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Die EU und der deutsche Föderalismus

Roland Sturm

/ 12 Minuten zu lesen

Im Prozess der europäischen Integration wurden auch Kompetenzen der deutschen Länder an die EU übertragen. Einfluss auf die europäische Politik können die Länder nicht nur über den Bundesrat, sondern auch durch direkte Vertretung vor Ort in Brüssel nehmen.

Ebenso wie die Politik der Europäischen Union die deutschen Länder betrifft, gestalten diese gemeinsam mit dem Bund Entscheidungen auf EUEbene mit. (© picture-alliance/Horst Ossinger)

Einleitung


Die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union, die ihrerseits im Laufe ihres Bestehens geografisch immer größer geworden ist und politisch immer enger verflochten wurde, stellt die Länder vor vielfältige Herausforderungen. Zu den politischen Ebenen Bund-Länder-Gemeinden kommt die europäische nicht einfach hinzu. Die europäische Ebene hat direkte Bedeutung für die Politik in Bund, Ländern und Gemeinden, weil ihr Aufgaben übertragen worden sind, die vorher im nationalen Rahmen wahrgenommen wurden. Hierbei handelte es sich auch konkret um die Übertragung von Rechten der Länder. Beispielsweise griff die Fernsehrichtlinie von 1989, die "grenzenloses Fernsehen" in der Europäischen Gemeinschaft ermöglichte, also die Fernsehmärkte der Mitgliedsländer für alle europäischen Anbieter öffnete, unmittelbar in die Zuständigkeit der Länder für Medienpolitik ein.

Mitwirkung der Länder in der Europapolitik (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 64 560)

Mittelbar betroffen sind sie, wenn Kompetenzen nach Brüssel übertragen werden, bei denen sie zuvor ein Mitentscheidungsrecht hatten und beispielsweise in der Agrar- oder Umweltpolitik ein zustimmungspflichtiges Gesetz im Bundesrat scheitern lassen konnten. Ist die Kompetenz an die EU übergegangen, können die Länder nur noch durch die Bindung der Bundesregierung an Beschlüsse des Bundesrates einen gewissen Einfluss bei EU-Entscheidungen ausüben. Artikel 23, Absatz 5 GG legt fest, dass die Bundesregierung den Beschlüssen des Bundesrates bei ihren Verhandlungen im Brüsseler Ministerrat folgt, wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind. Es gilt aber zu bedenken: Deutschland ist nur einer der 27 EU-Mitgliedstaaten. In den meisten Politikbereichen, die Länderinteressen berühren, von der Regionalpolitik bis zur Öffnung der Märkte (z. B. für die Wasserversorgung), sind auf EU-Ebene Mehrheitsentscheidungen möglich, die auch gegen die Länderwünsche ausgehen können.

Ausschuss der Regionen

Um ihre angestammten Mitwirkungsrechte an der Gesetzgebung in Deutschland auch auf europäischer Ebene zu wahren, war es für die Länder naheliegend, sich eine Art Bundesrat im europäischen Format zu wünschen. Die Bundesregierung setzte sich für dieses Anliegen auf europäischer Ebene ein und erreichte einen Kompromiss, der berücksichtigte, dass andere Mitgliedstaaten nicht föderal organisiert sind. Mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 wurde der Ausschuss der Regionen (AdR) als beratendes Organ für die europäische Gesetzgebung gegründet. Seine erste Sitzung fand 1994 statt. Die Anzahl der Mitglieder im AdR soll maximal 350 betragen, derzeit sind es 344 Mitglieder. Die Sitze im AdR werden entsprechend ihrer Bevölkerungsgröße auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt. Deutschland hat 24 Sitze: Drei davon werden von kommunalen Spitzenverbänden eingenommen, dem Deutschen Städtetag, dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund. Die Länder schicken die verbleibenden 21 Vertreter in den AdR. Jedes der 16 Länder hat dabei einen Sitz. Weitere fünf Sitze werden fünf Ländern zugeteilt, wobei diese zusätzlichen fünf Sitze im Rotationsverfahren nach einer Amtsperiode von fünf Jahren weiter zur nächsten Gruppe von fünf Ländern wandern.

Der AdR ist für die deutschen Länder jedoch kein Ersatz für den Bundesrat geworden. Dafür gibt es mehrere Gründe:

Erstens sind die Länder unter den Vertretern der Regionen aus 27 Staaten nur eine kleine Gruppe in diesem Gremium mit entsprechend reduziertem Einfluss.

Zweitens ist der AdR sehr heterogen. In der EU gibt es nicht nur Föderalstaaten bzw. Staaten mit Regionen, die parlamentarische Vertretungen haben, sodass die Vertreter, welche die Staaten ohne föderale bzw. dezentrale Struktur in den AdR entsenden, Repräsentanten der Kommunen sind, welche zudem die Mehrheit im Ausschuss bilden. Interessenunterschiede zwischen Regionen mit legislativen Befugnissen (RegLeg), die sich für die Berücksichtigung ihrer Rechte bei EU-Entscheidungen einsetzen, und anderen Vertretern regionaler und kommunaler Interessen führten zur Gründung einer interregionalen Gruppe der RegLeg-Regionen im AdR, zu der auch die deutschen Länder gehören. Diese Interessenvertretung bringt zwar Gleichgesinnte zusammen, verbessert die Einflussmöglichkeiten der Länder jedoch nicht wesentlich.

Drittens arbeitet der AdR anders als der Bundesrat. Dort sind es vor allem die Landesbeamten, die in den meisten Ausschüssen des Bundesrates die politischen Entscheidungen vorbereiten. Im AdR dürfen Politiker jedoch nicht durch Beamte ersetzt werden. Deutsche Ministerpräsidenten müssten also, wenn sie Mitglied im AdR sind, ständig nach Brüssel fahren, was sie und andere Politiker in der Regel nicht bei jeder Entscheidung im AdR tun. Wer nicht anwesend ist, kann aber auch nicht mitstimmen.

Viertens, und das ist der wichtigste Unterschied zum Bundesrat, verfasst der AdR lediglich Stellungnahmen zur europäischen Gesetzgebung. Die Europäische Kommission bzw. bei der Gesetzgebung der Ministerrat und das Europäische Parlament können diese beachten oder auch nicht. Der AdR ist anders als der Bundesrat kein Teil des Gesetzgebungsprozesses und hat deshalb auch nicht die Möglichkeit, wie der Bundesrat im nationalen Rahmen, Gesetzgebungen zu stoppen oder zu verändern. Wenn also Befugnisse der Länder auf die europäische Ebene wandern, bietet der AdR den Ländern nicht die Möglichkeit, auf europäischer Ebene so mitzusprechen, wie sie dies auf nationaler Ebene können, wenn Länderangelegenheiten betroffen sind.

Subsidiaritätskontrolle

Im Vertrag von Lissabon von 2009 erklären die Mitgliedstaaten der Europäischen Union erstmals, dass die EU die Belange der Länder und Kommunen in der europäischen Politik achtet.

QuellentextVertrag von Lissabon

Am 1.12.2009 in Kraft getretener Vertrag zwischen den 27 EU-Mitgliedstaaten zur Reform der EU-Institutionen. Der Vertrag knüpft inhaltlich an den Verfassungsentwurf an, der 2005 an den negativen Referenden in den Niederlanden und Frankreich gescheitert war: Die EU erhält Rechtspersönlichkeit und wird zur Rechtsnachfolgerin der EG, die Rechte des europäischen Parlaments werden ausgeweitet, und die nationalen Parlamente erlangen größeren Einfluss, neue Abstimmungsregeln werden eingeführt und Mehrheitsentscheidungen ausgeweitet, durch Einführung des Amtes eines Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik sowie eines auf zweieinhalb Jahre gewählten Ratspräsidenten wird die Sichtbarkeit der EU nach außen gestärkt. Weiterhin wird durch den Vertrag die Möglichkeit europäischer Bürgerbegehren eingeführt. Der Vertrag von Lissabon stellt einen weiteren Versuch dar, den Anforderungen einer erweiterten EU institutionell gerecht zu werden, er soll für mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz der EU sorgen.

Klaus Schubert / Martina Klein, Das Politiklexikon. 5., aktual. Aufl. Bonn: Verlag J. H. W. Dietz 2011


Die wichtigste Neuerung ist in diesem Zusammenhang die Subsidiaritätskontrolle. Sie gibt den Ländern die Möglichkeit zum Einspruch, wenn ein Übertragen von Länderaufgaben auf die europäische Ebene über das hinausgeht, was in den europäischen Verträgen vereinbart wurde. Die Länder können sich in diesem Fall gegen europäische Gesetzgebung, die in ihre Angelegenheiten eingreift, wehren. Das kann zum einen geschehen, indem der AdR oder der Bundesrat Klage beim Gerichtshof der Europäischen Union einreicht. Zum anderen kann der Bundesrat versuchen, ein Drittel der nationalen Parlamente in der EU auf seine Seite zu ziehen, um bei den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission Einspruch gegen die europäische Gesetzgebung einzulegen, der wiederum zu einer Überprüfung der Gesetzgebung durch diese führen kann. Der Bundesrat hätte für eine solche Initiative allerdings nur acht Wochen Zeit, wobei der Ausgang ungewiss wäre.

Mitwirkung an deutscher Europapolitik

Der direkte Einfluss der Länder auf die europäische Gesetzgebung ist also begrenzt. Daneben steht den Ländern aber zusätzlich der indirekte Zugang zur EU über die Mitwirkung an der politischen Willensbildung in Deutschland zur Verfügung.

Erstens ist im Grundgesetz (Artikel 23, Absatz 6) geregelt, dass die Länder Deutschland bei der europäischen Gesetzgebung in den Politikfeldern "schulische Bildung", "Rundfunk" und "Kultur" in Brüssel vertreten dürfen. Der deutsche Vertreter im Ministerrat der EU wird in diesem Falle vom Bundesrat bestimmt.

Zweitens hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag vom 30. Juni 2009 die Mitwirkungsrechte der Länder in der Europapolitik gestärkt. Der Bundesrat muss (ebenso wie der Bundestag) bei Änderungen der europäischen Verträge, auch bei Anpassungen von Abstimmungsverfahren und der Übertragung neuer Kompetenzen an die EU, der Bundesregierung "grünes Licht" geben, damit diese entsprechende Beschlüsse auf europäischer Ebene fassen darf.

Und drittens ist die Landesebene im politischen Tagesgeschäft in rund 300 Bund-Länder-Delegationen eingebunden, die die deutschen Positionen bei der Kommission und beim Ministerrat einbringen. Die Mitglieder der deutschen Delegationen aus den Ländern werden vom Bundesrat sachgebiets-, gremien- oder vorlagenbezogen benannt. Sie sind an Beschlüsse des Bundesrates gebunden und müssen diesen auf einen erneuten Beratungsbedarf von Vorlagen hinweisen, wenn Entscheidungen in Brüssel eine neue Ausgangslage geschaffen haben. Um beim Tempo des europäischen Entscheidungsprozesses mithalten zu können, hat der Bundesrat 1992 eine Europakammer eingerichtet, gemäß Artikel, 52 Absatz 3 a GG: "Für Angelegenheiten der Europäischen Union kann der Bundesrat eine Europakammer bilden, deren Beschlüsse als Beschlüsse des Bundesrates gelten." Das heißt, der Bundesrat muss zur Beschlussfassung über die zahlreichen und oft kurzfristig zu entscheidenden EU-Initiativen nicht ständig zusammengerufen werden. Die Mitglieder der Europakammer sind, im Unterschied zur sonstigen Ausschussarbeit des Bundesrates, keine Beamten, sondern Politiker, also Mitglieder oder stellvertretende Mitglieder des Bundesrates. Obwohl jedes Bundesland nur einen Vertreter in die Europakammer entsendet, gibt dieser bei Abstimmungen jeweils im Paket alle Stimmen ab, die seinem Land im Bundesrat zustehen. Die Europakammer beschließt wie der Bundesrat mit der absoluten Mehrheit ihrer Stimmen. Lange Zeit wurde die Europakammer nur selten als Entscheidungsort genutzt. Erst die schnellen Entscheidungen, die für europäische Rettungsschirme im Zuge der Euro-Finanzkrise gebraucht wurden, haben dazu geführt, dass die Vorzüge der Kammer neu geschätzt werden.

Die Länder wirken nicht nur an der deutschen Europapolitik mit, sie tragen auch Verantwortung für deren Fehlleistungen. Mit der im September 2006 in Kraft getretenen Föderalismusreform I akzeptierten sie, mitzuhaften, wenn Deutschland seinen europäischen Verpflichtungen nicht nachkommt. So können Strafzahlungen drohen, wenn europäische Gesetze nicht umgesetzt werden oder wenn es Deutschland versäumt, seine jährliche Neuverschuldung auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen. Die Länder tragen einen Teil der dadurch entstehenden Finanzlasten, wobei in bündischer Solidarität auch diejenigen Länder mitfinanzieren, die einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen können oder für die Missachtung europäischer Gesetzgebung nicht verantwortlich sind.

QuellentextVorlage aus Karlsruhe

Das neue Begleitgesetz zum Lissabon-Gesetz ist […] ein Exempel dafür, was geht, wenn man wirklich will. Der Gesetzgeber hatte freilich ein sehr penibles Rezept: Es stammt vom Bundesverfassungsgericht.

Die acht Richter des 2. Senats hatten in ihrem Urteil vom 30. Juni [2009] das alte deutsche Begleitgesetz zerrissen und den Gesetzgeber aufgefordert, ein neues zu schreiben – ein Regelwerk, das die demokratischen Rechte der nationalen Gesetzgebungsorgane achtet. […] Das […] Gesetz setzt die Vorgaben des höchsten deutschen Gerichts auf penible Weise um.

"Begleitgesetz" ist ein zusammenfassender Name. Es handelt sich um ein Gesetzesbündel. Es besteht aus dem "Integrationsverantwortungsgesetz" und aus Zusammenarbeitsgesetzen – nämlich über die Zusammenarbeit erstens von Bundesregierung und Bundestag, zweitens von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union. Bisher bloße Vereinbarungen zwischen Bundestag, Bundesregierung (BBV) sowie zwischen Bund und Ländern (BLV) werden nun Gesetz.

Für alle Fälle, in denen das Karlsruher Gericht das Zustimmungserfordernis des Parlaments ausdrücklich und eindeutig gefordert hat, werden diese umgesetzt. Die demokratischen Rechte des Parlaments im Zusammenhang mit der europäischen Integration werden so erheblich gestärkt: Der Bundestag hat fast drei Dutzend Rechte erhalten, die er bisher nicht hatte. Es wird nun Zustimmungsgesetze geben müssen etwa bei der Weiterentwicklung der EU-Verträge im sogenannten vereinfachten Verfahren – ob es um den Binnenmarkt, um den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, um innere Sicherheit, um Beschäftigungs- und Sozialpolitik oder um Umweltschutz geht.

Der Lissabon-Vertrag sieht zwar vor, dass der Beschluss des Rates über die Vertragsänderung hier "erst nach Zustimmung der Mitgliedsstaaten im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften" in Kraft treten soll. Das alte Begleitgesetz hatte aber die Zustimmung des Parlaments nicht für ausdrücklich notwendig gehalten. Die Flexibilitätsklausel des Lissabon-Vertrags ermöglicht es der EU, sich selbst neue Kompetenzen zu schaffen. Der Rat kann solche Beschlüsse nach Zustimmung des Europäischen Parlaments schaffen.

Karlsruhe hat entschieden, dass ohne Zustimmung des deutschen Parlaments der deutsche Vertreter im Rat einem solchen Beschluss nicht zustimmen darf. Im Integrationsverantwortungsgesetz ist das nun auch so geregelt. Ebenso ist das bei den Brückenklauseln, die es der EU ermöglichen, nicht mehr wie bisher einstimmig zu entscheiden, sondern durch Mehrheitsvotum. Das neue Gesetz schreibt nun die vorherige nationale parlamentarische Zustimmung durch Gesetz oder Beschluss vor.

Der Lissabon-Vertrag sieht bei Materien, die für die nationale Souveränität besonders heikel sind (zum Beispiel die Justiz) einen Notbremsen-Mechanismus vor. Mit der Notbremse kann ein Mitgliedsstaat verhindern, dass hier wegen des Mehrheitsprinzips gegen seinen Willen ein auch bei ihm geltendes Gesetz beschlossen wird. Das Notbremsen-Recht stand bisher nur der Bundesregierung zu. Nach dem neuen Gesetz können Bundestag und Bundesrat der Bundesregierung die Weisung erteilen, die Notbremse zu ziehen. […]

Heribert Prantl, "Europäisches Recht nach Karlsruher Rezept", in: Süddeutsche Zeitung vom 26. August 2009 (Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/begleitgesetz-europaeisches-recht-nach-karlsruher-rezept-1.169476)


"Entparlamentarisierung"?

Für die Länder ist ihre Mitwirkung an der europäischen Politik mehr als nur eine Frage der Wahrung ihres in Deutschland garantierten politischen Einflusses auch auf europäischer Ebene. Mit der Mitgliedschaft Deutschlands in der EU verbinden sich auch Fragen des demokratischen Regierens. Die zentrale Rolle, die der Bundesrat für die Wahrnehmung von Länderinteressen innerhalb des politischen Systems in Deutschland hat, wird durch die Mitwirkung der Länder an der europäischen Politik, insbesondere durch seinen Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union, weiter gestärkt. Im Bundesrat sind jedoch nur die Landesregierungen vertreten, nicht die Landesparlamente. Sie werden im Prozess der europäischen Integration noch weiter an den Rand gedrängt. In der wissenschaftlichen Diskussion ist die Frage nach dem vertretbaren Ausmaß der "Entparlamentarisierung", also wieviel Entscheidungshoheit von den Parlamenten auf die Landesregierungen übertragen werden darf, umstritten.

Um der Tendenz der "Entparlamentarisierung" der Europapolitik der Länder gegenzusteuern, wurden auch Landtagsabgeordnete als AdR-Vertreter benannt (z. B. Landtagspräsident(inn)en oder Vorsitzende des Europaausschusses der Landtage). Ebenso wurde den Landtagsabgeordneten der Zugang zu Informationen über die europäische Gesetzgebung durch die Landtagsverwaltungen auf elektronischem Wege erleichtert. Allerdings überfordert die schiere Masse an täglicher Information ohne Spezialisierung oder Vorauswahl durch die Landesregierung jeden Abgeordneten. In Baden-Württemberg wurde in die Landesverfassung ein Passus aufgenommen, der die Landesregierung bei integrationspolitischen Grundsatzfragen an das Votum des Landtages bindet. Andere Länder planen nachzuziehen.

Eigenständige Interessenpolitik der Länder

Die deutschen Länder haben frühzeitig erkannt, dass der europäische Gesetzgebungsprozess einen in hohem Maße informellen Vorlauf hat. Das heißt, die Europäische Kommission, die die Gesetzgebung vorbereitet, ist auf Sachinformationen aus den Mitgliedstaaten auch auf der Landesebene angewiesen. Hier bietet sich eine Gelegenheit für die Länder, einerseits informierend, andererseits aber auch beeinflussend zu wirken. Um dies tun zu können, muss man allerdings vor Ort sein. Seit 1989 hat jedes deutsche Land ein eigenes Informationsbüro in Brüssel. Die ostdeutschen Länder folgten bis 1992 diesem Vorbild. Schleswig-Holstein und Hamburg arbeiten in einem gemeinsamen Informationsbüro zusammen: dem "Hanse-Office". Dieses war 1985, damals noch mit der Beteiligung Niedersachsens, das erste Informationsbüro der Länder bei der EU. Besonders auffällig in Brüssel ist das bayerische Informationsbüro. Es ist seit 2004 im ehemaligen Institut Pasteur untergebracht, einem repräsentativen, im Gründerzeitstil errichteten Gebäudekomplex, den der Freistaat für fast 30 Millionen Euro restaurierte. Es liegt direkt zwischen dem Europäischen Parlament und dem Ausschuss der Regionen. Am Türschild ist zu lesen, dass es sich um die "Vertretung des Freistaats Bayern bei der EU" handelt. Der Bund zieht allerdings prinzipiell die Bezeichnung "Informationsbüros" für die Ländervertretungen vor, um eine Verwechslung mit Botschaften auszuschließen.

Die Länder fühlen sich jedoch berechtigt, derartige Vertretungen bei der EU zu haben, ebenso wie sie Vertretungen beim Bund in Berlin unterhalten. Damit sei die alleinige Kompetenz des Bundes in der Außenpolitik nicht beeinträchtigt, zumal heute europäische Gesetzgebung in hohem Maße "Innenpolitik" ist, da sie Bereiche regelt (Wirtschaft, Landwirtschaft, Umwelt, Währung), die früher ausschließlich in die nationale Kompetenz fielen. Informationsbüros sind nicht nur Lobbyorganisationen der Länder, sie wirken also nicht nur auf die europäischen Institutionen mit Informationen und Interessenvertretung ein. Sie dienen umgekehrt auch dazu, Informationen für die Landespolitik und die heimische Wirtschaft über EU-Vorhaben in die Länder zu vermitteln. Es ist zum Beispiel von erheblicher Bedeutung für ein Unternehmen, rechtzeitig zu wissen, welche neuen Regeln für Märkte und Produkte in Brüssel erdacht werden. Die Länder haben dabei vor allem die mittelständische Wirtschaft im Auge, die mit eigenen Lobbyorganisationen schwächer in Brüssel vertreten ist als die Großunternehmen.

Ein zweites Standbein eigenständiger Interessenpolitik der Länder ist die interregionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Regionen in Europa. Es liegt im Interesse der Länder, Partnerregionen zu haben, mit denen sie die Ziele ihrer Landespolitik umsetzen können und von denen sie lernen bzw. durch die sie ihren Bürgerinnen und Bürgern Europa konkret vermitteln können. Die Zusammenarbeit der Regionen wird von der Europäischen Union mit INTERREG-Mitteln, so das EU-Kürzel, gefördert, die im Rahmen der europäischen Regionalpolitik zur Verfügung stehen. Die EU hat sich verpflichtet, den territorialen Zusammenhalt der Mitgliedsländer zu stärken. Der Begriff "interregional" wurde analog zum Begriff "international" gebildet. Gemeint ist damit die Partnerschaft von Regionen in Europa, die nicht unmittelbar aneinandergrenzen, aber dennoch gemeinsame Interessen haben. Diese Zusammenarbeit wird in der Regel auch vertraglich festgehalten. Das Grundgesetz spricht den Ländern hier ausdrücklich Zuständigkeiten in der Außenpolitik zu. In seinem Artikel 32, Absatz 3, heißt es: "Soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung mit auswärtigen Staaten Verträge abschließen." Beispiele für interregionale Zusammenarbeit sind die Partnerschaften Hessen-Emilia Romagna, Bayern-Schottland oder die "Vier Motoren für Europa". In der Regel konzentriert sich interregionale Zusammenarbeit auf spezifische Politikinitiativen, die amtierende Regierungen besonders interessieren, sowie auf die Symbolik von Partnerschaftspolitik. Die von Baden-Württemberg in den 1980er-Jahren gestartete Initiative "Vier Motoren für Europa" stellt hier eine gewisse Ausnahme dar. Sie soll europäische Wachstums- und Kulturregionen zusammenbringen, die eine Vorreiterrolle für die europäische Integration übernehmen können. Dies sind neben Baden-Württemberg Katalonien (in Spanien), die Lombardei (in Italien) und Rhône-Alpes (in Frankreich). Als Felder interregionaler Zusammenarbeit, die in Abkommen festgelegt wurden, wählte man beispielsweise die Verbesserung der Infrastruktur, die Vertiefung der Kooperation in Forschung und Technologie oder die verstärkte Zusammenarbeit im Bereich Kunst und Kultur. In der Öffentlichkeit wird das Projekt der Vier Motoren heute relativ wenig beachtet, auch weil die beteiligten Regionen ihre ursprüngliche Idee vernachlässigen, durch ihre Zusammenarbeit eine breite Unterstützung für den europäischen Gedanken zu mobilisieren. Bei Ausbildung und Forschung hat die Vier-Motoren-Initiative mit einem gemeinsamen Studiengang ("Multi-Regional International Business Programme") aber greifbare Erfolge vorzuweisen.

Effizienter als die meist punktuelle und wenig systematisch organisierte interregionale Zusammenarbeit erwies sich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den "Euroregionen". Alle deutschen Länder mit Grenzen zum Ausland sind in Vereinbarungen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit eingebunden, beispielsweise Sachsen in der Euroregion Neiße (mit Polen und Tschechien), das Saarland in der SaarLorLux-Region (mit Lothringen und Luxemburg sowie den rheinland-pfälzischen Territorien Trier und Westpfalz) oder Nordrhein-Westfalen in der EUREGIO (mit den Niederlanden) – die älteste, seit 1966 als kommunale Arbeitsgemeinschaft ausgestaltete Kooperation über Grenzen hinweg mit dem ersten grenzüberschreitenden kommunalen parlamentarischen Gremium (EUREGIO-Rat). Heute umfasst das EUREGIO-Arbeitsgebiet circa 110 deutsche und niederländische Gemeinden, Kreise und Städte. Wie in den anderen Fällen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit stehen bei der Arbeit der EUREGIO Alltagsprobleme im Vordergrund. Themen sind zum Beispiel die Verbesserung der Verkehrsstruktur, grenzüberschreitende wirtschaftliche Entwicklung, Energieversorgung, deutsch-niederländische Drogenpolitik, grenzüberschreitende Kooperation der Polizei und der Rettungsdienste sowie Tourismus.

Erleichtert wurde die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg durch eine Grundgesetzänderung im Jahr 1992. Der in Artikel 24 eingefügte Absatz 1a erlaubt den Ländern, soweit sie für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen zu übertragen. Die gemeinsamen Einrichtungen der Grenznachbarn dürfen also nach deutschem Recht auch deutsche Angelegenheiten regeln, ja sogar Gebühren erheben. Bereits 1966 schlossen Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Luxemburg den Karlsruher Vertrag, mit dem die Zusammenarbeit im Oberrheingebiet geregelt wurde. Dieser wird inzwischen als eine Art Mustervertrag für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit angesehen, weil er einen Rahmen absteckt, innerhalb dessen Grenzregionen ohne fortwährend bei ihren nationalen Regierungen nachfragen zu müssen, ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig miteinander regeln können – ein Europa im Kleinen, im föderalen und kommunalen Maßstab.

Professor Dr. Roland Sturm, Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsgebiete: Vergleichende Politikwissenschaft (v. a. englischsprachige Länder), International vergleichende Politikfeldanalyse, Politische Wirtschaftslehre, Europäische Union und deutsche Politik (u. a. Föderalismus, Wahlen und Parteien)
Kontakt: E-Mail Link: Roland.Sturm@polwiss.phil.uni-erlangen.de