten Amtsjahren als aufmerksame Zuhörerin, die Ratschläge und wissenschaftliche Beratung nicht brüsk zurückwies. Auf ihre maßgebliche Initiative hin wurde 1970 die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) gegründet. Dort entstanden alle in der DDR verwendeten Lehrpläne sowie eine Vielzahl von Unterrichtsmitteln bzw. Unterrichtshilfen für Lehrer. Seit den 1980er Jahren nutzte die Ministerin allerdings ihren beträchtlichen Einfluss als Frau des SED-Generalsekretärs, um das zentralistische Bildungssystem gegen jeden Reformversuch abzuschotten.
Hochschulreform
Reformen gab es auch an den Universitäten und Hochschulen. Im Ergebnis der 1968/69 durchgeführten Hochschulreform wurden die bislang noch relativ autonomen Institute und Fakultäten aufgelöst, in größere Sektionen zusammengefasst, um einen effizienteren Mitteleinsatz und komplexe Forschungsvorhaben zu ermöglichen, und der Universitätsleitung direkt unterstellt. In ganz besonderem Maße verstärkte die Hochschulreform die Verbindung von Universität und Wirtschaft, indem die naturwissenschaftlichen und technischen Fachrichtungen jetzt vorrangig auf der Basis von Kooperationsverträgen für die Wirtschaft (Vertragsforschung) forschten.
Mit der Abschaffung der bislang mit einer gewissen Selbstständigkeit ausgestatteten Universitätsinstitute wurde die bislang noch vorhandene Autonomie ihrer Direktoren zerstört. Die neu gebildeten Sektionen leitete jetzt jeweils ein Direktor, der nicht mehr von der Fakultät vorgeschlagen, sondern vom Rektor der Universität eingesetzt wurde und diesem direkt unterstand. Erst die Zerschlagung der Fakultäten und traditionellen Universitätsinstitute als sogenannte kleine Grafschaften machte den Weg zur Transformation vom bildungsbürgerlich geprägten Universitätsbetrieb zur "sozialistischen Universität" frei. Die neuen Universitätsstatuten des Jahres 1970 beseitigten dann auch formell die Reste der traditionellen universitären Selbstverwaltung.
Zugleich hatte sich am Ende der 1960er Jahre die soziale Herkunft der ostdeutschen Hochschullehrer stark verändert. In den Jahren von 1950 bis 1970 halbierte sich der Anteil der bildungsbürgerlichen Schichten innerhalb der Professorenschaft, während die Hochschullehrer aus dem traditionellen Arbeitermilieu ihren Anteil in derselben Zeit mehr als verfünffachten. Das war eine Folge von Reglementierungen bei der Zulassung zum Hochschulstudium. Bereits seit dem Ende der 1940er Jahre spielten politische und weltanschauliche Orientierungen und soziale Herkunft der Studienbewerber eine entscheidende Rolle. Unter dem Slogan der "Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs" sollte durch die besondere Begünstigung von Arbeiter- und Bauernkindern der traditionelle Kreislauf von sozialer Herkunft, Bildung und akademischer Laufbahn durchbrochen werden. Die soziale und politische Auslese der Studienbewerber wurde von der politischen Führung jedoch machtpolitisch gehandhabt und zur Heranbildung einer neuen, eng mit der SED verbundenen Führungselite genutzt. Man sprach von der "sozialistischen Intelligenz", einer neuen, parteiloyalen Machtelite.
Parallel dazu stieg der Anteil von SED-Mitgliedern in der Professorenschaft, da die Vergabe von Lehrstühlen in zunehmendem Maße von der Zugehörigkeit zur Staatspartei abhängig gemacht wurde. Hier gab es jedoch große Unterschiede zwischen den Fakultäten. Während parteilose Wissenschaftler in den Gesellschaftswissenschaften am Ende der 1960er Jahre eine Minderheit bildeten, blieb die SED in den Naturwissenschaften und der Medizin hinter den eigenen Erwartungen zurück. Bis 1965 waren 23,3 Prozent der Medizin-Professoren an den ostdeutschen Universitäten in der SED organisiert. Ein großer Teil der Mediziner stand dem politischen System in der DDR kritisch gegenüber und blieb im traditionellen akademischen Milieu fest verankert. An der Berliner Charitè waren 1989 nur 14 Prozent der Mitarbeiter in der SED organisiert. Allerdings konnte nicht übersehen werden, dass das SED-Parteibuch zu einem entscheidenden Auswahlkriterium für Leitungspositionen in der universitären Lehre und Forschung auch in der Medizin und den Naturwissenschaften wurde.
Wissenschaft als Produktivkraft
Die rasante Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik beflügelte in den 1960er Jahren auch in der DDR kühne Zukunftsvisionen. Bereits der Start des ersten Sputniks sowjetischer Bauart am 4. Oktober 1957 nährte die Illusion, dass sich die Überlegenheit des Sozialismus und seiner wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit in kurzer Zeit erweisen werde. Der Weltraumflug des sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin am 12. April 1961 sowie die immensen Fortschritte der Computertechnik, der Atomforschung und der Automatisierung beförderte Fantasien über unbegrenzte Möglichkeiten des wissenschaftlichen Erfindungsreichtums. Unter dem Begriff "wissenschaftlich-technische Revolution" griff die Propaganda der SED diese Zukunftseuphorie rasch auf und konnte damit für eine bestimmte Zeit die Vorstellungswelt, das Lebensgefühl und das Weltbild großer Teile der Bevölkerung beeinflussen.
Der auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 propagierte Leitspruch von der "Produktivkraft Wissenschaft" brachte punktgenau den Kern der damaligen Gesellschaftspolitik der SED zum Ausdruck: Die Wissenschaft sollte technische Innovationen für die Modernisierung der Wirtschaft liefern. Die zeitgleich auch in der Bundesrepublik beklagte "technologische Lücke" gegenüber der internationalen, vor allem der amerikanischen Forschung sollte binnen weniger Jahre aufgeholt werden, um den ökonomischen Wettstreit der Systeme gewinnen zu können.
Industriebetriebe und wissenschaftliche Forschungseinrichtungen wurden seit 1968 zu Großforschungszentren zusammengeführt, um so die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung wirtschaftlich verwerten zu können. Durch diese engen Vertragsbeziehungen zwischen Forschungsinstituten der Universitäten und der Industrie konnten tatsächlich einige "Spitzenleistungen" erbracht werden. So entwickelte der VEB Carl Zeiss Jena im Jahre 1968 ein Interferenz-Mikroskop, das optische Messverfahren mit äußerster Genauigkeit ermöglichte und internationalen Maßstäben genügte.
Auch die biomedizinische Forschung stand nach der Entschlüsselung des molekularen Trägers der genetischen Information durch US-Wissenschaftler in der DDR zeitweilig auf einem hohen Niveau. Dies galt besonders für die Molekularbiologie, ein noch junges und vielversprechendes Forschungsgebiet, mit dem sowohl Wissenschaftler als auch Politiker die Hoffnung verbanden, beispielsweise Erbkrankheiten und genetischen Defekten wirksam begegnen zu können. So entwickelte sich das Medizinisch-Biologische Forschungszentrum in Berlin-Buch in den 1960er Jahren zu einem auch international ausgewiesenem Zentrum experimenteller Krebsforschung, insbesondere auf Gebieten der Krebsfürsorge und klinischen Krebsbehandlung.
Die wenigen Jahre, in denen Forschung und Technologie vom Staat überdurchschnittlich gefördert wurden, reichten allerdings nicht aus, um dauerhafte Innovationsfortschritte zu erzielen. Die SED-Führung erwartete rasche und vorzeigbare Ergebnisse, die in den vorgegebenen Fristen von der Forschung nicht zu erbringen waren. Die Wissenschaftler benötigten für ihre aufwändigen Experimente neue technische Instrumente, Apparate und Chemikalien, die größtenteils aus dem westlichen Ausland gegen Devisen importiert werden mussten. Nach dem Machtantritt Erich Honeckers im Mai 1971 wurden die verfügbaren Ressourcen nicht mehr vorrangig in Wissenschaft und Technik, sondern in die Sozialpolitik investiert, was einige Jahre später zur Reduktion bzw. zum Abbruch der begonnenen Forschungsprogramme führte. Die meisten Großforschungseinrichtungen wurden bis Ende des Jahres 1972 wieder aufgelöst oder umorganisiert, einige sogar noch, bevor sie ihre Tätigkeit überhaupt aufnehmen konnten.
Unveränderte Herrschaftsformen
In deutlichem Gegensatz zum Modernisierungs- und Reformeifer, den die SED-Führung in den 1960er Jahren in Wirtschaft und Wissenschaft an den Tag legte, stand das Beharren auf alten Herrschaftsansprüchen und Herrschaftsmethoden. Der Artikel 6 der Verfassung der DDR über die "Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker" bot den Herrschenden den scheinbar legalen Rahmen, um gegen Kritiker der bestehenden politischen Verhältnisse willkürlich vorzugehen. Die Zahl der wegen "Staatsverbrechen" ("Staatsverleumdung", Verstöße gegen das Passgesetz der DDR) verurteilten DDR-Bürger stieg im zweiten Halbjahr 1961 wieder an. Parteispitze und Regierung verstärkten gleichzeitig ihre militärpolitischen Anstrengungen. Am 20. September 1961 verabschiedete die Volkskammer ein neues Verteidigungsgesetz, welches den "Schutz des Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen" als "nationale Pflicht der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik" deklarierte. Im Januar 1962 wurde die allgemeine Wehrpflicht für alle Männer zwischen dem 18. und 50. Lebensjahr eingeführt.
Auch das Ministerium für Staatssicherheit stellte sich mit seinen regionalen Außenstellen (Bezirksverwaltungen) als "Schild und Schwert" weiter in den Dienst der SED. Es verabschiedete sich von offenem Terror und baute stattdessen sein Netz von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) aus und stockte das hauptamtliche Personal auf. Von 1961 bis 1971 stieg der Personalbestand von rund 20000 Mitarbeitern auf etwa 45 000 hauptamtlich Beschäftigte. Auf diese Weise konnte das MfS im Laufe der 1960er Jahre seine Machtstellung erheblich ausweiten und beachtliches Eigengewicht im politischen System der DDR gewinnen.
QuellentextWarum gibt es in der DDR keine Opposition?
Liebe Karin!
Stell´ Dir bitte einmal vor, Du hättest eine solche Oppositionspartei gegründet und würdest jetzt in den Wahlkampf ziehen. Zunächst müßtest Du ein Programm verkünden, denn die Wähler geben sich mit Deiner sympathischen Erscheinung allein nicht zufrieden. Sie würden von Dir und Deiner Partei vielmehr wissen wollen, warum Du Opposition machst, wofür Du bist und wogegen, wie Du denkst und was Du tun willst. Was könntest Du fordern, wenn Du mit dem Programm der Parteien und Organisationen bei uns, also mit dem Programm der Nationalen Front, nicht einverstanden wärst?
Du könntest beispielsweise fordern, die Gleichberechtigung der Frau soll wieder abgeschafft werden. Die Volkskammer soll das Gesetz zum Schutz der Mütter außer Kraft setzen. Die Säuglingsheime, Kindergärten und Schulhorte werden geschlossen. Die Frauen werden wieder schlechter entlohnt als die Männer. Oder: Die Studenten erhalten keine Stipendien mehr vom Staat, und die Schulgeldpflicht wird wieder eingeführt, damit, wie vor 1945 und wie heute noch in Westdeutschland, nur die Kinder der Reichen eine höhere Bildung erwerben können. Überhaupt – weg mit den ganzen Maßnahmen und Gesetzen zur Förderung der Jugend! Und da Du weißt, daß all das, wogegen Du Front machst, von der Arbeiter- und-Bauern-Macht geschaffen wurde, müßtest Du als konsequente Oppositionsführerin natürlich fordern, daß diese Macht beseitigt wird, daß es keine volkseigenen Betriebe mehr gibt und die Bauern ihr Land den Junkern zurückgeben. Das aber heißt: alles wird wie früher. Die großen Kapitalisten herrschen wieder. Und wo die herrschen, da werden auch die Arbeiter wieder ausgebeutet, die Bauern entrechtet und die Handwerker und kleinen Gewerbetreibenden ruiniert. Wo die Kapitalisten herrschen, da gehört der Krieg zum großen Geschäft. Also müßte Deine Forderung lauten: Her mit der Wehrpflicht, rein in die NATO, her mit den Atom- und Wasserstoffbomben!
Du willst das alles natürlich nicht. Aber nicht nur Du – keiner will das. Und weil keiner so irrsinnige Gedanken hat, wie wir sie eben ausgesponnen haben – deshalb gibt es bei uns keine Oppositionspartei. Deshalb gibt es bei uns stattdessen die einheitliche Liste der Nationalen Front, der alle Parteien und Organisationen angehören, die Kandidaten zur Wahl stellen. Bis zum nächsten Mal alles Gute!
Joachim Herrmann
Antwort auf einen Leserbrief. Neue Berliner Illustrierte Nr. 21/1957. Joachim Herrmann war damals Chefredakteur der FDJ-Zeitung Junge Welt, seit 1978 Mitglied des SED-Politbüros.
In: Hermann Weber (Hg.), Kleine Geschichte der DDR, Köln 1980, S. 98
Zwischen Öffnung und Restriktion
Jugend im Aufbruch
Zeitgleich mit der Reform des Bildungssystems begann die SED-Führung ihre Jugendpolitik zu lockern. Wenn die junge Generation für Wissenschaft und Fortschritt gewonnen, mithin für eine Steigerung ihrer Leistungsbereitschaft im Sinne der wissenschaftlich-technischen Revolution motiviert werden sollte, mussten einige ideologische Dogmen der SED entschärft werden. Diesem Zweck entsprach die Verabschiedung des sogenannten Jugendkommuniquès der SED am 17. September 1963. Es stand unter dem Slogan "Der Jugend Vertrauen und Verantwortung", plädierte für die Zuerkennung großzügigerer Freiheiten und warb für Toleranz sowie für die Achtung jugendlicher Individualität und Intimsphären. Borniertheit in Fragen der Sexualität, des Modegeschmacks und hinsichtlich musikalischer Vorlieben sowie jugendspezifischer Formen von Vergnügen und Geselligkeit sollten der Vergangenheit angehören.
Die liberalen Tendenzen in der Jugend- und Kulturpolitik der Jahre 1963 und 1964 begünstigten deutlich sichtbare Veränderungen in der Jugendkultur. Die Gründung des Radio-Jugendprogramms "DT 64" im Zusammenhang mit der Durchführung des "Deutschlandtreffens der Jugend" im Mai 1964 in Ost-Berlin setzte ein unübersehbares Zeichen. Der Berliner Rundfunk sendete erstmals rund um die Uhr ein eigenes Jugendprogramm. Staatliche Behörden nahmen zeitweilig ihre Restriktionen gegenüber Beat, Rock und anderen überwiegend aus dem Westen einströmenden, zuvor als "dekadent" bewerteten Musikrichtungen zurück. Zu den Bands, die auf "Beatabenden" wiederholt Aufsehen erregten, gehörten die Leipziger "Butlers" mit dem späteren Gründer der "Klaus-Renft-Combo" Klaus Jentzsch sowie die "Sputniks" aus Berlin. Schnell reagierte auch der VEB Deutsche Schallplatte auf die sich öffnenden Freiräume. Das Popmusiklabel AMIGA gab im April 1965 eine komplette Lizenz-LP mit Hits der Beatles heraus und veröffentlichte bis Juni drei Singles; der staatliche Rundfunk sendete ihre Songs.
QuellentextFür die Jugend ein offenes Ohr
Das Politbüro appelliert an alle Leiter und Erzieher, für alle Fragen der Jugend ein offenes Ohr zu haben und sie wahrheitsgetreu und prinzipienfest zu beantworten.
Es geht nicht länger an, "unbequeme" Fragen von Jugendlichen als lästig oder gar als Provokation abzutun, da durch solche Praktiken Jugendliche auf den Weg der Heuchelei abgedrängt werden. Wir brauchen vielmehr den selbständigen und selbstbewußten Staatsbürger mit einem gefestigten Charakter, mit einem durch eigenes Denken und in der Auseinandersetzung mit rückständigen Auffassungen und reaktionären Ideologien errungenen sozialistischen Weltbild, das auf fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Die Erziehung einer solchen Persönlichkeit ist aber nur möglich, wenn man den Schüler als zukünftigen Staatsbürger achtet und seine Probleme ernst nimmt. [...] Solche jungen Menschen, die aus Angst vor einer "übergeordneten" Meinung unehrlich und heuchlerisch geworden sind, die ihr eigenes Denken zurückhalten und stets auf Anweisung von oben warten, sich äußerlich anpassen, werden ebenfalls in der Praxis kaum Großes leisten können, weil dort schöpferische und kämpferische Sozialisten, aber keine kleinmütigen Seelen, Streber und Karrieristen gebraucht werden.
Jugendkommuniquè des SED-Politbüros vom 17. September 1963.
In Hermann Weber (Hg.), Kleine Geschichte der DDR, Köln 1980, S.115
Die Duldung eines unkonventionellen Lebens- und Kulturstils blieb jedoch innerparteilich umstritten. Die politischen Dogmatiker im SED-Politbüro warnten ständig vor Krawallen, westlicher Unkultur und alkoholischen Exzessen. Als am 15. September 1965 aufgebrachte Teenager nach einem Konzert der Rolling Stones die Westberliner Waldbühne zu Kleinholz zerlegten und in der S-Bahn randalierten, war für die Hardliner der Beweis erbracht, dass die Begeisterung für Beatmusik sowie Rock 'n' Roll unweigerlich zu Dekadenz, Ausschweifung und Vandalismus führen werde. Seitdem wurde Beat- und Rockmusik in der DDR-Presse wieder als "Nervengift des Klassenfeindes" verteufelt.
QuellentextDas Gefährliche der Beat-Musik
Über eine lange Zeit hat "DT 64" in seinem Musikprogramm ein-seitig die Beat-Musik propagiert. In den Sendungen des Jugendsenders wurden in nicht vertretbarer Weise die Fragen der allseitigen Bildung und des Wissens junger Menschen, die verschiedensten Bereiche der Kunst und Literatur der Vergangenheit und Gegenwart außer acht gelassen. Hinzu kam, daß es im Zentralrat der Freien Deutschen Jugend eine fehlerhafte Beurteilung der Beat-Musik gab. Sie wurde als musikalischer Ausdruck des Zeitalters der technischen Revolution "entdeckt". Dabei wurde übersehen, daß der Gegner diese Art Musik ausnutzt, um durch die Übersteigerung der Beat-Rhythmen Jugendliche zu Exzessen aufzuputschen. Der schädliche Einfluß solcher Musik auf das Denken und Handeln von Jugendlichen wurde grob unterschätzt. Niemand in unserem Staate hat etwas gegen eine gepflegte Beat-Musik. Sie kann jedoch nicht als die alleinige und hauptsächlichste Form der Tanzmusik betrachtet werden. Entschieden und systematisch müssen ihre dekadenten Züge bekämpft werden, die im Westen in letzter Zeit die Oberhand gewannen und auch bei uns Einfluß fanden. Daraus entstand eine hektische, aufpeitschende Musik, die die moralische Zersetzung der Jugend begünstigt.
Erich Honecker, Bericht des Politbüros an das 11. Plenum des ZK der SED, Dezember 1965 (Auszug). In: Neues Deutschland vom 16. Dezember 1965.
In: Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bonn 2010, S. 337 f.
Die Gewährung bestimmter Freizügigkeiten dauerte aber auch aus anderen Gründen nicht lange. Die heftigen Debatten, die Jugendliche in FDJ-Veranstaltungen über den täglich erlebten Widerspruch zwischen sozialistischem Ideal und gesellschaftlicher Wirklichkeit führten, bedrohten in den Augen der politischen Führung den vorgegebenen weltanschaulichen Rahmen. Am 11. Oktober 1965 entschied sich die SED-Führung für eine Korrektur ihrer vergleichsweise liberalen Jugendpolitik. Die westlichen Vorbildern folgende neue Musik- und Jugendkultur wurde erneut mit Spott und Häme überzogen und das soziale Umfeld mit Begriffen wie "Rowdys" und "Gammler" kriminalisiert. Die Anhänger der neuen Jugendszene hatten in Habitus (Jeans und lange Haare) und Moral ohnehin nicht den Vorstellungen der zumeist älteren Kulturpolitiker von "ordentlichen Jugendlichen" entsprochen. An diesem Punkt zeigte sich in besonders prägnanter Weise der aufbrechende Generationenkonflikt zwischen der nachwachsenden Generation und der durch die Weimarer Republik und die NS-Diktatur sozialisierten Politiker in der SED-Führung.
Kurzer Frühling in der Kultur
Auf ebenso autoritäre Weise beendete die SED-Führung das kulturpolitische Intermezzo der Jahre 1963/64. Da Stimmen aus Literatur, Kunst, Theater und Film auf Widersprüche in der Gesellschaft aufmerksam gemacht hatten, geriet das im Dezember 1965 tagende 11. ZK-Plenum der SED zu einem grotesken Tribunal über kritische Künstler und Literaten, auf dem lediglich die Schriftstellerin Christa Wolf in einer äußerst aufgeheizten Atmosphäre einen Einspruch riskierte. Erich Honecker machte in seiner Eigenschaft als Mitglied des Politbüros vor dem Zentralkomitee am 15. Dezember 1965 klar, dass für "Erscheinungen amerikanischer Unmoral und Dekadenz" in Kunst und Kultur künftig kein Platz mehr sein werde: "Unsere Republik ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte." Als ideologischer Scharfmacher trat insbesondere Konrad Naumann auf, der in den 1970er Jahren als 1. SED-Bezirkssekretär von Berlin die Kulturpolitik in der "Hauptstadt der DDR" bestimmen sollte. Den Film Kurt Maetzigs "Das Kaninchen bin ich", eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der politischen Strafjustiz und geprägt von der Hoffnung, die politischen Verhältnisse in der DDR demokratisieren zu können, verurteilte er als "Schweinerei" und "ideologische Verwilderung".
Das ZK-Plenum führte zu einem verheerenden kulturellen Kahlschlag, von dem sowohl Künstler als auch Kulturpolitiker betroffen waren: Kulturminister Hans Bentzien, sein Stellvertreter Günter Witt sowie der Studiodirektor des volkseigenen Filmstudios DEFA (Deutsche Film AG), Joachim Mückenberger, verloren ihre Ämter. Schriftsteller, Filme- und Liedermacher sowie bildende Künstler wurden – wie auch schon zuvor in den 1950er Jahren – als "Konterrevolutionäre" beschimpft und mit Aufführungs-, Auftritts- und Publikationsverboten bestraft. Unter ihnen befanden sich nicht wenige, die der SED angehörten oder ihr nahestanden. Im Zentrum der politischen Attacken standen der Dramatiker Heiner Müller sowie die Schriftsteller Werner Bräunig, Volker Braun und Stefan Heym. Besonders einschneidend traf die nach dem ZK-Plenum einsetzende rigide Zensur die DEFA. Ein Dutzend ihrer Filme wurden verboten.
QuellentextDas Kaninchen bin ich
[Aus den Erinnerungen des Regisseurs Kurt Maetzig]
Der Roman – und auch der Film – berührt ein sehr sensibles Gebiet, nämlich das der politischen Strafjustiz in der DDR. Er stellt in zwei großen Szenenkomplexen am Anfang und am Schluß des Films zwei Gerichtsverhandlungen dar: eine geprägt von stalinistischen Vorstellungen und Verfahrensweisen, die andere aber so, wie wir uns das damals dachten und für richtig hielten. Der Film und der Roman drückten nicht nur allgemeine Sehnsüchte aus, sondern versuchten, in der deutlichen Gegenüberstellung der einen und der anderen Verfahrensweise einen Weg zu öffnen in Richtung auf einen demokratischen Sozialismus. [...]
Der Film "Das Kaninchen bin ich" verkörpert in klarer Weise die Ideale, mit denen ich beim "Augenzeugen" angefangen hatte: "Urteilen Sie selbst!" [...] Ich war unbeschreiblich enttäuscht, daß ich nicht durchkam mit diesem Film [...]
Aber dann stellte sich die Frage, wie ich den angerichteten Schaden in irgendeiner Weise begrenzen konnte. Ich wurde zu einem Gespräch mit Kurt Hager, Politbüromitglied, verantwortlich für Kultur, bestellt, das viereinhalb Stunden dauerte. Es war ein langes und schweres Gespräch. [...]
Hager beendete das Gespräch mit den Worten, wenn ich über alles nachgedacht hätte und zu Schlüssen gekommen sei, wäre es doch gut, wenn ich sie publizieren würde.
[Die Rechtfertigung]
[...] Ich bin der Regisseur des Films "Das Kaninchen bin ich" und, da ich vom Beruf des Regisseurs eine hohe Meinung habe, auch der eigentlich Verantwortliche. [...] Ich muss also sorgfältig bei mir überprüfen, was eigentlich zu der vernichtenden Kritik auf dem 11. Plenum an diesem Film geführt hat.
Ich war seit Jahren unzufrieden mit der Wirkung unserer Filme auf unsere Bevölkerung [...].
Es war nicht sehr fern liegend, auf die Antwort zu verfallen, daß der kritische Aspekt unserer Filme zu gering sei. In diesem Stadium der Überlegung griff ich zu dem Manuskript von Manfred Bieler: "Das Kaninchen bin ich". Hier fehlte es an Sozialkritik nicht. [...] Aber gerade in dem kritischen Aspekt, der mir der Stein der Weisen zu sein schien, um näher an das Publikum heranzukommen, lag ein Hauptpunkt des politischen Irrtums. [...]
[...] Ich vertrat bis vor kurzem folgenden Standpunkt: Die Parteilichkeit eines Künstlers der DDR könne nicht nur daran gemessen werden, daß er auf der Seite des Sozialismus gegen den Imperialismus kämpfe, denn dies müsse eine selbstverständliche Voraussetzung sein – heute drücke sich seine Parteilichkeit insbesondere in seiner Unversöhnlichkeit gegenüber allen Mängeln, Schwächen und Fehlern aus, die den Aufbau des Sozialismus hemmen. Diese Ansicht, Mängel und Schwächen in den Vordergrund zu stellen und hieran die Parteilichkeit des Künstlers zu orientieren, zeigt sich bei näherem Hinsehen als Unsinn. Die Parteilichkeit des Künstlers erweist sich in der Kraft, Leidenschaft und Meisterschaft, mit welcher er mit seiner Kunst am Klassenkampf teilnimmt. Die Abwendung von diesem Prinzip in der Filmkunst führt zu einem unerlaubten Nachgeben gegenüber zurückgebliebenen Zuschauerschichten und damit tatsächlich zur Aufgabe längst innegehabter sozialistischer Positionen. Deshalb ist "Das Kaninchen bin ich" ein schädlicher Film geworden. [....]
Aus dem Diskussionsbeitrag des Genossen Kurt Maetzig vor der Abteilungsparteiorganisation 1 des DEFA-Studios für Spielfilme
In: Neues Deutschland, 6. Januar 1966, S. 4, Ausg. A.
[Fortsetzung der Erinnerungen]
Ich fühlte mich aufgefordert, diese Selbstkritik zu schreiben. Ich dachte, ich muß das tun, damit dieser Ton, diese Feindseligkeit und diese Grobheit wieder herauskommt, mit der auf dem 11. Plenum über die Kunst hergefallen wurde. [...] Auf die konkreten Anschuldigungen – Konterrevolution, Staatsfeindlichkeit, Beleidigung der ganzen Republik usw. – bin ich nicht eingegangen und bezog keine dieser Anklagen auf mich. [...]
Nach dem 11. Plenum, nach dem "Kaninchen" [...] habe ich noch irgendwie mit den Flügeln geschlagen und noch dies und jenes zuwege gebracht, aber das war nichts Vernünftiges. Das hatte nicht mehr die Kraft und die Frische und die Überzeugung der früheren Filme. Man hat mir wohl doch das Rückgrat gebrochen. Und ich wußte dann auch, daß ich aufhören muß.
Ingrid Poss / Peter Warnecke (Hg.), Spur der Filme. Zeitzeugen über die Defa (bpb-Schriftenreihe Bd. 568), Berlin 2006, S. 202ff.
Als "Konterrevolutionäre" galten in den Augen der SED-Führung jetzt auch der Liedermacher Wolf Biermann und der Naturwissenschaftler Robert Havemann. Beide zogen den Zorn des Politbüros auf sich, weil sie ihre Gesellschaftskritik aufgrund fehlender Meinungs- und Pressefreiheit in der DDR in Westdeutschland publik gemacht hatten. Während in der DDR Biermanns Lieder lediglich als private Tonbandmitschnitte verbreitet werden konnten, erschienen 1965 in der Bundesrepublik seine erste LP "Wolf Biermann (Ost) zu Gast bei Wolfgang Neuss (West)" und der Gedichtband "Die Drahtharfe". Daraufhin erhielt Biermann ein vollständiges Auftritts- und Publikationsverbot. Der kulturelle Kahlschlag der Jahre 1965 und 1966 lähmte in den folgenden Jahren das intellektuelle Leben in der DDR.
Die neue Verfassung
Nach einer Volksabstimmung, die nach offiziellen Angaben eine Zustimmung von 96,37 Prozent der abgegebenen Stimmen und 3,4 Prozent Nein-Stimmen erbracht hatte, trat im April 1968 eine neue Verfassung in Kraft. Artikel 1 bezeichnete die DDR als "sozialistischer Staat deutscher Nation", der unter Führung der SED den Sozialismus verwirkliche. Damit wurde nicht nur innenpolitisch der Führungsanspruch der SED in der Verfassung verankert, sondern auch deutschlandpolitisch die Theorie von den "zwei Staaten deutscher Nation". Ihr zufolge gliederte sich die deutsche Nation in zwei gleichberechtigte, souveräne Staaten: einen sozialistischen in der DDR und einen kapitalistischen in der Bundesrepublik. Trotzdem sah die Verfassung auch die "Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung" und eine "Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus" vor. Verbal hielt man so noch immer an der Einheit der deutschen Nation fest. Auf dem Papier gestand man auch demokratische Freiheiten zu: So garantierte Artikel 19 die Freiheit der Persönlichkeit und Artikel 20 die Gewissens- und Glaubensfreiheit. Artikel 27 gewährleistete die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens. Artikel 48 bestimmte die Volkskammer zum obersten Machtorgan der DDR. Doch in der Realität konnte von Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit nicht gesprochen werden. Die maßgeblichen Entscheidungen traf nach wie vor das SED-Politbüro und nicht die Volkskammer. Auch eine wirklich "freie, gleiche und geheime Wahl" der Abgeordneten der Volkskammer, so, wie dies die Verfassung vorschrieb, hat es nicht gegeben.
Prager Frühling
In der Nacht zum 21. August 1968 rollten sowjetische Panzer in die Tschechoslowakei (CSSR) ein und setzten dem "Prager Frühling" ein jähes Ende, der seit dem Frühjahr 1968 in der CSSR begonnen hatte. Er hatte einen Sozialismus mit "menschlichem Antlitz" vertreten und mit Eigenschaften verbunden, die dem Sozialismusmodell in Osteuropa bislang völlig fremd waren: individuelle Freiheiten, Interessenausgleich statt Klassenkampf, demokratische Willensbildung in Politik und Gesellschaft, liberale Wirtschaftsreformen. Die sowjetische Intervention in der CSSR wurde von der SED-Führung vorbehaltlos befürwortet. Die Truppen der Nationalen Volksarmee (NVA) blieben in der Nacht zum 21. August 1968 zwar an der Grenze zur CSSR stehen, weil die sowjetische Führung einen erneuten Einmarsch deutscher Streitkräfte in das Nachbarland vermeiden wollte, doch leistete die DDR logistische und propagandistische Dienste. Der Einmarsch in Prag löste insbesondere unter Jugendlichen und jungen Intellektuellen, die mit den Ideen des "Prager Frühlings" sympathisierten, Proteste aus. An Universitäten und Hochschulen gab es Studenten und Dozenten, die ihre Unterschrift zu den vorbereiteten Zustimmungserklärungen zum Einmarsch in das Nachbarland verweigerten. In einigen volkseigenen Industriebetrieben kam es zu organisierten Unterschriftenaktionen gegen den Einmarsch. Die politische Justiz ging mit den üblichen repressiven Methoden gegen die Sympathisanten des "Prager Frühlings" vor. Die moralische Wirkung war verheerend. Mit dem Ende des "Prager Frühlings" erlosch in weiten Teilen der Bevölkerung die Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des "realen Sozialismus". Das überwiegende Schweigen der SED-Mitglieder war ein untrügliches Signal ihrer wachsenden Entpolitisierung, die dann in der Honecker-Ära zur Normalität des innerparteilichen Lebens gehörte. Ein langsames Sterben der sozialistischen Ideale begann.
Das Ende der Ära Ulbricht
Die Grenzen des Systemwettstreits
Trotz der strukturellen Defizite der Wirtschaftsreformen hatte sich der wirtschaftliche Strukturwandel seit 1964/65 zunächst positiv auf den Lebensstandard der Bevölkerung ausgewirkt. Durch überdurchschnittliche Wachstumsraten konnte der staatliche Handel mehr industrielle Konsumgüter als in den Vorjahren anbieten. Fernsehapparate, Kühlschränke und Waschmaschinen waren keine unerreichbaren Luxusgüter mehr. Die schrittweise Abschaffung der Samstagsarbeit führte zu Arbeitszeitverkürzungen und mehr Freizeit. Durch steigende Nettogeldeinnahmen konnten sich immer mehr Familien einen neuen PKW der Marke "Trabant" oder "Wartburg" leisten. Der "Trabi" oder auch die "Rennpappe", wie das in der DDR produzierte Auto aufgrund seiner Karosserie aus Kunststoff genannt wurde, avancierte zum Statussymbol. Die sozialistische Mangelwirtschaft und der erzwungene Konsumverzicht schienen der Vergangenheit anzugehören.
Die alltägliche Praxis stand der offiziell verkündeten Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftsmodells allerdings immer spürbarer entgegen. Für hochwertige Konsumgüter mussten nicht nur horrende Preise gezahlt werden. Gleichzeitig blieb das Angebot deutlich hinter der Nachfrage zurück. Für den Kauf eines Autos mussten die Interessenten nach einer Wartezeit von durchschnittlich zehn Jahren fast ein ganzes Jahreseinkommen aufbringen: 8000 DDR-Mark für einen "Trabant" und 15 000 DDR-Mark für einen "Wartburg". Das Ansparen des Geldes wurde vielen durch den Umstand erschwert, dass die Preise für Kleidung und langlebige technische Gebrauchsgüter verglichen mit denen in der Bundesrepublik ungleich höher lagen. Darüber hinaus konnten viele Industriewaren technisch und im Bedienungskomfort mit westlichen Standards nicht Schritt halten. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik und damit der materielle Lebensstandard der Bevölkerung waren auch in den 1960er Jahren permanent höher als in der DDR.
Am Ende der 1960er Jahre häuften sich die ökonomischen Probleme. Im Sommer 1969 konnte die Sowjetunion auf Grund eigener wirtschaftlicher Schwierigkeiten die lebenswichtigen Rohstoffe – Erdöl, Steinkohle, Walzstahl, chemische Ausgangsstoffe – nicht mehr in dem ursprünglich vereinbarten Umfang liefern. Die großen ostdeutschen Stahlwerke liefen daher beträchtlichen Rückständen hinterher. So betrug der Ausfall in der Produktion von Rohstahl im Stahl- und Walzwerk Brandenburg im Dezember 1969 40000 Tonnen bei anhaltend negativer Tendenz. Der Rhythmus wichtiger Industriebetriebe geriet ins Stocken. Davon betroffen waren u.a. der Metallleichtbau, der Waggonbau sowie Verlade- und Transporterzeugnisse. 1970 steckte die DDR in einer wirtschaftlichen Krise, die auch eine politische Destabilisierung befürchten ließ. Während Ulbricht an seinem Kurs "Überholen ohne einzuholen" eisern festhielt, regte sich im Politbüro des ZK der SED Unmut.
Der Sturz Ulbrichts
Im SED-Politbüro hatten sich im Verlauf der 1960er Jahre zwei Lager herausgebildet: Die Befürworter von Reformen um Parteichef Walter Ulbricht wollten das gesellschaftliche System modernisieren und damit attraktiver machen. Die Gegner der Reformen, eine Politbüromehrheit um Erich Honecker, sahen darin ein Risiko, das die gesamte Parteiherrschaft ins Wanken bringen konnte. Seit Anfang des Jahres 1971 arbeiteten sie aktiv und mit Wissen, Duldung und partieller Unterstützung des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew daran, Ulbricht abzulösen.
Von Honecker gezwungen, bat Ulbricht Anfang Mai 1971 schließlich das Zentralkomitee, als das laut Parteistatut zuständige Gremium, ihn aus Altersgründen – was bei einem 77-Jährigen auch öffentlich glaubhaft war – von der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees zu entbinden und den damals 58 Jahre alten Honecker zu seinem Nachfolger zu wählen. Das ZK entsprach dieser "Bitte". Ulbricht wurde zum Vorsitzenden der SED gewählt – ein bedeutungsloses Amt, das es laut Statut gar nicht mehr gab – und blieb Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Allerdings verlor der Staatsrat an politischer Bedeutung, indem er einen Teil seiner durch die Verfassung zuerkannten Rechte an die von Willi Stoph geführte Regierung abtreten musste.
Ulbrichts Sturz durch Honecker am 3. Mai 1971 wurde in internen Auseinandersetzungen im SED-Politbüro mit wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen des bisherigen Parteichefs begründet. Tatsächlich ging es Honecker um einen wirtschaftspolitischen Richtungswechsel und die Rückkehr zur Planwirtschaft der 1950er Jahre. Darüber hinaus spielten auch Richtungskämpfe in anderen Politikfeldern eine Rolle, so beispielsweise in der Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen. Gegenüber der seit dem 28. Oktober 1969 in Westdeutschland regierenden sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt hatte Ulbricht einen vorsichtigen Annäherungskurs verfolgt und den DDR-Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph zu zwei deutsch-deutschen Gipfeltreffen entsandt. Die Regierungschefs beider deutscher Staaten – Brandt und Stoph – trafen sich am 19. März 1970 in Erfurt und am 21. Mai in Kassel. Ihre Verhandlungen erbrachten zwar keine greifbaren Resultate, doch die ideologischen Dogmatiker im Politbüro sahen die westdeutsche Sozialdemokratie und ihre Repräsentanten noch immer als "Klassenverräter" an, die im Interesse des Monopolkapitals handelten. Honecker plädierte daher entschieden dafür, den deutsch-deutschen Dialog durch Maximalforderungen wie die volle völkerrechtliche Anerkennung der DDR abzublocken und sich gegenüber der Bundesrepublik strikt abzugrenzen.
Quellentext"Goldene" Sechziger?
[...] Seit 1964/65 begannen sich die Investitionen auszuwirken: Der Handel konnte mehr industrielle Konsumgüter als in den Vorjahren anbieten. [...] Infolge der besseren Angebote waren auch mehr und mehr Haushalte mit technischen Konsumgütern ausgestattet.
Bestand ausgewählter industrieller Konsumgüter
Diese Zunahme ist umso bemerkenswerter, als die Preise für industrielle Konsumgüter im Verhältnis zu den Durchschnittseinkommen erheblich waren: Ein Fernsehgerät kostete 1965 2050 Mark, ein Kühlschrank 1350 Mark und eine Waschmaschine 1350 Mark. Zugleich lag das durchschnittliche Nettoeinkommen der Arbeiter und Angestellten bei 491 Mark. Etwa 40 % des Endverbraucherpreises von Fernsehgeräten und Kühlschränken kamen dem Staatshaushalt zu. Damit sollten die Subventionen der Preise für Grundbedarfsgüter finanziert werden. [...] Der Einzelhandelsumsatz stieg von 1960 bis 1971 jährlich um durchschnittlich knapp 4 %, die Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung dagegen um über 3 %. Damit wurde der Anstieg des Geldüberhangs bei der Bevölkerung lediglich etwas gebremst.
Ein beträchtlicher Teil der Umsatzzuwächse – 1970 nahezu die Hälfte – beruhte jedoch auf gestiegenen Preisen. [...] Die Preise von Industriewaren stiegen zwischen 1962 und 1967 um insgesamt 2,5 % und dann allein im Jahr 1968 um mehr als 3 %. Diese Preissteigerungen setzten sich bis 1970 fort und erfaßten fast alle Gruppen von Industriewaren und teilweise auch Nahrungsmittel. Bis Anfang 1970 verteuerten sich gegenüber 1967 Herrenmäntel beispielsweise um 65 % und Kühlschränke um 10 %. Die höheren Preise hätten den Wirtschaftsverantwortlichen eigentlich gefallen können, wurde so doch der Kaufkraftüberhang reduziert. Weil diese Ent- wicklung aber als verdeckte Inflation und als Wortbruch wahrgenommen wurde, störten sie sich daran.
Der Lebenshaltungskostenindex stieg grob geschätzt von 1960 bis 1971 im Mittel jährlich um 1 %, wobei sich die Inflationsrate nach ihrem Höhepunkt 1962 wohl zunächst verlangsamt und erst wieder zum Ende des Jahrzehnts hin beschleunigt hat. Vom nominalen jährlichen Zuwachs der Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung während der 60er Jahre in Höhe von 3 % blieb preisbereinigt nur etwas mehr als 2 %. [...] In der Bundesrepublik nahmen zur gleichen Zeit – je nach Berechnungsgrundlage – die Reallöhne um 5 bis 6 % jährlich zu. Die Entwicklung des Lebensstandards in der DDR blieb so immer weiter hinter dem westdeutschen zurück.
Gleichwohl hatten sich die Verhältnisse gebessert: 1965 und 1967 wurde die oft schon praktizierte Fünf-Tage-Woche schrittweise legalisiert und verallgemeinert. Der Mindestlohn stieg 1967 von 220 auf 300 Mark, das Kindergeld wurde angehoben, die Renten etwas verbessert und 1968 ein freiwilliges Zusatzrentensystem eingeführt. [...] Der höhere Lebensstandard und der mit der Wirtschafts- reform demonstrierte Veränderungswille der SED-Spitze waren wohl Ursachen dafür, daß die 60er Jahre in der DDR eher positiv erinnert wurden. [...]
André Steiner, Von Plan zu Plan, München 2004, S. 156 ff.
Dies befürwortete auch der damalige KPdSU-Chef Breschnew. Zwar hatte Ministerpräsident Stoph in Erfurt und Kassel nicht ohne Zustimmung und Direktiven Moskaus verhandelt, das an gesamteuropäischer Entspannung durchaus interessiert war. Doch einen deutschen Sonderweg lehnte die sowjetische Führung kategorisch ab. Deshalb drängte Breschnew während eines Gesprächs mit einer SED-Delegation am 21. August 1970 in Moskau darauf, die Verhandlungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik abzubrechen. Das entsprach ganz dem Ansinnen Honeckers, der sich durch die Haltung des sowjetischen Generalsekretärs bestätigt sah.
QuellentextDie Einsamkeit an der Spitze
Es ist merkwürdig genug. Die sechziger Jahre waren recht eigentlich Ulbrichts Jahrzehnt. Trotz Jugendrevolte, Generationswechsel und dem vielbeschworenen Aufbruch der neuen Generation wurde das Land von einem alten Mann regiert. Er war der ideale Vertreter jener verknöcherten, provinziellen, beschränkten Funktionäre. [...]
Trotz alledem ist es nicht zu bestreiten, dass es Ulbricht war, der seit 1962 eine größere wirtschaftliche Beweglichkeit des Systems einleitete. Er setzte diese Neuerungen durch gegen Leute, die teilweise wesentlich jünger waren, führte dauernd die Zukunft im Munde, pries die Neuerungen der Wissenschaft und Technik und feierte die Jugend als die Hausherren von morgen.
Er diskutierte mit Werktätigen und referierte gerne vor Wissenschaftlern aller Fachrichtungen. Natürlich wusste Genosse Ulbricht über alle Belange gründlich Bescheid, korrigierte die Werke von Historikern mit einem dicken, weichen Bleistift, schrieb seine Randbemerkungen an die Berichte über Theaterinszenierungen, Filme und Romane.
Die Volksmeinung quittierte diese Bemühungen ausschließlich mit Hohn und Spott. Beliebt war Ulbricht auch in dieser Phase keineswegs. Und doch gewöhnte man sich irgendwie an den alten Mann, der dem Sandmann aus dem Fernsehen so ähnlich sah.
[...] Gleichzeitig wurde es einsam um den ersten Mann des Staates. Die Bilder zeigen ihn mit fremden Staatsmännern oder Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft, aber kaum noch mit seinen Genossen aus der Führungsmannschaft des Politbüros.
Ein Bild aus den 1960er Jahren zeigt ihn beim Mittagsessen mit einer Arbeiterfamilie. So sehen sich Diktatoren gerne, als Sonntagsbesuch in einer einfachen Familie. [...] Und doch überdeckt das Bild nur die Tatsache, dass es zwischen dem Führer der Arbeiterklasse und den wirklichen Arbeitern der DDR keine Gemeinsamkeit mehr gab. [...] Ob Ulbricht diese Tragik empfunden hat, wird niemand sagen können. Seine schriftliche Hinterlassenschaft, die im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde einsehbar ist, enthält kaum persönliche Zeugnisse. Der Umgang der führenden Genossen untereinander schien mehr als unterkühlt gewesen zu sein. Die Schreiben im Nachlass Ulbrichts sind fast ausschließlich rein amtlicher Natur, im besten Fall enthalten sie einen Gruß an die werte Gattin oder beste Wünsche für die Gesundheit. Ulbricht soll ein Aktenmensch gewesen sein, und in der Tat gibt es unendliche anuskripte im Archiv, die der Staatsratsvorsitzende teils selbst verfasst, teils redigiert hat. Doch menschliche Züge treten hier kaum hervor.
[...] Merkwürdig ist die Geschichte des Erinnerns an die Ulbricht-Zeit. Als Ulbricht am 3. Mai 1971 sein Amt als erster Sekretär der SED an Erich Honecker abtreten musste, hielt sich das allgemeine Bedauern in deutlichen Grenzen. Der neue Mann profilierte sich mit durchaus volkstümlichen Maßnahmen. [...]
Ulbricht mit seinen zehn Geboten der sozialistischen Moral, seinem Bitterfelder Weg und der sozialistischen Menschengemeinschaft wirkte bald schon wie ein ferner Dogmatismus.
Ulbricht starb am 1. August 1973, als die Jugend der Welt auf den Straßen der Hauptstadt der DDR die Weltfestspiele feierte. Die DDR hatte den Zenit ihrer Geschichte erreicht, war endlich international als Staat anerkannt, wirtschaftlich nicht ohne Erfolge und von einem Teil ihrer Bürger als eine Art Wohlfahrtsstaat akzeptiert.
In diesen Jahren war wenig von Ulbricht die Rede. Sein Bild und sein Name verschwanden fast völlig aus der Parteigeschichte, und niemand vermisste ihn. Erst in den späten achtziger Jahren, in der Phase offenkundiger Agonie, entdeckten manche Parteimitglieder die Ulbricht-Zeit neu. Im Vergleich zu dem ideenlosen Fortwursteln angesichts der herannahenden Katastrophe erschienen die sechziger Jahre als eine Zeit des Aufbruchs zu neuen Ufern. [...]
Stefan Wolle, Aufbruch nach Utopia, Berlin 2011, S. 395ff.