"Zivilisierungsmissionen"
Als der französische Politiker Jules Ferry im Juli 1885 vor der Nationalversammlung in Paris von einem Recht Europas auf kolonialen Besitz sprach, begründete er diesen Anspruch mit der "Pflicht der überlegenen Rassen, die minderwertigen [Rassen] zu zivilisieren". Die Formel von der "Zivilisierungsmission", die auf Ferry zurückgeht, stellte das Leitmotiv des europäischen Hochimperialismus dar. In der Gewissheit, anderen "Rassen" überlegen zu sein, diente sie dazu, die Ausdehnung europäischer Macht ideologisch zu rechtfertigen, und zugleich spiegelte sich darin die europäische Selbstsicht wider: Indem sie permanent ihre Fortschrittlichkeit und Überlegenheit beschworen, konnten die Menschen in (West-)Europa ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit ausprägen, das sowohl die osteuropäischen und die europäischen Gesellschaften an der südlichen und südöstlichen Peripherie des Kontinents ausschloss als auch afrikanische und asiatische Gesellschaften; ja in ihrer "Zivilisiertheit" lag geradezu der Kern einer (west-)europäischen Identität.
Die "Zivilisierungsmission" richtete sich jedoch nicht allein nach außen, sondern auch nach innen. Denn die Befürworter dieser Idee vertraten die Auffassung, auch die europäischen Gesellschaften selbst dürften nicht auf dem erreichten Stand stehenbleiben, sondern müssten sich weiterentwickeln, wollten sie nicht der Dekadenz anheimfallen.
Es ist kein Zufall, dass mit Jules Ferry der zentrale Bildungs- und Schulpolitiker der III. Französischen Republik die "Zivilisierungsmission" ausrief. Ferry hatte sich im Inneren die Verdrängung der Jesuiten aus den Schulen, den Kampf gegen den Einfluss der katholischen Kirche und einen geradezu militanten Laizismus auf die Fahnen geschrieben. Schulbildung galt in Frankreich als Schlüssel zur Integration in die Nation, in den Kolonien sollte sie den Weg zur Assimilierung ebnen. Die Durchsetzung der französischen Sprache wurde in den Kolonien zur gleichen Zeit forciert wie in Frankreich selbst, wo die regionalen Dialekte zurückgedrängt wurden, um "Franzosen" zu kreieren. Die Vorstellungen darüber, wie ein "Franzose" zu sein hatte, prägten sich also auch in einem Beziehungsgeflecht zwischen Frankreich und den Kolonien aus.
Ähnliche Konstellationen zeigen sich nach Erkenntnissen des Historikers Sebastian Conrad im Hinblick darauf, wie ein verbindliches Arbeitsethos durchgesetzt wurde. Die stereotype Darstellung der Menschen in den Kolonien als ungebildet, faul und arbeitsunwillig ermöglichte im Kontrast ein positives Selbstbild der Europäer: Sie konnten sich als bildungsbeflissen, arbeitsam und fleißig wahrnehmen oder wenigstens einen eben solchen Anspruch an sich selbst stellen. In diesem Gedankengebäude war es nur konsequent, auch soziale Randgruppen und Unterschichten in den eigenen Gesellschaften als "Wilde" oder "Barbaren" zu bezeichnen.
Koloniale Wissensräume und die Erfindung des "Homo Europaeus"
Lange Zeit gingen die westlichen Gesellschaften ganz selbstverständlich davon aus, dass die modernen Wissenschaften im Westen entstanden seien und sich von dort schließlich in die ganze Welt verbreitet hätten. Unter dem Einfluss postkolonialer Kritik ist diese Sicht relativiert und ergänzt worden. Denn sie wies überzeugend nach, dass die Wissensproduktion auf vielfältigen und dynamischen Austausch- und Wechselbeziehungen zwischen europäischen und außereuropäischen Räumen beruhte.
Naturwissenschaftliche "Testräume"
Tatsächlich haben viele der modernen Wissenschaften, wie sie sich in den westlichen Universitäten und Akademien etablierten, von den Verbindungen in koloniale Räume profitiert, und dies nicht nur, weil dort Forschung betrieben werden konnte. Um überhaupt das "Eigene" wissenschaftlich erkennen und verstehen zu können, bedurfte es eines (kolonialen) "Anderen". Die moderne Anthropologie hat in dieser Differenz ihren Ursprung. Ihre "Referenz- und Kontrollgröße" – so die Historiker Veronika Lipphardt und Kiran Klaus Patel – war der "Homo Europaeus", der von dem schwedischen Naturforscher Carl Linné im 18. Jahrhundert erstmals als Unterart des "Homo sapiens" definiert worden war.
Ableitungen aus Schädel- und Knochenfunden, aber auch systematische Vermessungen von Schädeln und anderen Körperteilen sollten der Annahme, es existierten von Natur aus unterschiedliche "Rassen", eine wissenschaftliche Basis geben. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb der Unterschied zwischen "europiden", "negriden" und "mongoliden" "Rassen" als Leitkategorie in der Anthropologie bestehen, mochten auch die rassistisch motivierten Zuschreibungen von Minder- oder Höherwertigkeit nach 1945 in den Hintergrund treten. Dass die genetischen Unterschiede der Menschen zu groß sind, um sie einigen wenigen Typen oder gar "Rassen" zuzuweisen, ist eine Einsicht, die sich erst im späten 20. Jahrhundert durchsetzte.
Quellentext(Starke) Wurzeln des Rassismus
Die Rassenkonzepte der Aufklärungszeit verbanden sich im 19. Jahrhundert mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gewannen dadurch enorm an gesellschaftlicher und politischer Wirkmächtigkeit. War es im 18. Jahrhundert umstritten gewesen, wie die menschlichen "Rassen" im Rahmen des biblischen Schöpfungsmythos entstanden sein könnten, so lieferte Charles Darwins Evolutionslehre nun scheinbar eine naturgeschichtliche Erklärung.
Rasch wurden diese naturgeschichtlichen Mechanismen in Gestalt des sogenannten Sozialdarwinismus auch auf die menschliche Gesellschaft übertragen: Gemäß dieser Vorstellung bestand auch zwischen Individuen, "Völkern" und "Rassen" ein Wettkampf ums Überleben, den nur die Stärksten bestanden. Dieser Überlebenskampf wurde als Motor jeglichen Fortschritts betrachtet. […]
Der Kampf ums Überleben betraf nach Ansicht vieler Sozialdarwinisten auch "Völker" und "Rassen". Der deutsche Geograph Alfred Kirchhoff formulierte 1884 in seinem Referat "Über den Darwinismus in der Völkerentwicklung" die These, im "internationalen Daseinskampf" siege stets das "physisch und sittlich tüchtigere Volk". Der Sozialdarwinismus konnte damit auch Imperialismus und Rassismus bis hin zum Völkermord legitimieren.
Der Sozialdarwinismus war eingebettet in ein biologistisches Weltbild, das mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften zunehmend dominant wurde. Physische, intellektuelle und moralische Eigenschaften einzelner Menschen oder Menschengruppen erschienen als von der Natur gegeben. Auch gesellschaftliche Ungleichheiten sowie Abweichungen von der "Norm" wurden auf physische Veranlagungen zurückgeführt, soziale und kulturelle Faktoren dagegen weitgehend ausgeblendet. […]
Vor diesem Hintergrund erschien es vielen Wissenschaftlern als zentral, das empirische physisch-anthropologische Wissen zu erweitern. Immer neue Maßgrößen zur Beschreibung der "Rassen" wurden entwickelt. Einen wichtigen Zweig bildete die Schädelvermessung, die aus Form und Größe menschlicher Schädel Erkenntnisse über die Intelligenz und andere Eigenschaften der "Rassen" gewinnen wollte. Großangelegte Vermessungsaktionen ergaben allerdings zwiespältige Resultate. Die "reinen Rassen" rückten in immer weitere Ferne, je ausgeklügelter die Methoden waren, die zu ihrer Erfassung entwickelt wurden. Dies regte allerdings kaum einen Forscher dazu an, das Rassenkonzept grundsätzlich zu überdenken.
[…] [N]icht nur die Naturwissenschaften trugen zur Entwicklung und Verbreitung rassistischer Denkmuster bei, sondern auch die sich herausbildende Linguistik. Spielten die Philologien einzelner Sprachen seit dem späten 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle bei der Formierung von Nationalbewegungen, so konstruierte die vergleichende Sprachwissenschaft durch die Analyse von Sprachverwandtschaften "Kollektive", die über den Nationen stünden. Nicht nur die Sprachen, sondern auch deren Sprecher schienen miteinander verwandt zu sein. Großgruppen wie die "Germanen", "Slawen" und "Romanen" wurden sprachwissenschaftlich begründet und bald als unterschiedliche "Rassen" mit jeweils spezifischen intellektuellen und charakterlichen Eigenschaften betrachtet.
[…] Um 1800 wurde die Verwandtschaft der altindischen Sprache Sanskrit mit zahlreichen europäischen Sprachen entdeckt. Daraus entwickelte sich rasch ein Indien-Mythos. Der Begriff "Arier" wurde von einer Selbstbezeichnung der Sanskrit-Sprecher zum Synonym für alle "Indogermanen". Indien galt nun teilweise als älteste Hochkultur. Sprache, Mythologie und Kultur der ganzen Alten Welt waren nach dieser Vorstellung aus einer Eroberungs- und Kolonisationsbewegung der "Arier" von Indien aus hervorgegangen. Die neuen sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse wurden mit den anthropologischen Rasseneinteilungen in Verbindung gesetzt. […]
Schließlich spielte der biologische Rassismus, vermischt mit sozialdarwinistischen Denkmustern und der Ideologie der Zivilisierungsmission, auch eine zentrale Rolle als Begründungselement der kolonialimperialistischen Ausbreitung der europäischen Mächte über weite Teile der Welt. Die globale Herrschaft der "weißen Rasse" erschien in diesem Licht als Triebkraft des Fortschritts der gesamten Menschheit.
Prof. Dr. Christian Koller, geb. 1971, lehrt Geschichte an der Universität zu Zürich, seit 2014 ist er zudem Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs. Zu seinen Schwerpunkten zählen Nationalismus und Rassismus.
Christian Koller, "Identität aus den Genen", in: DAMALS 6-2018, S. 22 ff.
In den Kolonien wurden Deutungsmuster der europäischen Wissenschaften gewonnen, bestätigt und legitimiert. Dies gilt nicht allein für die Anthropologie, sondern für viele weitere Fachrichtungen. Auch die Kolonialmedizin ging lange Zeit von unterschiedlichen "Rassen" aus und konstruierte "den Europäer" als Gegenbild zum "Afrikaner", wie dies in der Schlafkrankheitsforschung deutlich wurde. Die medizinische Forschung, die vor dem Ersten Weltkrieg aufblühte, bietet zum einen reichlich Anschauung für europäische Kooperation in kolonialen Räumen: Zusammenarbeit gab es selbst in historischen Situationen, in denen sich die Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten zugespitzt hatte und auf dem europäischen Kontinent selbst alles bestimmte, wie vor 1914 oder in der Zwischenkriegszeit. Zum anderen wurden Kolonien als Testräume genutzt, um neues Wissen zu gewinnen, wie Beispiele der Medizinforschung zeigen. Nachdem Medikamentenversuche in den europäischen Gesellschaften – vorzugsweise an sozialen Randgruppen oder Insassen von Haftanstalten – gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert wurden, testeten Kolonialmediziner ihre Medikamente an Menschen in den Kolonien.
Wesentliche Einsichten zur Behandlung von Cholera, Malaria oder Diphterie wurden in den Kolonien gewonnen, und die Entwicklung moderner Chemotherapien zur Behandlung von Krebserkrankungen wurde dadurch ebenfalls gefördert. Mediziner wie Robert Koch und Paul Ehrlich oder Alphonse Laveran profitierten alle von den neu geschaffenen Wissensräumen in den Kolonien. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Wissenschaftler zu den nachdrücklichsten Befürwortern des Kolonialismus zählten. Besonders Geografen profilierten sich hier. Aber auch Ethnologen und Sprachforscher, Naturkundler und Archäologen waren an den Kolonialgebieten interessiert.
Museen und Forschungsinstitute
Die Museen und wissenschaftlichen Sammlungen Europas – Stätten der Wissensproduktion, der Bildung, aber auch der Sozialisation – füllten sich mit Objekten und Kunstwerken aus den Kolonien. In ihnen und besonders in den ethnologischen Sammlungen blieb der koloniale Blick am längsten bestimmend. Ein spektakuläres Beispiel dafür ist der Fall der Khoikhoi-Frau Sara Baartman, die 1810 aus der Kapkolonie zunächst nach England, dann nach Frankreich verbracht wurde. Aufgrund bestimmter anatomischer Charakteristika wurde sie als Sensation auf Jahrmärkten, aber auch vor Wissenschaftlern zur Schau gestellt. Nach ihrem Tod gelangten die sterblichen Überreste der zeitgenössisch so genannten "Hottentotten-Venus" ins Pariser Naturkundemuseum (später: Musée de l’homme), wo ihr Skelett und ein bemalter Gipsabdruck ihres Körpers bis in die 1970er-Jahre hinein ausgestellt waren. Erst nach langen Kontroversen wurden ihre sterblichen Überreste 2002 sukzessive nach Südafrika zurückgeführt und dort bestattet. Heute sind auch andere wissenschaftliche Sammlungen und Museen mit Forderungen nach Rückgabe konfrontiert.
Nicht nur europäische Museen, sondern auch große Forschungsinstitute, die in Teilen heute noch bedeutende Zentren weltkundlichen Wissens sind, haben vom Wissenserwerb in den Kolonien profitiert. Das 1908 gegründete Hamburgische Kolonialinstitut bildete den Kern der späteren Universität der Hansestadt. Das schon 1852 etablierte Koninklijk Instituut voor Taal-, Land- en Volkenkunde (KITLV, dt.: Königliches Institut für Sprachen-, Land- und Völkerkunde) in Leiden ist bis heute die wichtigste niederländische Forschungsstätte für Asien und die Karibik, desgleichen die 1916 in London gegründete School of Oriental and African Studies (SOAS) für Großbritannien – um nur einige Beispiele zu nennen. Allerdings haben das KITLV und die SOAS seither ihre Tätigkeitsschwerpunkte verlagert: von den Kolonialstudien und der Ausbildung von Kolonialbeamten zu den Regionalwissenschaften oder "Area Studies", die sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe US-amerikanischer Stiftungen (vor allem der Rockefeller-Stiftung, Externer Link: www.rockefellerfoundation.org) etabliert und durchgesetzt haben. Ausgebildet werden heute an diesen Institutionen gerade auch künftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter internationaler Organisationen.
Geschlechterordnungen
In den Kolonien wurden männliche Helden geboren. Die Figuren des Entdeckers und Eroberers, des Siedlers, des Händlers und des Plantagenbesitzers, des Großwildjägers und des Kolonialkriegers, aber auch des Wissenschaftlers und des Tropenmediziners – sie alle waren exklusiv männlich besetzt. Und in der Tat war die Gesellschaft der europäischen Kolonisierer in Übersee bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts eine männlich geprägte Gesellschaft. Europäische Frauen hatten zu ihr kaum Zutritt und traten allenfalls in Diensten christlicher Missionen in Erscheinung. Doch bald wurden in allen europäischen Ländern mit Kolonialbesitz größere Anstrengungen unternommen, um den Anteil Weißer Frauen in den Kolonien zu erhöhen. Denn ihnen wurde eine zivilisierende, kultivierende Wirkung und ein Effekt "moralischer Hebung" zugeschrieben. Das Ideal einer heterosexuellen, exklusiv Weißen Zweierbeziehung bzw. einer Familie mit Eltern und Kindern wurde auf diese Weise in die Kolonien transferiert und umgekehrt von dort aus in den westeuropäischen Gesellschaften stabilisiert.
Koloniales Vereinswesen und die Stärkung von Geschlechterrollen
So blieben Frauen zwar vorrangig in der dienenden, sich den Interessen von Mann und Familie unterordnenden Rolle; doch gleichzeitig bot der Kolonialismus ihnen auch zunehmend die Möglichkeit, sich in der Öffentlichkeit politisch zu betätigen. In Deutschland, wo Vereinsgründungen von Frauen in weiten Teilen des Landes erst nach 1908 möglich waren und das Frauenstimmrecht erst 1918 eingeführt wurde, bestand bereits seit 1907 der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft. Er suchte Frauen zur Auswanderung in die deutschen Kolonien, vor allem nach Deutsch-Südwestafrika, zu motivieren, damit sie dort "das Deutschtum" verbreiteten.
Nicht weibliche Emanzipation war das Ziel, sondern Unterstützung des kolonialen Projekts. Dadurch wurden auch die Rassengrenzen in den Kolonien schärfer gezogen. Zur gleichen Zeit wie die Präsenz Weißer Frauen gefördert wurde, wurden in den deutschen Kolonien "Mischehen" gesetzlich verboten. Nicht nur in Deutschland spielten Frauen auf diese Weise in "rassenhygienisch" fundierten Ordnungsvorstellungen eine maßgebliche Rolle: Engagement für das koloniale Projekt zeigte auch die 1901 gegründete britische "Victoria League", die den Zusammenhalt des Empire auf ihre Fahnen schrieb und sich auch in den Kolonien etablierte. Die British Women’s Emigration Association förderte vor dem Ersten Weltkrieg nachdrücklich die Auswanderung "anständiger" Frauen ins Empire. Das reiche Genre der Kolonialliteratur, aber auch die vor allem in der Zwischenkriegszeit zunehmenden Kolonialfilme transportierten und popularisierten dieses Bild.
QuellentextLady mit der Peitsche
[…]. Mit zwanzig, noch daheim in England, hat […] [Flora Annie Steel] William Steel geheiratet, einen Zivilbeamten des Empire in Indien; gleich nach der Hochzeit sind sie 1868 abgereist. Was sie in Indien erwartet, weiß Steel nicht wirklich, obwohl zwei ihrer Brüder dort leben.
Steel ist eine der Frauen, die man in Indien "Memsahib" nennt: Gattinnen britischer Beamter oder Militärs, die im Raj, im von Großbritannien beherrschten Indien leben. Sie sind eine Minderheit in einer Minderheit: Nur 90.000 in Großbritannien geborene Einwohner zählt der indische Zensus 1881, davon lediglich 12.610 Frauen – bei einer Gesamtbevölkerung von fast 254 Millionen Menschen.
[…] Während es im Heimatland einen Frauenüberschuss gab, hatte das britische Indien wegen der zahlreichen einsamen Soldaten und Beamten den Ruf eines perfekten Heiratsmarktes.
Doch trotz dieser Aussichten ist es eine Reise in eine völlig andere Welt. Um 1880 liegt die Sterblichkeit unter den Frauen und Kindern der in Indien stationierten britischen Soldaten dreimal so hoch wie im Heimatland. Gewöhnungsbedürftig sind auch andere Bedingungen des kolonialen Lebens: Unter den wenigen Ausländern kennt fast jeder jeden – der Indian Civil Service ist eine kleine Elite von nur 1500 britischen Beamten. Auch Privates spricht sich rasend schnell herum. Hinzu kommt das unstete Dasein der Familien, die kaum irgendwo Wurzeln schlagen können. Flora Steel und ihr Mann ziehen in 16 Jahren 15-mal um, in den insgesamt 22 Jahren, die sie in Indien verbringen, bleiben sie nur an drei Orten länger als zwölf Monate.
Wo immer möglich, versuchen die Briten so zu leben wie daheim. Man trifft sich auf Bällen oder bei Abendeinladungen, organisiert Theateraufführungen oder geht auf die Jagd. Doch auf den Außenposten, wo die meisten Beamten des Civil Service arbeiten, fehlt jede Geselligkeit. "Im Umkreis von etwa 60 Meilen war ich ganz allein, abgesehen von meinem Ehemann. In Kasur gab es im wortwörtlichen Sinne niemanden, außer den Einheimischen", schreibt Flora Steel.
Die Beamten machen ihren Job, zu ihren Aufgaben gehört es, ethnische und religiöse Konflikte zu schlichten, Banditentum zu verhindern und Steuern einzutreiben. Ihre Frauen haben meist nichts als den Haushalt – und auch der ist wenig zeitintensiv, weil die einheimischen Angestellten das meiste erledigen. Viele widmen sich wohltätigem Engagement […]. […]
Nicht einmal mit der Kindererziehung haben die Frauen viel zu tun: Indische Kindermädchen, "Ayas", übernehmen das meiste, ab etwa zehn Jahren besucht der Nachwuchs gewöhnlich englische Internate. Die Leere ihres Alltags treibt viele Frauen in Alkohol und Depressionen.
Indien jedoch bietet auch Freiheiten. Mehr als Geschlechterrollen und Etikette zählt hier Pragmatismus. Die Frauen haben viele Möglichkeiten, sie müssen sie nur nutzen […]. […]
Eva-Maria Schnurr, "Lady mit der Peitsche", in: SPIEGEL GESCHICHTE 1/2016, S. 72 f.
Jüngere Generationen übten sich in diese Rollen ein, wenn sie sich den Boy Scouts bzw. den Girl Guides anschlossen. Nach dem Vorbild jugendlicher Späher und Helfer britischer Truppen während des zweiten Burenkriegs der Briten gegen die mehrheitlich aus den Niederlanden stammenden Siedler Südafrikas (1899–1902) gründete der ehemalige britische Kolonialoffizier Robert Baden-Powell 1907 die Boy Scouts, eine Pfadfindergruppe, die bald in allen westeuropäischen Ländern Nachahmung fand.
Mit dem Handbuch Scouting for Boys, das 1908 erstmals erschien, definierte Baden-Powell männliche Tugenden wie Selbstdisziplin und Opferbereitschaft, Tapferkeit und Pflichtbewusstsein. Sie sollten im praktischen Pfadfinderleben, im Einsatz wie am Lagerfeuer handlungsleitend sein. So wurden die Boy Scouts zu einer Schule der Männlichkeit, die sich generell in das Panorama der Jugendbewegungen um die Jahrhundertwende einfügte, aber eben auch den Geist des Kolonialismus in sich trug. Baden-Powells Buch zählt mit rund 150 Millionen Exemplaren im Übrigen zu den Werken mit der höchsten Auflage, die jemals gedruckt wurden. Dass die Pfadfinder männlich geprägt waren, belegt auch die parallele Gründung der Girl Guides durch Baden-Powell 1909. Durch sie sollten Mädchen zu kameradschaftlichen Ehefrauen und guten, gesundheitsbewussten Müttern erzogen werden, nicht jedoch die Grenzen ihrer Geschlechterrolle überschreiten.
Sexuelle Stereotype
Die Konstruktion der Weißen, heterosexuellen und monogamen (Ehe-)Frau, die in Mütterlichkeit ihre Hauptaufgabe sah, wurde durch die Entwürfe nichteuropäischer Weiblichkeit in den Kolonien erheblich fundiert, stabilisiert und reproduziert. Die "Hottentotten-Venus" dagegen repräsentierte nicht nur das "rassisch" "Andere", sondern ihr wurde auch eine ganz andere Sexualität zugeschrieben. An dieser vermeintlich anderen Sexualität gerade afrikanischer Frauen entzündeten sich in den europäischen Gesellschaften erotische Phantasien. Die Vorstellung der sexuellen Verfügbarkeit indigener Frauen war einerseits auch ein Motiv kolonialer Expansion, andererseits ein Angriffsfeld für Moralkampagnen und politisches Engagement gerade Weißer bürgerlicher Frauen.
Als massive Bedrohung der europäischen, Weißen Geschlechterordnung hingegen wurden Schwarze Männer wahrgenommen, die als sexuell potent, leidenschaftlich und besonders an Weißen Frauen interessiert galten. Solche Stereotype waren weit verbreitet und wurden schließlich auch auf die Schwarzen Kolonialsoldaten projiziert, die in französischen Diensten im Krieg und als Besatzungssoldaten im Rheinland der Zwischenkriegszeit eingesetzt waren und in Deutschland zu Opfern einer regelrechten Hasskampagne wurden.
Menschenschauen und Kolonialausstellungen
In Berlin, im Bezirk Wedding, gibt es bis heute das Afrikanische Viertel. Ortsnamen wie Togostraße oder Petersallee verweisen auf die kolonialen Bezüge, die bei der Namensgebung um 1900 hergestellt wurden. Tatsächlich aber zeugen sie von einem gescheiterten Projekt: Denn eigentlich hatte Carl Hagenbeck, ein Hamburger Tierhändler, Ausrichter von Völkerschauen und Gründer des Hamburger Tierparks, in diesem Viertel einen Zoo inklusive eines Areals für Völkerschauen geplant.
Zwar vereitelte der Kriegsausbruch 1914 das Vorhaben, doch deutet die städtische Lage und die Größe des vorgesehenen Areals auf die enorme Popularität von Tier- und Menschenschauen hin, die diese nicht allein im Deutschen Reich genossen. So galt ein nachgebildetes "Negerdorf", in dem mehr als 400 Männer, Frauen und Kinder aus Frankreichs afrikanischen Kolonien zur Schau gestellt wurden, als eine der Hauptattraktionen der Pariser Weltausstellung von 1889. Vor dem Ersten Weltkrieg dürfte es in Westeuropa Hunderte solcher Spektakel gegeben haben und auch nach 1918 erfreuten sie sich großer Beliebtheit. Allein für Deutschland wird die Zahl der Völkerschauen von 1870 bis in die 1930er-Jahre auf rund 400 geschätzt.
Quellentext"Völkerschauen"
[…] Das späte 19. Jahrhundert hatte für Forscher, Entdecker und Bürger viel an Exotik zu bieten: 5000 Jahre alte ägyptische Mumienschädel, die auf eigenen "Mumien-Auswickel-Partys" als Sensation ausgerollt wurden; Karl May, der mit seinen Büchern nicht nur Kinder mit Abenteuern aus dem Orient-Zyklus fesselte; Orientmalerei, zoologische und botanische Gärten, Opern wie "Aida" von Verdi – all das nährte Phantasie, Schwärmerei und Wissensdurst.
Dass sich die vermeintlich antiken Mumien mitunter als alte Holzstücke in dreckigen Tüchern entpuppten, schmälerte die Begeisterung für Exotik damals genauso wenig wie die Tatsache, dass Karl May Sachsen erstmalig Richtung Orient verließ, als seine berühmten Werke schon über zehn Jahre alt waren. Ähnlich verhielt es sich mit den Völkerschauen: Nicht jeder angekündigte "Indianer" war auch wirklich einer, und nicht jede "garantiert originale" afrikanische Prinzessin war von königlichem Blut, auch wenn die Impresarios dies dem Publikum glaubhaft machen wollten. […]
Als Spielort dienten häufig zoologische Gärten: Tiergärten zogen an sich viele Zuschauer an, boten ausreichend Präsentationsfläche, entsprechende Logistik und Werbemittel. [Carl] Hagenbeck [einer der erfolgreichsten Aussteller von Völkerschauen] trieb seine Inszenierungen bis zur Perfektion, installierte sogar Basare, errichtete Tempel, stellte Zelte auf und sorgte immer für eine optisch ausgesprochen attraktive Szenerie, die dem Betrachter Originalität und Authentizität versprach.
[…] [V]ieles war vertraglich geregelt für die Monate, die eine Schau dauerte: "Der Auszuführende willigt hiermit ein, im Umfang der allgemeinen Nützlichkeit in Hagenbecks Show tätig zu sein, … alles zu tun, was nach Vernunft und Billigkeit von ihm verlangt werden kann … Der Dienst … soll aus nicht mehr als sechsundzwanzig (26) Vorstellungen pro Woche und zehn (10) Arbeitsstunden pro Tag bestehen."
Die durch solche Verträge verpflichteten "Völker" versuchten aber durchaus, sich zu wehren: Aktenbestände in Polizeibehörden sowie Presseberichte verzeichnen Beschwerden über Misshandlungen durch die Veranstalter. Umgekehrt gab es auch Menschen, die öfter zu Völkerausstellungen nach Europa kamen und zu denen die Veranstalter bisweilen jahrzehntelang Kontakt hielten.
[…] Gesucht wurde, was dem bestehenden Bild des "Wilden" und "Exotischen" in den Köpfen der Zuschauer entsprach, damit diese ihre Erwartungen befriedigen konnten. […] Es bildete sich durch diese Schauen ein ewiger Kreislauf: Das Klischee galt als Vorbild für die Völkerschau, die Völkerschau diente als Bestätigung des Klischees.
Kritik am menschenverachtenden Charakter der Völkerschauen gab es zwar, aber diese war eher selten. Die Schauen konnten keinen differenzierten Blick auf die Kultur eines Volkes bieten, bildeten Stereotype ab, welche ihre "alltägliche" Lebensweise darstellen sollten. Komplexe gesellschaftliche Strukturen, Hierarchien, Religionen oder Arbeiten wurden nicht erläutert.
[…] Die große Zeit der Völkerschauen ebbte nach den 1930ern mit dem Einzug des Filmwesens ab; man konnte nun mit der Kameralinse in die Ferne sehen – und das noch gekonnter. […]
Dr. Anne Dreesbach promovierte über die Geschichte der Völkerschauen. Sie leitet den Dreesbach Verlag in München.
Nadine Beck studierte Europäische Ethnologie und Kunstgeschichte. Sie arbeitet als Autorin.
Anne Dreesbach / Nadine Beck, "Ausgestellt und angegafft", in: DAMALS 6-2018, S. 26 ff.
Aus den Programmen der Weltausstellungen waren sie kaum wegzudenken und auch die großen Kolonialausstellungen, die nach dem Ersten Weltkrieg stattfanden, präsentierten häufig Menschen aus den Kolonien. Sie wurden in vermeintlich authentischer Umgebung, zwischen einfachen Hütten, vorgeführt; häufig aber auch vor prächtigen Kulissen, die weniger den Reichtum ihrer Kultur als vielmehr die vermeintliche zivilisatorische Leistung ihrer Kolonialherren dokumentieren sollten. So boten die Franzosen 1931 in Vincennes eine monumentale Rekonstruktion des Tempels von Angkor Wat auf, um sich als Einiger "Indochinas" darzustellen. Ganz gleich, ob Bauwerke, Kunstwerke, Tiere oder Menschen: Immer ging es darum, "Andersartigkeit", Exotik, zu inszenieren und zu betonen, und aus dem Kontrast dazu konnte das europäische Publikum ein weiteres Mal ein Bild von sich selbst gewinnen.
Die Kolonialausstellungen als Leistungsschauen der europäischen Kolonialmächte richteten sich an die konkurrierenden Staaten, vor allem aber an die eigenen Bevölkerungen. Sie zogen – selbst nach heutigen Maßstäben – ein Riesenpublikum an: Die in Wembley besuchten 1924/25 rund 27 Millionen Gäste, die Exposition Internationale Coloniale in Vincennes bei Paris zog 1931 acht Millionen Gäste an, und selbst die Antwerpener Wereldtentoonstelling voor Koloniën, Zeevaart en Oud-Vlaamsche Kunst kam 1930 auf fünf Millionen Besucherinnen und Besucher. Zum Vergleich: Für die Weltausstellung, kurz Expo, 2000 in Hannover interessierten sich 18 Millionen Menschen. Neben ihrer propagandistischen Funktion hatten die Völkerschauen auch eine gewisse Bedeutung für den wissenschaftlichen Diskurs. Forscher wie der Mediziner und Politiker Rudolf Virchow stießen anthropologische Forschungsprojekte an, in deren Rahmen Akteure dieser Schauen beispielsweise serienmäßig Vermessungen ihrer Schädel unterzogen wurden.
Neben den Ausstellungen häuften sich schon in der Zwischenkriegszeit Reisen in die Kolonien. Besonders beliebte Reiseziele waren die "orientalischen" Mandatsgebiete im Libanon und Palästina. Touristische Abenteuer, wie sie beispielsweise der französische Automobilclub organisierte, boten vielen Reisenden Gelegenheit, stereotype Sichtweisen zu verfestigen. Der touristische Blick verschmolz mit dem eingeübten kolonialen Blick auf den "Anderen".
Weiße Helden? Kulturelle Vermittlungsformen
Auch in der europäischen Kultur waren die Kolonien immer präsent. In Literatur, bildender Kunst, bald auch im Kino boten koloniale Räume die exotische Bühne, auf der über Identitäten und Zugehörigkeiten verhandelt wurde. Gerade die auf ein Massenpublikum zielenden Produktionen verbreiteten und verfestigten orientalistische Stereotype und führten damit in gewissem Sinne die Völkerschauen mit modernen cineastischen Mitteln fort. Populäre Spielfilme, aber auch Massenliteratur setzten immer wieder das Bild Weißer männlicher Helden in Szene, die sich in kolonialen Auseinandersetzungen zu behaupten wussten.
Die Übergänge vom Unterhaltungsfilm zur Kolonialpropaganda waren in den westeuropäischen Kinoproduktionen der 1920er- und 1930er-Jahre fließend. Filme wie "Ich hatt einen Kameraden" (Regie: Conrad Wiene, D 1926) und "Die Reiter von Deutsch-Ostafrika" (Regie: Herbert Selpin, D 1934) stehen dafür ebenso wie "Le Bled", eine Auftragsarbeit von Jean Renoir für das französische Generalgouvernement in Algerien (F 1929), oder "Sanders of the River" (Regie: Zoltan Korda, GB 1935). Stereotype vom "primitiven" Afrikaner hielten sich bis weit in die zweite Nachkriegszeit hinein; "Liane – Das Mädchen aus dem Urwald", ein Kinoerfolg von 1956 (Regie: Eduard von Borsody) oder "Sammy Going South", der im Kontext der Suez-Krise spielt (Regie: Alexander Mackendrick, GB 1963), sind hierfür exemplarisch. Auch Tierfilme wie die in der Nachkriegszeit überaus erfolgreichen Produktionen des Tierfilmers und Frankfurter Zoodirektors Heinz Grzimek zeigen bemerkenswerte Kontinuitäten in der Repräsentation des "Anderen", "Wilden" und "Ungezähmten" und trugen so zur Fortdauer alter Stereotype in der bundesdeutschen Gesellschaft bei.
Wachsende Distanz zum Kolonialismus
Es wäre aber zu einfach, die kulturellen Repräsentationen Außereuropas allein als Ausdruck eines stabilen europäischen Blicks zu deuten. Schon früh sind Brüche im europäischen Selbstbild erkennbar, besonders in der Literatur. Vom zivilisatorischen Triumphgebaren offizieller Kolonialpropaganda oder der Literatur beispielsweise eines Rudyard Kipling war schon Joseph Conrads Erzählung "Das Herz der Finsternis", erschienen 1898, denkbar weit entfernt.
In der europäischen Literatur der Zwischenkriegszeit nahm die Distanz zum Kolonialismus als europäischem Projekt noch einmal deutlich zu und ungebrochene Fortschrittserzählungen verloren an Substanz, wie die literarischen Werke etwa Virginia Woolfs, Leonard Woolfs oder T. S. Eliots belegen. Hier kamen viele Einflüsse zusammen, wie die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und der Aufstieg der Freudschen Psychoanalyse. Die Krise des Kolonialismus trug aber ebenso dazu bei, dass Autoren und Autorinnen anders über die Figuren ihrer literarischen Werke schrieben und sie als Subjekte thematisierten.
Greifbar wird dies in der bildenden Kunst. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich mit dem Primitivismus eine Kunstrichtung herausgebildet, die eine Verbindung zu afrikanischen Kunstformen suchte. In Werken von Pablo Picasso wie "Les Demoiselles d’Avignon" von 1907 und in Henri Matisses "Blue Nude" von 1907 zeigt sich die Inspiration durch das Vorbild afrikanischer Masken und Figuren. Sind hier noch orientalistische Muster erkennbar, so gelangten die Surrealisten in den 1920er-Jahren von ihrer Auseinandersetzung mit außereuropäischer Kunst zu klaren antikolonialen Positionen. Unter jenen, die gegen die Pariser Kolonialausstellung 1931 öffentlich protestierten, fanden sich auch die Schriftsteller André Breton und Louis Aragon sowie der Maler Yves Tanguy. Auf der Gegenausstellung "Die Wahrheit über die Kolonien" ("La Verité sur les colonies"), von Aragon und André Thirion unter der Ägide der Kommunistischen Partei Frankreichs organisiert, wurden – neben prosowjetischer Propaganda – auch Werke von Künstlern aus den Kolonien gezeigt.
Die Gleichberechtigung des "Anderen" als Elitenprojekt
Dass "Negerplastik", so der Titel einer vielbeachteten Studie des Kunsthistorikers und Schriftstellers Carl Einstein von 1915, als eigenständige afrikanische, der europäischen Kunst vollkommen gleichrangige Kunstform anerkannt wurde, zeugt von einer intensivierten Rezeption. Es deutet vor allem aber darauf hin, dass europäische Kunstschaffende auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen nicht mehr allein auf die europäische Kunst und ihre historischen Vorläufer sahen. In der künstlerisch wie intellektuell vibrierenden Atmosphäre der 1920er- und 1930er-Jahre ließ sich die Grenze zwischen einem "Wir" und "den Anderen" nicht mehr so scharf ziehen, wie dies zuvor suggeriert worden war.
Eine breitere Öffentlichkeit erreichte dies vor allem im kommerzialisierten Rahmen der Jazzkultur, ein Massenpublikum ließ sich damit jedoch ebenso wenig ansprechen wie mit modernistischer Literatur. Aber die intellektuellen und künstlerischen Debatten der Zwischenkriegszeit weisen doch darauf hin, dass nach der starren Trennung von Kolonisierern und Kolonisierten etwas Neues im Entstehen begriffen war und eine postkoloniale Welt aufschien. Doch war dies kein linearer Prozess, Verzögerungen und Gegenläufigkeiten sind nicht zu übersehen. Breite gesellschaftliche Schichten blieben rassistisch fundierten Überzeugungen europäischer, Weißer Überlegenheit treu. Und die Nationalsozialisten diffamierten schließlich außereuropäische oder außereuropäisch beeinflusste Werke pauschal als "Negerkunst".