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Zuschauer, Fans und Hooligans

Franz-Josef Brüggemeier

/ 10 Minuten zu lesen

Berliner Anhänger stürmen nach dem Bundesligaspiel am 13. März 2010 gegen den 1. FC Nürnberg das Spielfeld. (© AP)

Neue Formen der Gewalt

Am 29. Mai 1985 stand im ausverkauften Heysel-Stadion in Brüssel das Europa-Pokal-Endspiel zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool bevor, als sich plötzlich erschreckende Szenen abspielten: Liverpooler Fans stürmten auf Zuschauer aus Turin los, die in Panik Zuflucht suchten. 39 von ihnen kamen um, und mehr als 400 erlitten teils schwere Verletzungen. Um die Situation nicht noch weiter anzuheizen, wurde das Spiel dennoch angepfiffen, während das deutsche Fernsehen wegen der schrecklichen Bilder die Übertragung abbrach.

Nur vier Jahre später, am 15. April 1989, war Liverpool an einer weiteren Katastrophe beteiligt, als die Mannschaft im Hillsborough Stadion in Sheffield ein Pokalspiel gegen Nottingham Forest bestritt. Auch hier brach eine Panik aus, bei der 96 Personen starben (Näheres siehe weiter unten unter "Erkenntnisse aus der Hillsborough-Tragödie").

Während der Weltmeisterschaft 1998 lieferten sich deutsche Fans anlässlich einer Begegnung zwischen Deutschland und Jugoslawien im nordfranzösischen Lens eine Straßenschlacht mit französischen Polizisten, bei der sie einen von ihnen so schwer verletzten, dass er sechs Wochen im Koma lag und seitdem schwerbehindert ist.

Dies sind nur die schlimmsten Krawalle, die in den letzten Jahrzehnten Fußballspiele überschatteten. Vor allem in den 1980er Jahren waren Spiele in nahezu ganz Europa immer wieder von Ausschreitungen begleitet, die glücklicherweise nur selten zu Todesfällen führten, aber oft mehr oder minder schwere Verletzungen sowie Zerstörungen zur Folge hatten. Zuschauer mussten zunehmend befürchten, Opfer gewalttätiger Fans zu werden, und die Besucherzahlen bei Fußballbegegnungen gingen zurück. Der Begriff Hooligan kam auf und allgemein wurde diskutiert, wo die Ursachen für diese Gewalt lagen, seit wann sie bestand und was dagegen unternommen werden konnte.

Ausschreitungen von Zuschauern besitzen eine lange Tradition. Bereits zwischen 1895 und 1914 wurden in England jedes Jahr rund 200 Fälle verzeichnet. Hier und bald darauf in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern konnte die Situation bei Fußballspielen so eskalieren, dass Zuschauer aufeinander losgingen. Zeitungen sahen darin Aktionen von Minderheiten und nannten in England die beteiligten Personen schon vor 1900 Hooligans, ein Begriff, dessen Ursprung unklar ist und der vermutlich anfangs ganz allgemein gewalttätige Personen bezeichnete.

In Deutschland tauchte der Begriff Hooligans erst in den 1970er Jahren auf, als die Ausschreitungen eine neue Qualität erreichten. Bis dahin waren diese eher selten und zufällig aufgetreten, wenn etwa ein Spiel besondere Spannung erzeugte oder traditionelle Rivalen aufeinander trafen. Dabei konnte es zu Raufereien oder Schlägereien kommen - wie bei Kirmessen, Schützenfesten oder anderen Anlässen, zu denen große Gruppen von Männern versammelt sind. Seit den 1970er Jahren hingegen nahm nicht nur die Zahl dieser Ausschreitungen zu. Vielmehr konnten sie auch ganz unabhängig vom Spielverlauf vorkommen, sich weit außerhalb der Stadien ereignen und systematisch vorbereitet werden, indem Hooligans zu bestimmten Ereignissen gezielt anreisten - so zur Fußballweltmeisterschaft in Frankreich 1998.

Diese neuen Formen der Gewalt waren leicht zu erkennen, da die daran Beteiligten keinen Hehl aus ihrem Verhalten machten und sich damit sogar brüsteten. Bedeutend schwieriger zu beantworten war die Frage, ob die Gruppe der Hooligans eindeutig abgrenzbar sei, wie viele Personen mit welchem beruflichen und sozialen Hintergrund zu ihr gehörten und warum es zu derartigen Ausschreitungen kam.

Soziologische Merkmale

Anfangs hielt man die ausgeprägte Gewaltbereitschaft für ein Kennzeichen aller Fußballfans, insbesondere der englischen. Daher wurden englische Vereine nach der Katastrophe im Heysel-Stadion für fünf Jahre von europäischen Wettbewerben ausgeschlossen, der FC Liverpool zunächst sogar auf unbestimmte Zeit und dann für sechs Jahre. Diese Entscheidung wurde weithin begrüßt, ebenso das damit verbundene harte Vorgehen gegen die zunehmende Gewalt der Hooligans, die in Holland, der Bundesrepublik und auch in einem diktatorischen Staat wie der DDR anzutreffen waren.

Das Alter der Hooligans lag meist zwischen zwanzig und dreißig Jahren, während der soziale Hintergrund unterschiedlich ausfiel. Zu ihnen gehörten Arbeitslose, Schulabbrecher oder Hilfsarbeiter ebenso wie Familienväter, Facharbeiter und Bankangestellte. Auch an ihrem Äußeren waren Hooligans nicht unbedingt zu erkennen. Viele kleideten sich bewusst nicht wie Fußballfans, sondern bevorzugten ein unauffälliges Aussehen, um den Polizeikontrollen zu entgehen. Um Anhänger anderer Mannschaften und die Polizei besser angreifen zu können, trugen sie ihre Kämpfe teilweise außerhalb der Stadien aus und verabredeten dazu Treffpunkte und Termine, oftmals mit den gerade aufkommenden Mobiltelefonen, was die Arbeit der Polizei erschwerte. So entstand der Eindruck, unter den Hooligans seien kaum Arbeitslose, dafür aber viele Abiturienten, Studenten, Jugendliche in guten beruflichen Positionen zu finden. Für sie sei die Suche nach Anregung und Nervenkitzel das Hauptmotiv, in ein Fußballstadion zu gehen und ihre Gewaltbereitschaft auszuüben. Neuere Untersuchungen aus dem Jahre 2001 haben hingegen gezeigt, dass Hooligans zwar aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammen, die vermeintlich große Zahl von Studenten und sozial gutgestellten Personen jedoch einen Mythos darstellt. Überwiegend stammen sie aus sozialen Randschichten und sind durch Herkunft, mangelnde Ausbildung und geringe Perspektiven benachteiligt. Politische Orientierungen hingegen sind kein wesentliches Merkmal, wenngleich rechtsradikale Parolen eine gewisse Verbreitung erlangten.

Um Gewaltausbrüche zu verhindern, griff nicht nur die Polizei ein. In den 1980er Jahren entstanden zusätzlich Fanprojekte mit der Absicht, das Gespräch zu suchen und die Hooligans auf vielfältige Weise in die Gemeinschaft der "normalen" Fans zurückzuführen. Dabei galt (und gilt) die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs als ein wichtiger Grund für die wachsende Gewalt. Sie habe eine tiefe Kluft zwischen Spielern und Zuschauern entstehen lassen und zu einer Entfremdung geführt, die sich schließlich im gewalttätigen Verhalten der Hooligans äußere. Diese Erklärungen waren (und sind) plausibel, beruhen jedoch weitgehend auf Impressionen. Empirisch sind sie wenig abgestützt und zudem in sich widersprüchlich, da etwa das Verhalten der Hooligans aus den besseren Schichten schwerlich auf einen Verlust traditioneller Bindungen zurückgeführt werden kann.

QuellentextAktiv gegen Fußball-Rowdies

Die Aktivitäten der deutschen Hooligans werden von Ermittlern der "Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze" (ZIS) beim Landeskriminalamt in Düsseldorf beobachtet. Deren Beamte stehen in engem Kontakt mit den Experten verschiedener Polizeidienststellen in ganz Deutschland, wo die lokale Szene gewaltbereiter Fußball-Fans observiert wird. Die ZIS wurde 1992 eingerichtet.
In einer eigenen Datei sind die Namen von 6.000 deutschen Hooligans gespeichert. Alleine 2.100 Fußball-Rowdys stammen nach Erkenntnissen der Ermittler aus Nordrhein-Westfalen. In der Hooligan-Kartei tauchen nicht nur Straftäter auf. Vermerkt werden seit 1994 auch die Personalien von Randalierern, die einen Platzverweis erhalten und für potenziell gewalttätig gehalten werden.
Bei der WM 2006 sollen die Einschränkung der Reisefreiheit und Kontrollen an den Grenzen Hauptinstrumente im Kampf gegen die gewaltbereiten Hooligans sein.

Thorsten Moeck, "Randalierer werden registriert", in: Kölner Stadtanzeiger vom 16./17. April 2005

Bemerkenswert ist auch, dass sich in den Debatten um Hooligans zeitweilig die Kriterien verschoben und Verhaltensweisen, die lange Zeit akzeptiert waren, nun als Ausbruch sinnloser Gewalt erschienen. Ein gutes Beispiel hierfür sind Berichte über Länderspiele zwischen England und Schottland, die seit 1872 ausgetragen werden und insbesondere dann mit großen Emotionen verbunden sind, wenn der Außenseiter - meist die schottische Mannschaft - gewinnt. Als diese 1967 im Londoner Wembley-Stadion einen unerwarteten Sieg errang, stürmten ihre Anhänger den Platz, küssten den Rasen, auf dem ihre Helden gespielt hatten, nahmen Stücke davon zur Erinnerung mit und tanzten auf dem Spielfeld, das bald ganz zerfurcht aussah. Zehn Jahre später wiederholten sich die Ereignisse. Doch jetzt waren sie nicht mehr akzeptabel, denn seitdem hatte die Zahl der Ausschreitungen zugenommen und zu einer anderen Wahrnehmung geführt. Nun wurden die Jubelfeiern heftig kritisiert, die Mitnahme von Grasbüscheln als Verwüstung bezeichnet und die schottischen Zuschauer als betrunkene Horde geschildert, die den "heiligen" Rasen von Wembley ruiniert und große Zerstörungen angerichtet hätten.

Erkenntnisse aus der Hillsborough-Tragödie

Einen traurigen Höhepunkt erreichten skandalhungrige Zeitungsberichte nach den Ereignissen im Hillsborough Stadion in Sheffield. Sie beschrieben die dortigen Zuschauer als Bestien, die angetrunken ins Stadion kamen, alle Hemmungen ablegten und nicht nur die Panik mit ihren 96 Toten verursachten, sondern auch keine Hilfeleistungen durch Polizei oder Sanitäter zuließen. Einige von ihnen, so die Massenblätter Sun und Daily Star, hätten zudem Verstorbene bestohlen, Polizisten verprügelt und sogar auf Leichname uriniert.

Doch die Überlebenden von Sheffield hatten die Geschehnisse ganz anders erlebt und waren über die Berichte in den Medien nicht weniger entsetzt als die Familien der Opfer. Nach ihren Aussagen handelte es sich um ganz normale Jugendliche und Familienväter, um Arbeiter und Angestellte, Männer und Frauen, die nichts mit Hooligans gemein hatten. Die Regierung setzte deshalb eine Kommission ein, um Hergang und Ursache der tragischen Ereignisse zu untersuchen. Deren Bericht war eindeutig. Das Unglück war nicht auf das Verhalten der Zuschauer oder gar von Hooligans zurückzuführen. Die Ursache lag vielmehr im schlecht vorbereiteten Vorgehen der Polizei, die durch falsche Entscheidungen eine Panik hervorrief und damit den Tod unschuldiger Zuschauer verursachte.

Als besonders fatal erwies sich nach den Untersuchungsergebnissen, dass die einzelnen Zuschauerblöcke durch hohe Gitter voneinander abgetrennt waren. Diese hatten Vereine in den Jahren zuvor errichten lassen, um Ausschreitungen zu verhindern. Die Fans waren dadurch - wie unberechenbare Tiere - in Käfige gesperrt. Was angesichts früherer Ausschreitungen sinnvoll schien, führte jetzt zur Katastrophe. Denn in einzelne Blöcke waren viel zu viele Zuschauer eingelassen worden. Ein Gedränge entstand, das sich zu einer Panik auswuchs und die zahlreichen Todesfälle verursachte, da keiner den Käfigen entkommen konnte.

Die Untersuchungskommission verlangte deshalb, die Gitter wieder zu entfernen, um bei vergleichbaren Ereignissen Fluchtwege zu bieten. Sie forderte auch die Abschaffung von Stehplätzen, die wegen des engen Nebeneinanders der Zuschauer als besonders gefährlich galten und durch Sitzplätze ersetzt wurden. In den oberen Ligen gibt es in britischen Stadien deshalb heute nur noch Sitzplätze, eine Regelung, welche die UEFA mittlerweile allen Mannschaften vorschreibt, die an einem europäischen Wettbewerb teilnehmen. Das gilt auch für deutsche Vereine, die nur noch in den heimischen Ligen Stehplätze anbieten, da diese preiswerter sind und nach Meinung der Fans eine bessere Stimmung entstehen lassen. Bei internationalen Begegnungen hingegen werden Sitzplätze angebracht, um die Anforderungen der UEFA und der FIFA zu erfüllen - und um höhere Eintrittspreise fordern zu können.

Wandel der Zuschauer

Die Eintrittspreise sind in den letzten Jahren deutlich angestiegen und haben nicht nur die Einnahmen der Vereine und Spieler, sondern auch die Zusammensetzung der Zuschauer deutlich verändert: Der Anteil der besser Verdienenden und der Frauen hat zugenommen.

Parallel zu dieser Entwicklung haben sich auch die Stadien geändert. Viele von ihnen waren in den 1920er Jahren entstanden, als Fußball und andere Sportarten immer mehr Zuschauer anzogen. Es handelte sich in der Regel um imposante Bauten, die sich sowohl für Wettkämpfe wie auch für die Selbstdarstellung der Vereine und Städte eigneten. Den Bedürfnissen der Zuschauer zollten sie hingegen weniger Beachtung, sondern beschränkten sich darauf, möglichst viele auf engem Raum unterzubringen. Bis in die 1980er Jahre hinein boten sie keinen (oder nur äußerst begrenzten) Schutz gegen Wetterunbilden, besaßen sehr schlichte sanitäre Anlagen und nur eine mäßige Qualität bei Getränken und Speisen.

QuellentextWie ich ein Fan wurde

[...] Fußball war anders, als er 1980 in mein Leben kam. Er fand nicht im gesellschaftlichen Einvernehmen statt, bei mir zu Hause schon mal gar nicht. Sein Schauder erfasste mich Achtjährigen an einem Samstag, beim einvernehmlichen Hosenkauf mit meiner Mutter in der Bochumer Fußgängerzone. Plötzlich die Inbesitznahme der Stadt durch Menschen, Fahnen, Lärm.
Vauuu-äääff-Ellll!
Eine wüste Prozession zog vorüber. Männer in Jeans, alt und jung und heiser. Körpermenschen. Das waren die Typen, von denen man sich nach der vierten Klasse trennte. Und die einen auf dem Schulhof immer tunnelten.
Meine Mutter nahm meine Hand etwas fester. Wir fuhren nach Hause, doch den VfL nahm ich mit. Drei Buchstaben nur, hinter denen sich eine ganze Welt erschloss, fremd und urgewaltig. Es ging um Sieg oder Niederlage, um Kopfballungeheuer und Abstiegsgespenster. Irgendwann nachts wurde Deutschland Europameister. Zweimal Hrubesch. Ich weiß noch, wie ich über diesen Namen staunte Hrubesch. Klang nach Ärger. [...]
Dann, im Sommer 1981, stand Herr Schuler vor unserer Tür, ein Nachbar. Er fragte, ob ich ihn und seinen Sohn Christian ins Stadion begleiten wolle. VfL Bochum gegen den Hamburger SV. Er werde Sitzplatzkarten kaufen, für 25 Mark pro Stück. Meine Eltern ließen mich gehen - nicht ohne sich zu distanzieren. Mein Vater, sehr wohl ein Sportler, aber kein Sportzuschauer, brachte mit Stadien nur zwei Worte in Verbindung, "Horden" und "Massen", genauer gesagt: "Schlägerhorden" und "dumpfe Massen". Er hatte leicht reden, denn das Ruhrstadion lag (und liegt bis heute) an der Castroper Straße, einer Ausfallstraße mit steigender Spelunkendichte, je näher man dem Fußballplatz kommt. Und direkt gegenüber vom Stadion das Gefängnis. [...]
Am 19. September 1981 ging das Bürgersöhnchen zu den Schmuddelkindern. Um 15.30 Uhr sah ich sie zum ersten Mal "in echt", die Welt aus meinem Sammelalbum, die Schnauz- und Vollbartträger des VfL, Dieter Bast, Reinhard Mager, Ulrich Bittorf, Lothar Woelk. Und Hrubesch mit seiner postkartengroßen Stirn. Zum ersten Mal sah ich 35.000 Menschen auf einmal. Ich hatte das Gefühl, alles schärfer zu sehen und besser zu hören als sonst. Ich schrie Vauuu-äääff-Elll! und ich schämte mich dafür, aber nur beim ersten Mal. Nach 19 Minuten machte Hrubesch das O:1, kurz vor der Pause glich Lameck aus, zwanzig Minuten vor Schluss schoss Abel per Elfmeter das 2:1. Auf der Tribüne Getümmel und Gebrüll, die Körpermenschen schlugen sich auf die Schultern. Lachen, Biergeruch. Ich wollte nach Hause, um Sportschau zu gucken. Um mich zu vergewissern, dass all das wahr war. Und weil ich auch ein bisschen Schiss hatte. [...]
Auf der Rückfahrt aus der Parallelgesellschaft erzählte mir Herr Schuler, dass ich die ganzen 90 Minuten vor Aufregung gestanden hätte. [...]

Henning Sussebach, "Aus! Aus! Aus!", in: Die Zeit Nr. 50 vom 8. Dezember 2005.

Lange Zeit ließ das die Zuschauer unbeeindruckt. Sie strömten trotzdem in die Stadien, besonders nach Einführung der Bundesliga im Jahre 1963. Etwa zu dieser Zeit tauchten in Deutschland auch die ersten Fußballfans auf, die sich von anderen Zuschauern dadurch unterschieden, dass sie mit Aufnähern, Schals, Mützen, Jacken oder anderen Symbolen die Zugehörigkeit zu ihrem Verein demonstrierten. Die ersten Fanclubs entstanden Ende der 1960er Jahre, und noch bis in die 1980er Jahre wurden Fanartikel überwiegend in privater Handarbeit hergestellt oder durch Geschäftsleute angeboten, die dafür einen Absatzmarkt sahen. Die Vereine kümmerten sich darum nicht und überließen Außenstehenden die Initiative. Erst 1983 verkaufte Bayern München eine eigene Kollektion für seine Fans und setzte ein Beispiel, dem andere bald folgten. Mittlerweile haben alle größeren Fußballvereine Fanshops eröffnet, betreuen Fanclubs, gründen diese vielfach sogar und bieten eine breite Produktpalette an Fanartikeln an, die sie regelmäßig erneuern oder erweitern, um die Einnahmen zu steigern.

QuellentextDrei Clubs und ihre Fankultur

[...] Irgendwo zwischen stilisiertem Leben und gelebter Stilisierung, zwischen diesen Polen bewegt sich die Faszination dreier Hamburger Traditionsvereine, die [...] auf Augenhöhe um Meisterschaften und Pokalsiege rivalisierten: Hamburger SV, FC St. Pauli und Altona 93. Die Gründung der Bundesliga 1963 war der Anfang vom Ende dieser Hamburger Fußballherrlichkeit.
Nur der HSV hat sich als eine feste Größe in der Bundesliga etabliert. [...] Der FC St. Pauli pendelt seither zwischen erster und dritter Liga. [...] Altona 93 hat sich still und leise in den Amateurligen festgespielt. Wie die sportlichen Werdegänge sind auch die Fankulturen der Klubs auseinandergedriftet. Der HSV zieht ein Massenpublikum auf die Ränge der modernen Arena im Volkspark. Zu Altona gehen vor allem Nostalgiker, um der sich ausbreitenden Kommerzialisierung des Sports zu entfliehen. Im Fall des FC St. Pauli hat vor allem die Politisierung des Viertels Anfang der achtziger Jahre die Fankultur geprägt. Jahrelang stritten damals die autonome Szene und ihre Sympathisanten mit den Behörden um die besetzten Häuser an der Hafenstraße. [...]
So wurde das St. Pauli-Shirt zum Mittel, einen unangepaßten, alternativen und authentischen Lebensstil zur Schau zu tragen. Es eint alle: den Stammgast der Eckkneipe, den neu in die Stadt gezogenen Studenten oder auch den trendig frisierten Medienberufler. [...]
Die Diskrepanz zwischen der guten alten Zeit und der harten Oberliga-Gegenwart ist etwas, was Peter Helmcke bei aller Liebe zu Altona 93 immer wieder einen Stich versetzt. Vor allem dann, wenn sein Vater von den Derbys gegen den HSV erzählt - vor 25.000 Zuschauern in der Adolf-Jäger-Kampfbahn. Heute kommen im Schnitt etwa 660 - gegen Eider Büdelsdorf, den Brinkumer SV oder Arminia Hannover. [...]
In der "Meckerecke" herrscht jedenfalls Hochstimmung. Dort steht Peter Helmcke bei Wind und Wetter, trotz Ehrenkarte für die überdachte Tribüne, weil es ihn vor allem erfreut, dass die Folgen des eigenen Engagements am Spielfeldrand auf dem Spielfeld direkt ablesbar sind: "Man kann noch so richtig schön pöbeln", sagt er, "und auf dem Platz hört man es auch." [...] In der "Meckerecke" stehen HSV-Fans neben St.Pauli-Fans, die die beschauliche Schrebergartenidylle beim AFC geniessen. "Vor allem lockt die Tradition", glaubt Helmcke. Tradition ist wichtig. Sie tröstet in schlechten Zeiten, sie schafft Authentizität. Die wiederum ist wichtig für die Fan-Identität; auch in der Außendarstellung und gerade in Zeiten, in denen viele Fans den Ausverkauf der vielbeschworenen, wenn auch schwer greifbaren Tradition und der Wurzeln des Arbeitersports beklagen. Peter Helmcke genießt es, beim AFC "näher dran" zu sein. [...]
Ein paar Kilometer weiter nordwestlich, im Stadion des Hamburger SV, geht es ungleich hektischer zu. [...] Fußball als Großevent. Bei mehr als 34.000 Mitgliedern und 28.180 Dauerkarteninhabern ist es für den Fanbeauftragten Lutz Ackermann Schwerarbeit, "ein Familiengefühl" zu schaffen: "Der HSV ist trotz allem immer noch ein Sportverein. Die Fans definieren sich noch über die HSV-Raute und die großen Erfolge der Vergangenheit. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl müssen wir ausbauen." Mehrere Kollegen helfen ihm dabei, und ein Fan-Scout hilft, die Anhänger im Umland zusammenzubringen. Ackermanns Vorgänger Dirk Mansen, der jetzt das Museum des Vereins leitet, vermißt "die Unordnung" im modernen Stadion. "Die Stimmung leidet unter dem Eventpublikum", glaubt er.
Eine gute Seite hat der Umstand, dass die HSV-Heimspiele zunehmend Ausflugscharakter annehmen, jedoch: Die rechtsradikale Szene, die das alte Volksparkstadion bis in die neunziger Jahre als Rekrutierungsbüro nutzte, ist bei weitem nicht mehr so präsent.[...]
Bei allen Unterschieden haben alle in Hamburg tatsächlich etwas gemeinsam: einen nostalgisch verklärten Blick auf die gute alte Zeit ihres Vereins. [...]

Christoph Ehrhardt, "Näher am Bierstand", in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Januar 2006

Trotz dieser Bemühungen gingen die Zuschauerzahlen in den 1980er Jahren deutlich zurück. Ein wichtiger Grund war die zunehmende Gewalt. Aber auch der geringe Komfort in den Stadien wurde von den Zuschauern immer weniger akzeptiert, da vermehrt andere Freizeitbeschäftigungen zur Verfügung standen, die attraktivere Bedingungen boten. Das galt umso mehr, als sich die Zusammensetzung der Zuschauer veränderte und damit auch die Ansprüche wuchsen. Auf diese Entwicklungen reagierten Vereine und Verantwortliche: durch Fanprojekte, mehr Sicherheit und bessere Angebote für die Zuschauer sowie durch den Ausbau und schließlich den Neubau von Stadien, die bedeutend mehr Komfort bieten. Dieser Prozess ist noch im Gange, wesentlich angestoßen durch die Vergabe der WM 2006 an Deutschland und die Auflagen der FIFA.

Ausblick auf 2006

Wo bleiben dabei die Hooligans? Die Aussagen hierzu sind widersprüchlich. Einige Beobachter sehen einen Rückgang, während andere Anzeichen für einen erneuten Anstieg der Gewaltbereitschaft bemerkt haben und für die WM eine Eskalation befürchten. Konsens herrscht allerdings darüber, dass der Kreis der Hooligans in Deutschland mit etwa 7.000 Personen überschaubar ist und dass deren Gewaltbereitschaft weiterhin ein Problem bedeutet, das am besten durch eine Kombination von hartem Eingreifen und integrierenden Maßnahmen zu kontrollieren ist. Auf diese Weise ist die Gewalt in und um Stadien seit Ende der 1990er Jahre bereits deutlich zurückgegangen. Dazu haben auch die Aktionen von Fans beigetragen, die sich gegen Gewalt, rassistische Bekundungen und politischen Missbrauch engagierten. Hinzu kamen die Veränderungen in den Stadien, die nicht nur eine bessere Kontrolle ermöglichen, sondern auch eine bedeutend angenehmere Atmosphäre geschaffen haben. In einer noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbaren Weise gleichen Fußballstadien heute Kinosälen oder gar Theatern, die (mehr oder minder) gute Unterhaltung in einer komfortablen Umgebung bieten und unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung ansprechen.

Dennoch werden für die Weltmeisterschaft 2006 umfangreiche Vorkehrungen getroffen, um Ausschreitungen zu verhindern. Befürchtet wird, dass - wie in Frankreich 1998 - Hooligans aus ganz Europa anreisen und gewaltsame Ausschreitungen verursachen. Ob diese Befürchtungen und die ergriffenen Vorkehrungen berechtigt sind oder ob sie aus Sorge vor gewalttätigen Minderheiten die große Mehrheit der Fußballfans unter einen Generalverdacht stellen, wird sich im Sommer 2006 zeigen.

geb. 1951 in Bottrop, ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Freiburg. Er veröffentlicht zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zuletzt mit Schwerpunkten auf der Umweltgeschichte und der Geschichte des modernen Sports. Daneben ist er Mitglied der Lenkungsgruppe großer historischer Ausstellungen, darunter: Feuer und Flamme. 200 Jahre Ruhrgebiet (Gasometer Oberhausen 1994/1995); mittendrin. Sachsen-Anhalt in der Geschichte (Kraftwerk Vockerode 1998); Der Ball ist rund. Die Fußballausstellung (Gasometer Oberhausen 2000).

Kontakt: f.j.brueggemeier@geschichte.uni-freiburg.de