Störfälle als Auslöser für Bewusstseinsveränderung
Ein Berghang im Thüringer Wald, Anfang der 1980er-Jahre: Kahl stehen die bleichen Skelette der Fichten nebeneinander. Auf mehreren Hektar Fläche sind praktisch alle Bäume tot oder schwer geschädigt. Auch im Harz, im Schwarzwald und anderen deutschen Mittelgebirgen herrschte in den 1980er-Jahren ein ähnliches Bild. Das "Waldsterben" war so weit verbreitet, dass Wissenschaftler meinten, in fünf Jahren wäre der deutsche Wald flächendeckend tot.
Dieses Horrorszenario trat nicht ein – auch, weil schnell gehandelt wurde. Denn das "Waldsterben" veränderte Westdeutschland: Die Bundesregierung legte das bislang teuerste Programm zum Umweltschutz auf, um die Abgase aus den Schornsteinen der Industrie und der Kraftwerke von Schwefel und anderen Schadstoffen zu befreien; deutsche Autos bekamen bleifreies Benzin und einen Katalysator; die Umweltverbände erhielten starken Zulauf und die neu gegründete Partei "Die Grünen" zog in die Parlamente ein. Das Waldsterben und die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl von 1986 – beides katastrophale Störfälle im System der Energieversorgung – erschütterten den deutschen Fortschrittsglauben und verbreiteten "grünes" Denken.
Waldschäden 2012
Waldschäden 2012
Doch das Waldsterben war mehr als nur ein Folgeschaden der Stromerzeugung. Zu dem Giftcocktail in der Luft trugen auch andere Verursacher bei: der Verkehr mit seinen Abgasen, Industrie und Haushalte durch die ungefilterte Verbrennung von Kohle und Öl. Den Deutschen wurde drastisch vor Augen geführt, dass Strom aus der Steckdose und eine warme Heizung Konsequenzen für die Umwelt haben – und dass hohe Schornsteine zwar die Belastung der Luft in den Städten verringern, dass sich Schadstoffe aber nicht in Luft auflösen. Die Angst vor sichtbaren und unsichtbaren Schäden aus Kohle- und Atomkraftwerken befeuerte in Deutschland einen jahrzehntelangen Kampf um die Energiepolitik. Der führte auch dazu, dass sich die größte Industrienation Europas ehrgeizige Ziele im Umwelt- und Klimaschutz setzt. Deutschland ist heute eines der wenigen Länder, die eine effektive Senkung ihrer Treibhausgase erreicht haben und ihr Energiesystem im großen Stil umbauen: Die Stromversorgung durch erneuerbare Energien wie Wind- und Sonnenkraft wurde seit den Tagen des Waldsterbens massiv ausgebaut und deckt heutzutage ein Viertel des Verbrauchs. Als sich im japanischen Fukushima im März 2011 die nächste atomare Katastrophe ereignete, war Deutschland auch deshalb bereit für die "Energiewende".
Schadstoffe und ihre Folgewirkungen
Die Luft wird sauberer
Die Luft wird sauberer
Die Debatte um die Folgekosten der Energiepolitik hat die deutsche Gesellschaft so nachhaltig verändert wie nur wenige andere Fragen. Dabei sind manche Schäden – wie beim Waldsterben – nicht im erwarteten Maß eingetreten. Andere sind – wie bei der Atomkraft – in ihrem ganzen Ausmaß in der Wissenschaft nach wie vor umstritten. Neben den globalen Wirkungen der Treibhausgase aus der Verbrennung der fossilen Brennstoffe Kohle, Öl und Gas hat die Energieproduktion auch regional begrenzte Folgen. Die Stromerzeugung ist neben der Landwirtschaft, der Herstellung von Gütern und dem Verkehr der schwerwiegendste Eingriff des Menschen in den Naturhaushalt. Und die Frage, wie viel Umweltschäden für eine sichere und bequeme Versorgung mit Strom, Wärme und Mobilität zu akzeptieren sind, wird immer wieder neu diskutiert. "Eine Energieproduktion ohne Umweltauswirkungen gibt es nicht", sagt Erik Gawel vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung an der Universität Leipzig. Er kritisiert, dass die Konzentration der Energiepolitik auf Treibhausgase und Klimaschutz zu "energiepolitischen Fehlschlüssen" verführe. Wer nur auf CO2-Bilanzen und aktuelle Kosten schaue, vernachlässige "die Risiken der nuklearen und fossilen Energien": Unfälle in Kohlegruben, durch Ölpest verseuchte Meere, Methan-Ausgasung aus Gas-Pipelines.
Luftverunreinigung, Boden- und Wasserbelastung
Am deutlichsten werden die Nachteile der Energieproduktion beim Blick auf die qualmenden Schornsteine von Fabriken und Kraftwerken. Dabei ist die Belastung der deutschen Luft mit Schadstoffen deutlich gesunken – durch technischen Fortschritt, aber auch als Folge des Zusammenbruchs der veralteten Industrien in Ostdeutschland nach dem Ende der DDR. Seit 1990 verringerte sich etwa der Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlendioxid (CO2) trotz kräftigen Wachstums der Wirtschaft um mehr als 25 Prozent. Bei anderen Schadstoffen waren die Rückgänge noch drastischer: 2009 gab es 92 Prozent weniger Schwefeldioxid in der deutschen Luft, 80 Prozent weniger Staub und 75 Prozent weniger Kohlenmonoxid. Dieser Erfolg geht auch auf verbesserte Filtertechnik und innovative Verfahren zurück. Teilweise wurden verschmutzende Industrien aber auch aus Deutschland weg verlagert. In Dortmund etwa wurde 2002 das gesamte Stahlwerk Hoesch Phoenix abgebaut und in China wieder aufgebaut.
Der "blaue Himmel über dem Ruhrgebiet", den der spätere Bundeskanzler Willy Brandt 1961 versprochen hatte, ist heute Realität. Die Belastung der Luft in deutschen Städten, die von den Bewohnern gesehen und gerochen wurde, ist massiv zurückgegangen. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen heute eher langlebige oder unsichtbare Schadstoffe: Hochgiftiges Dioxin reichert sich seit Jahrzehnten in Böden an und wird teilweise über Pflanzen, tierische Fette oder auch die Muttermilch in kleinsten Mengen in den menschlichen Organismus aufgenommen; an Sommertagen steigt die Belastung der Innenstädte durch Ozon aus den Automotoren teilweise auf bedenkliche Höhen. Und zunehmend warnen Mediziner vor Feinstaub in der Luft. Diese kleinen Partikel sind so winzig, dass sie bei Menschen über die Atemwege in die Lunge und sogar ins Gehirn gelangen können. Die minimal kleinen Abgasteilchen aus dem Ruß von Kaminen und Verbrennungsmotoren sind nach Angaben der EU dafür verantwortlich, dass in Europa jährlich zusätzlich etwa 70 000 Menschen sterben.
Denn nicht nur die Stromproduktion hat ihre Umweltauswirkungen. Auch der Einsatz von Energie in anderen Bereichen zieht Konsequenzen nach sich. Am gesamten Energieverbrauch des Landes haben die Industrie und der Verkehr nach offiziellen Statistiken einen Anteil von jeweils 30 Prozent. Die privaten Haushalte folgen mit 25 Prozent vor Gewerbe und Handel mit 15 Prozent. Seit 1990 hat sich der Energieverbrauch bei Industrie und Gewerbe trotz steigender Wirtschaftsleistung verringert. Doch bei den privaten Haushalten und im Verkehr sind die Erfolge nicht so deutlich. Trotz benzinsparender Motoren und moderner Heizungen führen hier zum Beispiel eine erhöhte Mobilität und der Trend zu größeren Wohnungen und mehr Einpersonenhaushalten dazu, dass die Gewinne durch mehr Effizienz durch höheren Vebrauch oft wieder "aufgefressen" werden. Als Konsequenz daraus ist etwa der Verkehr zu einem Fünftel an den deutschen Emissionen für Treibhausgase beteiligt.
Im Vergleich zu großen Industrieanlagen und Kraftwerken ist es bei privaten Haushalten und im Verkehr oft schwieriger, den Energieverbrauch und den Ausstoß von Schadstoffen zu verringern. Denn Millionen von Autofahrern oder Wohnungsbesitzern haben ihre eigenen Vorstellungen und Ansprüche an Komfort und Effizienz, die oft nicht einfach zu verändern sind. Staatliche Förderprogramme greifen oft langsamer, Innovationszyklen sind bei Eigenheimen länger als bei Maschinen in Fabriken. Ein Beispiel dafür ist die Wärmedämmung von Wohnhäusern. Nach Angaben der halbstaatlichen "Deutschen Energieagentur" (dena) schlummern im Gebäudebestand die größten Reserven fürs Energiesparen: Alte Häuser verbrauchen zum Heizen dreimal soviel Energie wie Neubauten, fast 90 Prozent davon für Heizung und Warmwasser. Diese Rechnung ließe sich um bis zu 80 Prozent senken, erklärt die dena, "Tatsache ist jedoch: Von den energetischen Einsparpotenzialen wird bei Sanierungen durchschnittlich nur rund ein Drittel ausgeschöpft." Einer der Gründe dafür ist das "Mieter-Vermieter-Dilemma": Während der Mieter von einem neu gedämmten Haus durch seine niedrigere Heizkostenrechnung profitiert, kann der Vermieter die Investitionskosten nur teilweise auf die Miete umlegen. Eine geänderte Regelung führt hier wiederum zu teilweise rasant steigenden Mieten, wogegen sich die Mieter wehren.
Wenn schon die betriebswirtschaftliche Berechnung der Kosten für die Energieversorgung schwierig ist, gilt das erst recht für die Umweltkosten. Sehr viele schwer bestimmbare Faktoren machen eine solche Rechnung heikel: Allein die Frage nach der finanziellen Abschätzung von aktuellen oder künftigen Klimaschäden ist unter Ökonomen und Ökologen heiß umstritten. Das Umweltbundesamt (UBA) hat trotzdem eine Rechnung über die "Umweltkosten der Stromerzeugung" vorgelegt. Für eine Kilowattstunde (kWh) Strom aus Braunkohle, dem "schmutzigsten" Energieträger, veranschlagen die Experten Gesamtkosten von 10,7 Cent, die nicht vom Strompreis (für Haushaltskunden etwa 25 Cent pro kWh) gedeckt sind. Diese "externen Kosten" werden anderen aufgebürdet: Steuerzahlern, Opfern des Klimawandels, Krankenkassen. Ohne die Klimaschäden aus dem Kohlendioxid bleiben in der Rechnung des UBA immer noch über zwei Cent, die eine Kilowattstunde Braunkohlenstrom an "Luftschadstoffen" verursacht. Die Verbrennung von Öl (2,4 Cent, Angaben jeweils nicht für Klimaschäden), Steinkohle (1,6 Cent) oder Gas (1 Cent) zieht ebenso einen dicken ökologischen Rucksack hinter sich her. Die Erneuerbaren schneiden deutlich besser ab: Photovoltaik mit 0,6 Cent, Windstrom mit 0,17 Cent Luftverschmutzung pro Kilowattstunde. "Braunkohle hat etwa 40mal mehr Umweltkosten als Wind", schreiben die UBA-Wissenschaftler.
Auch die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung belegt, dass trotz großer Erfolge in den 1990er-Jahren die selbst gesteckten Ziele bei der Verbesserung der Luftqualität verfehlt werden. Zwar wurde die Verbreitung von Schwefeldioxid, Stickoxiden, Ammoniak und flüchtigen organischen Verbindungen zwischen 1990 und 2009 insgesamt um 56 Prozent verringert. Doch das Ziel von 70 Prozent Reduktion in diesem Zeitraum wurde nicht erreicht. "Luftverunreinigung beeinträchtigt Ökosysteme und Artenvielfalt, insbesondere durch Versauerung und Überdüngung", heißt es im "Fortschrittsbericht 2012" zur Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, "weitere Anstrengungen sind erforderlich." Denn obwohl etwa Schwefeldioxid fast vollständig und flüchtige Verbindungen zu zwei Dritteln vermindert wurden, sieht die Bilanz für Stickstoffoxid (größte Quelle ist der Verkehr) und Ammoniak (größte Quelle ist die Landwirtschaft) deutlich schlechter aus. Vor allem die Ausdünstungen von Ammoniak, das aus der industriellen Tiermast stammt, verbleiben auf einem hohen Niveau und sind sogar wieder gestiegen.
Auch Schadstoffe, die über einen Schornstein in die Luft geblasen werden, sind zwar aus den Augen, aber nicht aus der Welt: So trägt Schwefel in der Luft zur Versauerung von Gewässern bei, Gebäude leiden unter Substanzen, die die Fassaden zerfressen. Der Tagebau für die Braunkohle frisst Dörfer und ganze Landschaften. Für die Rekultivierung der verwüsteten Gegenden zahlen die Kohlekonzerne, die diese Ausgaben mit ihren Preisen an die Kunden weitergeben. Doch für die meisten dieser Schäden, die zumeist von der Allgemeinheit der Steuerzahler oder der Krankenversicherten getragen werden, gibt es abseits der (geschätzten) Klimafolgen, "keine belastbaren monetären Schätzungen", klagt das Umweltbundesamt. Das gilt auch für das Waldsterben, dessen volkswirtschaftlicher Schaden nie exakt ermittelt wurde. Schätzungen von 1987 gingen von 220 Milliarden Euro aus, heute wagt niemand mehr eine solche Kalkulation. Auch wenn immer noch viele Bäume geschädigt sind, die Waldfläche in Deutschland nimmt stetig zu. Und auch für "Bergbaufolgeschäden" gibt es nur grobe Schätzungen: Wenn sich Kohlegruben absenken, entstehen in jedem Jahr an Deutschlands Gebäuden Schäden von mindestens 40 Millionen Euro. Wenn diese durch den modernen Bergbau entstanden sind, müssen sie durch den Energiekonzern Ruhrkohle (RAG) entschädigt werden. Der hat dafür bereits 3,3 Milliarden Euro an Rückstellungen gebildet.
Oft unterschätzt wird die Belastung des Wasserhaushalts durch die Stromproduktion. Kohle- und Atomkraftwerke brauchen für die Kühlung ihrer Systeme große Mengen von Wasser. Das Wasser wird entweder zu Dampf erhitzt, treibt Turbinen und entschwindet als weiße Wolke aus dem Kühlturm – oder es wird erwärmt wieder in die Natur zurückgeleitet. In trockenen Gegenden oder Dürreperioden kann das zu Umweltproblemen führen, weil das knappe Nass zusätzlich erhitzt in die Flüsse zurückfließt. So musste deshalb der französische Stromversorger EdF bei der Hitzewelle 2003 die Produktion in fast einem Drittel seiner Atomkraftwerke einstellen oder drosseln. Nach einer Übersicht des Informationsdienstes "Bloomberg New Energy Finance" ist der Kraftwerkssektor für 44 Prozent der Wassernutzung in Europa verantwortlich. In Deutschland könnte sich demnach der Wasserdurst der Stromindustrie wegen der schnellen Zunahme von erneuerbaren Energien bis 2030 fast halbieren. Und größter Nutzer von Wasser ist mit weitem Abstand die Kernkraft.
Radioaktive Strahlung
Der Wasserverbrauch der AKWs ist aber noch das geringste Umweltproblem der nuklearen Stromerzeugung. Zwar gilt der Atomstrom wegen seines geringem Ausstoßes von Treibhausgasen in der Klimadiskussion oft als "sauber". Die Umweltfolgen des Atomzeitalters sind aber trotzdem enorm: Allein in Deutschland fallen bis zum Ende der Laufzeiten im Jahr 2022 aus allen deutschen Atomkraftwerken und Forschungsreaktoren nach Berechnungen des "Bundesamtes für Strahlenschutz" (BfS) über 28 000 Kubikmeter hochradioaktiven Mülls an. Das ist etwa soviel wie der Rauminhalt von 1000 Güterwaggons. Für diese Dimensionen muss ein deutsches Atomendlager ausgelegt sein. Weltweit gibt es nach Angaben der World Nuclear Association 12 000 Tonnen hochgradig gefährlicher Nuklearabfälle im Jahr. Diese "abgebrannten" und extrem stark strahlenden Brennelemente aus den Reaktorkernen müssen für Tausende von Jahren sicher von der Umwelt abgeschlossen werden. Dazu kommt noch einmal etwa die zehnfache Menge an schwach strahlenden Abfällen aus der Nuklearwirtschaft.
Wie lange strahlt der Müll?
Wie lange strahlt der Müll?
Dieses Entsorgungsproblem hat aber bislang keines der 30 Länder gelöst, die über Atomkraftwerke verfügen. Obwohl weltweit seit 1954 Atomkraftwerke betrieben werden, gibt es bis heute nirgendwo ein Endlager für hochradioaktive Stoffe. Und die Probleme rund um leckende Atomfässer und unsichere Lagerstätten wie in der niedersächsischen Asse oder in der Nord- und Ostsee machen immer wieder Schlagzeilen. Der Uranbergbau schließlich birgt große gesundheitliche Risiken für die Beschäftigten.
Hinzu kommen die Gefahren bei einem nuklearen Unglück. Als 1986 der Reaktor am ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl durch einen Bedienungsfehler explodierte, wurde die Gegend weiträumig verstrahlt. Etwa 350 000 Menschen wurden umgesiedelt, die "Todeszone" 30 Kilometer rund um den Reaktor bleibt bis heute Sperrgebiet. Als direkte Folge des Unglücks nannte die offizielle Untersuchungskommission etwa 50 Tote. In den Jahren nach dem Unglück stieg die Zahl der Krebskranken unter der Bevölkerung und den Rettungskräften stark an. Die Schätzungen über Todesopfer durch Krebs nach Tschernobyl gehen weit auseinander: Während manche Studien etwa 5000 zusätzliche Krebstote prognostizieren, gehen Umweltschützer von über 900 000 Todesfällen aus.
QuellentextEin folgenreiches Unglück
[...] Erst am Abend des 30. April 1986, Tag vier nach der Katastrophe, meldet die sowjetische Nachrichtenagentur TASS: Durch eine "Havarie" in Tschernobyl habe sich die Radioaktivität erhöht und seien zwei Menschen ums Leben gekommen. [...]
Was in der Nacht zum 26. April 1986 um 1.24 Uhr tatsächlich passierte [...] markiert den Countdown zur größten nuklearen Katastrophe der Menschheit. Zudem eine, um die sich später viele Wahrheiten ranken werden, was auch damit zusammenhängt, dass die zivile Nutzung der Kernenergie am 26. April 1986 zwar nicht ihre Friedfertigkeit, aber ihre Harmlosigkeit verliert. [...]
Damals, am 26. April 1986, geistert in den Köpfen der Menschen eine leicht zu merkende Wahrscheinlichkeitsformel herum, nach der einmal in 10 000 Jahren ein Super-GAU passieren kann – ein Größter Anzunehmender Unfall, der außer Kontrolle gerät. Die Formel flößt Vertrauen ein, vernebelt aber, dass das extrem Unwahrscheinliche trotzdem morgen passieren kann.
Um 1.30 Uhr schlafen die Menschen in Europa, während der Reaktor bereits ohne Dach da steht und aus seinem Schlund – 1000 Mal mehr als die nukleare Masse der Hiroshima-Bombe – radioaktive Partikel in den Himmel bläst, die bis heute Geigerzähler ausschlagen lassen. Halbwertszeit 30 Jahre: Erst in fünf Jahren wird das europaweit in die Böden eingetragene Cäsium 137 das erste Mal seine Ausstrahlung halbiert, erst in 330 Jahren sich die letzte Cäsium-Spur verflüchtigt haben. [...]
Moskau schickt Heerscharen Ahnungsloser nach Tschernobyl. 600 000, 800 000, eine Million? Niemand kennt die genaue Zahl der sogenannten Liquidatoren, die in den Tagen, Wochen und Monaten danach das weiß lodernde Graphitfeuer löschen, der Reaktorruine einen Betonsarg überstülpen und eine 30-Kilometer-Sperrzone rund um das strahlende Inferno abstecken. [...] Einige erhalten in kurzer Zeit die bis zu 13 000-fache Strahlendosis dessen, was die Europäische Union (EU) als zulässigen Grenzwert pro Jahr für Menschen ansetzt, die in der Nähe eines Kernkraftwerks leben.
Es sind meist Wehrpflichtige um die 20, die aus allen Teilen des einstigen Riesenlandes zwangsrekrutiert und bald wieder – Einsätze dauern strahlenbedingt nur Minuten – nach Hause geschickt werden. [...] So verlieren sich später Hunderttausende Strahlenschicksale im statistischen Nirgendwo. Eine verlässliche Bilanz der gesundheitlichen Folgen wird es niemals geben. Und trotzdem wird mit Opferzahlen Politik gemacht: "75 Tote", so die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO), seien eindeutig Tschernobyl zuzuordnen. Darin sieht die Vereinigung "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" eine "gezielte Täuschung der Weltöffentlichkeit". Dabei habe schon 2000 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, dass 50 000 der Liquidatoren gestorben seien. Der Zwist zeigt nur, wie sehr das Atom weiter spaltet. [...].
Dann passiert "es" in Fukushima erneut. Fast exakt 25 Jahre nach Tschernobyl. Dort wurde im Experiment erkundet, was passiert, wenn der Strom ausfällt; in Fukushima fiel er aus.[...]
Wolfgang Wiedlich, "Das Experiment von Anatoli Strepanowitsch Djatlow", in: General-Anzeiger Bonn vom 23./24. April 2011
Ähnlich lückenhaft sind auch die Daten nach der Atomkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011. Noch sind flächendeckende Untersuchungen über die radioaktive Belastung von Anwohnern, Tieren und Pflanzen in Japan und im Pazifischen Ozean nicht veröffentlicht worden. Aufsehen erregte allerdings eine Studie der Universität Ryukyu in der Provinz Okinawa, die Mutationen an Schmetterlingen in der zweiten und dritten Generation nachwies, die auf die relativ niedrige, aber konstante Strahlung nach den Havarien in den Reaktoren 1, 2 und 3 in Fukushima Daiichi zurückgeführt wurden. Denn bislang war die Mehrheit der Strahlenexperten bei der UNO und auch im Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) davon ausgegangen, dass es grundsätzlich keine Belege für eine Schädigung durch Niedrigstrahlung gebe. "Diese Studie verändert den Blick auf Gefahren von radioaktiver Strahlung", sagt der Strahlenbiologe Timothy Mousseau von der US-Universität von South Carolina, ein Experte für die biologischen Auswirkungen von nuklearer Strahlung. Auch in Deutschland ist umstritten, ob Niedrigstrahlung nach der Katastrophe von Tschernobyl oder aus dem Normalbetrieb eines Atomkraftwerks zu Schädigungen führen kann. Der Münchner Biomathematiker Hagen Scherb hat errechnet, dass nach Tschernobyl Totgeburten und Missbildungen auch in Deutschland deutlich zunahmen – andere Wissenschaftler zweifeln diese Daten an.
QuellentextEndlager gesucht!
[...] Die Beseitigung der strahlenden Abfälle gehörte von Beginn an zu den großen Herausforderungen, seit dem Physiker Enrico Fermi am 2. Dezember 1942 die erste kontrollierte atomare Kettenreaktion in einem Militärlabor in Chicago gelang. Auch die USA als größte zivile und militärische Atommacht besitzen kein funktionstüchtiges Endlager. In den vierziger Jahren praktizierten sie, wie später auch Großbritannien, das Entsorgungskonzept der "fünf V": Verdünnen, Verteilen, Vergraben, Versickern und vor allem Versenken.
So wurde in den USA frühzeitig ein Teil der strahlenden Last mit Erde und Beton vermischt und westlich von San Francisco nahe den Farallon-Inseln in den Pazifik geworfen. [...] Später, seit 1953, kippten die Schiffe ihre strahlende Ladung in die Bucht von Santa Cruz. Besonders brisante Frachten wurden vom Flugzeug aus ins Meer geworfen. [...]
Im November 1960 geht im unterfränkischen Kahl das erste kommerzielle deutsche Kernkraftwerk in Betrieb. [...] Den heiligen Vorsatz, vor dem Bau der ersten Meiler die Entsorgungsfrage zu klären, haben Bundesregierung und Genehmigungsbehörden schon über Bord geworfen. Dabei schreibt Paragraf 9a des ebenfalls 1960 verabschiedeten Atomgesetzes vor, dass jeder Betreiber dafür sorgen muss, dass "anfallende radioaktive Reststoffe [...] schadlos verwertet oder geordnet beseitigt werden".
Was aber ist eine geordnete Beseitigung? Die Entsorgung im All? "Vermutlich sowjetischen Ursprungs", glaubt Historiker [Anselm] Tiggemann, ist der seit den fünfziger Jahren diskutierte Vorschlag, den strahlenden Müll in den Weltraum zu schießen. [...] Doch die enormen Kosten, die Notwendigkeit fast täglicher Raketenstarts und die gravierenden Risiken durch Unfälle verweisen alle Weltraumausflüge ins Reich des Absurden.
Währenddessen konzentriert sich die Endlagersuche der Bundesdeutschen auf den Salzbergbau. [...] Die Bundesanstalt für Bodenforschung berichtet im Juli 1962 über Möglichkeiten der Endlagerung "im Untergrund". Neben Salzbergwerken wird auch die Eisenerzgrube "Allerheiligen" im Bergwerk Konrad bei Salzgitter als Standort ins Visier genommen.
Aber auch die billige Entsorgung im Meer will man nun [...] "erproben". Im Mai 1967 wird im Hafen von Emden deutscher Atommüll auf das englische Frachtschiff Topaz geladen. Hafenarbeiter rebellieren, und das Gewerbeaufsichtsamt rügt mangelnden Arbeitsschutz – die Aktion im Atlantik ist nicht zu verhindern.
Sie bleibt die einzige deutsche Versenkungsaktion. 1983 stoppt die Londoner Dumping-Konvention die Ex-und-hopp-Entsorgung im Meer. Bis dahin kippen die westlichen Atomländer USA und Großbritannien, aber auch die Schweiz, die Niederlande, Belgien und andere 140 000 Tonnen Atommüll in den Ozean. Die Europäer bevorzugen eine Meereszone nordwestlich der spanischen Atlantikküste in 4000 Meter Tiefe. Auch die an-fangs heftig protestierende Sowjetunion entsorgt bald Tausende Tonnen Atommüll im Eismeer. [...]
In der Bundesrepublik kehrt man zum Salz zurück. Und auch die DDR richtet 1969 ein Salzstock-Endlager ein: für schwachaktive Abfälle in Morsleben in Sachsen-Anhalt. Es muss später auch mittelaktiven Abfall und – nach der Wende – "BRD-Müll" aufnehmen. Im Dezember 1971 beginnt die Einlagerung. [...] 36 754 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktive Abfälle werden in Morsleben bis 1998 eingegraben. Doch das Bergwerk wackelt. [...] Nach Dauerprotesten von Anwohnern erklärt das Bundesamt für Strahlenschutz Morsleben im April 2001 endgültig zum Sicherheitsrisiko, sieben Monate später stürzt ein 5000 Tonnen schwerer Salzklotz aus dem Deckgebirge ab. Das Lager mutiert zum milliardenschweren Sanierungsfall, es wird notdürftig stabilisiert, mit Spezialbeton verfüllt und stillgelegt. [...]
Im Westen steht das ehemalige Salzbergwerk Asse II bei Wolfenbüttel zum Verkauf [...]. Im März 1965 übernimmt die Bundesrepublik den riesigen Fuchsbau. [...]
Das Bergwerk Asse wird zur "Forschungseinrichtung" erklärt, die "versuchsweise" schwachradioaktiven Müll aufnehmen soll. Zwischen April 1967 und Dezember 1978 gelangen 125 787 Atomfässer in die Asse, inklusive Giftmüll wie Arsen und verstrahlter Tierkadaver. Das Einlagern geschieht anfangs geordnet, dann immer chaotischer. In "freier Sturztechnik", so der Fachbegriff, werden die radioaktiven Abfälle Abhänge hinuntergekippt, Salz drüber, basta. [...]
Doch [...] das Bergwerk [...] droht abzusaufen, die Südflanke ist einsturzgefährdet. Im Sommer 2008 kommt alles ans Tageslicht. [...] Jetzt sollen alle 125 787 Fässer aus den nuklearen Grabkammern des [...] Lagers zurückgeholt werden – ein Wettlauf gegen die Zeit. Geschätzte Kosten: vier Milliarden Euro.
Bereits zuvor, noch in den siebziger Jahren, ist ein anderer Salzstock in den Fokus gerückt: Gorleben, ebenfalls in Niedersachsen, nahe der deutsch-deutschen Grenze. [...] Das Endlager soll gekoppelt werden an die größte Wiederaufbereitungsanlage (WAA) der Welt, in der Plutonium aus Atommüll zurückgewonnen wird. Der Bombenstoff soll dann in schnellen Brütern als Brennstoff eingesetzt werden. Die Ideologie des nuklearen Brennstoffkreislaufs bestimmt den Diskurs, und in Gorleben soll [...] ein blühender Atompark wachsen mit Endlager, WAA, Zwischenlager und einer Konditionierungsanlage, um Atommüll zu verpacken. Aber warum ausgerechnet Gorleben?
Bund und Länder untersuchen in den siebziger Jahren, wie der Historiker Detlev Möller nachzeichnet, unzählige Standorte. Allein Niedersachsen nimmt in geheimer Mission 140 Salzstöcke ins Visier. Die Bevölkerungsdichte muss niedrig sein, es soll kein Milchvieh weiden, der Wind darf keine "radioaktiven Reststoffe" auf große Siedlungen zuwehen. Und die Infrastruktur muss stimmen. [...]
Am 22. Februar 1977 verkündet Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) schließlich, dass die Wahl auf Gorleben im, wie das damals hieß: "Zonenrandgebiet" des Landkreises Lüchow-Dannenberg gefallen sei. [...]
Doch [...] [m]it dem Rückenwind einer bundesweiten Anti-Atom-Bewegung steigt die Region auf die Barrikaden. [...] Als der legendäre Gorleben-Treck im Frühjahr 1979 mit 100 000 Demonstranten nach Hannover rollt und halb Niedersachsen kopfsteht, [...] erklärt [Albrecht] den Entsorgungspark im Mai 1979 für "politisch nicht durchsetzbar" und will jetzt "nur" noch ein Endlager bauen. [...]
Für den "unverzichtbaren Entsorgungspfeiler" der WAA sucht die Atomindustrie unterdessen mit Hochdruck einen anderen Standort.[...] 1985 beginnen die Bauarbeiten in Wackersdorf in der Oberpfalz. 1989, nach vier Jahren Bauzeit und zähem Widerstand der Bevölkerung, erkennt die Atomindustrie den Irrweg der Wiederaufarbeitung und flüchtet aus Wackersdorf. Die deutsche WAA ist gestorben und mit ihr [die Idee] vom "geschlossenen Brennstoffkreislauf".
Geblieben ist die Suche nach einem Endlager. [...]
Manfred Kriener, "Weg! Weg!! Weg!!!", in: DIE ZEIT Nr. 38 vom 13. September 2012
Ökologischer Fußabdruck der "grünen" Energien
Auch die "grünen" Energien hinterlassen ihren ökologischen Fußabdruck – wenn auch deutlich geringer als bei Strom und Wärme aus Kohle, Gas oder Atom. So gelten schlecht geführte Biogasanlagen als Sicherheitsrisiko, weil sie leck schlagen und mit der Gülle in ihren Tanks Flüsse und Felder verseuchen können. Auch Explosionen sind möglich. Schätzungen gehen von jährlich etwa 30 Unfällen bei Biogasanlagen in Deutschland aus. Die hohe Förderung dieser erneuerbaren Energie wiederum hat dazu geführt, dass Bauern vor allem den lukrativen Mais als Energiepflanze anbauen: Das führt zu Monokulturen, schädigt die Artenvielfalt und belegt Ackerfläche, die nicht mehr für die Produktion von Nahrungsmitteln zur Verfügung steht.
Solaranlagen wiederum enthalten in ihren Panels Schwermetalle und müssen nach dem Ende ihrer Dienstzeit fachgerecht entsorgt werden. Ein solches Recyclingsystem für die bislang über zwei Millionen deutschen Solaranlagen gibt es aber noch nicht, wie Experten beanstanden. Auch bei ausgemusterten Windkraftanlagen müsse man sich klar werden, wie der Bauschutt von Anlage und Fundament verwertet werden solle, die Rotoren etwa bestehen aus der Verbindung vieler Kunststoffe. Abhilfe kann da vielleicht ein Pilotprojekt schaffen: Ab Herbst 2012 erzeugt in Hannover die 100 Meter hohe Windmühle "Timbertower" Strom für 1000 Haushalte – der Turm unter der Turbine ist aus Holz.
"Erneuerbare Energien haben 50- bis 100-mal mehr Flächenverbrauch als die fossilen Energieträger und das direkt vor unserer Haustür", sagt Erik Gawel vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. Die Belastungen – Rauschen und Lichtreflexe bei Windanlagen, verbaute Flüsse bei der Wasserkraft, Erdbebengefahr bei der Geothermie oder Konflikte mit dem Naturschutz – würden im Inland offensichtlich, wo sie bei den fossilen Energien entlang der weltweiten Lieferkette versteckt seien. Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) nennt als mögliche Probleme den Verlust von Artenvielfalt durch den Anbau von Energiepflanzen oder die Störung von Tieren und Pflanzen, wenn Brachflächen neu beackert werden. Eine stärkere Nutzung von Holz kann dazu führen, dass mehr Totholz aus dem Wald geholt wird; wenn Pachtpreise steigen, sind Flächen für den Naturschutz nicht mehr zu bezahlen. Vor allem bei Windkraftanlagen warnen Naturschützer vor Gefahren: Der Bau von Offshore-Anlagen in der Nordsee vertreibt Fische und Schweinswale, die in ihrem empfindlichen Gehör geschädigt werden können. Tierfreunde befürchten, durch den massiven geplanten Ausbau der Offshore-Windenergie im deutschen Wattenmeer würden vor allem die Schweinswale und der Vogelzug in der Region gefährdet. Auch geplante Windanlagen in Wäldern sieht das BfN kritisch.
Bei aller Vorsicht ist den Naturschützern aber auch klar: Die Auswirkungen des Klimawandels, der durch die fossilen Energien verursacht wird, sind deutlich gravierender als ein geordneter Ausbau der erneuerbaren Energien. "Der Einsatz erneuerbarer Energien", heißt es in der BfN-Publikation "Daten zur Natur 2012", "kann zum Schutz der biologischen Vielfalt und der Erhaltung der Ökosysteme dienen."
Eine wirklich "grüne" Art der Energieerzeugung gibt es deshalb nicht. Der Luxus, jederzeit ausreichend Elektrizität und Wärme zur Verfügung zu haben, wird in einem hoch technisierten Industriestandort wie Deutschland immer mit Belastungen für die Umwelt erkauft. Wie groß dieser "ökologische Fußabdruck" des Stroms aber ist, lässt sich beeinflussen: Fossile oder nukleare Energien bringen hohe Risiken im Betrieb und durch ihre Abfälle mit sich, erneuerbare Stromquellen beeinträchtigen wegen der dezentralen Erzeugungsweise mehr Menschen, dafür mit deutlich geringeren Risiken. Die genaue Abwägung für den Energiemix wird von Politik und Gesellschaft letztlich auf Basis einer Abwägung von ökonomischen, ökologischen und sozialen Faktoren entschieden. Insofern führt die "Energiewende" fort, was mit dem "Baumsterben" begonnen hat – eine engagierte gesellschaftliche Debatte darüber, aus welcher Quelle unser Strom in Zukunft kommen soll.