Einleitung
Als Walter Ulbricht (1893–1973) am 3. Mai 1971 offiziell den Rücktritt von seinem Amt als Erster Sekretär der SED erklärte, vollzog sich in der DDR nicht nur ein Macht-, sondern auch ein Generationswechsel, der unter seinem Nachfolger Erich Honecker zu einer gravierenden Änderung der bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik führen sollte.
Machtwechsel
Allerdings hatte sich Ulbrichts Ablösung keineswegs so glatt und reibungslos vollzogen, wie es die Propaganda vorgab. Vielmehr waren ihr mehrjährige Konflikte in der Parteispitze, insbesondere um die Wirtschafts- und Sozial-, aber auch um die Deutschlandpolitik vorausgegangen, die schließlich in den Jahren 1969 bis 1971 kulminierten (vgl. auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 258 zum Thema "Zeiten des Wandels. Deutschland 1961–1974"). Grund war vor allem das Scheitern der Wirtschaftsreformen in den sechziger Jahren gewesen (1963 Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft/NÖSPL, ab 1968 "Ökonomisches System des Sozialismus"/ÖSS), die Ulbricht energisch vorangetrieben hatte, ohne jedoch die erwünschte Effizienzsteigerung der sozialistischen Planwirtschaft zu erzielen. Auch seine Auffassung, trotz weiterbestehender fundamentaler Unterschiede in der Deutschlandpolitik zwischen Bonn und Ost-Berlin am deutsch-deutschen Dialog festzuhalten, obwohl die neue sozialliberale Ostpolitik die DDR in die Defensive zu drängen begann, wurde in der Parteispitze mehrheitlich abgelehnt. Und schließlich war die sowjetische Führung auch über den zunehmend selbstherrlichen Führungsstil Ulbrichts innerhalb des Ostblocks indigniert, sodass sie schließlich bei dessen Entmachtung entscheidend mitgewirkt und Erich Honecker (1912–1994), dem Anführer einer Gruppe von Gegnern Ulbrichts in der SED-Spitze, die Machtübernahme zugesichert hatte. Nach seiner Ablösung wurde der einst "starke Mann" der DDR systematisch aus allen Positionen und Funktionen herausgedrängt. Bereits Mitte der siebziger Jahre, nur kurze Zeit nach seinem Tod am 1. August 1973, schien es, als hätte es Walter Ulbricht in der DDR nie gegeben.
Innen- und Gesellschaftspolitik
Die weiterhin bestehenden und durchaus gravierenden Probleme der DDR, vor allem in Bezug auf die Wirtschaft und die Deutschlandpolitik, wurden jedoch durch den Wechsel an der Führungsspitze nicht gelöst. Vielmehr musste der zukünftigen Ausrichtung der Politik "nach Ulbricht" essenzielle, weil existenzielle Bedeutung für die Zukunft des SED-Staates zukommen.
Obwohl selbst kein Wirtschaftsfachmann, sondern ein Spezialist für ideologische Erziehung, Kaderausbildung und innere Sicherheit, hielt Honecker die Verbesserung der Versorgungslage sowie die Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung für unerlässlich, insbesondere nach den Mangelerscheinungen und Engpässen der letzten Ulbricht-Jahre, die noch jüngst im harten Winter von 1970/71 beispielsweise in zeitweisen Stromabschaltungen kulminiert waren.
Tatsächlich verknüpfte sich mit einer Steigerung sozialpolitischer Leistungen durchaus die Chance, sich weiterhin zumindest die Loyalität einer Bevölkerungsmehrheit sichern zu können. Wesentlich stärker als zuvor wurde daher das Konsumbedürfnis breiter Bevölkerungsschichten ernst genommen. Es fand ausdrückliche Berücksichtigung im Programm der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", das Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 verkündete. Kernpunkt war die "weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität" (Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands – SED –, 15.–19. Juni 1971 in Berlin).
Maßnahmenbündel
Ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen wurde beschlossen und als "Kernstück" die Verbesserung der Wohnbedingungen durch ein umfassendes Bau-, Renovierungs- und Sanierungsprogramm vorgesehen. Weiterhin gehörten dazu: die Erhöhung der Mindestlöhne und Mindestrenten; die Arbeitszeitverkürzung für Frauen, besonders für solche mit Kindern, einschließlich verlängertem Mutterschaftsurlaub und Geburtenbeihilfe, um Berufstätigkeit und Mutterschaft besser zu vereinbaren; großzügige, zum Teil zinslose Kredite sowie bevorzugte Wohnungszuteilung bei Eheschließungen; die Verbesserung der medizinischen Versorgung und Betreuung sowie schließlich Ausbau und Ausweitung des Erholungswesens.
Hinter diesen umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen verbargen sich indes auch bevölkerungspolitische Absichten. Seit 1965 war die Geburtenentwicklung in der DDR vor allem infolge der bis 1961 erfolgten massenhaften Abwanderung in die Bundesrepublik rückläufig und drohte das ohnehin knappe Arbeitskräftepotential weiter auszudünnen. Im Hinblick darauf sollte das weitgefächerte Sozialprogramm deshalb eine Wende herbeiführen. Doch mussten die darin enthaltenen Leistungen auch finanziert werden können. Und genau hierin lag die entscheidende Problematik. Denn das Konzept, durch Intensivierung des Arbeitseinsatzes und des Produktionsprozesses – "sozialistische Rationalisierung" genannt – den erhöhten Finanzbedarf abzudecken, war mit einem enormen Risiko behaftet.
Bereits im Herbst 1971, nur ein halbes Jahr nach der Machtübernahme Honeckers, musste die Staatliche Plankommission feststellen, dass der geplante Warenexport in westliche, devisenbringende Länder aller Voraussicht nach um circa 390 Millionen Mark verfehlt werden würde, Importe in die DDR hingegen um 100 Millionen Valutamark, also in westlichen Devisen, über dem Plan lägen. Dies war ein erstes Alarmsignal, das allerdings kaum Beachtung fand. Stattdessen deckte man vorderhand das entstandene und zudem anwachsende Defizit durch Kredite aus westlichen Staaten ab.
Dass Honecker mehr Ideologe als Wirtschaftsfachmann war, erwies sich auch ein Jahr nach seiner Machtübernahme im Frühjahr 1972, als die Verstaatlichung der in der DDR noch bestehenden rund 11400 mittelständischen Betriebe durchgeführt wurde. Zwar besaßen diese, unter ihnen circa 6500 halbstaatliche Betriebe, nur noch etwa 10 Prozent Anteil an der Gesamtproduktion, aber in der Textil- und Bekleidungsindustrie, mithin bei Erzeugnissen, die vor allem für die breite Bevölkerung wichtig waren, nahmen sie mit circa 30 Prozent der Produktion noch immer eine beachtliche Position ein. Das galt auch für Dienstleistungen. Das Ziel einer verbesserten Versorgung durch Unterstellung dieser Betriebe unter die staatliche Planung wurde indes nicht erreicht; denn fast durchweg kam es bei den häufig in kurzer Zeit verstaatlichten und in größere Volkseigene Betriebe (VEB) integrierten Betrieben zu Produktionsrückgängen sowie einem erheblichen Zuwachs an Bürokratie.
Ebenfalls vornehmlich ideologisch motiviert waren neue Bestimmungen im Bildungs- und Schulbereich. "Richtiger" sozialer Herkunft und gesellschaftlichem Einsatz wurden nun wieder, vor allem beim Übergang in die Erweiterte Oberschule (EOS), als Voraussetzung für ein akademisches Studium stärkeres Gewicht beigemessen. Das bedeutete die erneute Bevorzugung von "Arbeiterkindern" und die Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern aus anderen, insbesondere "bürgerlichen" Schichten bzw. christlichen Familien oder solchen, die eine Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) abgelehnt hatten. Zudem wurde der Stellenwert einer umfassenden polytechnischen, zehnklassigen (Aus-)Bil- dung verstärkt. "Hervorragend ausgebildete Facharbeiter [...] und kluge Sozialisten mit den Eigenschaften revolutionärer Kämpfer" sollten aus ihr hervorgehen, wie es Margot Honecker, die Ehefrau des neuen Parteivorsitzenden, als Ministerin für Volksbildung in klassischem Propagandastil formulierte. In diesen ideo- logisch-pädagogischen Zielvorstellungen kam deutlich zum Ausdruck, was die SED wünschte: einen möglichst frühen, qualifizierten Arbeitseinsatz sowie den "ideologisch gefestigten Klassenstandpunkt" der nachwachsenden Generation. Die Frage indes, ob und inwieweit sich das mit den Vorstellungen, Wünschen und Zielen der Jugend in der DDR selbst deckte, wurde kaum gestellt.
Honeckers wirtschafts- und sozialpolitischer Kurskorrektur folgten in der Tat zunächst die "goldenen Jahre" der DDR, zumindest in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Der Lebensstandard der Bevölkerung erhöhte sich spürbar und mit ihr auch die Akzeptanz des sozialistischen Systems. Dennoch blieb die DDR auch in den siebziger Jahren von unübersehbaren Widersprüchen geprägt. Eine zweifellos verbesserte Versorgung – wenngleich Warteschlangen nach wie vor zum Alltag gehörten – fand ihre Kehrseite in einer steil ansteigenden Verschuldung bei den westlichen Industriestaaten, über deren tatsächliches Ausmaß die Bevölkerung nicht die geringste Kenntnis besaß.
Gleichwohl blieb der westdeutsche Konkurrenzstaat, trotz permanenter politisch-ideologischer Verteufelung durch die Propaganda, für die Bevölkerung sowie für die Staatsführung der DDR selbst die entscheidende Richtgröße. Denn nicht der Vergleich mit den übrigen sozialistischen "Bruderstaaten" bildete den Maßstab, zumal die DDR hinsichtlich industrieller Entwicklung und erreichtem Wohlstand hier ohnehin an der Spitze stand, sondern der Vergleich mit der Bundesrepublik, der im nun nicht mehr verbotenen "Westfernsehen" täglich gezogen werden konnte (vgl. auch Seite 33).
Außen- und Deutschlandpolitik
Durch die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition in Bonn wurde die SED zudem erstmals zunehmend in die Defensive gedrängt (vgl. auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 258 zum Thema "Zeiten des Wandels. Deutschland 1961–1974"). Sie konnte nicht völlig ignorieren, dass einer breiten Mehrheit von DDR-Bürgern die nationale Frage noch keineswegs durch die "Klassenfrage" gelöst erschien. Tatsächlich war es gerade die hinhaltende Politik der SED in der Deutschlandfrage, die gegenüber den ost- und deutschlandpolitischen Initiativen der neuen Bundesregierung von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung als hinderlich, kompromisslos und defensiv angesehen wurde. Doch gerade vor diesem innenpolitischen und psychologisch keineswegs unwirksamen Hintergrund im eigenen Staat selbst sah sich die SED gezwungen, die Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik stärker zu forcieren.
Dieser Zielsetzung standen indes nicht nur die in Bewegung geratene internationale Lage vor allem auf dem Gebiet der Ost-West-Beziehungen entgegen, sondern auch die Interessen der sozialistischen Vormacht Sowjetunion. Das hatte der Versuch Ulbrichts, eine (DDR-)eigene Deutschlandpolitik zu betreiben, deutlich vor Augen geführt. Nachdem es Bonn drei Monate nach Kassel gelungen war, mit der UdSSR am 12. August 1970 einen Vertrag über gegenseitigen Gewaltverzicht abzuschließen, war damit der entscheidende Durchbruch erzielt worden. Im Dezember desselben Jahres folgte ein Vertrag mit Polen. Daraufhin sah sich die SED-Führung gezwungen, mit der Bundesregierung in bilaterale Verhandlungen einzutreten, wollte sie nicht Gefahr laufen, als "Bremserin" der Entspannungspolitik angesehen und isoliert zu werden.
Somit hatte sich die Führung der DDR nicht nur der durch die neue Ost- und Deutschlandpolitik in Bewegung geratenen internationalen Lage anzupassen, sie musste auch essenzielle eigene Interessen denen der Sowjetunion unterordnen. Erschwerend kam hinzu, dass das vorrangige deutschlandpolitische Ziel der SED, die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik zu erhalten, von der sowjetischen Vormacht keineswegs in der Weise unterstützt wurde, wie man dies erwartet hatte. Vielmehr musste die DDR mit der Bundesregierung nun in intensive Verhandlungen treten, ohne dass sich Bonn der gewünschten Vorbedingung beugen musste, sie auch als völkerrechtlich souveränen Staat anzuerkennen.
Gutnachbarliche Beziehungen
Nachdem schließlich die Westmächte und die Sowjetunion am 3. September 1971 das Berlin-Abkommen unterzeichnet und damit ihre gemeinsame und zugleich übergeordnete Verantwortung für Deutschland und Berlin bekräftigt hatten, konnte zwischen beiden deutschen Staaten als erste bilaterale Vereinbarung am 17. Dezember 1971 das "Transitabkommen" geschlossen werden, mit dem der Verkehr zwischen Berlin (West) und dem Bundesgebiet geregelt wurde. Im Mai 1972 folgte ein umfassendes Verkehrsabkommen zwischen beiden deutschen Staaten. Schließlich wurde im Dezember 1972 der "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen" geschlossen, in dem sich beide Staaten dazu verpflichteten, "gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung" zu pflegen.
Der Abschluss dieses Vertrages war allerdings nur möglich geworden, weil sich Bonn und Ost-Berlin zu weitreichenden Kompromissen durchgerungen hatten. So erkannte die Bundesregierung zwar die staatliche Existenz der DDR an, versagte ihr aber jedwede völkerrechtliche Anerkennung, da sie an der Auffassung festhielt, dass die beiden deutschen Staaten füreinander kein Ausland darstellen könnten, wie dies bei allen anderen nichtdeutschen Staaten der Fall sei. Diese Haltung, zusammen mit dem Ziel, die Wiederherstellung der Einheit auf friedlichem Wege zu erreichen, brachte sie im "Brief zur deutschen Einheit" zum Ausdruck, der dem "Grundlagenvertrag" beigegeben wurde.
Die DDR wiederum hatte durch diesen deutsch-deutschen Vertrag die internationale Anerkennung erhalten; bis Ende der siebziger Jahre nahmen fast alle Staaten der Welt offizielle diplomatische Beziehungen mit ihr auf. Zudem wurden beide deutsche Staaten am 18. September 1973 in die UNO aufgenommen. Insgesamt schuf der "Grundlagenvertrag" die Basis dafür, dass trotz nach wie vor bestehender Teilung menschliche Erleichterungen ermöglicht wurden und der Besuchsverkehr zwischen beiden deutschen Staaten ausgebaut werden konnte.
Die jetzt durch internationale sowie bilaterale Verträge erreichte Öffnung der DDR war allerdings für den SED-Staat selbst keineswegs unproblematisch. Vielmehr musste die Führung in Ost-Berlin nicht zu Unrecht eine beträchtliche, existenzielle Gefährdung gerade in dem Umstand erblicken, dass mit dieser Öffnung unweigerlich politische, ideologische und kulturelle Sickereinflüsse des "Klassenfeindes" verbunden waren. Zwar war letztlich die durch die "Ostpolitik" erzwungene Öffnung auf Seiten der DDR marginal, weil, abgesehen von Rentnerinnen und Rentnern, bis zum Jahr 1980 nur 42000 jüngere Menschen aus der DDR die Erlaubnis erhielten, in die Bundesrepublik zu reisen. Aber bereits Ende 1973 hatten nahezu vier Millionen Bürgerinnen und Bürger aus der Bundesrepublik einschließlich West-Berlin die DDR besucht.
Wirksame Abgrenzung wurde für den SED-Staat daher zur existenzsichernden Maxime. Ein massiver, personeller und struktureller Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowie verbesserte, präventive Überwachungs- und Einwirkungsmethoden waren die Reaktion des Honecker-Regimes. Bis Mitte der siebziger Jahre stieg die Zahl der "Inoffiziellen Mitarbeiter" (IM) auf 180000 (1968 noch knapp 100000). Gleichzeitig wurden zunehmend subtile, "weiche" Repressionsmechanismen angewandt, die auch Formen ausgeklügelten Psychoterrors – in der Sprache der Staatssicherheit "Zersetzungsmethoden" – einschlossen. In diesen Jahren entwickelte sich die DDR zum Staat mit der höchsten Dichte an Geheimpolizisten (vgl. Hubertus Knabe).
QuellentextInterview mit Honecker
[...] Frage: "Das deutsche Volk wurde nach einem immensen Weltkrieg geteilt, in dem das faschistische Dritte Reich zerstört wurde. [...]. Glauben Sie an ein Zusammenkommen in der Zukunft – nicht im Sinne einer Wiedervereinigung von etwas, das einmal war, sondern einer Vereinigung zweier jetzt völlig unabhängiger Staaten, die ein immer noch eng verbundenes Volk regieren?" [...]
Antwort: "Das faschistische Dritte Reich ist im Feuer des II. Weltkrieges untergegangen, damit haben Sie recht. Es entstanden zwei voneinander unabhängige deutsche Staaten mit grundlegend verschiedener Gesellschaftsordnung. Das war ein Prozess, den niemand mehr rückgängig machen kann und an dem auch kulturelle Traditionen und familiäre Beziehungen nichts zu ändern vermögen. Selbstverständlich existieren Traditionen, und so weit sie progressiv sind, erfahren sie in unserem Staat alle Pflege. Familiäre Beziehungen, die natürlich schon allein durch das Heranwachsen neuer Generationen lockerer werden, brauchen nicht zu verkümmern. Verwandtschaftliche Beziehungen brauchen nicht belastend zu sein für die Entwicklung gut nachbarlicher Beziehungen zwischen zwei voneinander unabhängigen und souveränen Staaten [...]. Sie sind keinesfalls hinderlich, sondern von Vorteil. Aber Tatsache ist nun einmal: Es gibt zwei Staaten, die sozialistische DDR und die kapitalistische BRD, die sich grundverschieden entwickeln, und es gibt Bürger der DDR und Bürger der BRD. Normale Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten können nur solche der friedlichen Koexistenz sein. Auf ihrer soliden Grundlage gestalten sich die Dinge zum Nutzen der Menschen. Heute über das zu sprechen, was Sie ein Zusammenkommen in der Zukunft nennen, ist müßig. Fest steht: Sozialismus und Kapitalismus lassen sich nicht unter ein Dach bringen. Im übrigen haben auch Politiker westlicher Staaten mehrfach betont, dass sie derselben Ansicht sind. Für die DDR gibt es kein Zurück zum Kapitalismus, und der Weg zum Sozialismus in der BRD ist eine innere Angelegenheit unseres Nachbarlandes ..."
Frage: "Teilen Sie die Auffassung des neuen Bundeskanzlers Schmidt, dass trotz Erschwernissen die Bemühungen um Ost-West-Entspannung, insbesondere die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, verstärkt werden sollen?"
Antwort: "[...] Insgesamt, so denke ich, ist die weltpolitische Großwetterlage heute so, dass es zur friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher sozialer Ordnung keine Alternative gibt. [...]
Interview Erich Honeckers mit AP am 4. Juni 1974 in: Archiv der Gegenwart, Bd. 7, Sankt Augustin 2000, S. 6250 f.
Verfassungsänderungen
Wie sehr die Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung Brandt/Scheel die DDR unter Honecker heraus- und dementsprechend "erhöhte Wachsamkeit" erforderte, illustrierte eine für die Bevölkerung völlig überraschend vorgenommene, erneute Verfassungsänderung im September 1974, obwohl erst sechs Jahre zuvor eine neue Verfassung die noch aus dem Jahre 1949 stammende ersetzt hatte. Im revidierten Verfassungstext wurde nunmehr jegliche Bezugnahme auf Deutschland und eine gemeinsame deutsche Nation getilgt, doch stattdessen in Artikel 6 eigens festgeschrieben, dass die DDR "für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet" bleibe. Die Unterscheidung zwischen "Staatsbürgerschaft – DDR, Nationalität deutsch" fußte auf der Behauptung, die deutsche Frage sei durch die angeblich so unterschiedliche "soziale Existenzform" der Menschen in beiden deutschen Staaten aufgrund der gegensätzlichen Herrschafts-, Staats- und Gesellschaftssysteme in beiden deutschen Staaten nicht mehr existent.
Normalisierungsversuche
In finanzieller Hinsicht indessen konnte die DDR aus den deutsch-deutschen Verträgen und Abkommen beträchtliche Vorteile ziehen. Bis zum Herbst 1989 nahm der SED-Staat durch die Transitpauschale knapp acht Milliarden DM ein, für die Erneuerung bzw. den Ausbau von Autobahnen von der Bundesrepublik nach West-Berlin wurden der DDR zwei Milliarden DM überwiesen. Auch sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die Bundesrepublik seit 1963 für den "Freikauf" von über 33000 in der DDR inhaftierten politischen Häftlingen bis Ende 1989 circa 3,4 Milliarden DM aufgewendet hat, die dem SED-Staat in der begehrten westlichen Valuta ausgezahlt wurden. Zudem befand sich das SED-Regime aufgrund der Tatsache, dass es letztendlich über die Kontrolle der "Transitwege" verfügte, in einer politisch durchweg vorteilhafteren Position.
Trotz aller bundesdeutschen Versuche zur "Normalisierung" der innerdeutschen Beziehungen blieb die Deutschlandpolitik jedoch ein für beide Staaten brisantes, hochsensibles Feld. Das lag zunächst in den gegensätzlichen Zielsetzungen begründet. Während die Politik aller Bundesregierungen darauf gerichtet war, letztlich die Wiedervereinigung herbeizuführen, musste das SED-Regime, schon aus Gründen des Machterhalts, dies mit allen Mitteln verhindern. Dabei schreckte Ost-Berlin auch nicht vor Maßnahmen zurück, die die in-nersten Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik tangierten. So stellte die Enttarnung des persönlichen Referenten von Bundeskanzler Willy Brandt, Günter Guillaume, der im April 1974 als Spion der DDR verhaftet wurde, eine schwere Belastung der deutsch-deutschen Beziehungen dar, die am 6. Mai 1974 zum Rücktritt Brandts, des Architekten und Promotors der "Ostpolitik", führte (vgl. auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 258 zum Thema "Zeiten des Wandels. Deutschland 1961–1974"). Dennoch trug der schwer wiegende Vorfall nicht zu einem Abbruch der von westdeutscher Seite aus fortgesetzten Entspannungspolitik bei. Zu groß war das beidseitige Interesse, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus, die Vorteile zu erhalten, die aus den Verträgen resultierten.
Der Abgrenzungspolitik der SED-Führung war angesichts der erzwungenen Öffnung der DDR auf Dauer kein durchschlagender Erfolg beschieden. Vielmehr ergab sich aus dem innerdeutschen Vertragswerk ein allmählich wachsender Austausch vielfältiger, gegenseitiger Kontakte, der wiederum in seiner subtilen Einwirkung auf die Bevölkerung in der DDR auch durch den massiven Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nie völlig unterdrückt oder gar ausgeschaltet werden konnte. Somit befand sich die DDR auch in dieser Hinsicht in einer ambivalenten Situation.
KSZE-Schlussakte
Ohne Frage bedeutete die Unterzeichnung der Schlussakte der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) am 1. August 1975 in Helsinki nicht nur für die Parteiführung, sondern auch für viele Menschen in der DDR ein sichtbares Zeichen internationaler Anerkennung. Honeckers Präsenz unter den führenden Staatsmännern der Welt schien ein Stück endlich errungener, staatlicher Normalität widerzuspiegeln.
Allerdings wurde die vor allem von der sowjetischen Führung und dem SED-Regime gewünschte und von den westlichen Staaten auch bestätigte Anerkennung der "territorialen Integrität", nämlich die Akzeptanz der nach dem Zweiten Weltkrieg – insbesondere in Mittel- und Osteuropa – entstandenen Grenzen, zugleich an die weltweite "Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit" gekoppelt. Mit seiner Unterschrift hatte sich der SED-Chef somit auch zur Anerkennung der "universellen Bedeutung" der verbrieften Rechtsgarantien verpflichtet und gelobt, "die universelle und wirksame Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern" (Dieter Blumenwitz). Ihm schien diese Verpflichtung allerdings, wie den übrigen sozialistischen Staaten auch, nur Beiwerk. Für die innere Entwicklung der DDR sah man in diesem Vertragsabschnitt keine Gefahr. Daher wurde der Vertragstext von Helsinki auch im SED-Organ "Neues Deutschland" in voller Länge veröffentlicht und konnte somit von allen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern gelesen werden.
Zweifellos stand Honecker in außen- wie in innenpolitischer Hinsicht Mitte der siebziger Jahre auf dem Höhepunkt seiner Macht: Nur ein dreiviertel Jahr nach der KSZE-Konferenz bestätigte der IX. Parteitag der SED im Mai 1976 seine unangefochtene Führungsposition, die in der Ernennung zum SED-Generalsekretär ihren Ausdruck fand. Im Oktober desselben Jahres wurde er Staatsratsvorsitzender und übernahm zusätzlich das Amt des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Das ökonomische und sozialpolitische Konzept, das er seit seinem Machtantritt mit der Losung von der "untrennbaren Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik" verfolgt hatte, wurde sogar ins neue Parteiprogramm aufgenommen. Auch in der Sicht nicht weniger Bundesbürger schien der SED-Staat, zumal die meisten ihn nur von außen kannten, einen Hort der Stabilität und der sozialen Sicherheit zu verkörpern.
QuellentextKSZE-Schlussakte
– Auszug –
[...] Die Teilnehmerstaaten,
Unter Bekräftigung ihrer Verpflichtung zu Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit und zur stetigen Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit; [...]
Erklären ihre Entschlossenheit, die folgenden Prinzipien [...] zu achten und in die Praxis umzusetzen:
I. Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte
Die Teilnehmerstaaten werden gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und Individualität sowie alle ihrer Souveränität innewohnenden und von ihr umschlossenen Rechte achten, einschließlich insbesondere des Rechtes eines jeden Staates auf rechtliche Gleichheit, auf territoriale Integrität sowie auf Freiheit und politische Unabhängigkeit. Sie werden ebenfalls das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen. [...]
II. Unverletzlichkeit der Grenzen
Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in der Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben. [...]
V. Friedliche Regelung von Streitfällen
Die Teilnehmerstaaten werden Streitfälle zwischen ihnen mit friedlichen Mitteln auf solche Weise regeln, dass der internationale Frieden und die internationale Sicherheit sowie die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. [...]
VI. Nichteinmischung in innere Angelegenheiten
Die Teilnehmerstaaten werden sich ungeachtet ihrer gegenseitigen Beziehungen jeder direkten oder indirekten, individuellen oder kollektiven Einmischung in die inneren oder äußeren Angelegenheiten enthalten, die in die innerstaatliche Zuständigkeit eines anderen Teilnehmerstaates fallen. [...]
VII. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit
Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten.
Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind, fördern und ermutigen.
In diesem Rahmen werden die Teilnehmerstaaten die Freiheit des Individuums anerkennen und achten, sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu einer Religion oder einer Überzeugung in Übereinstimmung mit dem, was sein Gewissen ihm gebietet, zu bekennen und sie auszuüben. [...]
Auf dem Gebiet der Menschenrechte und Grundfreiheiten werden die Teilnehmerstaaten in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte handeln. Sie werden ferner ihre Verpflichtungen erfüllen, wie diese festgelegt sind in den internationalen Erklärungen und Abkommen auf diesem Gebiet, so weit sie an sie gebunden sind, darunter auch in den Internationalen Konventionen über die Menschenrechte. [...]
IX. Zusammenarbeit zwischen den Staaten
Die Teilnehmerstaaten werden ihre Zusammenarbeit miteinander und mit allen Staaten in allen Bereichen gemäß den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen entwickeln. [...]
Sie werden sich bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit als Gleiche bemühen, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen, freundschaftliche und gutnachbarliche Beziehungen untereinander, internationalen Frieden, internationale Sicherheit und Gerechtigkeit zu fördern. Sie werden sich gleichermaßen bemühen, bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit das Wohlergehen der Völker zu verbessern und zur Erfüllung ihrer Wünsche beizutragen, unter anderem durch die Vorteile, die sich aus größerer gegenseitiger Kenntnis sowie dem Fortschritt und den Leistungen im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen, sozialen, kulturellen und humanitären Bereich ergeben. Sie werden Schritte zur Förderung von Bedingungen unternehmen, die den Zugang aller zu diesen Vorteilen begünstigen; sie werden das Interesse aller berücksichtigen, insbesondere das Interesse der Entwicklungsländer in der ganzen Welt, Unterschiede im Stand der wirtschaftlichen Entwicklung zu verringern. [...]
Der Text der vorliegenden Schlussakte wird in jedem Teilnehmerstaat veröffentlicht, der ihn so umfassend wie möglich verbreitet und bekannt macht. [...]
Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit vom 1. August 1975 in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 7. Wahlperiode, Band 208, Drucksache 3867.
Innere Konflikte
Dennoch ist um die Mitte der siebziger Jahre zugleich auch der Wendepunkt anzusetzen, welcher der weiteren Entwicklung der DDR die entscheidende Prägung geben sollte. Noch im Jahr des KSZE-Vertragsabschlusses hatten 13000, im Folgejahr 1976 20000 DDR-Bürgerinnen und -Bürger einen Ausreiseantrag gestellt. Als "rechtswidrige Übersiedlungsersucher" diffamiert, beriefen sie sich trotz meist massiver persönlicher, familiärer und beruflicher Repressalien ausdrücklich auf das von Honecker unterzeichnete und in der KSZE-Schlussakte zugesicherte Recht auf Freizügigkeit. Partei und Staatssicherheit gelang es nicht, den anschwellenden Strom von Ausreisewilligen zu stoppen, die hartnäckig auf dieses Recht pochten.
Die Aufsehen erregende Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz auf dem Marktplatz von Zeitz am 18. August 1976, der nach jahrelanger Schikanierung durch die Behörden und innerkirchlichen Konflikten mit seinem verzweifelten Akt darauf aufmerksam machen wollte, dass die freie Ausübung religiöser Überzeugung in der DDR fast durchweg mit persönlichen und beruflichen Nachteilen verbunden war, demonstrierte ebenfalls drastisch, dass die "Achtung von Religions- oder Überzeugungsfreiheit" im Sinne der KSZE-Schlussakte vom SED-Staat keineswegs gewährleistet wurde.
Kritische Intellektuelle
Doch vor allem die Ausbürgerung des überzeugten Sozialisten, Regimekritikers, Dichters und Liedermachers Wolf Biermann nach einem Konzert in Köln im November 1976 markierte mehr als nur eine bloße Wende in der Kulturpolitik. Ihr folgte die Anordnung permanenten Hausarrests für den bekannten reformkommunistischen Systemkritiker, den Naturwissenschaftler Robert Havemann, der mit Biermann eng befreundet war. Die Maßnahme erfolgte ohne Rücksicht darauf, dass diese Zwangsausbürgerung notwendigerweise zum deutsch-deutschen Medienereignis werden musste. Ihr eigentlicher Zweck, "Kulturschaffende" wieder auf linientreuen Kurs zu bringen und Kritik am SED-Staat so weit wie möglich zu unterbinden, zog nicht nur innen- und kulturpolitisch schwere Konflikte nach sich, der die Partei nur mit Mühe Herr wurde. Sie trug auch zu einem markanten Stimmungsumschwung in der DDR bei. Binnen weniger Jahre führte die Solidarisierung namhafter Autorinnen und Autoren sowie Kunstschaffender mit Biermann zu massiven Gegenmaßnahmen der Partei. So wurden unter anderem Sarah Kirsch und Jurek Becker aus der Partei ausgeschlossen, Jürgen Fuchs, Christian Kunert und Gerulf Pannach wurden in die Bundesrepublik abgeschoben.
Kritisch eingestellte Intellektuelle werteten das Vorgehen der SED zu Recht als Symptom einer allgemeinen politisch-ideologischen Verhärtung, zumal die Kette solcher Vorfälle nicht abriss. Als der Marxist Rudolf Bahro im Frühjahr 1977 sein Buch "Die Alternative", eine fundierte, systemkritische Analyse des SED-Staates in der Bundesrepublik veröffentlichte, wurde er noch im August desselben Jahres verhaftet und im Juni 1978 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Ebensolches Aufsehen erregte die Veröffentlichung eines "Manifests der Opposition" im westdeutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im Januar 1978. Die hier geäußerte massive Kritik am existierenden "Realsozialismus" in der DDR prophezeite dessen ökonomischen Ruin und forderte eine tatsächlich und nicht nur propagandistisch auf Wiedervereinigung abzielende Politik.
Alle diese Vorgänge illustrierten, dass sich hinter der permanent geschönten Fassade der DDR tief greifende Konflikte in nahezu allen Bereichen verbargen. Auch wenn die breite Masse der Bevölkerung in der DDR häufig nur in unterschiedlichem Maße über derartige Vorfälle im Einzelnen informiert war bzw. dafür Interesse zeigte, wurde jedoch von allen sozialen Schichten sehr wohl registriert, dass sich die Versorgungslage in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wieder spürbar zu verschlechtern begann.
QuellentextAusbürgerung Biermanns
Biermann hatte mit seinen Liedern die Regierenden bis zum Äußersten gereizt, die beobachten mussten, wie sehr seine Texte die Kritik multiplizierten. Aber auch die Aufmerksamkeit für den Liedermacher im Westen war für die SED-Führung unangenehm. Lieblingsthema der SED im ideologischen Streit um die Menschenrechte waren die Berufsverbote für Kommunisten in der Bundesrepublik. So traf sie der Vorwurf, selbst Berufsverbote zu verhängen, besonders hart. Als sich im Frühjahr 1976 eine Initiativgruppe "Freiheit der Meinung – Freiheit der Reise für Wolf Biermann, Wolf Biermann nach Bochum" an der Bochumer Universität bildete, die mehrere zehntausend Unterschriften sammeln konnte, auch von prominenten Politikern und Publizisten, kam die SED-Führung in eine schwierige Lage. Sie konnte die Einladung Biermanns für Konzerte, die teilweise im Rahmen eines Jugendmonats der IG Metall im November stattfinden sollten, nicht mehr wie in den Vorjahren ignorieren. Sie genehmigte die Reise.
Am 13. November 1976 gab Biermann in der Kölner Sporthalle ein von Rundfunk und Fernsehen übertragenes Konzert. Die Erwartungen an dieses Konzert in Ost und West waren groß. Von Anfang an stand die Frage im Raum, ob Biermann wieder in die DDR zurückreisen durfte, war doch bekannt, dass die SED-Führung ihn loswerden wollte und ihm die Ausreise schon angeboten hatte. Aber es schien unwahrscheinlich, dass sich die SED mit einer Ausweisung, die als eine zynisch gestellte Falle erscheinen musste, vor der Weltöffentlichkeit bloßstellen würde.
Doch die "verdorbenen Greise" im Politbüro, wie sie Biermann in einem seiner Lieder nannte, entschieden sich für die Ausweisung. Am 17. November verbreitete die DDR-Nachrichtenagentur ADN die Meldung: "Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen." (Komittee 1977, 87)
Mit einer solchen Formulierung sollte suggeriert werden, dass der Liedermacher eigentlich ein Westdeutscher sei, dessen Aufenthalt in der DDR nun beendet würde. Am folgenden Tag legte Günter Kertzscher im Neuen Deutschland nach und stempelte ihn als Feind der DDR ab. [...] Doch dies verschlimmerte die Situation nur und ließ die gesamte Affäre zu einer schweren politischen Niederlage der SED werden, da Biermann eine breite Solidarisierung in Ost und West erfuhr. [...]
Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Bonn 1997, S. 226 f.
Ökonomische Dauerkrise
Der wirtschafts- und sozialpolitische Kurswechsel von 1971 hatte es nicht vermocht, die DDR auf ein solides ökonomisches Fundament zu stellen. Vielmehr hatte die seither erfolgte Zurücknahme von Investitionen in der Industrie zugunsten erhöhter, sozialpolitischer Leistungen für die Bevölkerung zu Einbrüchen in der Produktion hochwertiger Industrieprodukte geführt. Zugleich hatte sich der Abstand zu westlicher Hochtechnologie nicht verringert, sondern erhöht. Ebenso war das Konzept, wirtschaftliches Wachstum vornehmlich durch Intensivierung, Effizienzsteigerung und Einsparungen zu erzielen, einerseits an der veralteten Industrieausrüstung, andererseits an den weltweit sprunghaft gestiegenen Rohöl- und Rohstoffpreisen gescheitert. Die überstürzt eingeleitete Förderung der Mikroelektronik und Datenverarbeitung ab Juni 1977 entzog der Leistungssteigerung anderer Industriezweige weitere, dringend benötigte Investitionen.
Die volkswirtschaftlich notwendige Reduzierung der erheblichen Subventionen für Grundnahrungsmittel, Mieten und Sozialleistungen, die Mitte der achtziger Jahre bereits mehr als ein Viertel des Staatshaushaltes ausmachen sollten, aber auch des kostspieligen Wohnungsbauprogramms, war aus sozialpolitischen Gründen kaum möglich. Honecker lehnte sie jedenfalls aufgrund der letztlich zutreffenden Befürchtung ab, eine spürbare Reduzierung der sozialpolitischen Leistungen könne zu Unruhen in der Bevölkerung und damit eventuell zur Gefährdung der eigenen Machtposition führen. Ein so aufmerksamer Beobachter wie der DDR-Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski notierte daher im November 1979 in sein Tagebuch: "Auf keinem Gebiet haben wir eine Konzeption. Wir leben von der verwelkten Hand in den zahnlosen Mund".
Tatsächlich hatte sich die wirtschaftliche Lage der DDR zu Beginn der achtziger Jahre erneut verschärft. Die Ursachen hierfür ergaben sich teils systembedingt aus der ineffizienten Planwirtschaft selbst, teils waren sie Folge des verfehlten wirtschaftspolitischen Kurses seit 1971, teils resultierten sie aus der allgemeinen Verteuerung der Rohstoff- und Energiepreise auf dem Weltmarkt.
Das Konzept, durch Kredite von westlichen Staaten die eigene Wirtschaft mit gezielten Investitionen zu modernisieren, war nicht aufgegangen. Die strikte Verfolgung der "Hauptaufgabe", nämlich die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" zu realisieren, hatte weniger zu dringend benötigten Investitionen in die eigene Industrie als zum Import von Rohstoffen und Nahrungs- bis hin zu Futtermitteln geführt. Das begann sich zu Beginn der achtziger Jahre erstmals negativ auszuwirken. Binnen einer Dekade waren die Verbindlichkeiten der DDR gegenüber westlichen Banken auf 24,2 Milliarden DM (1981) gestiegen. Mangelnde Investitionen zur umfassenden Modernisierung der eigenen Industrie wiederum ließen die Arbeitsproduktivität stagnieren. 1983 belief sie sich bereits auf weniger als die Hälfte (47 Prozent) im direkten Vergleich mit der Bundesrepublik.
Auch der seit Mitte der siebziger Jahre forcierte Export vor allem in den "nichtsozialistischen Wirtschaftsbereich" mit der Zielsetzung, westliche Devisen um jeden Preis hereinzubringen, hatte das Anwachsen der Verschuldung bei westlichen Gläubigerstaaten nicht verhindern können. Stattdessen waren damit ebenfalls negative Entwicklungen einhergegangen: Der Export hatte vor allem bei hochwertigen Produkten zu einer für die Bevölkerung spürbaren Verschlechterung der Versorgungslage geführt. Die Palette der Mangelwaren reichte dabei von Motorrädern, Durchlauferhitzern, Heißwasserspeichern und Schreibmaschinen bis hin zu Lederschuhen.
Die "Werktätigen" in den Betrieben frustrierte es, dass die von ihnen hergestellten und benötigten Industriewaren von vornherein für den Export in den "Westen" bestimmt waren und nicht für den eigenen Bedarf zur Verfügung standen. Ebenso registrierten Arbeiter und Angestellte zunehmend, dass Produktionsanlagen und Maschinen allmählich veralteten und verschlissen – eine Folge ungenügender oder gänzlich ausbleibender Investitionen. Häufig konnte nur mit geschickter Improvisation dem drohenden Totalausfall begegnet werden. Aus der unüberbrückbaren Kluft zwischen der ständig propagierten Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsordnung und den konkreten Erfahrungen im Betriebsalltag erwuchsen Frustration und Zynismus, was wiederum der Arbeitsmotivation abträglich war.
Devisenbeschaffung
Wie sehr die Staatsführung inzwischen unter dem Druck stand, buchstäblich um jeden Preis westliche Devisen hereinzubringen (die zum Teil sogleich wieder für die Schuldentilgung ausgegeben werden mussten), zeigte sich auch am forcierten Ausbau der bereits 1966 gegründeten "Kommerziellen Koordinierung" (KoKo), die unter der Leitung des Staatssekretärs im Außenhandelsministerium und zugleich Offiziers im besonderen Einsatz (OibE) des MfS, Alexander Schalck-Golodkowski, stand. Über diese rein marktwirtschaftlich(!) operierende Institution im real existierenden Sozialismus wurden unter anderem Verkäufe von zumeist aus Enteignungen stammenden Antiquitäten und Kunstgegenständen ins westliche Ausland organisiert – ebenso wie von Waffen und Blutkonserven. Immerhin gelang es mit dieser teilweise illegal und kriminell agierenden Institution bis 1989, insgesamt circa 25 Milliarden DM zu "erwirtschaften" (Rainer Eppelmann). Der "Verkauf" politischer Häftlinge an die Bundesrepublik, der in der Honecker-Ära ebenfalls zu einer finanziell keineswegs unbedeutenden Möglichkeit der Devisenbeschaffung ausgebaut wurde, ist in dieser Summe nicht einmal enthalten. Hinzu kamen "legale" Erlöse in westlicher Hartwährung aus dem innerdeutschen Transithandel und dem Zwangsumtausch für Besucher aus der Bundesrepublik bzw. West-Berlin.
Auch durch den Ausbau der Intershop-Läden und den Genex-Versandhandel, über die westliche Industrieprodukte von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern gegen West-Valuta erworben werden konnten, versuchte das Regime, hochwertige Konsumgüter ins Land zu schaffen und Devisenbestände bei der eigenen Bevölkerung abzuschöpfen. Allerdings führte auch dies zu kontraproduktiven Effekten. Wer "West-Verwandtschaft" besaß oder sonst irgendwie an "West-Geld" herankam, war eindeutig besser gestellt als jene DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die nicht über diese Möglichkeiten verfügten. Zur tatsächlich vorherrschenden inneren Spaltung der angeblich klassenlosen Gesellschaft in der DDR zwischen der Minderheit, die über Macht und Privilegien verfügte und der Mehrheit, die daran keinen Anteil hatte, kam somit eine weitere Teilung: Eine "Zwei-Klassen-Gesellschaft" mit und ohne westliche Devisen.
Zu welchen Absurditäten das Preissystem der DDR tatsächlich führen konnte, hat der damalige Chef der zentralen staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, an zwei Beispielen nach der "Wende" deutlich gemacht: "Lieferte ein Züchter ein Kaninchen an den Staat, erhielt er dafür 60 Mark. Kaufte er es danach geschlachtet und ausgenommen bei der Staatlichen Handelsorganisation (HO) zurück, kostete es trotz der aufgewendeten Arbeit nur 15 Mark." Analoges galt für Hightech-Produkte, etwa für die Entwicklung und Herstellung eines in der DDR selbst produzierten Mikrochips: "Die Selbstkosten für einen Chip betrugen 536 Mark. Der Verkaufspreis war in der DDR auf 16 Mark festgelegt." (Der Spiegel vom 15. November 1999)
Hohe Verschuldung
Eine grundlegende Änderung der sich zuspitzenden Wirtschaftsmisere war aber kaum möglich. Zum einen gelang es der DDR immer weniger, hochwertige Industriegüter herzustellen und in den "Nichtsozialistischen Wirtschaftsbereich" zu exportieren; zum anderen war sie aufgrund vielfältiger und meist langfristiger ökonomischer Vertragsverpflichtungen fest in den "Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) eingebunden. Als die Sowjetunion aufgrund massiver eigener ökonomischer Schwierigkeiten im Jahre 1981 ihre Erdöllieferungen von jährlich 19 auf 17 Millionen Tonnen reduzierte, verringerte sich dadurch auch die Möglichkeit der DDR, durch Veredelung von Rohölprodukten westliche Devisen zu erwirtschaften, dramatisch. Honecker war sich der kritischen wirtschaftlichen wie politischen Lage voll bewusst, als er bei Breschnew anfragen ließ, "ob es zwei Millionen Tonnen Erdöl wert sind, die DDR zu destabilisieren"? Doch die Sowjetunion beließ es bei dieser Entscheidung.
Nur ein Jahr später reagierte die Bank für internationalen Zahlungsausgleich, als nach den Zahlungsunfähigkeitserklärungen Polens und Rumäniens gegenüber der DDR ebenfalls ein Kreditstopp verhängt wurde, auch wenn dies gleichzeitig eine politisch motivierte Vorsichtsmaßnahme darstellte. Der Kreditstopp durch westliche Gläubigerbanken war die Folge. Die erneut forcierte Erhöhung von Westexporten bei gleichzeitiger rigider Drosselung von Westimporten bedeutete jedoch keine Abhilfe. Vielmehr wurden die dringend modernisierungsbedürftige Industriestruktur und das Produktionspotenzial weiter geschwächt.
Erst zwei vom bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß vermittelte Kredite in den Jahren 1983 und 1984 in Höhe von insgesamt 1,95 Milliarden DM, für welche die Bundesrepublik Deutschland eine Garantie übernahm, stellten – ohne dass sich die weiter bestehenden gravierenden Wirtschafts- und Finanzprobleme grundlegend änderten – die Kreditwürdigkeit der DDR wieder her. Dennoch war die aufgelaufene Verschuldung in westlicher Valuta nicht mehr abzugleichen. Seit 1981 pendelte das Schuldenvolumen bis zur "Wende" von 1989/90 zwischen 15 und 25 Milliarden DM. Auch die kleinste noch bestehende Chance auf Besserung der katastrophalen Wirtschaftssituation schwand 1986, als ein rascher Einbruch der Rohölpreise und somit auch der Preise für Erdölprodukte erfolgte. 1989 vermochten Devisenerlöse der DDR-Ökonomie nur noch zu 35 Prozent Westimporte, Zinsen und Tilgung abzudecken.
Wohnungsbaupolitik
Gleichwohl propagierte die SED-Führung weiterhin unentwegt die Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft, obwohl sie ihre Unzulänglichkeit längst sichtbar unter Beweis gestellt hatte. Dabei schreckte das Regime auch nicht vor Fälschungen zurück. Als Erich Honecker am 12. Oktober 1988 im Rahmen des Wohnungsbauprogramms, des "Kernstücks der Sozialpolitik der SED", die angeblich dreimillionste Wohnung in Ost-Berlin an ein junges Ehepaar mit Kind offiziell übergab, handelte es sich tatsächlich erst um die zweimillionste seit seinem Machtantritt 1971. Auch wenn die DDR-Bevölkerung sehr wohl die Verschlechterung der ökonomischen Lage am eigenen Leib verspürte, so hatten doch solche gezielten Täuschungen durchaus den Effekt, dass der bevorstehende Bankrott des SED-Staates um die Jahreswende 1989/90 vielen völlig unglaubhaft erschien, ja einen Schock bedeutete.
QuellentextWirtschaft und Konsum in der DDR
Wie es tatsächlich um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt bestellt ist, illustriert die Episode des 64 Kilobit-Chips. 1981 teilte der zuständige Minister mit, dass die DDR gemeinsam mit der Sowjetunion an der Entwicklung des elektronischen Bausteins arbeite. 1984 sollte der Chip auf den Markt kommen. Im April 1986 wurde schließlich mitgeteilt, dass der technologische Durchbruch gelungen sei und der Chip tatsächlich produziert werde.
Wie verheerend für die Wirtschaft der DDR diese durchaus üblichen Verzögerungen bei der Entwicklung und Produktion neuer Techniken sind, zeigt die Entwicklung des Preises für den 64 Kilobit-Chip. Als ihn die Japaner auf den Markt brachten, bekamen sie für jeden Chip 125 Dollar. Als die DDR damit herauskam, kostete er nur noch 30 Cent und war auf den Wühltischen von Elektronikläden zu haben.
Die DDR ist in den vergangenen Jahren technisch vermutlich weiter zurückgefallen. Heute liegt sie etwa vier bis sieben Jahre hinter der Entwicklung der führenden westlichen Industriestaaten zurück – beim Tempo des technischen Wandels ein immenser Abstand, der nur bei Konzentration aller Kräfte auf die modernen Schlüsseltechniken aufzuholen ist.
Peter Christ, "Mächtig stolz auf die eigene Leistung", in: Die Zeit Nr. 28 vom 4. Juli 1986.
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Ende August entdeckte ich im Einrichtungshaus unserer Stadt eine wunderschöne Wohnzimmerschrankwand Modell "Anklam" (4936,– Mark). Viel Geld auf den ersten Blick, aber sie sollte unsere Familie für den Rest des Lebens erfreuen, denn so bald kauft man keine neue Anbauwand. Und wir hatten Glück, für den Monat September konnte das Geschäft für zehn Schrankwände eine Vornotierung durchführen und wir wurden Nummer zehn.
Nun begann die tägliche Nachfrage zwecks Lieferung, denn der genaue Termin konnte nicht festgelegt werden. Heute nun kam der Hammer, ich erhielt die Mitteilung, dass die Schrankwand nicht mehr geliefert werden kann. Sie würde nur noch für den Export und Genex gefertigt bzw. nach Berlin geliefert. Bei allem Respekt für die zu erbringenden oben genannten Lieferungen, aber auch wir in der Provinz möchten gern schön wohnen.
Eingabe an das Büro Jarowinsky beim ZK der SED, Bundesarchiv SAPMO DY 30/37988.
Gesellschaftliche Krisenerscheinungen
Erwies sich somit Ende der siebziger Jahre die ökonomische Lage der DDR für die SED zunehmend als schwierig, so zeigten sich parallel dazu auch in der Gesellschaft vermehrt Krisensymptome. In diesem Zeitraum kamen allmählich kleine Zirkel und Gruppen auf, die im Umkreis und unter dem Schutz der Kirchen als einzige nichtsozialistische und staatsfreie Großorganisationen zu wirken begannen. Ihr Zustandekommen entsprang unterschiedlichsten Motiven. Die Tatsache, dass öffentliche Diskussionen über Probleme in Staat und Gesellschaft nicht möglich waren, stellte eine wichtige, vielleicht die wichtigste Ursache dar. Auch die sich wieder verschärfende internationale Lage trug zu ihrer Entstehung bei: Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Jahr 1979, die sowjetische Stationierung von Mittelstreckenraketen in Osteuropa und der DDR, die Androhung der Stationierung analoger Waffensysteme in Westeuropa und der Bundesrepublik infolge des NATO-Doppelbeschlusses, sowie schließlich das Aufbrechen der langangestauten Krise in Polen 1981 – dies alles ließ den Wunsch nach Frieden durch Abrüstung laut werden. Indirekte Unterstützung erfuhr die Entstehung solcher Gruppen in der DDR auch durch die Friedensbewegung in der Bundesrepublik.
Vornehmlich stellte die Bildung solcher Gruppen indes eine Reaktion auf bestehende Probleme und Unstimmigkeiten des SED-Staates dar. Sie drückten sich in der permanenten Selbststilisierung der DDR als Friedensstaat aus, die im krassen Widerspruch zur ständig forcierten Militarisierung von Staat und Gesellschaft stand. Das wachsende Engagement für eine sauberere Umwelt ergab sich wiederum aus den zunehmenden, täglich erfahrbaren Belastungen von Erde, Luft und Wasser, hervorgerufen durch die extensive Wirtschaftspolitik seit Mitte der siebziger Jahre. Das Eintreten für Menschen- und Bürgerrechte schließlich resultierte aus der im SED-Staat in diesem Bereich tatsächlich defizitären Situation. Es war bestärkt worden durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte und die von tschechischen Oppositionellen formulierte Charta '77.
Verhältnis Kirche und Staat
Trotz eines umfassenden Meinungsaustausches zwischen Staat und Kirchen am 6. März 1978 blieb das beiderseitige Verhältnis problematisch. Dies zeigte sich, nur ein halbes Jahr später, bei der Einführung des Wehrkundeunterrichts als Pflichtschulfach der Polytechnischen Oberschulen zum 1. September 1978. Der Erlass hierzu war bereits fünf Wochen vor dem Gespräch mit den Kirchen durch das Ministerium für Volksbildung am 1. Februar 1978 ergangen und sah zudem eine verstärkte vormilitärische Erziehung vor. Wenngleich erfolglos, so kam es dennoch in zahlreichen Schulen zu Unterschriftenlisten gegen die "Sozialistische Wehrkunde". Die Kirchenleitungen ihrerseits beschlossen ein Studien- und Aktionsprogramm "Erziehung zum Frieden" mit einem jährlichen Veranstaltungskalender. Schon im November 1981 konnten 100000 der vom sächsischen Jugendpfarrer Harald Brettschneider entworfenen Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" verteilt werden. Massive Versuche, die meist jugendlichen Träger des Abzeichens von staatlicher Seite zu drangsalieren und zu gängeln, setzten deren Engagement genauso wenig ein Ende wie die von der FDJ organisierte Gegenbewegung unter dem Motto "Der Frieden muss verteidigt werden – der Frieden muss bewaffnet sein!"
Dennoch führten die vornehmlich, aber nicht ausschließlich im kirchlichen Umkreis entstehenden Gruppen nach wie vor ein Randdasein in der Gesellschaft. Denn "die Opposition" hat es auch angesichts der sich verschärfenden politischen und ökonomischen Dauerkrise in den achtziger Jahren in der DDR nicht gegeben. Die Masse der Bevölkerung blieb, wie dies Friedrich Schorlemmer charakterisiert hat, "stimmlos-stumm" (vgl. Gisela Helwig, Rückblicke auf die DDR). Das war die millionenfache, durchaus "natürliche" Abwehrreaktion auf ein totalitäres Herrschaftssystem, das beanspruchte, bis in das Privatleben seiner Bürgerinnen und Bürger hineinzuwirken und bei dissidentem oder oppositionellem Verhalten nicht vor Repression und Gewalt zurückschreckte.
QuellentextSchwerter zu Pflugscharen
Der Staatssekretär für Kirchenfragen hatte der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen für den 7.April 1982 ein Sachgespräch zu Erläuterung des neuen Wehrdienstgesetzes und des Gesetzes über die Staatsgrenze der DDR angeboten.
Auf Wunsch der Konferenz wurden in dieses Gespräch die Belastungen einbezogen, die für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche durch die staatliche Entscheidung gegen das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen"* entstanden sind. Die Vertreter der Konferenz haben [...] folgende Positionen vertreten:
Die Friedensbemühungen der DDR erübrigen nicht den kirchlichen Abrüstungsimpuls.
Die Kirche betreibt eine eigenständige Friedensarbeit.
Sie ist nicht einfach Verstärker der Außenpolitik des Staates.
Die Konferenz hat unterstrichen, dass sie in der staatlichen Entscheidung gegen das Symbol der Friedensdekade eine Einschränkung des öffentlichen Zeugnisses der Kirche und eine Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit sehen muss. Sie hat unter Nennung einer Fülle konkreter Fälle dagegen Einspruch erhoben,
dass das eigenständige christliche Friedenszeugnis als Bildung einer "unabhängigen Friedensbewegung" verdächtigt wird;
dass das Tragen des Friedenssymbols "Schwerter zu Pflugscharen" als Bestreitung der Friedenspolitik der DDR und als Versuch der Schwächung der Verteidigungsbereitschaft angesehen wird:
dass das Friedenssymbol als im Westen hergestellt und illegal in die DDR eingeführt ausgegeben wird;
dass seitens der Sicherheitsorgane den Trägern dieses Symbols unterschiedslos missbräuchliche Absichten unterstellt und sie durch weithin unangemessene Maßnahmen kriminalisiert, in ihrer persönlichen Würde verletzt und in ihrem Vertrauen nachhaltig beeinträchtigt werden [...].
Die Konferenz hat ihre Betroffenheit darüber zum Ausdruck gebracht, dass bei Eingriffen keine klare Auskunft über die rechtliche Grundlage gegeben wird.
* Das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" wurde mit der Gebetswoche, der Friedensdekade, 1981 eingeführt und auf einem bedruckten runden Stoffaufnäher ausgegeben, den bis zu 100000 Menschen trugen. Die Staatsorgane verboten den Aufnäher und erzwangen häufig durch die Polizei seine Entfernung. Das Motiv war die stilisierte Wiedergabe des Bibelwortes Micha 4.3. nach einem Denkmal eines sowjetischen Künstlers.
Konflikte um das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" (7. April 1981), in: Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, S. 396 f.
Zunahme der Ausreiseanträge
Sehr wohl nahm die Bevölkerung allerdings die so genannten "Antragsteller" wahr, deren Zahl sich zwischen 1980 (21500) und 1989 (125000) versechsfachte, zumal sie häufig nicht nur Arbeits- und Berufskollegen, sondern auch Nachbarn und Freunde waren. Die ihnen gegenüber sehr oft praktizierte Isolierung und Diskriminierung, hatten sie einmal den Antrag auf Ausreise gestellt, erlebte man oft aus nächster Nähe mit und wurde Zeuge ihres Leidensweges, der sich manchmal über Jahre hinzog. Die angestrebte Übersiedelung in die Bundesrepublik, die zugleich ja auch das Verlassen der Heimat bedeutete, war indes keineswegs nur politisch motiviert.
Eine Befragung unmittelbar nach der "Wende" ergab, dass die Unzufriedenheit mit den politischen Bedingungen in der DDR zwar den Hauptgrund darstellte, der niedrige Lebensstandard jedoch gleich an nächster Stelle rangierte. Hierzu gehörte auch der Unmut über die desolate Wirtschaftslage, die wachsende Umweltproblematik, die unbefriedigenden Wohnbedingungen und nicht zuletzt über die Beschränkung der Reisefreiheit. Auch das indoktrinäre Erziehungs- und Bildungssystem sowie mangelnde Freizeitmöglichkeiten, ungenügende Verkehrs- und Kommunikationsverhältnisse und eine unzureichende Gesundheitsversorgung wurden als Gründe für den Ausreisewunsch genannt. Ein weiteres Motiv für die Ausreise stellten die schlechten und zum Teil ge- sundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen dar (vgl. Dieter Voigt/Hannelore Belitz-Demiriz/Sabine Meck).
Im Unterschied zu den oppositionellen Gruppen wuchs die Gruppe der Antragsteller im Verlauf der achtziger Jahre allmählich zu einer Massenbewegung an, auch wenn bis 1983 jedes Übersiedlungsersuchen als rechtswidrig eingestuft wurde und bis 1989 keine rechtlich wirksame Anerkennung dieses Grundrechts erfolgte. Aufgrund des rapiden Ansteigens der Zahlen entschlossen sich die Behörden, 1984 erstmals circa 30000 Antragstellern die Übersiedelung zu gestatten, 1988 folgte eine zweite Welle mit 25300 Genehmigungen. Während solche Maßnahmen extern gleichzeitig Bestandteil deutsch-deutscher Verhandlungen – etwa über Kreditwünsche der DDR – waren, verfolgten sie intern vor allem den Zweck, ein Unruhepotenzial zu beseitigen. Doch dieses Ziel wurde letztlich nur vordergründig erreicht, da die erteilten Ausreisegenehmigungen viele weitere DDR-Bürgerinnen und -Bürger ermutigten, jetzt ihrerseits einen Antrag zu stellen. Das Problem ließ sich jedenfalls nicht grundlegend lösen. Zudem sorgten Ausreisewillige immer wieder spektakulär für Aufsehen. So kam es 1983 in Jena und 1988 in Leipzig, Dresden und Berlin zu Demonstrationen von Selbsthilfegruppen, und 1984 gelang einigen von ihnen über die amerikanische Botschaft und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin die Übersiedelung in die Bundesrepublik.
Der Konflikt zwischen den oppositionellen Gruppen und Antragstellern ergab sich gleichsam zwangsläufig aus den gegensätzlichen politischen und individuellen Lebensvorstellungen. Denn während die Gruppenmitglieder fast durchweg eine Reform des "real existierenden Sozialismus" anstrebten, zumindest mehrheitlich einen besseren, tatsächlich "demokratischen" Sozialismus verwirklichen wollten, hatten die Antragsteller jegliche Hoffnung auf einen solchen aufgegeben. Sie zogen es trotz der massiven Hindernisse und Widrigkeiten vor, dem SED-Staat den Rücken zu kehren, um in der Bundesrepublik endlich die erhofften Lebens- und Arbeitsbedingungen zu finden. Von Seiten der Gruppen traf sie daher zumeist ein doppelter Vorwurf: Sie waren nicht nur nach dem Verlassen der DDR für die Opposition unwiderruflich verloren und schwächten dadurch das Widerstandspotenzial, sondern verfolgten nach Meinung der Zurückbleibenden rein egoistische, "unpolitische" Ziele. Entsprechend kam es selten zu engerer Zusammenarbeit.
QuellentextGegen Wehrerziehung
Schreiben des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt vom 22. Mai 1981 an das Ministerium für Volksbildung.
Auf der Grundlage Ihres Schreibens [...] haben die Direktoren der Schulen mit allen Eltern, deren Kinder nicht am Wehrunterricht teilnehmen, Aussprachen geführt. Das sind in unserem Bezirk 59 Schüler aus 17 Kreisen und einem Stadtbezirk von Karl-Marx-Stadt. In sieben Kreisen und zwei Stadtbezirken von Karl-Marx-Stadt nehmen alle Schüler am Wehrunterricht teil. Die betreffenden Eltern wurden aktenkundig darüber belehrt, dass sie mit ihrer Entscheidung gegen die Schulpflichtbestimmungen und die Verfassung der DDR verstoßen.
Die Reaktion der Eltern in diesen Gesprächen war unterschiedlich. In fünf Fällen konnte eine Änderung der Haltung zum Wehrunterricht erreicht werden. [...] Drei Eltern gestatteten ihren Kindern, an den Unterrichtsstunden teilzunehmen, aber nicht am ZV-Lehrgang. [...]
Drei weitere Eltern wollen ihre Entscheidung nochmals überdenken. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt aber noch keine neue Meinungsäußerung vor. 48 Eltern lehnen nach wie vor die Teilnahme ihrer Kinder am Wehrunterricht ab.
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Schreiben des Pfarrkonvents des Kirchenkreises Magdeburg vom 23. Juli 1986 an das Ministerium für Volksbildung.
Vor einigen Tagen haben wir das neue "Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten" im Buchhandel gekauft und gelesen. [...]
Es ist uns aufgefallen, dass in allen Kindergartengruppen, im Bekanntwerden mit dem gesellschaftlichen Leben, ein klares Freund-Feind-Denken entwickelt werden soll.
Es wird eindeutig auf unterschiedliche politische Lager bezogen ("die große Sowjetunion und andere sozialistische Länder unsere Freunde" und "Feinde, die uns Schaden zufügen wollen". Konkret: "Ausbeuter und Faschisten [...] wie zum Beispiel in der BRD").
Es werden Kinderängste geweckt, indem ohne politische Notwendigkeit und ohne konkrete Differenzierung "Kinder [...] erfahren [sollen], dass es Menschen gibt, die unsere Feinde sind und gegen die wir kämpfen müssen, weil sie den Krieg wollen". [...]
Wir empfinden es als fehlgeleitetes Spiel, wenn fünfjährige Kinder ausdrücklich [...] dazu angehalten werden [sollen], [...] Spielideen und -themen aus dem Bereich der "bewaffneten Organe" nachzugestalten. [...]
Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, S. 472 u. 479.
Oppositionelle Gruppen
Gleichwohl haben die Antragsteller zum Zusammenbruch des SED-Staates mindestens so viel beigetragen wie die oppositionellen Gruppen; denn letztlich konnte die DDR-Führung dieses Dauerproblem nicht lösen. Das enorme Anschwellen der Ausreiseanträge im Jahr 1989, zusammen mit der Massenflucht über Ungarn bzw. die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Warschau, ihre Sogwirkung auf weitere Menschen in der DDR, und nicht zuletzt die weltweite Übertragung dieser Bilder in den Medien sollten zur völligen internationalen Diskreditierung des SED-Regimes führen und seinen Kollaps einleiten.
Doch ein so rasches Ende der DDR schien in den achtziger Jahren noch völlig irreal und wurde von niemandem erwartet. Stattdessen demonstrierte die "Staatsmacht" immer wieder ihre Stärke, indem es ihr wiederholt gelang, die meist im Umkreis der Kirchen angesiedelten Gruppen zu zerschlagen oder in ihrer Wirkungstätigkeit stark einzuschränken. Mundtot machen konnte sie diese Opposition jedoch nicht. Die Gruppen fuhren fort, Alternativen zu politisch wie ideologisch vorgegebenen Auffassungen zu artikulieren. Darin lag ihre eigentliche Attraktivität besonders für die junge Generation. Vor diesem Hintergrund hatten der Reformkommunist Robert Havemann (1910–1982) und der systemkritische Pfarrer und Bürgerrechtler Rainer Eppelmann am 25. Januar 1982 gemeinsam ihren "Berliner Appell" verfasst.
QuellentextBerliner Appell
Der "Berliner Appell" vom 25. Januar 1982 ist, wie Robert Havemann, der 1982 verstorbene Wortführer der sozialistischen Kritiker des SED-Staates, in einem Interview sagte, "in gewisser Weise ein Pendant zum Krefelder Appell der BRD". Der Aufruf stammt aus der Feder des evangelischen Pfarrers Rainer Eppelmann. Er wurde zunächst von 35 DDR-Bürgern unterzeichnet und im Westen veröffentlicht. Eine Unterschrift bedeutete in der DDR die bewusste Konfrontation mit den Staatsorganen und führte zu repressiven Maßnahmen – von der Überwachung durch die Staatssicherheit, dem Verlust des Arbeitsplatzes, der Relegierung von der Schule oder der Universität bis zur Ausbürgerung.
Wenn wir leben wollen, fort mit den Waffen! Und als Erstes: Fort mit den Atomwaffen! Ganz Europa muss zur atomwaffenfreien Zone werden. Wir schlagen vor: Verhandlungen zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten über die Entfernung aller Atomwaffen aus Deutschland.
Das geteilte Deutschland ist zur Aufmarschbasis der beiden großen Atommächte geworden. Wir schlagen vor, diese lebensgefährliche Konfrontation zu beenden. Die Siegermächte des 2. Weltkrieges müssen endlich die Friedensverträge mit den beiden deutschen Staaten schließen, wie es im Potsdamer Abkommen von 1945 beschlossen worden ist. Danach sollten die ehemaligen Alliierten ihre Besatzungstruppen aus Deutschland abziehen. [...]
Wir schlagen vor, in einer Atmosphäre der Toleranz und der Anerkennung des Rechts auf freie Meinungsäußerung die große Aussprache über die Fragen des Friedens zu führen [...]. Wir wenden uns an die Öffentlichkeit und an unsere Regierung, über die folgenden Fragen zu beraten und zu entscheiden:
Sollten wir nicht auf die Produktion, den Verkauf und die Einfuhr von so genanntem Kriegsspielzeug verzichten?
Sollten wir nicht anstelle des Wehrkundeunterrichts an unseren Schulen einen Unterricht über Fragen des Friedens einführen?
Sollten wir nicht anstelle des jetzigen Wehrersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer einen sozialen Friedensdienst zulassen?
Sollten wir nicht auf alle Demonstrationen militärischer Machtmittel in der Öffentlichkeit verzichten und unsere staatlichen Feiern statt dessen dazu benutzen, den Friedenswillen des Volkes kundzutun? [...]
Wolfgang Büscher u.a. (Hg.), Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978–1982, Hattingen 1982, S. 246 ff.
Im selben Jahr bildete sich in Reaktion auf das Gesetz über den Wehrdienst vom März 1982 und die darin enthaltene Bestimmung, dass bei Mobilmachung sowie im Verteidigungsfall künftig auch Frauen der Wehrpflicht unterworfen sein sollten, die von Bärbel Bohley und Ulrike Poppe gegründete Gruppe "Frauen für den Frieden". Der "Friedensgemeinschaft Jena" wiederum gelang es, bis zu ihrer späteren, brutalen Zerschlagung, mit gewaltlosem Widerstand, öffentlichen Demonstrationen und bewusster Aufnahme von Kontakten zu westlichen Medien, neue Methoden in der Auseinandersetzung mit SED, MfS und den Sicherheitsorganen zu entwickeln.
Konfliktsituationen
Schon Ende der siebziger, vermehrt aber Anfang der achtziger Jahre, waren, ebenfalls im Schutze der Kirchen, "sozialethische Gruppen" entstanden; so zum Beispiel in Berlin, Leipzig und Schwerin, die sich vornehmlich mit Umweltfragen, aber auch mit Problemen der Entwicklungsländer befassten. Besonders der 1983 in Berlin-Lichtenberg gegründete "Friedens- und Umweltkreis" gewann an Bedeutung. Durch ihn entstand 1986 die Umweltbibliothek in der Zionskirche, welche die Untergrundzeitschrift "Umweltblätter" herausgab und dadurch zu einem Kristallisationspunkt vor allem der Berliner Gruppen wurde, der Ausstrahlung auf die gesamte DDR hatte. Insbesondere die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl im April 1986 und die nachfolgende Desinformationskampagne der DDR-Behörden verschafften der Bewegung weiteren Zulauf. Einen bewussten politischen Schritt, der für die nach wie vor im Schutz der Kirchen agierenden Gruppen ein völlig neues Vorgehen bedeutete, leitete die im Januar 1986 gegründete "Initiative Frieden und Menschenrechte" (IFM) ein, welche erstmals öffentlich auftrat und dabei namentlich unterzeichnete Appelle herausgab, unter anderem mit der Forderung nach umfassenden demokratischen Reformen.
Die Gruppen existierten trotz gelegentlicher Unterstützung durch prominente Politiker der "Grünen" aus der Bundesrepublik am Rande der DDR-Gesellschaft und wurden von dieser auch nur marginal wahrgenommen. Sie rückten jedoch insbesondere in Berlin ab der zweiten Jahreshälfte 1987 nicht zuletzt durch die Berichterstattung westdeutscher Medien stärker in den Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit. Im zeitlichen Kontext mit dem gemeinsam von der SPD und SED erstellten Papier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" im August 1987, besonders aber mit dem Honecker-Besuch in Bonn einen Monat später, konnten diese Gruppen von einer vorübergehenden deutschlandpolitisch motivierten Zurückhaltung der "staatlichen Organe" profitieren.
Wenig später jedoch legte das Regime wieder eine härtere Gangart ein und spitzte damit die latent weiter bestehende Konfliktsituation zu. Mit der Stürmung der Berliner Umweltbibliothek durch das MfS in der Nacht vom 24./25. November 1987 und der Verhaftung ihrer Mitarbeitenden wurde eine neue Eskalationsstufe auf beiden Seiten erreicht; denn die Mitglieder und Sympathisanten der Gruppen begegneten diesem Vorgehen im Schutze der kirchlichen Bannmeile mit öffentlichen Mahnwachen und Protestkundgebungen, um die Freilassung der Verhafteten zu erzwingen. Als diese tatsächlich drei Tage später erfolgte, um einen internationalen Imageverlust zu vermeiden, bedeutete dies eine Niederlage der "Staatsmacht".
QuellentextSchlag gegen die Umweltbibliothek in Berlin
In der Nacht vom 24. zum 25. November wurde zwischen 0.00 Uhr und 2.30 Uhr die Umweltbibliothek des Friedens- und Umweltkreises der Zionskirchgemeinde von etwa 20 Mitarbeitern des Generalstaatsanwalts der DDR und des Ministeriums für Staatssicherheit durchsucht. Unter Berufung auf eine anonyme Anzeige gegen die Umweltbibliothek, deren Inhalt nicht bekannt wurde, und unter Auslassung der konkreten Rechtsgrundlagen drangen Einsatzkräfte in die Dienstwohnung des geschäftsführenden Pfarrers, Herrn Simon, ein. Es wurden sieben Personen festgenommen, Vervielfältigungsgeräte, Matrizen und Schriftmaterial beschlagnahmt. [...] Die Räume der Umweltbibliothek gehören zur Dienstwohnung des geschäftsführenden Pfarrers. Das Beschlagnahmeprotokoll wurde vom beauftragten Staatsanwalt nicht unterschrieben. Diese Vorgänge stellen einen eklatanten Rechtsbruch dar.
Wir sehen in dieser Aktion gegen die Umweltbibliothek einen Angriff auf alle Gruppen der Unabhängigen Friedensbewegung, auf die Ökologie- und Menschenrechtsgruppen.
In der Zionskirche begann am 3. September dieses Jahres die 1. unabhängige Demonstration der Basisgruppen. [...] Diese anscheinend hoffnungsvolle Entwicklung, die der DDR auch international gut zu Gesicht stand, wurde durch die jüngsten Vorgänge in Frage gestellt. Während sich gestern in Genf die Außenminister der UdSSR und der USA auf ein wichtiges Abrüstungsabkommen einigten, bereiteten in der DDR die Vertreter des harten Kurses nach altem Muster einen Angriff auf die Friedensbewegung vor. Dies war der vorläufige Höhepunkt eines zunehmenden Drucks auf politisch Engagierte nach dem Honecker-Besuch in der BRD.
Wir fordern:
Die unverzügliche Freilassung der Festgenommenen;
Die Offenlegung der Verdachtsgründe;
Die sofortige vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Umweltbibliothek;
Die Einstellung jeglicher Repressionen gegen politisch Engagierte. [...]
Die Umweltbibliothek, Kirche von unten, Initiative Frieden und Menschenrechte, Friedenskreis Friedrichsfelde, Frauen für den Frieden, Gegenstimmen, Glieder der Zionsgemeinde, Solidarische Kirche
Öffentliche Erklärung vom 25. November 1987, in: Dokumenta Zion. Dokumentationsgruppe der Umweltbibliothek in der Zionsgemeinde, Dezember 1987, Ormigabzug, Samisdat.
Als sich Mitglieder der 1987 gegründeten "Arbeitsgemeinschaft Staatsbürgerschaft", ein Zusammenschluss von Oppositionellen und Ausreisewilligen, mit eigenen Transparenten und Plakaten an der offiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17. Januar 1988 beteiligten, nahmen sie bewusst den Konflikt mit dem Regime in Kauf. Trotz Behinderungen durch die Stasi gelang es westdeutschen Fernsehteams, entscheidende Szenen festzuhalten und die Nachricht darüber zu einer erstrangigen Meldung zu machen. Besonders das große Medieninteresse, das die unterschiedlichen Protestveranstaltungen in vielen Kirchen Berlins, aber auch anderswo fanden, ließ die Gruppen erstmals stärker aus ihrem gesellschaftlichen Randdasein herauswachsen und machte sie einer breiteren Öffentlichkeit in Ost und West bekannt. Die Existenz oppositioneller Gruppen in der DDR ließ sich damit nicht mehr länger leugnen. Gleichzeitig kam unter ihnen allmählich eine engere Vernetzung zustande.
Auswirkungen von Gorbatschows Politik
In die ab Mitte der achtziger Jahre um sich greifende Frustration über die spürbare Erstarrung des "Systems", die auch in Teilen der SED virulent wurde, fiel der überraschende Machtwechsel in der Sowjetunion im Frühjahr 1985. Der neue Parteivorsitzende der KPdSU, Michail Gorbatschow, verkündete ein Reformprogramm mit den Schlagworten "Glasnost" und "Perestroika" (Offenheit und Umgestaltung), mit dem eine tief greifende Modernisierung des "real existierenden Sozialismus" in der Sowjetunion durchgeführt werden sollte. Diese Initiative wurde von vielen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern wie ein unerwarteter Lichtschein in tiefer Dunkelheit empfunden. Besondere Überraschung rief hervor, dass nach der unübersehbaren Stagnation, die das Breschnew-Regime und seine Epigonen hinterlassen hatten, ausgerechnet aus den Reihen der KPdSU selbst ein Reformansatz kam.
Das breite, zum Teil euphorische Interesse an Gorbatschows Politik und Persönlichkeit wurde verstärkt durch die Reaktionen der SED-Führung selbst. Diese sah instinktiv und zugleich durchaus realistisch die fundamentalen Konsequenzen einer sozialistischen Reformpolitik für die eigene Machtposition voraus. Entsprechend distanzierte sie sich vorsichtig, geriet aber dadurch in eine nach jahrzehntelanger Verkündung unverbrüchlicher Freundschaft mit der Sowjetunion ("Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!") unglaubwürdige Verteidigungsposition. Die defensive, ablehnende Haltung der Parteispitze kam symptomatisch in der berühmt gewordenen Formulierung Kurt Hagers vom April 1987 zum Ausdruck, der in einem "Stern"-Interview sagte: "Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Diese Äußerung verstärkte auch bei einigen SED-Mitgliedern eine bisweilen schon früher eingetretene innerliche Distanzierung von der Partei und ihrer Führung.
Tatsächlich hatte sich auch in der SED infolge der immer spürbarer werdenden Mängel des Systems seit Mitte der achtziger Jahre ein Teil von Funktionären und Mitgliedern in eine Art innerer Opposition begeben, ohne allerdings selbst konkrete Reformvorstellungen zu entwickeln bzw. diese offen zu äußern. Häufig mit den Problemen und Frustrationen der Menschen in Alltag und Betrieb persönlich konfrontiert, hatten sie Positionen zu vertreten, die angesichts der Realität unhaltbar waren. Allenfalls waren sie nach Aussage eines Parteimitglieds Ausdruck "der systemisch bedingten Verknöcherung, Innovationsfeindlichkeit, Reformverweigerung und damit fehlenden Überlebensfähigkeit des Realsozialismus" (Rainer Land/Ralf Possekel). Damit schwand, von der Bevölkerung sensibel registriert, die Geschlossenheit der Partei. Die Reformwilligen vermissten jedoch einen "DDR-Gorbatschow", der – und das war die vorherrschende Auffassung – den erforderlichen, umfassenden Reformprozess durch eine "Revolution von oben" hätte herbeiführen können, zumal eine grundlegende, gar revolutionäre Transformation des "real existierenden Sozialismus" von unten ohnehin undenkbar erschien.
Der politische Dissens zwischen der SED-Führung und dem Reformkurs Gorbatschows kam offen zum Ausbruch, als die Parteiführung die sowjetische Monatszeitschrift "Sputnik" im November 1988 von der Bezugsliste strich. In ihr waren erstmals bisherige Tabuthemen sowjetischer Politik und Geschichte, wie zum Beispiel der deutsch-sowjetische Nicht-Angriffspakt von 1939, der "Hitler-Stalin-Pakt", aufgegriffen und breit diskutiert worden. Diese über eine Zensur weit hinausgehende Maßnahme stieß in der Bevölkerung, aber auch unter vielen Parteimitgliedern auf Unverständnis und Entrüstung und verstärkte die Kritik an der Parteiführung, insbesondere an den als vergreist empfundenen Politbüro-Mitgliedern. Einer wachsenden Mehrheit von Menschen in der DDR wurde zunehmend bewusst, dass die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse langfristig so nicht bleiben konnten und der SED-Staat auf eine Krise zusteuerte.
Getrennte Entwicklung – innere Bezogenheit
Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander und der in ihnen lebenden Menschen in diesem Zeitraum war von beträchtlicher Ambivalenz gekennzeichnet. Auf der obersten Ebene der Deutschlandpolitik lagen völlig unterschiedliche Positionen und Zielsetzungen vor. Während die SED-Führung daran interessiert war, durch strikte Abgrenzungspolitik die deutsch-deutschen Beziehungen auf allen Gebieten, abgesehen von den ökonomischen und finanziellen, möglichst zu begrenzen, war es das Ziel der Bundesregierungen, die Kontakte zwischen beiden deutschen Staaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern auf allen Ebenen zu fördern und zu intensivieren. Grundlage dieser Politik war die 1969 von dem sozialliberalen Regierungsbündnis Brandt/Scheel begonnene "Ost- und Deutschlandpolitik", die im Rahmen internationaler Verträge und Abkommen die SED-Führung zu einer begrenzten Öffnung zwang. Dennoch erreichte die DDR nie die völkerrechtliche Anerkennung seitens der Bundesrepublik Deutschland. Das galt auch für die DDR-Staatsbürgerschaft – eine Forderung, die Honecker bei einer Rede in Gera am 13. Oktober 1980 neben weiteren noch einmal massiv erhoben hatte. Immerhin entwickelte sich trotz internationaler Krisen und Konflikte zwischen Bonn und Ost-Berlin so etwas wie eine informelle Sicherheitspartnerschaft, zumal man sich in dem Bestreben einig war, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe.
Die weitgehend unveränderte Fortsetzung dieser Politik nach dem Regierungswechsel von 1982 durch Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher bis zur "Wende" von 1989/90 führte auf Seiten der DDR nicht nur zu einer stetig steigenden Zahl von Begegnungen (1972: 1,09 zu 1987: 5,09 Millionen Reisen aus der DDR in die Bundesrepublik). Das persönliche Ken-nenlernen der Bundesrepublik durch eine wachsende Anzahl von Menschen aus der DDR trug auch zu verstärkter Skepsis gegenüber dem eigenen Staat bei. Insofern wirkten sich die von der SED-Führung und dem MfS befürchteten "westlichen Sickereinflüsse" tatsächlich negativ auf das sozialistische Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aus und haben zweifelsohne ebenfalls zu dessen Destabilisierung beigetragen.
Deutsch-deutsche Kommunikation
Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die jahrzehntelange Trennung und die unterschiedlichen Sozialisationsprozesse, welche die Deutschen in beiden deutschen Staaten zwangsläufig durchliefen, auch zu gegenseitiger Entfremdung sowie Miss- und Unverständnissen führten. Das vielzitierte Klischee vom arroganten, reichen Westdeutschen und vom verschüchterten, armen Ostdeutschen ist keineswegs nur ein bloßes Stereotyp. Auch dürfen die millionenfachen Besuche und Begegnungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das gegenseitige Interesse unterschiedlich intensiv war und sich in den siebziger und achtziger Jahren zunehmend auseinanderentwickelte; das zeigen auch die nachlassenden Besucherzahlen von westdeutscher Seite aus (1972: 6,26 zu 1987: 5,50 Millionen Reisen aus der Bundesrepublik und West-Berlin in die DDR). Während in der Bundesrepublik, vor allem unter der jüngeren Generation, das Interesse an der DDR auch und nicht zuletzt deshalb zunehmend schwand, weil Reisen in westliche Länder interessanter als in den "Polizeistaat DDR" erschienen und zudem preiswerter waren, blieb die DDR-Bevölkerung wie im Übrigen auch die SED unverändert auf den "Westen" fixiert. Bei genauerer Kenntnis des DDR-Alltags, konstatiert Stefan Wolle, sind "der westliche Konsum, die Freizügigkeit, der politische Pluralismus [...] für die DDR-Bürger immer der Maßstab ihres eigenen Lebens gewesen" (Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow, S. 209).
Es waren vor allem das westdeutsche Fernsehen und der Rundfunk, die von den Menschen in der DDR regelmäßig gesehen und gehört worden sind und damit täglich den weiterbestehenden Zusammenhang der Nation wie kein anderes Medium unter Beweis stellten. Da die Einfuhr von Zeitungen und Zeitschriften aus dem "Westen" weitgehend unterbunden werden konnte, präsentierten Rundfunk und Fernsehen eine ständige Alternative und zugleich einen primären Vergleichsmaßstab auf allen Ebenen. Und dies, obwohl es bis in die siebziger Jahre hinein Versuche gab, den Empfang westdeutscher Fernsehsender in der DDR zu unterbinden und obwohl die Bundesrepublik in der Propaganda durchweg negativ als "Gegner" oder "Feind" kolportiert wurde.
Für diejenigen DDR-Bürgerinnen und -Bürger – und das war die Mehrheit –, die "den Westen" aus eigener Anschauung nicht kannten, blieb das Bild der Bundesrepublik jedoch letztlich eindimensional und ohne Tiefenschärfe, weil der Fernsehschirm nicht die konkrete Realität widerspiegelte und es an persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen mit dieser Welt fehlte. Der "Westschock" nach der Maueröffnung belegt dies eindrucksvoll. So verkörperte der westdeutsche Konkurrenz- und Vergleichsstaat ein Wunsch- wie Zerrbild zugleich.
Darüber hinaus hat es bei einer Mehrheit der DDR-Bevölkerung durchaus auch eine Bindung an den Staat der SED gegeben. "Solche Werte wie Arbeitsplatzsicherheit, niedrige Preise des Grundbedarfs und Unentgeltlichkeit des Gesundheitswesens haben die Loyalitätsbereitschaft großer Kreise der Bevölkerung viel stärker getragen, als es der Glaube an die parteiliche Wahrheit der ideologischen Doktrin jemals vermochte. Je länger, um so mehr waren es gerade solche sozialpolitischen Stützbalken, auf denen die Last des Legitimationsanspruches der zweiten deutschen Diktatur beruhte. Die mangelnde Legitimität der politischen Grundordnung, die schwache ökonomische Effizienz der SED-Herrschaft, das Wohlstandsgefälle beim Blick auf die westdeutsche Vergleichsgesellschaft verstärkten zusammen die kompensatorische Last, welche die ,sozialen Errungenschaften' – als die wirksamste und zuletzt wohl einzige Loyalitätsstütze – zu tragen hatten" (Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr, S. 536).
Gründe für den Zusammenbruch
Die DDR, der Staat der SED, ist aus mehreren, unterschiedlichen Gründen zusammengebrochen. Hier muss zwischen äußeren und inneren Faktoren differenziert werden. Tatsächlich veränderten sich die Existenzbedingungen der DDR durch die Politik Gorbatschows grundlegend. Der von ihm eingeschlagene Weg zu einer Reform des "real existierenden Sozialismus" im Zeichen von Perestrojka und Glasnost stieß bei der Führungsspitze der SED auf Ablehnung und damit zu einer auch für die DDR-Bevölkerung unübersehbaren Distanzierung von der Sowjetunion, die bis dahin, zumindest in der Propaganda, den primären Maßstab und Bezugspunkt gebildet hatte. Die Betonung der Eigenständigkeit der DDR und damit des "Sozialismus in den Farben der DDR" (Erich Honecker auf dem 7. Plenum des ZK der SED) ließ den SED-Staat aber auch gegenüber den reformbereiten "sozialistischen Bruderstaaten" Polen und Ungarn auf Distanz gehen. Damit zeigte er nur um so krasser die eigene Erstarrung und Reformunfähigkeit auf. Noch entscheidender war aber, dass mit dem fundamentalen Politikwechsel in der UdSSR durch Gorbatschow die bis dahin existente Bestandsgarantie der DDR durch die Sowjetunion aufgegeben wurde; damit stand erstmals ihre eigenstaatliche Existenz zur Disposition. Das Nichteingreifen sowjetischer Streitkräfte während der Revolution von 1989/90 in der DDR besiegelte faktisch ihr Ende.
Die internen Gründe des Zusammenbruchs des SED-Staats sind noch vielfältiger. Zu keiner Zeit war das mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht von der KPD/SED errichtete Herrschaftssystem demokratisch legitimiert. Zudem war und blieb die DDR immer nur ein Teilstaat einer Nation und stand mit dem anderen deutschen Teilstaat Bundesrepublik Deutschland in fortwährender Konkurrenz, der wiederum für die Partei wie für die Bevölkerung auf allen Ebenen Vergleichsmaßstab blieb.
Ebenso wenig gelang es, ein leistungsfähiges Wirtschaftssystem zu errichten, das international wettbewerbsfähig war und mehr als nur die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen konnte. Aus dieser ökonomischen Ineffizienz resultierte spätestens ab Mitte der siebziger Jahre eine gleich bleibend hohe Verschuldung, die mit eigener Kraft nicht mehr zu bewältigen war, auch und nicht zuletzt deshalb, weil die zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr finanzierbaren sozialpolitischen Leistungen beibehalten wurden.
Mit den wachsenden Wirtschafts- und Versorgungsproblemen nahm auch der innenpolitische Druck zu. Ab Mitte der achtziger Jahre klafften Anspruch und Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus in der DDR immer mehr auseinander, die Ideologie des Marxismus-Leninismus verlor rapide an Überzeugungskraft. Die spürbare Erstarrung des Systems wurde in allen Bevölkerungsschichten bis in die SED hinein registriert. Die Zahl oppositioneller Gruppen im Schutz der Kirchen wuchs, noch mehr nahm die Zahl der Ausreisewilligen zu. Mit dem massenhaften Exodus von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, die ihr Land im Spätsommer 1989 verließen und verlassen wollten, war letztlich das Ende des SED-Staats besiegelt – ein Staat, dem die eigenen Menschen davonliefen, besaß keine Existenzgrundlage mehr.