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Vom Randphänomen zum Massensport

Franz-Josef Brüggemeier

/ 5 Minuten zu lesen

Spanische Spieler feiern mit dem WM-Pokal am Ende des Finales Fußball Weltmeisterschaft zwischen den Niederlanden und Spanien in Johannesburg, Südafrika. (© AP)

Am 4. Juli 1954 stand die westdeutsche Mannschaft im Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft in Bern. Fast die ganze Nation verfolgte die Übertragung des Spiels in den Radios oder vor den wenigen Fernsehern, die es damals gab. Die Spannung war riesengroß, das Endspiel hatte beinahe alle anderen Themen an den Rand gedrängt. Doch im Stadion befand sich kein deutscher Spitzenpolitiker - weder Bundeskanzler Konrad Adenauer oder Bundespräsident Theodor Heuss, noch der für den Sport zuständige Innenminister Gerhard Schröder.

Ihr Fernbleiben erscheint heute geradezu unglaublich. Sollte die deutsche Mannschaft 2006 das Endspiel erreichen, werden sich gewiss genügend Politiker im Stadion einfinden, weil sie entweder selbst Interesse am Fußball haben oder die Popularität des Sports für ihr eigenes Image nutzen wollen. Davon konnte 1954 keine Rede sein. Wer sich von den politischen und gesellschaftlichen Eliten für Fußball interessierte, tat dies privat. In der Öffentlichkeit hingegen gehörten Gespräche über Fußball nicht zum guten Ton, und es galt als verpönt, ein derartiges Interesse zu zeigen.

Der Gegensatz von Interesse auf der einen und Desinteresse, wenn nicht Ablehnung, auf der anderen Seite hat den Fußball in Deutschland von Beginn an begleitet. Im Kaiserreich wurden seine Anhänger mit Affen verglichen, die ihre primitiven Triebe auslebten, und in den 1920er Jahren schrieb Joachim Ringelnatz über den damals noch jungen Sport: "Der Fußballwahn ist eine Krank/heit, aber selten, Gott sei Dank". Der erste Teil von Ringelnatz' Aussage stieß bei vielen Zeitgenossen auf Zustimmung, während der zweite schon damals den tatsächlichen Entwicklungen nicht mehr entsprach. Denn bereits in den 1920er Jahren war Fußball in Deutschland kein Randphänomen mehr, sondern eine überaus populäre Sportart, die sowohl Aktive wie Zuschauer anzog. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) zählte zu dieser Zeit fast eine Million Mitglieder, und zu wichtigen Spielen strömten Zehntausende in die Stadien.

Heute ist Fußball zu einem globalen Sport geworden. Keine andere Sportart, auch keine andere politische oder kulturelle Bewegung reichen an seine Popularität heran. Bei der letzten Fußballweltmeisterschaft 2002 in Südkorea und Japan wurden Schätzungen zufolge 28,8 Milliarden Mal die Fernsehapparate eingeschaltet, im Durchschnitt also viermal pro Bewohner des Globus. Als sich die Mannschaften von Ghana, Saudi-Arabien, Kroatien, Australien oder Iran für die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland qualifizierten, brachen in diesen Ländern Freudenfeiern aus. Der internationale Fußballverband FIFA (Fédération Internationale de Football Association) zählt mit 207 nationalen Verbänden mehr Mitglieder als die UNO und kann sich in strittigen Fällen selbst gegenüber Großmächten behaupten. So hat das kommunistische China die Mitgliedschaft in der UNO davon abhängig gemacht, dass Taiwan ausgeschlossen wurde. Bei der FIFA hingegen (wie übrigens auch beim Olympischen Komitee) konnte es sich mit dieser Forderung nicht durchsetzen, sondern gab 1979 nach, sodass seitdem Taiwan und China separat vertreten sind.

Die Gesamtzahl der offiziell registrierten Spielerinnen und Spieler gibt die FIFA weltweit aktuell mit 242 Millionen an. Einige davon sind globale Superstars, die allein bei ihren Vereinen mehr als zehn Millionen Euro im Jahr verdienen und zusätzlich als Werbeträger noch höhere Einnahmen erzielen. Doch die weitaus meisten Fußballer erhalten für ihr Spiel kein Geld.

Sport und Spiel

So fanden in Deutschland im Jahr 2005 an jedem Spieltag circa 65 000 Begegnungen mit 130 000 Mannschaften statt, die Mitglieder des DFB waren. Wenn wir die Zahl der daran beteiligten Spielerinnen und Spieler, Betreuer, Schieds- und Linienrichter addieren, sind Woche für Woche mehr als zwei Millionen Menschen aktiv im organisierten Fußball engagiert - ganz zu schweigen von denjenigen, die keinem Verein angehören und auf Wiesen, Straßen oder Schulhöfen einfach so gegen einen Ball treten.

Dieser alltägliche Fußball wird überlagert durch den Medienrummel um den Profifußball. Die Berichte über den "großen" Fußball sind längst nicht mehr auf die Sportseiten der Zeitungen beschränkt, sondern finden sich auch unter Politik, Wirtschaft, Kultur oder Vermischtem; Übertragungen wichtiger Spiele von Vereins- und Nationalmannschaften erreichen Rekordeinschaltquoten; rund um die Uhr werden in irgendeinem Sender Fußballspiele übertragen oder wiederholt. Fußball ist zudem ein Thema der Feuilletons, zahlloser Diskussionsrunden sowie seriöser Bücher oder Filme geworden. Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 wird diese Entwicklung einen neuen Höhepunkt erreichen.

Dieser Trend war nicht abzusehen, als um 1850 in England der moderne Fußball entstand. Als Geburtsstunde gilt ein Treffen in London am 26. Oktober 1863, bei dem Vertreter mehrerer Vereine einheitliche Regeln vereinbarten und die Football Association (FA) gründeten, den weltweit ersten Fußball-Verband. Viele der berühmten internationalen Vereine (unter anderem Real Madrid, AC Mailand, Bayern München) feierten in den letzten Jahren ihren 100. Gründungstag. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg etablierte sich der Fußball zudem als olympische Disziplin, erreichte danach den Durchbruch zum Massensport, zeigte 1930 mit der ersten Weltmeisterschaft seine globale Bedeutung und hat in den letzten Jahren einen weltweiten Triumphzug erlebt.

An Erklärungen für diese Erfolgsgeschichte besteht kein Mangel. Fußball kam mit der Industrialisierung auf. Manche Beobachter meinen, er sei zum Ausgleich für die harte körperliche Arbeit in den Fabriken gespielt worden. Das trifft bei näherer Betrachtung jedoch nicht zu, denn Fußball entstand im Bürgertum und ist bis heute gerade unter Jugendlichen und anderen Gruppen verbreitet, die keine harte und oftmals sogar überhaupt keine körperliche Arbeit verrichten. Andere Erklärungen sehen in diesem Sport einen Religions- oder gar einen Kriegsersatz und können dafür Beispiele anführen, die jedoch ebenfalls nicht überzeugen. Diese Beispiele mögen spektakulär sein, doch es handelt sich um Ausnahmen, die allenfalls das Verhalten kleiner Gruppen erklären können, für den Alltag dieses Sports jedoch keine Bedeutung haben.

QuellentextExtreme: Ersatz für Religion...

[...]"Der Fußball kann eine ernsthafte Konkurrenz sein zur Religion", sagt der katholische Theologe Hans Küng, "er kann Ersatzreligion werden. Man spricht ja sogar vom Gott Fußball. Und das Ritual im Stadion zeigt deutliche Parallelen zur Liturgie. Wenn Leute einen Pokal küssen, erinnert das an das Küssen von Ikonen. Wenn der Pokal hochgehoben wird, erinnert das an das Zeigen der Monstranz. Aber nicht das einzelne Phänomen als solches ist entscheidend, sondern die gesamte Stimmung, die dem einzelnen suggeriert, das, was er gerade erlebt, sei das Größte. Wenn der Fußball nur die Leere des Kopfs und des Herzens füllt und sonst nichts drin ist, wird's gefährlich." [...]

"Fußball macht der Religion Konkurrenz", Auszug aus einem Interview von Evi Simeoni mit Hans Küng, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Dezember 2005

...oder Krieg

1969 "kämpften" El Salvador und Honduras um die Qualifikation für die Fußballweltmeisterschaft 1970 in Mexiko. Das erste Spiel zwischen den beiden Mannschaften fand am 8. Juni in Tegucigalpa, der Hauptstadt Honduras statt. Die Mannschaft von Salvador traf einen Tag vorher ein und verbrachte eine schlaflose Nacht im Hotel. Verantwortlich dafür waren die honduranischen Fans mit ihrem für Lateinamerika üblichen Verhalten. Böllerschüsse, Hupkonzerte, eingeworfene Fensterscheiben, Getrommel auf Wellblech und leeren Fässern sorgten dafür, dass eine übermüdete Gastmannschaft 1:0 verlor. [...]
Eine Woche später fand das Rückspiel in San Salvador statt. In gesteigerter Form durchlebten die Spieler von Honduras eine ähnliche Hotelnacht wie ihre Gegner. Im Panzerwagen kamen sie zum Spiel, das Stadion wurde hermetisch vom Militär abgeriegelt. Die Nationalflagge von Honduras wurde vor den Fans verbrannt und stattdessen ein löchriger Fetzen hochgezogen. Honduras verlor 3:0. Bei den Ausschreitungen nach dem Spiel starben zwei Menschen, Dutzende wurden verletzt, 150 Autos von Gästefans, die teils zu Fuß über die Grenze fliehen mussten, gingen in Flammen auf.
Ein paar Stunden danach wurden die Grenzen zwischen den beiden Staaten gesperrt. Am nächsten Tag fielen in Tegucigalpa Flugzeugbomben und für vier Tage befanden sich die beiden Länder im Kriegszustand. Natürlich war der Fußball nicht die Ursache für den Krieg. Die Spannungen bestanden bereits, weil das übervölkerte El Salvador sich weigerte, 300 000 Landsleute, die im dünn besiedelten Honduras, meist illegal, Landwirtschaft betrieben und aufgrund einer Landreform ihr Land verlieren sollten, aufzunehmen. Der Fußball trug dazu bei, dass die chauvinistischen Emotionen überkochten. Einen Zweck erfüllten aber Fußball und Krieg: Die oligarchischen Regierungen in beiden Ländern saßen fester im Sattel als zuvor. George Orwell charakterisierte den Fußball als "war minus the shooting", was in diesem Zusammenhang mehr als angebracht erscheint.

Info-Blatt Nr. 3 "Die Rolle des Sports in Gesellschaft und Politik", Oktober 2003 - eingestellt im Internet unter: Externer Link: www.lehrerinnenplattform.at, S. 12.

Generell sind Versuche problematisch, die Erfolgsgeschichte des Fuß-balls auf einzelne Faktoren zurückzuführen. Dazu spricht dieser Sport zu unterschiedliche Personen an, löst zu gegensätzliche Reaktionen aus und ist in zu vielen Ländern, Kulturen und politischen Systemen verbreitet. Die große Attraktion des Fußballs beruht gerade auf seiner Vielfalt und Mehrdeutigkeit, die besonders deutlich werden, wenn wir die zahlreichen Entwicklungen und Faktoren betrachten, die ihn seit seiner Entstehung vor etwa 150 Jahren prägten und in dieser Zeit zahlreiche Veränderungen erfuhren. Davon handeln die folgenden Kapitel.

geb. 1951 in Bottrop, ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Freiburg. Er veröffentlicht zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zuletzt mit Schwerpunkten auf der Umweltgeschichte und der Geschichte des modernen Sports. Daneben ist er Mitglied der Lenkungsgruppe großer historischer Ausstellungen, darunter: Feuer und Flamme. 200 Jahre Ruhrgebiet (Gasometer Oberhausen 1994/1995); mittendrin. Sachsen-Anhalt in der Geschichte (Kraftwerk Vockerode 1998); Der Ball ist rund. Die Fußballausstellung (Gasometer Oberhausen 2000).

Kontakt: f.j.brueggemeier@geschichte.uni-freiburg.de