Postkoloniale Literaturen und Theoriebildung
In Erzählungen, Gedichten und Romanen meldeten sich seit den ausgehenden 1940er-Jahren Autoren und Autorinnen zu Wort, die ihre Erfahrung von Kolonialherrschaft, Dekolonisierung und oft auch Migration nach Europa thematisierten. Die Geschichten, die sie erzählten, kreisten seltener um die harte materielle Ausbeutung und politische Entrechtung während der europäischen Herrschaft, häufiger sprachen sie von den Schwierigkeiten, aus einer Lebenssituation "dazwischen" (in-between) eine eigene Identität zu gewinnen. Kulturelle Unterschiedlichkeit und hybride, aus Verschiedenem neu zusammengesetzte Identitäten – das waren die Leitmotive postkolonialen Erzählens, das sich ansonsten denkbar vielfältig darbot. 1989 bemühten sich britische Literaturwissenschaftler mit dem Sammelband "The Empire writes back" erstmals um eine systematische Bestandsaufnahme, gelangten aber hauptsächlich zu der Einsicht, wie heterogen koloniale Erfahrungen und Erinnerungen waren.
In der postkolonialen Literatur verschmelzen höchst unterschiedliche Schreibtraditionen und Erzählweisen, Themenstellungen und Perspektiven. Auch die Sprache ("Kreolisierung") weist ein größeres Variantenspektrum auf als die jeweilige "traditionelle" Nationalliteratur. Regionale Schwerpunkte fol-gen dabei in einigen Fällen der Geografie der ehemaligen Imperien: In Großbritannien bereichern Autoren und Autorinnen vor allem aus Indien, Afrika und der Karibik die Literatur, in Frankreich sind Einflüsse aus dem Maghreb, der Karibik und Westafrika spürbar. Die Werke von Salman Rushdie, Zadie Smith, Chinua Achebe, V. S. Naipaul, Wole Soyinka, aber auch Kamel Daoud, Boualem Sansal oder Assia Djebar haben längst den Status von Klassikern erlangt.
Was sie literarisch verarbeiten, hat auch Niederschlag in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung gefunden. Die postkoloniale Theorie (postcolonial studies) widmet sich vorrangig der Frage, wie kulturelle Unterschiede konstruiert und in Machtverhältnisse übertragen werden. Als einer der ersten kritisierte Frantz Fanon die Hegemonie einer Weißen Kultur, der sich die Schwarzen nicht widersetzen könnten ("Peau noire, masques blancs"/"Schwarze Haut, weiße Masken", 1952). Um überhaupt sichtbar zu werden, trügen sie "weiße Masken", und weil sie kein authentisches Leben führen könnten, sondern stets die Weiße Kultur als leitend verstünden, prägten sie Minderwertigkeitskomplexe und neurotische Existenzen aus. Daraus könnten sie sich nur durch Gewalt befreien, nur durch Gewalt könnten die Schwarzen zu eigenständigen Subjekten werden, schrieb er 1961 in seinem Klassiker "Die Verdammten dieser Erde".
Edward Saids "Orientalism" und die "Subaltern Studies"
Zum zentralen Bezugspunkt postkolonialer Theoriebildung wurde Edward Saids Orientalism von 1978. Schon zuvor hatte es Kritik daran gegeben, wie Weiße Wissensformen als vermeintlich überlegen konstruiert worden waren, etwa durch Alberto Memmis "Portrait du colonisé, portrait du colonisateur" von 1957. Said legte nun systematisch die wissensbedingten Grundlagen des europäischen Kolonialismus offen. Im Zentrum seiner Studie standen die Orientwissenschaften. An ihnen zeigte Said, wie eine eurozentrische Perspektive jedwede Beschäftigung mit "dem Orient" bestimmte, ja "den Orient" überhaupt erst erschuf. Indem westliche Wissenschaftler "dem Orientalen" feste Eigenschaften zuschrieben, konnte "der Westen" als positives Gegenbild etabliert und bestätigt werden. Aus solchen Zuschreibungen von "Anderssein" ("Othering") hätten, so Said, die Europäer ihre Identität gewonnen.
Saids Schrift gab den Postcolonial Studies einen nachhaltigen und wirkmächtigen Impuls. Seit den 1980er-Jahren erlebten sie einen ungeheuren Aufschwung. Drei Diskursstränge erlangten zentrale Bedeutung: die Subaltern Studies, die Frage nach Hybriditäten und die Bestrebungen nach einer wahrhaft globalen Perspektive.
Bereits Edward Said hatte in "Orientalism" kritisiert, dass es immer nur westliche Sprecher waren, die über "den Anderen" sprachen, "der Andere" selbst jedoch immer stumm bleibe. Diesen Faden griffen die in den 1980er-Jahren aufkommenden Subaltern Studies auf. Um den indischen Historiker Ranajit Guha gruppierten sich Wissenschaftler und suchten der kulturellen Hegemonie der Weißen Kolonialherren die Geschichte der Kolonisierten "von unten" entgegenzusetzen. Übte zunächst der italienische Schriftsteller, Politiker und marxistische Philosoph Antonio Gramsci erheblichen Einfluss auf sie aus, machten sie sich später auch die Theorien des französischen Philosophen Michel Foucault und des französischen Poststrukturalismus zu eigen. Dessen Anhänger vertreten die Ansicht, Sprache müsse nicht unbedingt die objektive Realität beschreiben, sondern könne bewusst oder unbewusst Unterscheidungen und Hierarchien ausdrücken und damit gleichsam herstellen. Auch regional erweiterte sich ihr Fokus: Hatte zunächst Indien im Zentrum des Interesses gestanden, so rückten in den 1990er-Jahren die US-Wissenschaftler John Beverly und Ileana Rodríguez die Erfahrungen Lateinamerikas ins Blickfeld.
Die Subaltern Studies kritisierten nicht nur, dass People of Color lange Zeit an die Ränder der Geschichtsschreibung gedrängt und der vermeintlichen Handlungsmacht Weißer Menschen untergeordnet worden waren. Autorinnen und Autoren wie der aus Jamaika stammende britische Soziologe Stuart Hall oder die indischstämmige Literaturtheoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak nahmen die Formen von Wissensproduktion und Theoriebildung auch ganz grundsätzlich ins Visier. In ihrem einflussreichen Aufsatz "Can the Subaltern speak?" von 1988 leuchtete Spivak den Eurozentrismus auch kritischer Theorien scharf aus. So kritisierte sie, dass beispielsweise auch die westliche feministische Theorie am Ende doch eine westliche Position sei, aus der heraus beansprucht würde, für die "Subalternen" (Spivaks Bezeichnung für die Kolonisierten) zu sprechen – anstatt sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Deren Wissen, so argumentierten Spivak wie auch Hall, werde marginalisiert, weil es nicht als Wissen anerkannt sei.
Das Konzept der Hybridität und Europa als "Provinz"
Der indischstämmige, in den USA lehrende Kulturwissenschaftler Homi K. Bhabha setzte an einer anderen Stelle gängiger Kulturverständnisse an. Der Vorstellung, es gebe nach außen abgeschlossene Kulturen, von denen man nur der einen oder der anderen angehören oder von der einen in die andere wechseln könne, setzte er das Konzept der Hybridität entgegen. Aus der Begegnung mit einer anderen Kultur, wie sie gerade Migrantinnen und Migranten erfuhren, erwachse nicht einfach deren Übernahme, sondern es entstehe etwas ganz Neues "zwischen" den Kulturen. In diesem "dritten Raum" prägten sich "hybride Identitäten" aus, durch sie fänden Migrantinnen und Migranten zu ihrem Status als Subjekte, durch sie ließe sich die hegemoniale Weiße Kultur subversiv wenden.
Gegen den Eurozentrismus wandte sich schließlich auch eine dritte Strömung innerhalb der Postcolonial Studies, die echte globale Perspektiven einforderte. Besonderen Einfluss erlangte hier das Buch "Provincializing Europe" ("Europa als Provinz", 2000) aus der Feder des indischstämmigen, ebenfalls in den USA lehrenden Historikers Dipesh Chakrabarty. Er suchte damit Wege für eine Globalgeschichtsschreibung zu eröffnen, in der Europa als eine "Provinz" unter anderen erscheine und nicht die leitende Erzählperspektive einnehme. In der Tat hat, davon ausgehend, das Feld der Global History seither einen enormen Aufschwung erfahren. Globalgeschichte bedeutet nicht, die ganze Welt zum Gegenstand historischer Untersuchungen zu machen, was schlechterdings gar nicht möglich wäre. Vielmehr geht es darum, danach zu fragen, in welchen globalen Zusammenhängen die spezifischen untersuchten Themen stehen – kurz, Globalgeschichte bezeichnet eine Perspektive und nicht einen Gegenstand historischer Forschung.
Die Postcolonial Studies haben sich im akademischen Leben Europas und der USA fest etabliert. Durch ihre Anregungen hat sich dort der Blick auf die Welt, auf den Kolonialismus wie auch auf die Dekolonisierung und die postkolonialen Beziehungen erheblich verändert. Damit geht die Bedeutung der Postcolonial Studies weit über die Wissenschaft hinaus: Sie beeinflussen Literatur, Film und bildende Kunst, aber auch die Art und Weise, wie die Europäer sich im Alltag verhalten und wahrnehmen.
Populäre Musik und Jugend(protest)-kulturen
Mag man die Postcolonial Studies (irrtümlich) für einen lediglich auf intellektuelle Kreise begrenzten Diskurs halten, so treten postkoloniale Einflüsse in anderen gesellschaftlichen Bereichen sehr viel unmittelbarer zu Tage. Aus den europäischen Jugendkulturen, speziell aus der populären Musik, sind sie nicht mehr wegzudenken. Großbritannien, ohnehin der Vorreiter europäischer Popmusik und neuer Jugendkulturen, bildete hierfür das "Einfallstor".
Hatte in der Zwischenkriegszeit der US-amerikanisch geprägte Jazz die europäische Musikkultur aufgewirbelt, so kamen nach 1945 auch Einflüsse aus der Karibik zur Geltung. Vor allem die Weiße Arbeiterjugend nahm sie auf und integrierte sie in die entstehende Jugendsubkultur. Calypso, dann auch Bluebeat, Ska und mit dem Rocksteady eine Vorform des Reggae wurden in den 1950er- und 1960er-Jahren populär. Da sich die britischen Radiostationen dieser Musik lange Zeit verweigerten, waren die Jugendlichen auf improvisierte Konzerte angewiesen, bei denen die von unabhängigen Labeln produzierten Schallplatten öffentlich gespielt wurden. Auf diese Weise fanden die auf Jamaika verbreiteten "Sound Systems" mit mobilen Abspielgeräten und Lautsprechern Eingang in die britische Jugendkultur. Der improvisierte, performative, raue Charakter dieser Konzerte stand in offensichtlichem Kontrast zur europäischen Musikkultur, was besonders männliche Jugendliche anzog. Regelmäßig kam es am Rande solcher Aufführungen, gerade wenn Wettbewerbe zwischen Sound Systems durchgeführt wurden, zu Krawallen und handgreiflichen Auseinandersetzungen.
Rastafari-Kult und Hybridität von Musikkulturen
Freilich konnte sich diese Musik, wie auch andere Teile einer zunächst subversiven Jugendkultur, der Kommerzialisierung nicht widersetzen. 1964 gelangte mit Millie Smalls "My Boy Lollipop" ein Ska-Titel auf Platz zwei der britischen Charts. Bob Marley wurde als rebellischer Star konsequent vermarktet, sein Reggae-Album "Exodus" stand über 65 Wochen in den britischen Charts.
Aus Jamaika kam mit dem Reggae auch der Rastafari-Kult nach Westeuropa. Das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" widmete 1982 eine zwölfseitige Reportage diesem Thema, in dem das Exzessive, gleichzeitig aber auch Naturverbundene und die freie Sexualität der Rasta-Kultur hervorgehoben wurden. "Für zivilisationsmüde Weiße" bestünde genau darin ihre Attraktivität.
Tatsächlich bot der Rastafarianismus, der (mit Vorläufern) als messianische Religion um den äthiopischen Kaiser Haile Selassie in den 1930er-Jahren seinen Ursprung hatte, eine sinnliche Alternative zu der gerade von vielen Jugendlichen als kalt und technokratisch empfundenen westlich-europäischen Gesellschaft der 1970er- und 1980er-Jahre. Mit sogenannten Dreadlocks und in die Farben Äthiopiens (rot, gelb und grün) gekleidet, suchten sie auch äußerlich eine Gegenwelt zu inszenieren, wobei der Konsum von Marihuana und Reggae-Musik zusätzlich spirituelle Erleuchtung versprach. Hier wurde eine außereuropäische, als Widerstand gegen den Kolonialismus ins Leben gerufene religiös-politische Bewegung von Jugendlichen in Westeuropa angenommen und für deren eigene Zwecke umgewandelt, was zu einer Globalisierung des Bewusstseins junger Menschen in Europa beitrug.
Die westeuropäische Rasta-Bewegung lässt sich ebenso als Beleg für die Hybridität von postkolonialen Kulturen werten wie die aus der Karibik, dann auch aus Afrika nach Europa kommende Musik. Ein bemerkenswertes und erfolgreiches Beispiel für die Vermischung unterschiedlicher Musikkulturen ist die französische Rap-Musik, die sich seit den 1980er-Jahren entwickelte. Die Stadt Marseille rühmt sich auf ihrer Homepage, eine der beiden Hauptstädte des französischen Hip-Hop zu sein, einer Musik, die laut Selbstdarstellung der Stadt "wie eine Blume aus dem Beton der Vorstädte hervorspross".
Marseille, das die postkoloniale Zuwanderung in besonderem Maße erlebte und ab den 1960er-Jahren in eine tiefe ökonomische und soziale Krise geriet, galt aus Sicht der französischen Rechten schon als eine "fremde Stadt", die von "Ausländern besetzt" worden sei, wie der damalige Chef des rechtspopulistischen/rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, 1987 behauptete. Gegen diese Unterstellung wehrte sich die junge Hip-Hop-Szene und setzte ihr ein grundlegend anderes Bild der Stadt entgegen: Die Musiker von IAM, einer bis heute in Frankreich populären Hip-Hop-Band, deren Mitglieder fast alle in Marseille geboren sind, ihre familiären Wurzeln aber auch in Algerien, Italien, dem Senegal sowie auf Madagaskar und La Réunion haben, bezeichnen Marseille als eigenen Planeten ("planète MARS"). Dieser "Planet" sei nicht bedrohlich, wie vom Front National behauptet, sondern bunt, vielfältig und kreativ. Zu dieser kreativen Vielfalt gehört auch die aus Algerien transferierte Popmusik Raï, deren bekanntester Vertreter Cheb Khaled ebenfalls in Marseille lebt. Hier zeigt sich die Stärke der Stadt gerade in der Aneignung und Verschmelzung verschiedener kultureller Formen und in der hybriden Identität, die daraus entstanden ist.
Für die westeuropäischen Jugendkulturen ist die Bedeutung dieser hybriden Musikkulturen nicht zu unterschätzen. Sie boten ihnen Möglichkeiten, ihre Haltung zur Welt und ihren Protest gegen westliche Lebensstile zum Ausdruck zu bringen, sich von den etablierten und bürgerlichen Formen der europäischen Musikkultur abzugrenzen; gerade in der Musik, anders als etwa in der postkolonialen Literatur, eine neue Körperlichkeit zu finden und auszuprobieren. Mit dieser Erweiterung künstlerischer Ausdrucksformen und ästhetischer Produktion eröffneten sich neue Sinnhorizonte.
QuellentextSongs kehren zurück nach Westafrika
Transatlantische Konversationen muss man nicht über den Atlantik hinweg führen, es geht auch von Brooklyn nach Manhattan.
Wovon handelt die transatlantische Konversation der beiden? Davon, dass die Talking Heads, als sie 1980 mit Brian Eno ihr berühmtes Album "Remain In Light" produzierten, stark vom Afrobeat inspiriert waren, genauer: von Fela Kutis "Afrodisiac"-LP aus dem Jahr 1973. Kutis kreiselnde Polyrhythmen waren aus dem Album und seinem Hit, "Once In A Lifetime", deutlich herauszuhören. […] In "Once In A Lifetime" passten diese Polyrhythmen perfekt zu Byrnes paranoid schwindeligem Monolog: Wie bin ich hierher gekommen, und wo bin ich überhaupt?
Angélique Kidjo liebt den Song. Als sie ihn zum ersten Mal hörte, 1983, war sie gerade vor dem marxistisch-leninistischen Regime ihrer Heimat, damals die "Volksrepublik Benin", nach Paris geflohen, wo sie Jazz studierte. "Once In A Lifetime" lief überall, und Kidjo erkannte darin den Afrobeat aus Nigeria wieder. Aber wenn sie mit ihren Kommilitonen darüber sprach, höhnten die: "Afrobeat? Quatsch, das ist Rock. So komplexe Musik gibt es doch bei euch in Afrika gar nicht!" Sprich: Während dieser transatlantischen Konversation – zwischen den Talking Heads und dem Afrobeat aus Westafrika – war schon mal ein sehr wichtiger Punkt unter den Tisch gefallen, nämlich: woher der Einfluss, der kreative Impuls kam. Dabei hatte David Byrne im Presseinfo zum Album den Namen Fela Kuti sogar explizit erwähnt. […]
Angélique Kidjo hat bei einem Konzert im vergangenen Jahr in der New Yorker Carnegie Hall eine packende Coverversion von "Once In A Lifetime" gesungen, Byrne kam dazu als Gast auf die Bühne. Und nun hat sie, mit Segen der Talking Heads und mit Hilfe des Pop-Produzenten Jeff Bhasker, ein neues Album veröffentlicht: "Remain In Light" (Kravenworks Records). Sie covert auf ihm tatsächlich das komplette Talking-Heads-Album, von vorne bis hinten. […]
Sie sagt: "Ich bringe das Album dorthin zurück, wo es herkommt: nach Westafrika." Und das stimmt gleich im doppelten Sinne: Zum einen lässt Kidjo auf ihrer Version des Albums den nigerianischen Schlagzeuger Tony Allen trommeln. Der spielte in den Siebzigern in Fela Kutis Afrobeat-Orchester, was bedeutet: Hier darf der legendäre Drummer, der dem Afrobeat in den Siebzigern seine packende Polyrhythmik besorgte und dem die Talking Heads nacheiferten, selbst den historischen Kreis schließen […].
Am faszinierendsten aber ist, wie Kidjo die Songs teilweise nicht mehr auf Englisch singt, sondern auf, tja: Yoruba? Fon? Eine andere der zahlreichen westafrikanischen Sprachen? […]:Das Vertraute klingt plötzlich in Teilen fremd […]. Es bleibt ein Rätsel – während sich die Musik mit ihrer wunderbar warmen Produktion auf Anhieb erschließt. Der Effekt ist nicht zu unterschätzen: Kidjo gibt "Remain In Light" ein Stück weit die Fremdheit zurück, die das Album 1980 im Original ausstrahlte. Bevor es in den Pop-Kanon aufgenommen und dort zu "weißer Rockmusik" wurde.
Jan Kedves, "Aneignung der Aneignung", in: Süddeutsche Zeitung vom 15. Juni 2018
Alltägliche Aneignungen: Ethnic Food
Mit der postkolonialen Migration kamen andere Lebensstile in die westeuropäischen Gesellschaften. Am sichtbarsten wurden sie in der Alltäglichsten aller Aktivitäten: beim Essen.
Schon früh hatten sich wechselseitige Beeinflussungen zwischen europäischen und nichteuropäischen Küchen entwickelt. Die Europäer brachten Koch- und Essgewohnheiten aus Europa mit in die Kolonien und trafen dort auf andere Nahrungsmittel, Gewürze und Zubereitungsweisen. Im Ergebnis entstand häufig etwas, das heute gerne "fusion cuisine" genannt wird.
Insofern griffe die Behauptung zu kurz, die kulinarischen Einflüsse der postkolonialen Migration nach 1945 seien gänzlich neu oder völlig "fremd" gewesen. Allerdings waren sie bis dahin in Europa nur einer Minderheit aus eigener Anschauung bekannt. Die Mehrheit der Europäer ernährte sich mit traditioneller heimatlicher Kost und war auch in Anbetracht der allgemein schwierigen wirtschaftlichen Situation in der Nachkriegszeit nicht zu kulinarischen Experimenten in der Lage. Vor diesem Hintergrund erschlossen sich mit den Restaurants und Imbissen, die postkoloniale Migranten eröffneten, ungewohnte, interessante, aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft "exotische" Geschmackswelten.
Zu den Migranten aus den ehemaligen Kolonien, die die nationalen Küchen in Westeuropa veränderten, gesellten sich diejenigen, die aus Süd- oder Südosteuropa, aus Italien, Griechenland und dem damaligen Jugoslawien, sowie aus dem türkischen und arabischen Raum nach Westen und Norden kamen.
Bald waren indonesische Restaurants aus den Niederlanden, indische Gaststätten aus Großbritannien oder maghrebinische Restaurants aus Frankreich nicht mehr wegzudenken. Bis heute findet sich die "Reistafel", ein umfangreiches Angebot aus bis zur vierzig unterschiedlichen Gerichten, die zu Reis serviert werden, auf der Speisekarte nahezu jeden indonesischen Restaurants in den Niederlanden. Ursprünglich entstammte die Rijsttafel der Kultur der niederländischen Kolonialherren in Ostindien, die damit ihren Reichtum und den exotischen Überfluss ihrer Kolonie demonstrativ zur Schau stellten. In Indonesien selbst war diese Form des Mahls nach der Unabhängigkeit als typisch niederländisch verrufen und daher kaum mehr üblich.
Nicht nur geschmackliche, sondern auch zeitliche Auf- und Abschwünge sind festzustellen. So war das indische Curry in Großbritannien bereits im 19. Jahrhundert beliebt, ein erstes indisches Restaurant eröffnete in London 1809. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ließ die Begeisterung für indisches Essen spürbar nach, und so waren es in den 1950er- und 1960er-Jahren tatsächlich erst wieder die Zugewanderten aus Südasien, die diese alte britische Vorliebe wiederbelebten. Schon 1960 zählte man in Großbritannien 500 indische Restaurants, zehn Jahre später waren es mehr als doppelt so viele.
Ethnic food brach den kulinarischen Nationalismus auf, der sich in den westeuropäischen Gesellschaften in der Moderne herausgebildet hatte. An die Stelle nationaler Essgewohnheiten und Kochstile trat ein buntes und vielfältiges, häufig in den Stilen gemischtes Angebot von Essen aus aller Welt.
Hybride Identitäten postkolonialer Gemeinschaften
Weit mehr als für die Europäer veränderten sich durch die postkoloniale Migration Lebensstil und Identität der Zuwanderer selbst. Dabei warf die sprachliche Anpassung zunächst die wenigsten Probleme auf. Die meisten Zuwanderer beherrschten die Sprache der vormaligen Kolonialherren, nicht zuletzt deshalb, weil diese vielfach Spracherwerb als Beleg für Assimilationsfähigkeit und -bereitschaft gewertet und einheimischen Sprachen im offiziellen Leben so gut wie keinen Raum gelassen hatten.
Anders sah es mit religiösen Zugehörigkeiten aus. Nur sehr zögerlich finden sich die westeuropäischen Gesellschaften bis heute bereit, etwa muslimischen Festen und Riten Raum zu geben. Dies gilt auch für andere religiöse Gruppen wie Buddhisten oder Hindus. Und für diejenigen unter den Zuwanderern, die christlichen Glaubens waren, mochte sich die Situation nur auf den ersten Blick einfacher darstellen. Denn sie mussten feststellen, dass die Glaubenspraxen in Europa sich von denen ihrer Heimatländer in Afrika oder Asien unterschieden.
Bei ihrer Suche nach Wohnraum und Beschäftigung sahen sich die zugewanderten Menschen ein ums andere Mal Diskriminierungen ausgesetzt, und bisweilen vererbten sich Ungleichheiten über mehrere Generationen hinweg. Noch heute haben die Nachkommen derjenigen, die aus dem Maghreb nach Frankreich einwanderten, unterdurchschnittliche Bildungsabschlüsse, während die Erwerbslosenrate unter ihnen über dem französischen Durchschnitt liegt.
Ob darin eine Ursache für den wachsenden radikalen Islamismus gesehen werden kann, ist nicht eindeutig geklärt. In Frankreich tragen darüber seit einigen Jahren die Sozialwissenschaftler Olivier Roy und Gilles Kepel eine Kontroverse aus: So sieht Kepel generell in einer Hinwendung zum islamischen Fundamentalismus die Ursache für Terror, während Roy darin eher eine Folge "islamisierten Radikalismus" erkennt. Aus seiner Sicht hat dieser Radikalismus soziale Ursachen und trägt wesentlich Merkmale eines Generationenkonflikts, religiöse Begründungen legten sich gewissermaßen erst später darüber.
Tatsächlich hat es sich immer wieder als schwierig erwiesen, in einer Weißen Mehrheitsgesellschaft zu eigener Identität zu finden. Wie spannungsreich, aber auch wie produktiv und aufregend dieser Prozess sein kann, zeigen prominente Beispiele von Hybridisierungen. Der Notting Hill Carnival in London, heute eines der touristischen Großereignisse in der britischen Hauptstadt, hat seine Wurzeln in den Kämpfen der afrokaribischen Community um Anerkennung. Die "race riots" der späten 1950er-Jahre gaben Zugewanderten Anlass, ihre eigene Kultur offen zu thematisieren und in die britische Gesellschaft einzubringen. Das ging nicht ohne Konflikte vonstatten, sind doch die karibischen Herkunftskulturen sehr viel heterogener als der Carnival heute zeigt.
Bemerkenswerterweise prägte sich erst in Großbritannien eine verbindende afrokaribische Identität zwischen Menschen aus Jamaika, Trinidad und Tobago und den weiteren Karibikinseln aus. Hatten der Notting Hill Carnival wie auch sein niederländisch-indonesisches Pendant, der seit 1959 stattfindende Pasar Malan Besar (heute: Tong Tong Festival) ihre Wurzeln in einer (öffentlichen) Bekundung kulturellen Eigensinns und des Stolzes auf die eigene (Herkunfts-)Kultur, so erfuhr der Notting Hill Carnival in den 1980ern und 1990ern einen massiven Kommerzialisierungsschub. Heute ist er eines – wenngleich das größte – von multikulturellen Festivals, wie es seit 1996 auch in Berlin als "Karneval der Kulturen" stattfindet.
Der allgemeinen Assimilierungsrhetorik setzten diese Festivals die Erzählung multikultureller Gesellschaften entgegen; sie verweisen darauf, wie vielfältig die kulturellen Wurzeln der heutigen westeuropäischen Gesellschaften sind und machen sie auf spektakuläre Weise sichtbar.
Erinnerungskulturen im Wandel
Die westeuropäischen Gesellschaften betonten lange Zeit eher die positiven Seiten ihrer Kolonialherrschaft. Prominent argumentiert beispielsweise der britische Historiker Niall Ferguson, dass gerade das britische Empire weltweiten Handel gefördert, in seinem Bereich korruptionsfreie Institutionen etabliert und westliche Standards von guter Regierung verbreitet habe. Andere Historiker wie Wolfgang Reinhard verweisen darauf, dass die Europäer medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritt und moderne Infrastrukturen, ein modernes Bildungswesen und soziale Versorgungssysteme nach Asien und Afrika gebracht hätten.
Kolonialmuseen erfinden sich neu
Diese Bilanz wird in den aktuellen Debatten stark in Frage gestellt. Vor allem in Museen und Ausstellungen werden Perspektivwechsel und bislang Ausgeblendetes sichtbar. In Paris sind die historischen Abschichtungen der europäischen Begegnung mit "dem Anderen" besonders gut erkennbar. Dort wurde im Palais de la Porte Dorée, das 1931 anlässlich der Kolonialausstellung gebaut wurde, 2007 ein Nationales Einwanderermuseum, die Cité nationale (seit 2012: Musée) de l’histoire de l’immigration, eröffnet. Am Gebäude sind die Repräsentationen französischer Kolonialherrschaft überall noch sichtbar, in Wandmalereien, die von der "Zivilisierungsmission" künden, in Statuen von exotischen Tieren oder in Wandverzierungen, die tropische Pflanzen darstellen. Die Ausstellung selbst erzählt indes eine ganz andere Geschichte: die von Einwanderung, von unterschiedlichen Wegen nach und Schicksalen in Frankreich, und wie sich die französische Gesellschaft durch die Einwanderung gewandelt hat. Auch in Großbritannien ist das Thema postkolonialer Zuwanderung öffentlich präsent, wenngleich hier die Initiativen zur Erinnerung häufig eher auf lokaler Ebene anzutreffen sind.
Daneben haben sich die großen Kolonialmuseen in den vergangenen Jahren neu erfunden. Das Amsterdamer Tropenmuseum, 1910 aus dem vier Jahrzehnte zuvor in Haarlem gegründeten Museum hervorgegangen, hat sich schon vor einiger Zeit von einer exotisierenden Zurschaustellung ethnologischer Objekte und Artefakte abgewandt und stattdessen begonnen, einen kritischen Blick auf postkoloniale Probleme zu richten. Das Königliche Museum für Zentralafrika im belgischen Tervuren wird aktuell renoviert, zur Wiedereröffnung am 9. Dezember 2018 wird eine neu konzipierte Ausstellung angekündigt. Die Sklaverei als Teil der Kolonialgeschichte thematisiert das International Slavery Museum in Liverpool, das freilich auch den britischen Anteil an ihrer Abschaffung hervorhebt.
Neben diesen offiziellen Präsentationen sind vielfältige lokale Initiativen aktiv, die der postkolonialen Erinnerung vor Ort öffentlichen Raum verschaffen. Sie machen sichtbar, wie koloniale Zuschreibungen im Alltag fortdauern, etwa in Kampagnen für die Umbenennung von Straßen. So hat das Afrikanische Viertel in Berlin eine kritische Geschichtswerkstatt auf den Plan gerufen, die durch eine Gedenkstele und informative Spaziergänge auf die koloniale Vergangenheit aufmerksam macht.
Forderungen nach (Rückgabe und) Wiedergutmachung
Wie stark der so lange selbstverständliche Umgang mit dem kolonialen Erbe in Europa inzwischen hinterfragt wird, belegen die Kämpfe um Rückgabe/(Rück-)Erstattung von Objekten und Kunstwerken aus wissenschaftlichen Sammlungen und Museen wie auch die umstrittenen Forderungen der kolonialen Nachfolgestaaten nach Wiedergutmachung. Die Nachfahren der Herero und Nama strengten schon 2001 eine Klage vor einem New Yorker Gericht an, um die deutsche Bundesregierung und deutsche Firmen zur Zahlung von Wiedergutmachungsleistungen in Höhe von vier Milliarden D-Mark (zwei Mrd. Euro) zu bewegen. Nachdem dieses Verfahren scheiterte, ist seit Beginn des Jahres 2017 wieder eine Sammelklage von Vertretern der Herero und Nama in New York anhängig, deren Ausgang noch ungewiss ist. Die deutsche Regierung versucht in ihren Verhandlungen mit Namibia derzeit, eine offizielle Entschuldigung an einen Reparationsverzicht zu koppeln. Auch die tansanische Regierung erhob die Forderung nach Wiedergutmachung für die Niederschlagung des Maji Maji-Aufstands 1905 bis 1907.
Nahezu alle ehemaligen westeuropäischen Kolonialmächte sehen sich heute vergleichbaren Forderungen gegenüber. Diese überlagern aktuell die Frage nach möglichen positiven (Entwicklungs-)Effekten europäischer Herrschaft in Afrika und Asien. Dagegen verweisen afrikanische und asiatische Regierungen oder Vertretungen einzelner ethnischer Gruppen auf die Erfahrungen extremer Gewalt bis hin zu Genoziden und wirtschaftlicher Ausplünderung, von Zwangsarbeit und Vernichtung von Kulturen. Zu einer gemeinsamen Anerkennung kolonialer Schuld durch die westeuropäischen Gesellschaften ist es bislang noch nicht gekommen, obwohl argumentiert werden könnte, dass der Kolonialismus ein europäisches Projekt war und entsprechend aufgearbeitet werden sollte.
Doch es geht nicht allein um finanzielle Kompensationen, sondern auch um die Rückgabe von Objekten und Kunstwerken. Auf diesem Feld kam es in den vergangenen Jahren wiederholt zu Aktionen. So gab etwa die Berliner Charité 2011 zwanzig Schädel von Herero und Nama aus ihrer anatomischen Sammlung an Namibia zurück; weitere Restitutionen von Schädeln und Gebeinen folgten in späteren Jahren. Gerade die anatomischen und medizinhistorischen Sammlungen der europäischen Universitäten und Kliniken beherbergen bis heute sterbliche Überreste von Menschen aus den Kolonien, die zu Zwecken der medizinischen und anthropologischen Forschung während der Kolonialzeit nach Europa gebracht worden waren.
QuellentextSchwieriges Kolonialerbe – die Schädelsammlungen deutscher Museen
Felix von Luschan glaubte vermutlich nicht, dass er etwas Unrechtes tat. Nachdem der Anthropologe 1885 Direktorialassistent am Museum für Völkerkunde in Berlin wurde, startete er eine gigantische Sammelaktion.
Heute gibt es noch rund 5500 Schädel und Gebeine aus der Luschan-Sammlung. Über Umwege sind sie in den Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gekommen – "ein schwieriges Erbe", wie Präsident Hermann Parzinger unumwunden zugibt.
Denn Respekt vor der Totenruhe kannten die Sammler nicht: Es habe eine regelrechte "Sammelwut" geherrscht, sagt der Archäologe Bernhard Heeb. "Es kam vor, dass Schädel aus Grabstätten entnommen wurden, teilweise bei Nacht und Nebel. Manchmal waren menschliche Überreste aber auch unter freiem Himmel zu finden. Diese einfach so mitzunehmen ist aus heutiger Sicht natürlich auch ein Unding" […].
In Einzelfällen bekamen die Sammler Schädel wohl auch geschenkt. Auch Missionare und Verwaltungsbeamte schickten Schädel an deutsche Forschungseinrichtungen, oft sogar ohne konkreten Auftrag. Kolonialsoldaten schickten die Köpfe ermordeter Einheimischer ins damalige Deutsche Reich.
Nun liegen noch immer tausende Schädel und Gebeine in deutschen Archiven. Für diese lange kein Thema – für die Nachfahren in Afrika aber umso mehr. "Viele Menschen, die ich kenne, finden es schrecklich, dass sie ihre Vorfahren noch nicht würdevoll begraben konnten", sagt Mnyaka Sururu Mboro. Mit seinem Verein "Berlin Postkolonial" recherchiert der gebürtige Tansanier seit Jahren zum Thema.
Deutsche Museen ignorierten lange die dunkle Vergangenheit, die in ihren Archiven schlummerte. […]. Doch seit einigen Jahren wächst der Druck. Zwischen 2011 und 2014 gab zunächst die Berliner Charité mehrere Schädel und Gebeine an Namibia zurück, die aus dem Völkermord an den Herero und Nama stammen. Auch andere Sammlungen haben bereits menschliche Überreste zurückgegeben.
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz zog vergangenes Jahr nach. Sie startete ein Projekt, um die Herkunft und die sogenannten "Erwerbsumstände" von rund 1000 Schädeln zu ermitteln. Ein polnischer Forscher hatte sie im Auftrag Luschans gesammelt. Der Großteil stammt vermutlich aus dem heutigen Ruanda. "Wir haben aber keine Primärdokumentationen wie Inventar- oder Erwerbungsbücher mehr, wir haben augenblicklich nur die Beschriftungen auf den Schädeln selber", sagt Archäologe Heeb, der das Projekt verantwortet. Denn viele Ursprungsdokumente sind längst verloren gegangen.
Für Heeb und sein Team heißt das: Archivarbeit. Listen und Reiseberichte sollen Aufschluss über die Herkunft der Schädel geben. Im nächsten Schritt will er vor Ort forschen, gemeinsam mit afrikanischen Kollegen. Auch die Geschichte der übrigen Schädel soll irgendwann erforscht werden.
"Wir forschen, um zurückzugeben" sagt Stiftungspräsident Parzinger. Allerdings: Es gibt kein Gesetz, das die Stiftung oder andere Institutionen dazu zwingt. Nur Richtlinien des Deutschen Museumsverbands. Sie empfehlen Besitztümer zurückzugeben, die unrechtmäßig erworben wurden. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz versichert, dass es ihr um einen würdevollen Umgang mit den Gebeinen geht. Nach Abschluss der Forschungen will sie mit den Regierungen der Herkunftsländer das weitere Vorgehen inklusive Rückgaben abstimmen. "Wenn man die menschlichen Überreste in den Herkunftsländern wieder bestatten will, dann ist das für uns in Ordnung. Aber ich finde, sie sollten nicht wieder in einem feuchten Keller landen, aus dem wir sie gerade herausgeholt haben", sagt Parzinger.
Aktivisten wie der gebürtige Tansanier Mboro bleiben aber skeptisch. "Man sagt immer, man müsse erst prüfen, ob die Schädel illegal nach Deutschland gekommen sind. Bei diesem Ansatz kann man immer Gründe finden, die Schädel hierzubehalten." Aus seiner Sicht sei es kein Problem, die Herkunft der Schädel zu ermitteln. Man müsse dafür die Menschen vor Ort einbinden. "Es gibt viele Menschen in Tansania, die wissen, wo ein Mensch geköpft und sein Schädel nach Deutschland gebracht wurde."
Manche Gräber seien sogar entsprechend markiert worden, sagt der tansanische Historiker Reginald Kirey. "Die Familie von Chief Songea hat das Grab bewusst in zwei Hälften gestaltet – eine Hälfte für den Körper und eine Hälfte für den Kopf, die noch leer ist." Tansanias Regierung prüft nach Medienberichten, den Kopf des berühmten traditionellen Herrschers zurückzufordern. Kolonialsoldaten hatten ihn 1906 getötet. […]
Das Projekt der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist zunächst auf zwei Jahre angelegt. Die Schädel-Debatte könnte weitaus länger dauern – und bald nicht nur deutsche Museen betreffen. "Solche Schädelsammlungen gibt es nicht nur in Berlin, sondern auch in London und Paris. Auch dort wird es irgendwann Thema sein", sagt Parzinger.
Daniel Pelz, "Streit um Schädel: Dunkles Erbe in deutschen Museen", Deutsche Welle vom 6. April 2016,
Externer Link: www.dw.com/de/streit-um-schaedel-dunkles-kolonialerbe-in-deutschen-museen
Mag sich diese Art der Restitution mittlerweile eingespielt haben, so ist die Rückgabe ethnologischer Objekte und Kunstwerke sowie archäologischer Fundstücke nach wie vor hoch umstritten. Prominentestes Beispiel ist der Anspruch Ägyptens auf Rückführung der Büste der Nofretete aus dem Berliner Pergamonmuseum, und auch die großen Museen in Paris und London müssen sich mit vergleichbaren Forderungen auseinandersetzen.
Gegen Rückgaben wird argumentiert, dass in vielen Museen postkolonialer Staaten eine adäquate und sichere Unterbringung von Kunstwerken und anderen Objekten nicht gewährleistet sei; dass bei vielen Kulturgütern gar nicht sicher sei, ob sie widerrechtlich außer Landes gebracht worden seien; und dass die Kulturgüter selbst auch zum kulturellen Erbe Europas gehörten. Ein viel diskutiertes Konzept ist das des "geteilten Erbes" (shared heritage). Es besagt, dass das aus den Kolonien stammende Erbe allen, also gerade auch den Angehörigen vormals kolonisierter Gesellschaften, zugänglich sein und von westlichen Museen lediglich verwahrt werden solle. Gehören würde es der ganzen Welt.
Rechtliche Aufarbeitung und Diskussion von Tabuthemen
Bislang ist es nicht gelungen, international eine eindeutige Rechtsgrundlage für Restitutionen zu schaffen, die bei einem Verstoß auch Sanktionen vorsähe. Zwar haben die Vereinten Nationen bzw. die UNESCO eine Reihe von Erklärungen und Konventionen verabschiedet, die jedoch längst nicht von allen maßgeblichen Staaten ratifiziert wurden. Hinzu kommt, dass in Ländern wie Frankreich alle kulturellen Güter in französischen Museen und Sammlungen zum nationalen Kulturerbe zählen und das Eigentum an ihnen nicht aufgegeben werden darf. Präsident Emmanuel Macron hat allerdings bei einem Besuch in Burkina Faso im November 2017 einen grundlegenden Politikwandel seines Landes im Sinne umfassender Rückgaben angekündigt. Sollte dies umgesetzt werden, hätte das sicher auch gewichtige Folgen für die Debatten in anderen europäischen Ländern.
QuellentextEngagement für die Rückgabe kolonialer Güter …
Bei einem Besuch in Burkina Faso im November 2017 sprach sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron für einen neuen Umgang mit dem seit Kolonialzeiten in Frankreich befindlichen Kulturerbe afrikanischer Länder aus. Er beauftragte die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und den Schriftsteller und Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr, einen Plan für Restitutionen zu erarbeiten.
SZ: Wie gehen Sie vor?
Felwine Sarr: Zunächst zeichnen wir eine Karte von der Herkunft der Objekte, um uns darüber klar zu werden, was und wie viel aus welchem Land stammt. Wir müssen darüber nachdenken, wie man die Objekte an ihren Herkunftsorten resozialisiert. Welches Museum eignet sich? Und welche Vorstellungen von Museen existieren dort? Unsere Mission schließt auch die Frage ein, was man restituiert und wie, und was "Restitution" überhaupt bedeutet, für Europa und für die afrikanischen Länder. Wir müssen berücksichtigen, welch lange Zeit seit dem Verlust der Dinge vergangen ist. Und wir müssen danach fragen, welche Bedeutung sie in der Gegenwart entwickeln können.
SZ: Welches Verhältnis zu den afrikanischen Institutionen streben Sie an?
Bénédicte Savoy: Wir suchen den Kontakt zu ihnen und sie den zu uns. Aber wir werden uns in deren Belange nicht einmischen. Die Experten in Afrika sollen selber entscheiden, wie sie mit ihren Sammlungen umgehen wollen. Wir entwerfen nur Ideen.
Sarr: Ganz wichtig ist es, kulturellen Imperialismus zu vermeiden. Die Restitutionen dürfen nicht an Bedingungen geknüpft sein. Wir wollen nicht vorgehen wie die Weltbank: Wir geben euch das zurück, aber nur unter der und der Bedingung. Vor allem wollen wir diese sehr komplexen Fragen mit Fantasie angehen.
SZ: Macron spricht in dem Brief an Sie von Restitutionen, aber auch von "Zirkulation", von "Teilen". Schränkt er sein Versprechen der Rückgabe damit wieder ein?
Savoy: Er legt sich nicht fest auf eine Definition. Denn es muss ein Format gefunden werden, bei dem alle Gewinner sind. Die, die zurückgeben, sollen das Gefühl haben, etwas kulturell Wichtiges und ethisch Richtiges zu tun, auch zum Wohle der Werke, die nicht leiden dürfen. Die andere Seite soll ebenfalls glücklich sein und sich nicht überfordert fühlen. Dass zwischen Europa und Afrika jetzt überhaupt über diese Dinge gesprochen wird, dass Felwine und ich eine Arbeitsgruppe zusammengestellt haben mit Afrikanern aus Afrika und aus der Diaspora und mit Parisern, das hat es noch nie gegeben. Schon das ist ein riesiger Schritt. Auch das ist eine Form der Zirkulation: Statt verkrampft den sogenannten Kulturbesitz zu hüten, wird er gemeinsames Gesprächsthema.
Sarr: Der Begriff Restitution ist mir sehr wichtig. Ja, das Wort kann verschiedene Bedeutungen haben, aber der Präsident erkennt, dass diese Objekte nicht Frankreich gehören, dass Frankreich sie anderen Kulturen weggenommen hat, und er verspricht, sie zurückzugeben. Man muss zwei Schritte unterscheiden. Der erste ist das Restituieren mit all den Fragen, die es aufwirft. Der zweite Schritt ist die Idee, dass ein Objekt in der Welt zirkulieren kann, dass es als "Gemeingut" allen gehört. Ich will die erste Etappe nicht überspringen. Die Idee der Restitution steht nicht im Gegensatz zur Idee der Zirkulation. Wir dürfen auf den historischen und symbolischen Wert des Zurückgebens nicht verzichten.
SZ: Was heißt es für Ihre Arbeit, dass die Objekte so lange außerhalb Afrikas waren?
Savoy: Es ist anders als etwa in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: 1945 hat die Sowjetunion ganze Museen von Dresden und Berlin nach Moskau gebracht, zehn Jahre später kamen große Teile davon wieder zurück. Jeder wusste, was fehlte. In Afrika wissen die Menschen heute nicht mehr, was sie vor hundert Jahren verloren haben. Auch das ist eines unserer Ziele: In Afrika das Bewusstsein dafür zu schaffen, was in Paris liegt. Wie wollen sie eine Vision für ihr Kulturerbe haben, wenn sie gar nicht wissen, was ihr Kulturerbe ist? Wie wollen sie Kuratoren ausbilden, wenn es in ihrem Land keine Sammlungen gibt?
SZ: Was weiß man in Afrika über die entwendeten Objekte und wie dringlich ist das Bedürfnis, sie zurückzubekommen?
Sarr: Das ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Viel hängt von der Intensität des Verlusts ab. In Benin ist der Wunsch sehr stark, die Objekte zurückzuerhalten, weil man dort sehr viel verloren hat und unter sehr tragischen Umständen. Ähnlich ist es in Mali, Nigeria, Kamerun oder der Elfenbeinküste. Es gibt auch große Unterschiede zwischen den Eliten und den einfachen Leuten. Generell schwindet in Afrika die Kenntnis von diesen Dingen aus dem kollektiven Gedächtnis. Wir wollen dieses Gedächtnis auffrischen.
Savoy: Viele afrikanische Objekte in unseren Museen wurden bei militärischen Aktionen geraubt. Wie 1868 in Magdala in Äthiopien, 1892 in Dahomey im heutigen Benin oder 1898 in Benin City, heute Nigeria. Diese "Strafexpeditionen" markierten oft das Ende hundertjähriger Königreiche, sie stellten eine riesige Demütigung dar. Oft erinnern sich die Leute daran, aber wissen nicht, dass viele kostbare Gegenstände nach Europa verschickt wurden. Den Leuten einen direkten materiellen Kontakt zu diesen Ereignissen zu ermöglichen, ist auch eine Form der Restitution, eine Restitution von Geschichte. […]
SZ: Sie bringen diesen Ländern etwas, das in eine Vergangenheit weist, die sie vielleicht lieber hinter sich lassen. Vielleicht ist manchen Menschen in Afrika die Zukunft wichtiger.
Sarr: Die Beziehung von Afrika und Europa hat ökonomische, politische, historische, symbolische Dimensionen. Wollen wir die geopolitischen oder ökonomischen Beziehungen verändern, müssen die symbolischen Beziehungen verändert und neu erfunden werden. Deshalb ist es für mich wichtig, über Geschichte zu sprechen und über diese Objekte. Ich glaube nicht, dass die Afrikaner von Frankreich Jobs oder mehr ökonomische Hilfe erwarten. Was sie fordern, ist Respekt und ein Gleichgewicht im Umgang miteinander.
Savoy: Restitutionen sind keine Selbstgeißelung. Ich würde sie als Form ehrlicher Dankbarkeit verstehen: Wir Europäer haben 100 oder 120 Jahre lang von diesen Werken profitiert, unsere Picassos, unsere Kirchners, unsere Noldes, unsere Man Rays haben sich daran entzündet, die Surrealisten. Aus diesen Kunstwerken ist etwas entstanden, das uns Europäer ausmacht. Jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem die Leute in den Herkunftsregionen sich an ihnen entzünden dürfen, die Künstler, die Schulkinder, die Jugend des Kontinents. Jetzt sollen diese Werke ihrer Kreativität zugutekommen. Es geht um Symbolik, aber es geht auch um Kreativität. Kreativität ist immer Zukunft. […]
Bénédicte Savoy, 45, lehrt als Kunsthistorikerin an der TU Berlin und am Collège de France. Zuletzt erschien von ihr "Die Provenienz der Kultur".
Felwine Sarr, 45, ist Schriftsteller und Professor für Ökonomie an der Universität Gaston Berger in Saint-Louis, Senegal. Sein 2016 erschienenes Buch "Afrotopia" ist eines der meistdiskutieren neuen Werke zum Verhältnis von Afrika und dem Westen.
"Jetzt gestalte mal". Interview von Jörg Häntzschel mit Bénédicte Savoy und Felwine Sarr, in: Süddeutsche Zeitung vom 10. April 2018
Quellentext… und was bei der Rückgabe von Kulturgütern zu beachten ist
[…] Schon 1973 verabschiedete die UN-Vollversammlung eine Resolution, in der sie sich für die sofortige Rückführung der unter der Kolonialherrschaft geraubten Kunstschätze aussprach.
Für die Repatriierung geraubter Kunstgegenstände haben sich relativ früh auch deutsche Ethnologen eingesetzt. Einer von ihnen war der vormalige Direktor des Bremer Überseemuseums Herbert Ganslmayr. 1984 veröffentlichte er zusammen mit dem Fernsehjournalisten Gert von Paczensky ein erstes kritisches Resümee. Es trug den Titel "Nofretete will nach Hause". Das Berliner Ägyptische Museum hat ihr diesen Wunsch bekanntlich bis heute nicht erfüllt. Auch die Zahl der aus den Völkerkundemuseen des deutschsprachigen Raums zurückgeführten Objekte ist gering. […]
Der größte Posten ist eine Sammlung von etwa dreißig Kultobjekten aus Kongo, die in den frühen achtziger Jahren vom "Haus der Völker und Kulturen" in St. Augustin zurückgegeben wurden. Der Leiter des von der Steyler Mission getragenen Museums konnte sich zu einem solchen Schritt leichter entschließen als seine Kollegen aus staatlichen und städtischen Sammlungen, die dazu zahlreiche bürokratische Hindernisse hätten überwinden müssen – von einer genauen Überprüfung der komplizierten juristischen Sachlage bis hin zur Genehmigung der vorgesetzten Behörden.
Museumskuratoren […] stehen […] Restitutionen keineswegs so reserviert gegenüber, wie oft behauptet wird. Selbstverständlich kommen sie nicht der Forderung jeder Privatperson nach, die in Berufung auf weit zurückliegende Abstammungslinien den Anspruch auf ein besonders wertvolles Stück erhebt. Anders sieht es aber bei Sprechern indigener Gruppen aus, die eindeutig legitimiert sind. […]
Die [geringe] Zahl von restituierten Kulturgütern ergibt sich […] schlicht aus der mangelnden Nachfrage. […] [Im Zeitraum zwischen 2013 und 2016] lag dem Auswärtigen Amt in Berlin nur eine einzige offizielle Anfrage vor. Sie stammte von der namibischen Regierung und bezog sich auf die im Stuttgarter Lindenmuseum aufbewahrte Familienbibel Hendrik Witboois, der den Aufstand der Nama gegen die deutsche Kolonialmacht angeführt hatte. Die grundsätzliche Bereitschaft des Museums zur Rückgabe scheiterte bislang jedoch an den Besitzansprüchen, die neben der Regierung Namibias auch die Nama und Witboois Nachfahren vorbringen. […]
Die aus alten deutschen Kolonialgebieten stammenden Museumsobjekte werden zu Zeugen einer historischen Bringschuld. […] Auf die Worte wird man daher bald Taten folgen lassen müssen. Dass auch die "Nehmerländer" sie als Zeichen guten Willens ansehen werden, nimmt man dabei als selbstverständlich an.
Allerdings dürfte das gar nicht so einfach sein. Denn man muss die Partner erst einmal finden. […] Das hängt mit der ethnischen Vielfältigkeit der aus den ehemaligen Kolonien hervorgegangenen Staaten zusammen. Ihr Kulturerbe ist alles andere als einheitlich. So dürften die muslimisch geprägten Eliten aus dem Norden Nigerias, die über Jahrzehnte die Staatsoberhäupter des Landes gestellt haben, nur geringes Interesse daran haben, die Götterstatuetten, Ahnenfiguren und Geistermasken der nach islamischer Doktrin als "heidnisch" geltenden Völker aus dem Süden des Landes zurückzufordern. Anders verhält es sich mit den von der britischen Strafexpedition gegen Benin 1897 geraubten Bronzen. Bei ihnen handelt es sich um Zeugnisse einer bis ins zwölfte Jahrhundert zurückreichenden höfischen Kunsttradition. Sie stehen daher nicht nur für das Nigeria unter der Kolonialherrschaft angetane Unrecht, sondern auch für die Größe seiner kulturellen Vergangenheit.
Doch gibt es auch in den unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonialstaaten immer noch an den Rand gedrängte und rechtlose ethnische Minderheiten. […] Häufig sind es solche Lokalkulturen, die in relativer Abgeschiedenheit ihren jeweils eigenen Kunststil entwickelten, von denen die Glanzstücke ethnologischer Museen stammen. Würden sie selbst Rückgabeforderungen vortragen und so auf ihre prekäre Lage aufmerksam machen, wäre dies durchaus nicht im Sinne der derzeit Regierenden. […]
Karl-Heinz Kohl ist emeritierter Professor für Ethnologie an der Universität Frankfurt am Main. Er leitete zwischen 2013 und 2016 ein Forschungsprojekt zum Thema "Repatriierungsforderungen im postkolonialen Diskurs: Die Restitutionspolitik ethnologischer Museen seit 1970". Karl-Heinz Kohl, "So schnell restituieren die Preußen nicht", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Mai 2018, aktualisiert online 26. Mai 2018
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In Deutschland spitzen sich solche Debatten derzeit am Berliner Humboldt-Forum zu, wo dem Anspruch der Planer, globale kulturelle Zusammenhänge zu zeigen, die Kritik an der kolonialen Herkunft vieler Objekte entgegengehalten wird.
Wie lässt sich Erinnerung formen? In Frankreich wurde mehrfach versucht, Erinnerung gesetzlich zu regeln. Schon 2001 erklärte die Pariser Nationalversammlung die Ermordung der Armenier im Ersten Weltkrieg zu einem Genozid. Im selben Jahr stufte sie auf Initiative der aus Französisch-Guyana stammenden Abgeordneten Christine Taubira die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Mit dem Gesetz "Loi du 23 février 2005" schließlich gab das Parlament einige Leitlinien vor, wie der Kolonialismus im Geschichtsunterricht in den Schulen zu behandeln sei.
Öffentlich umstritten war insbesondere die Maßgabe, die "positiven Errungenschaften" französischer Herrschaft, namentlich in Nordafrika, an den Schulen zu vermitteln. Nach öffentlichen Protesten, unter anderem auch durch namhafte französische Historikerinnen und Historiker, die sich in ihrer Petition "Liberté pour l’histoire" gegen offizielle Vorgaben für die Deutung von Geschichte und damit gegen alle Erinnerungsgesetze wandten, wurde die entsprechende Klausel dieses Gesetzes 2006 außer Kraft gesetzt.
Die Nachfolgegesellschaften der europäischen Kolonialstaaten tun sich schwer mit der kolonialen Vergangenheit, erst allmählich lösen sich Tabus auf. So sprach man in Frankreich offiziell bis 1999 nicht von einem Krieg in Algerien, sondern von "Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Nordafrika". In den Niederlanden, wo lange von "Polizeiaktionen" gesprochen worden war, bekannte die Regierung sich offiziell erst 2001 zu Massakern während des Krieges in Indonesien. Ein Gericht sprach den wenigen Überlebenden einer dieser Aktionen eine fünfstellige Entschädigungssumme zu.
Um die Jahrtausendwende kam die exzessive Gewalt während der Kolonialherrschaft und der Dekolonisation verstärkt zur Sprache. Die französische Öffentlichkeit diskutierte über die weite Verbreitung der Folter in Indochina und Algerien, nachdem die Zeitung Le Monde 2000 vom Schicksal eines algerischen Folteropfers berichtet hatte: Louisette Ighilahriz war als FLN-Mitglied während des Algerienkrieges von 1957 bis 1962 inhaftiert und nach eigenen Angaben vergewaltigt und gefoltert worden. Auf den Zeitungsbericht folgte dann ein öffentlicher Rechtfertigungsversuch des ehemaligen französischen Generals Paul Aussaresses, wonach die schwierige Situation in Algerien ihm und der Armee keine andere Wahl gelassen habe als systematisch zu foltern.
QuellentextMaurice Audin – ein Opfer des Algerienkrieges
[…] Präsident Emmanuel Macron hat […] die Witwe des Mathematikers Maurice Audin besucht und um "Pardon" gebeten, dass ihr Mann "im Namen der Französischen Republik von Soldaten gefoltert und umgebracht oder zu Tode gefoltert" wurde.
Der Kommunist und Mathematiker Maurice Audin, der an der Universität in Algier lehrte und die algerischen Unabhängigkeitskämpfer des "Front National de Libération" (FNL) unterstützte, war am 11. Juni 1957 von französischen Soldaten verhaftet worden. Es ist bis heute unklar, unter welchen Umständen er – im Alter von nur 25 Jahren – starb. Der als "Foltergeneral" bekannte, 2013 verstorbene damalige Geheimdienstkommandant in Algier, Paul Aussaresses, hatte behauptet, dass Audin von einem seiner Männer "auf Befehl" getötet worden sei. Der Fernsehsender France 3 zeigte Anfang 2014 in einem Dokumentarfilm ein Schreiben, in dem der General die Tötung Audins anwies. Der Historiker Pierre Vidal-Naquet hatte bereits 1958 in dem Buch "L’affaire Audin" an der offiziellen Version gezweifelt, wonach Audin bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen sei. Vidal-Naquet zitierte Augenzeugen, die Audin im berüchtigten Gefängnis von El-Biar gesehen hatten, in dem die Verdächtigen systematisch gefoltert wurden. Seine These war es schon damals, dass Audin besonders brutale Folter nicht überlebt hatte.
Audins Witwe hat nie die Hoffnung aufgegeben, die genauen Todesumstände zu erfahren. […] Im Juli 1957 hatte Josette Audin zum ersten Mal Anzeige gegen unbekannt erstattet. 2007 flehte sie in einem Brief Präsident Nicolas Sarkozy an, das Verbrechen endlich aufzuklären. Sie erhielt nie eine Antwort. "Mein Kampf ist nicht zu Ende", sagte sie jetzt der Zeitung "Le Monde". Auch wenn die Anerkennung des Verbrechens durch Präsident Macron ein großer Schritt sei, hoffe sie, dass die noch lebenden Zeugen "jetzt endlich reden".
Der Unabhängigkeitskampf Algeriens bleibt bis heute ein emotional diskutiertes Kapitel der französischen Geschichte. […] Es gibt noch immer etliche Franzosen, die sich Kritik am damaligen Vorgehen der Armee verbitten. Die aus Algerien vertriebenen Siedler und ihre Nachfahren haben den Eindruck, dass ihrem Schicksal weniger Bedeutung beigemessen wird als dem Unrecht, das den Unterstützern der Unabhängigkeit widerfahren ist. Auch die Harkis, die algerischstämmigen Hilfssoldaten und ihre Familien, ringen um Rehabilitierung. Sie waren größtenteils ihrem Schicksal überlassen worden. […] Die Armeeführung wiederum fürchtet, dass das Eingeständnis staatlich organisierter Folter dem allgemeinen Ansehen der Streitkräfte schaden könnte. […]
Macron hatte bereits im Wahlkampf versucht, die Debatte über die algerische Kolonialvergangenheit anzustoßen. Im Februar 2017 bezeichnete er bei einem Besuch in Algerien die Kolonisierung als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Das führte zu großer Entrüstung unter den Nostalgikern, die Frankreichs "zivilisatorische Leistung" in der Kolonialzeit gewürdigt sehen wollen. Bei seinem Antrittsbesuch als Präsident in Algerien im vergangenen Dezember [2017] äußerte sich Macron deshalb vorsichtiger. Er sprach von "Verbrechen gegen die Menschheit" und betonte: "Wir müssen den Blick auf die Zukunft richten". Erst das Eingeständnis, dass es multiple Erinnerungen an die Kolonialzeit und den Unabhängigkeitskrieg gebe, werde dazu führen, dass "die Vergangenheit vergehen kann", so Macron. Die für Veteranen zuständige Staatssekretärin soll prüfen, wie auch die Harkis besser für das widerfahrene Unrecht entschädigt werden können.
Michaela Wiegel, "Macrons historische Geste", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. September 2018 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
In Großbritannien erschütterten 2005 die fast zeitgleich erscheinenden Studien der US-amerikanischen Historikerin Caroline Elkins und des britischen Historikers David Anderson über die Brutalität des britischen Vorgehens gegen die Mau Mau in Kenia das britische Selbstbild von der glatten und wohlorganisierten Dekolonisation. Gerade in jenen europäischen Ländern, die ihre Identität entweder aus ihrem Status als Opfer nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft (wie Frankreich, die Niederlande und Belgien), aus ihrem Kampf gegen die Diktaturen im Zweiten Weltkrieg (wie Großbritannien und wiederum Frankreich) oder aus ihrer als friedfertig bewerteten Dekolonisation abgeleitet hatten, wurden nun lange geltende historische Gewissheiten in Frage gestellt.