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Die EU im Krisenmodus: Herausforderungen und Reformimpulse | Europäische Union | bpb.de

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Die EU im Krisenmodus: Herausforderungen und Reformimpulse

Otto Schmuck

/ 15 Minuten zu lesen

Über Jahrzehnte hinweg wurde der europäische Einigungsprozess von einem weithin akzeptierten grundlegenden Einvernehmen getragen. Dem früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors wird der Satz zugeschrieben, Europa sei wie ein Fahrrad: "Hält man es an, fällt es um." Doch wird die damit verbundene Zielvorstellung einer immer stärker zusammenwachsenden Gemeinschaft heute längst nicht mehr allgemein geteilt.

Karikatur: Europäische Union - Wege aus der Krise (© Waldemar Mandzel)

Veränderungen des europäischen Koordinatensystems

Mit fortschreitender Integration hat sich der Charakter des geeinten Europas verändert und auch die Begründungen für die Einigung haben sich gewandelt. Das Motiv der Friedenssicherung, das nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs im Vordergrund gestanden hatte, verlor mit der Zeit an Bedeutung. Zunehmend ging es um Wirtschaftsfragen, um Umweltschutz, um die innere und äußere Sicherheit sowie um Europas Rolle in der Welt. Aus dem "Europa der Sonntagsreden" wurde die Europäische Union, eine bedeutsame politische Arena, in der seither wichtige Entscheidungen getroffen sowie Konflikte und Verteilungskämpfe ausgetragen werden. Entsprechend nahmen die widerstreitenden Positionen zu, es gab auch Verlierer und tatsächlich oder vermeintlich Zukurzgekommene, die sich zunehmend zu Wort meldeten. Vor diesem Hintergrund formierten sich in nahezu allen EU-Staaten europafeindliche Parteien, die bei Wahlen wachsende Erfolge erzielten und in einigen Mitgliedstaaten an den dortigen Regierungen beteiligt sind.

Zweifellos hat die europäische Einigung über das Ziel der Friedenssicherung hinaus den EU-Bürgerinnen und -Bürgern viele konkrete Vorteile gebracht und bestimmt heute in weiten Bereichen ihre Lebenswirklichkeit.

Dadurch dass etliche Erfolge und Ziele erreicht werden konnten, entstand jedoch das Gefühl, eine weitere Unterstützung der Einigungsidee sei nicht mehr erforderlich. Diese Einstellung erwies sich vor allem im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Entwurfs für eine europäische Verfassung in den Jahren 2003/2004 als fatal. Denn die Annahme der Verfassung, die vielfach als Krönung und vorläufiger Schlusspunkt des Einigungsprozesses angesehen worden war, scheiterte im Jahr 2005 an negativen Referenden (Volksentscheiden) in den Niederlanden und Frankreich. Dieser Rückschlag, die Wahlerfolge europafeindlicher Parteien in zahlreichen EU-Staaten und vor allem auch der "Brexit" zeigten unter anderem, dass die Bürgerinnen und Bürger von der politischen Handlungsebene zu wenig in die Entscheidungen zur Gründung und Weiterentwicklung des "Elitenprojekts EU" einbezogen worden waren. Heute ist die Unterstützung der Einigungsidee keine allgemein akzeptierte Selbstverständlichkeit mehr, sie muss immer wieder neu begründet, beworben und verteidigt werden.

Einstellungen zur europäischen Einigung im Zeitverlauf

Seit 1974 werden im Auftrag der Europäischen Kommission regelmäßig repräsentative Eurobarometer-Umfragen zu den Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger in Sachen Europa durchgeführt. Darin wird deutlich, dass diese die EU-Mitgliedschaft ihres jeweiligen Landes traditionell positiv einschätzen. Jedoch unterliegen die Bewertungen zum Teil erheblichen Schwankungen. Stimmten etwa im Herbst 1991 noch 71 Prozent der Befragten der Aussage zu, die EU-Mitgliedschaft sei positiv zu bewerten, so sank diese positive Bewertung im Frühjahr 2011 auf 47 Prozent. Danach stieg die Zustimmungsrate wieder an und bewegt sich seit 2017 kontinuierlich auf einem vergleichsweise hohen Niveau. In einer Umfrage vom Oktober 2019 lag sie bei 59 Prozent, während elf Prozent gegenteiliger Ansicht waren und 29 Prozent die EU-Mitgliedschaft ihres Landes weder für gut noch für schlecht hielten.

In allen EU-Mitgliedstaaten fühlt eine Mehrheit der Befragten sich als Bürger bzw. Bürgerin der EU. Im EU-Durchschnitt waren dies bei der Befragung vom November 2019 nach eigenen Angaben sieben von zehn Befragten (70 Prozent). Im Ländervergleich bewegten sich die Anteile zwischen 91 Prozent in Luxemburg und 51 Prozent in Griechenland. Neben Luxemburg gibt es noch zehn weitere Länder, in denen sich mindestens acht von zehn Befragten als EU-Bürger bzw. -Bürgerin fühlen: Spanien (86 Prozent), Deutschland (83 Prozent), Litauen, Finnland, Portugal, Malta und Polen (jeweils 81 Prozent) sowie Estland, Ungarn und Irland (jeweils 80 Prozent). In Griechenland (51 Prozent), im Vereinigten Königreich (53 Prozent), in Italien (55 Prozent), Bulgarien (56 Prozent) und Frankreich (58 Prozent) war der Anteil am geringsten.

Bitte sagen Sie mir, inwieweit die folgende Aussage Ihrer eigenen Meinung entspricht oder nicht entspricht. Quelle: Standard-Eurobarometer 92 – Herbst 2019, S. 16 (© Europäische Union 2019 )

Die Umfragen belegen, dass sich die Unionsbürgerinnen und -bürger häufig nicht hinreichend über die Belange der Europäischen Union informiert fühlen und dass sie das Gefühl haben, ihre Stimme würde in der EU nicht hinreichend gehört. So bekundeten im Oktober 2019 mehr als drei Viertel der Befragten (77 Prozent) ihr Interesse, mehr Informationen über die Tätigkeiten der europäischen Institutionen erhalten zu wollen. In der gleichen Umfrage stimmen lediglich 45 Prozent der Aussage zu, ihre Stimme zähle in der EU, während 50 Prozent gegenteiliger Ansicht waren. Zugleich zeigten sich aber auch 52 Prozent zufrieden mit der Art und Weise, wie die Demokratie in der EU funktioniert.

In den Umfragen wird auch deutlich, dass an die Europäische Union hohe Erwartungen gerichtet werden, die sie aufgrund fehlender Handlungsinstrumente und Kompetenzen häufig nicht erfüllen kann. Im November 2019 wurde – wie auch bereits zuvor – die Einwanderung als größte Herausforderung für die EU genannt. An zweiter Stelle stand der Klimawandel. Zwei Drittel der EU-Bürgerinnen und -Bürger sprachen sich für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem aus. In 26 der damals noch 28 Mitgliedstaaten wurde dies von einer Mehrheit der Befragten befürwortet, wenn auch in stark unterschiedlichem Ausmaß. Beinahe sieben von zehn Befragten waren für eine Verstärkung der EU-Außengrenzen mit mehr europäischem Grenzschutz und Küstenwache. Dies befürworteten in jedem Mitgliedstaat mehr als die Hälfte der Befragten. Bei dem von der Kommission als besonders wichtig eingestuften Klima- und Umweltschutzprogramm "Green Deal" sahen die Befragten die Entwicklung erneuerbarer Energien (54 Prozent) sowie die Eindämmung von Kunststoffabfällen (53 Prozent) als vorrangig an.

Was sind Ihrer Meinung nach die beiden wichtigsten Probleme, denen die EU derzeit gegenübersteht? Quelle: Standard-Eurobarometer 92 – Herbst 2019, S. 18 (© Europäische Union 2019 )

Die Akzeptanz des Euro ist unverändert hoch, die Gemeinschaftswährung wird im Euroraum von mehr als zwei Dritteln der Befragten und in der Gesamt-EU von 62 Prozent befürwortet. Mehr als drei Viertel der Bürger und Bürgerinnen sind für die Einführung neuer Maßnahmen auf EU-Ebene zur Verbesserung der Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz. Sieben von zehn Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Stimme der EU in der Welt zähle.

Bei einer Umfrage vom Mai 2020 unterstützten mehr als zwei Drittel der Befragten (69 Prozent) die Aussage, die EU soll mehr Kompetenzen haben, um Krisen wie die Coronavirus-Pandemie meistern zu können. Lediglich 22 Prozent waren dagegen. Diese Einschätzung ist insofern bedeutungsvoll, als die EU in den zurückliegenden Jahren mit einer Vielzahl von Krisen konfrontiert wurde, auf die sie nur wenig vorbereitet war und in denen ihr häufig die notwendigen Instrumente fehlten, um wirkungsvoll reagieren zu können. Diese Krisen traten in schneller Abfolge und teilweise zeitgleich auf.

Krisen als europäische Herausforderungen

Immer wieder waren die EU-Institutionen gezwungen, sich eingehend mit akuten Problemlagen zu befassen und in regulären Treffen, aber auch häufigen, kurzfristig anberaumten Krisensitzungen nach Auswegen zu suchen. Dabei beschritten sie auch innovative Wege und schufen zum Teil neue Instrumente und Verfahren außerhalb der Gemeinschaftsverträge. Für die Verfolgung einer eigenen zukunftsgerichteten Agenda blieb unter diesen Umständen kaum Zeit und Kraft.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise nach 2008


Diese Krise stellte die EU als Wirtschaftsgemeinschaft mit einer gemeinsamen Währung vor besondere Herausforderungen. Die Bankenkrise in den USA hatte in dieser Zeit auch die Geldinstitute in Europa in eine finanzielle Schieflage geraten lassen. Die EU-Staaten sahen sich gezwungen, den Bankensektor mit erheblichen Finanzmitteln zu stützen. Die Folge war eine zunehmende Staatsverschuldung. Die im Maastrichter Vertrag von 1992 vereinbarten Stabilitätskriterien mit Obergrenzen von drei Prozent jährlicher Verschuldung und 60 Prozent Gesamtverschuldung spielten in der Praxis kaum noch eine Rolle. Auch der Euro als gemeinsame Währung geriet erheblich unter Druck. Erst das energische Vorgehen der Europäischen Zentralbank und die klare Position ihres damaligen Präsidenten Mario Draghi zur Rettung zu tun, was auch immer notwendig sei ("whatever it takes"), beruhigten die Märkte.

Die EU-Staaten bewiesen durch eine Reihe von Maßnahmen ihre Fähigkeit zur Überwindung der Krise. Sie einigten sich auf verbindliche Regeln zum Schuldenabbau, schufen zur Unterstützung notleidender Staaten den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und vereinbarten striktere Regeln im Bankenbereich, um vergleichbare Situationen künftig zu verhindern. Vor Beginn der Coronavirus-Pandemie galt die Wirtschaftskrise in vielen EU-Staaten als weitgehend überwunden. Jedoch verlief der Gesundungsprozess keineswegs überall gleich. Vielmehr gab es deutliche Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung und der Arbeitsmarktsituation der nördlichen und der südlichen EU-Staaten.

Die Migrationskrise

Das Management der Migration entwickelte sich zu einem weiteren wesentlichen Konflikt- und Streitpunkt in der EU. Die deutliche Zunahme der Zuwanderung von Geflüchteten im Sommer 2015 belastete die Funktionsweise der Schengen-Freizügigkeitszone und des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Die EU-Staaten konnten sich auf dem Höhepunkt der Zuwanderung nicht auf eine gemeinsame Position einigen. Damals kamen vier Millionen Menschen in die EU, die vor Krieg und Armut in ihren Ländern geflohen waren. Als Reaktion auf diese Notsituation verabschiedete der Rat der EU im September 2015 mit Mehrheit einen Umsiedlungsmechanismus zur Entlastung Griechenlands und Italiens. Auf der Grundlage einer Quotenregelung sollten 160.000 Personen, die Asyl beantragt hatten, in die anderen EU-Mitgliedstaaten umgesiedelt werden. Obwohl dieser Beschluss auf der Grundlage von EU-Recht zustande kam, verweigerten Polen, Ungarn, die Slowakei und die Tschechische Republik die Umsetzung.

Bis heute ist die Frage, wie mit dem anhaltenden Zustrom von Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlingen in die EU umgegangen werden soll, höchst umstritten. In allen EU-Staaten gewannen fremdenfeindliche politische Bewegungen an Einfluss: Im Norden forderten sie die Suspendierung der mit dem Schengen-Vertrag vereinbarten Politik der offenen Grenzen und im Süden verlangten sie die vollständige Rückführung von Zugewanderten. Weitgehende Einigkeit besteht lediglich darüber, dass die Vereinbarungen von Dublin dringend überarbeitet werden müssen, die bisher den EU-Ankunftsstaaten der Flüchtlinge auch die Verantwortung für deren Unterbringung zuweisen. (Zu den Vereinbarungen von Dublin siehe Genaueres im Abschnitt Innen- und Rechtspolitik im Kapitel Interner Link: Ausgewählte Bereiche gemeinschaftlichen Handelns)

Die Rechtsstaatlichkeitskrise

In mehreren EU-Staaten ist die Rechtsstaatlichkeit bedroht, was zu erheblichen Konflikten führt. Obwohl Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) die Achtung der Menschenwürde sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte als gemeinsame Werte der EU und ihrer Mitgliedstaaten festschreibt, haben in mehreren Mitgliedstaaten rechtliche und politische Entwicklungen stattgefunden, die verfassungsrechtliche Grundprinzipien wie die Unabhängigkeit der Justiz, die Gewaltenteilung und die Fairness des Wahlprozesses offen infrage stellen.

Betroffen sind vor allem Staaten, die 2004 und 2007 der EU beigetreten sind. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán äußerte ausdrücklich, dass sein Land beabsichtige, eine autoritäre "illiberale" Demokratie aufzubauen. Auch aus Polen und Rumänien, der Slowakei sowie aus Malta und Zypern wurden Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit gemeldet. Die EU-Institutionen gingen mit einiger Verzögerung gegen die Missachtung der Grundrechte vor. Die Kommission hat im Dezember 2017 ein Verfahren gegen Polen eingeleitet und den Rat aufgefordert, festzustellen, dass dort die eindeutige Gefahr eines schwerwiegenden Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit besteht. Im September 2018 forderte das Europäische Parlament, auch gegen Ungarn entsprechend vorzugehen. In verschiedenen Verfahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zudem beide Staaten daran gehindert, umstrittene Gesetze in Kraft zu setzen. Dabei ging es unter anderem um Verstöße gegen die EU-Grundsätze für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz und gegen die Unabhängigkeit der Wissenschaft. Im Oktober 2020 wurde gegen Malta und Zypern ein Verfahren eingeleitet. Den beiden Inselstaaten wird vorgeworfen ihre Staatsbürgerschaften an Personen, die nicht Bürgerinnern und Bürger der Union sind, verkauft zu haben. Diese erhielten damit automatisch alle Rechte einer Unionsbürgerschaft.

In Vorbereitung des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) 2021–2027 hat die Kommission einen Mechanismus zum Einfrieren von Mitteln der Strukturfonds für EU-Mitgliedstaaten vorgeschlagen, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Wegen der vertraglich vorgesehenen einstimmigen Beschlussfassung über den Mehrjährigen Finanzrahmen im Rat ergeben sich jedoch kaum überwindbare Probleme bei der Umsetzung dieses Vorschlags.

Der Brexit

Vor allem der "Brexit", das Austrittsreferendum im Vereinigten Königreich vom 23. Juni 2016, stürzte die EU aus einer Vielzahl von Gründen in eine tiefe Krise. Erstmals hatte ein Mitgliedstaat von der im Vertrag von Lissabon 2009 neu vereinbarten Austrittsklausel (Art. 50 des EUV) Gebrauch gemacht und damit die bis dahin vorherrschende Zielvorstellung der stets weiter fortschreitenden Integration durchbrochen. Die EU-Institutionen mussten viel Zeit und Kraft darauf verwenden, die Auswirkungen des Brexits zu verhandeln. So mussten die seit 1973 gewachsenen engen Verbindungen zu Großbritannien auf eine neue Grundlage gestellt werden und es galt, die politischen, organisatorischen und finanziellen Folgen zu klären. Unter anderem war die Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament auf die Mitgliedstaaten neu zu verhandeln.

Der am 31. Januar 2020 vollzogene Austritt Großbritanniens aus der EU wurde und wird von EU-Gegnerinnen und -Gegnern häufig als Argument für die nachlassende Strahlkraft der Einigung herangezogen. Mit dem Brexit wurde der Austritt aus der EU zu einer realistischen Option, mit der im Streitfall zumindest gedroht werden kann. Einer der bemerkenswertesten Aspekte des Austrittsprozesses ist es jedoch, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten in den Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich geeint blieben und sich trotz entsprechender Versuche und Angebote der britischen Regierung während der Brexit-Verhandlungen nicht gegeneinander ausspielen ließen. Umfragen und Bürgerreaktionen – wie etwa die Bewegung "Pulse of Europe" – zeigten zudem nach der Brexit-Entscheidung, dass die Unterstützung für den europäischen Einigungsprozess nach wie vor vorhanden ist und in Teilen sogar gestärkt wurde.

Die Herausforderung der Coronavirus-Pandemie

Wenig vorbereitet war die EU auch auf die Krise, die von der Coronavirus-Pandemie ausgelöst wurde. Als sich das Coronavirus SARS-CoV-2 Anfang 2020 in Europa und in der ganzen Welt mit großer Geschwindigkeit ausbreitete, setzten die EU-Mitgliedstaaten zunächst nahezu ausschließlich auf ein nationales Handeln. Italien, Spanien und Frankreich waren am stärksten betroffen und ergriffen besonders drastische Maßnahmen. Ungarn nutzte die Pandemie, um Notstandsgesetze zu verabschieden, die der Regierung ohne parlamentarische Kontrolle nahezu unbeschränkte Macht einräumten.

Schulen, Fabriken und öffentliche Einrichtungen wurden geschlossen, der Personenverkehr wurde lahmgelegt, öffentliche Versammlungen wurden verboten und Krankenhäuser so weit wie möglich für die Bewältigung der Gesundheitskrise ausgestattet. Die Regelungen der EU-Mitgliedstaaten erfolgten unkoordiniert, wobei einige Länder unter Missachtung des EU-Rechts den innergemeinschaftlichen Handel von Medizinprodukten einseitig aussetzten und EU-Grenzkontrollen einführten.

Erst mit einiger Verzögerung setzte auf EU-Ebene eine Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie ein. Die EU-Institutionen mobilisierten erhebliche Ressourcen, um den von der Gesundheitskrise am schlimmsten betroffenen Mitgliedstaaten zu helfen. Die Europäische Investitionsbank (EIB) entwickelte ein spezielles Covid-19-Investitionsprogramm zur Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen, und die Europäische Zentralbank kaufte zur Unterstützung in verstärktem Maß Staatsanleihen auf den Finanzmärkten auf. Die Kommission setzte die Anwendung staatlicher Beihilferegeln vorübergehend aus: Sie überprüfte zeitweilig nicht, ob öffentliche Gelder zur Stützung heimischer Wirtschaftszweige oder einzelner Unternehmen wettbewerbsverzerrend sind. Stattdessen aktivierte sie erhebliche Mittel aus den Struktur- und Investitionsfonds sowie aus dem EU-Solidaritätsfonds. Zudem schlug sie ein mit 100 Milliarden Euro ausgestattetes neues Instrument zur "vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in Ausnahmesituationen" (Temporary Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency, SURE) vor. Dabei handelt es sich um ein Rückversicherungssystem auf Darlehensbasis, das die unter hohem Druck stehenden nationalen Arbeitslosenversicherungssysteme entlasten soll.

Am 18. Mai 2020 brachten Deutschland und Frankreich zudem gemeinsam eine "Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Corona-Krise" in Gang. Diese Initative sah unter anderem die Erarbeitung einer EU-Gesundheitsstrategie vor sowie die Einrichtung eines EU-Fonds zur wirtschaftlichen Erholung auf EU-Ebene für Solidarität und Wachstum, der mit bis zu 500 Milliarden Euro ausgestattet werden sollte. Dieser zeitlich begrenzte Fonds sollte gemäß Planung im Rahmen des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) angesiedelt sein, und der Europäischen Kommission sollte es hierzu gestattet werden, im Namen der EU Finanzmittel an den Märkten aufzunehmen. Voraussetzung müsse jedoch eine rechtliche Grundlage sein, die den EU-Vertrag und den Haushaltsrahmen ebenso uneingeschränkt achte wie die Rechte der nationalen Parlamente. Damit bekäme die EU erstmals die Erlaubnis zur Aufnahme von Krediten auf den Märkten, was allerdings zu einer Verschuldung der EU führen würde. Dieser deutsch-französische Vorschlag wurde zunächst von der Kommission und danach auch vom Europäischen Rat bei seiner Sondersitzung vom 17. bis 21. Juli 2020 aufgegriffen. Das hierzu vereinbarte Aufbauprogramm "Next Generation EU" soll sogar mit 750 Milliarden Euro ausgestattet werden (siehe hierzu Abschnitt Europas Antwort auf die Coronavirus-Pandemie im Kapitel Interner Link: Ausgewählte Bereiche gemeinschaftlichen Handeln).

Dieser gestraffte Überblick über die Vielzahl der Krisen, mit denen die EU konfrontiert war und ist, belegt zum einen die Vielzahl von Problemen, welche die EU bewältigen muss(te) und zugleich auch das Fehlen wesentlicher Handlungsinstru-mente zur effektiven Krisenreaktion. Zum anderen beweist er jedoch auch die Bereitschaft und die Fähigkeit der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten, die Herausforderungen gemeinsam zu meistern und hierzu auch neue Wege zu gehen.

Reaktionen auf die Krisen und Reformvisionen

Vor allem der unerwartete negative Ausgang des Austrittsreferendums in Großbritannien im Juni 2016 wirkte in der EU wie ein Schock. Nach dem Brexit-Referendum ging es den proeuropäischen Kräften zunächst vor allem darum, das Erreichte zu erhalten. Weitreichende Reformen erschienen damals wenig realistisch.

Am 16. September 2016 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer in Bratislava und vereinbarten einen Fahrplan zur Fortführung des Einigungsweges. Auch die Bürgerinnen und Bürger engagierten sich in dieser Situation verstärkt für Europa. Ende 2016 gründete sich in Frankfurt am Main die proeuropäische Bürgerinitiative "Pulse of Europe", deren Ziel es nach eigenem Bekunden war und ist, "dass es auch in Zukunft ein vereintes, demokratisches Europa gibt – ein Europa, in dem die Achtung der Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, freiheitliches Denken und Handeln, Toleranz und Respekt selbstverständliche Grundlagen des Gemeinwesens sind". In 99 Städten und Gemeinden wurden im Vorfeld der Europawahlen 2019 dezentrale Veranstaltungen durchgeführt, in denen – zumeist auf den Marktplätzen – zahlreiche Bürgerinnen und Bürger mit Europafahnen ihrer Unterstützung für den Einigungsprozess Ausdruck verliehen. Personen aus Wissenschaft und Kultur bekundeten in Artikeln und Aufrufen ihre proeuropäische Haltung.

Die Europäische Kommission, deren originäre Aufgabe es ist, Motor der Einigung und Hüterin der Verträge zu sein, bot in dieser Situation zunächst eher wenig Orientierung. Im März 2017 legte ihr damaliger Präsident Jean-Claude Juncker ein Weißbuch zur Zukunft Europas vor, das die Diskussion ohne dezidierte Vorgaben auf der Grundlage von fünf Szenarien anregen wollte. Diese Anregungen wurden auf der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene in unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Während die Reaktionen in den meisten EU-Staaten – so auch in Deutschland – eher zurückhaltend ausfielen, gab es aus Frankreich engagierte proeuropäische Impulse.

Emmanuel Macron hatte sich bereits vor seiner Wahl zum französischen Staatspräsidenten in starkem Maß für die Weiterentwicklung Europas im Sinne einer "Neugründung" eingesetzt. In mehreren Reden, unter anderem am 26. September 2017 vor Studierenden der Universität Sorbonne in Paris, forderte er einen ehrgeizigen Reformprozess unter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in Versammlungen und Konventen.

Macron strebte eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland an, doch blieb die deutsche Regierung über lange Zeit hinweg zurückhaltend. Erst bei einem deutsch-französischen Treffen auf dem brandenburgischen Schloss Meseberg am 19. Juni 2018 gab es eine vorsichtige Annäherung an die Vorstellungen des französischen Präsidenten. Die Abschlusserklärung des Treffens bekräftigte die feste Entschlossenheit beider Länder, die Errungenschaften der Europäischen Union nicht nur zu bewahren, sondern auch ihre beiderseitige Zusammenarbeit innerhalb der EU weiter zu stärken. Mit diesem Treffen wurde auch das Thema der von Präsident Macron vorgeschlagenen europäischen Zukunftskonferenz auf die europäische Tagesordnung gesetzt.

Positive Signale für Europa setzen darüber hinaus die Europawahlen vom Mai 2019, bei denen aus mehreren Gründen ein deutlich erhöhtes Interesse an europäischen Themen vorhanden war. Wie bei den Wahlen fünf Jahre zuvor waren die europäischen Parteienzusammenschlüsse mit Spitzenkandidaten und -kandidatinnen für das Amt des Kommissionspräsidenten / der Kommissionspräsidentin angetreten. Diese Personalisierung hatte eine stärkere Medienresonanz zur Folge. Auch der Brexit trug zu einer stärkeren Mobilisierung bei, denn vielen Betroffenen wurden die Vorteile der europäischen Einigung erst durch den mühsamen Weg des Vereinigten Königreichs aus der EU wirklich bewusst. Entsprechend stieg die Wahlbeteiligung von 42,6 Prozent 2014 auf 50,7 Prozent. In Deutschland gaben 2019 sogar 61,4 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab – gegenüber nur 48,1 Prozent fünf Jahre zuvor.

Nach den Wahlen konnten sich die EU-Institutionen zunächst nicht auf die Besetzung der Spitzenpositionen in der EU einigen. Umstritten war vor allem das Präsidentenamt der Kommission. In der Wählerschaft und im Europäischen Parlament wurde Unmut laut, als letztlich keine/r der von den Parteien bei den Wahlen präsentierten Kandidatinnen bzw. Kandidaten zum Zug kam, sondern die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die der Europäische Rat nun vorschlug. Diese setzte sich am 27. November 2019 in ihrer Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament mit Nachdruck für eine neue Reforminitiative ein und sagte die Unterstützung der Kommission für die von Macron angeregte Konferenz zur Zukunft Europas zu. Auch das Europäische Parlament sprach sich mit großer Mehrheit für eine derartige Reforminitiative aus. In einer Entschließung vom 15. Januar 2020 legte es seinen Standpunkt hierzu dar.

Die Konferenz zur Zukunft Europas bietet die Gelegenheit zu einer Bestandsaufnahme und zur Ausarbeitung von Vorschlägen, um die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern und die Demokratie zu stärken. Die Zukunftskonferenz soll in verschiedenen Foren und Formaten zwei Jahre tagen. Dabei sollen auch die Bürgerinnen und Bürger in einen konstruktiven Dialog einbezogen werden. Die Ergebnisse der Konferenz müssen in nachfolgenden Entscheidungen der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten ihren Niederschlag finden. Um wirkliche Verbesserungen zu erreichen, werden Änderungen der geltenden Verträge unumgänglich sein. Die Durchführung dieser Konferenz wird allerdings durch die Beschränkungen der Coronavirus-Pandemie deutlich erschwert.

Dr. Otto Schmuck, Leiter der Europaabteilung a.D. der Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und bei der Europäischen Union, Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Mitwirkungsrechte von Ländern und Regionen in Europa sowie institutionelle Reformen der EU. Er hat die Koordination des Heftes übernommen.
E-Mail Link: oschmuck@online.de