Einleitung
Das westdeutsche "Wirtschaftswunder" begann erst 1951/52 - und nicht, wie in Rückblicken oft zu lesen, mit der Währungs- und Wirtschaftsreform vom Juni 1948. Mit der D-Mark existierte zwar wieder eine vertrauenswürdige Währung, doch die marktwirtschaftliche Ordnung, mit deren Aufbau Ludwig Erhard, Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der amerikanisch-britischen Besatzungszone, ohne vorherige Zustimmung der Militärregierung begonnen hatte, brachte zunächst nicht die angekündigte grundlegende Wende zum Besseren. Die neue Wirtschaftsordnung stand in den Anfangsjahren der Bundesrepublik mehrfach auf dem Prüfstand.
Konsolidierung 1949-1952
Der außergewöhnliche Aufschwung in den fünfziger Jahren verband sich aus der Sicht der Zeitgenossen dennoch von Anfang an mit dem Programm der Sozialen Marktwirtschaft. Obgleich von seinen "geistigen Vätern" und Anhängern als Gegenentwurf zur planwirtschaftlichen Praxis der unmittelbaren Nachkriegszeit verstanden, lassen sich seine Ursprünge bis in die frühen dreißiger Jahre zurückverfolgen. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise waren einige Nationalökonomen zu dem Schluß gekommen, daß der Staat lenkend in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen müsse, um Zusammenbrüche dieser Art künftig zu vermeiden; allerdings sollten diese Eingriffe marktkonform sein, die freie Preisbildung als regulierendes Prinzip anerkennen und einen fairen Wettbewerb sichern helfen. An diese Überlegungen knüpften die Reformer des Jahres 1948 an: "Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums einer vergangenen Ära, auch nicht das ,freie Spiel der Kräfte und dergleichen Phrasen, [ ] sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen läßt, die den Wert der Persönlichkeit obenan stellt und der Leistung dann aber auch den verdienten Ertrag zugute kommen läßt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung" - so umriß Erhard auf einem Parteikongreß der CDU am 28. August 1948 sein Konzept.
Die von ihm geweckten Hoffnungen erfüllten sich jedoch zunächst nur teilweise: Das durch die Währungsreform stimulierte Wirtschaftswachstum verlangsamte sich bald wieder, während die Preise und insbesondere die Arbeitslosigkeit bedrohlich stiegen. Zwar kam diese Entwicklung keineswegs völlig unerwartet, aber Tempo und Ausmaß überraschten die Experten dennoch. Der Anstieg der Preise gerade von Konsumgütern resultierte nämlich nicht nur aus höheren Produktionskosten; vielmehr reagierten Hersteller und Einzelhandel auf den enormen Nachfrageüberhang unverzüglich mit Preiserhöhungen. Obwohl neben den laufenden Einkommen auch große Teile der auf das neue Geld umgestellten Ersparnisse für Gebrauchsgüter ausgegeben wurden, konnte die Masse der Arbeitnehmer, deren Löhne und Gehälter zunächst eingefroren blieben, mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten, während ein kleiner, dafür um so zahlungskräftigerer Personenkreis die Preise noch zusätzlich in die Höhe trieb.
Die steigenden Lebenshaltungskosten und die wachsende Kluft zwischen Durchschnitts- und Spitzeneinkommen ließen Zweifel und Kritik an der neuen Wirtschaftsordnung aufkommen, die in der Bizone Mitte November 1948 in einen eintägigen Generalstreik mündeten. Unterdessen war der noch aus der Zeit des Dritten Reiches stammende Lohnstopp aufgehoben worden, und im Dezember begannen die Preise nicht zuletzt dank einer die Geldmenge und die Kreditmöglichkeiten einschränkenden Politik der Bank Deutscher Länder, der Vorgängerin der heutigen Deutschen Bundesbank, zu sinken. Während die Gefahr einer Inflation damit abgewehrt war, wuchs die Zahl der Arbeitslosen unaufhörlich weiter.
Krisensymptome
Zwischen Juni und Dezember 1948 waren bereits 370000 Arbeitsplätze verlorengegangen, aber gleichzeitig 600000 neue in expandierenden Branchen entstanden; die Arbeitslosenquote betrug knapp über fünf Prozent. 1949 kehrte sich das Verhältnis mit einem Verlust von insgesamt 150000 Stellen um: Damit stieg die Arbeitslosenquote bei einer Beschäftigungszahl von etwa 13,5 Millionen auf über zehn Prozent Ende des Jahres und 12,2 Prozent im März 1950. Daß es für diesen Anstieg auf zwei Millionen Erwerbslose plausible Erklärungen gab - eine durch den ineffizienten Einsatz von Arbeitskräften verdeckte Arbeitslosigkeit zum Zeitpunkt der Währungsreform, einen starken Zustrom von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, einen unflexiblen Arbeitsmarkt - machte die Sorgen der Bundesregierung und der Alliierten Hohen Kommission nicht kleiner.
Vor allem die Amerikaner, die verständlicherweise ihre Marshallplangelder nicht vergeudet sehen wollten, riefen nach beschäftigungsfördernden Gegenmaßnahmen. Ihre Unruhe wuchs noch, als die wirtschaftliche Stabilisierung im Gefolge des Korea-Krieges durch Engpässe bei der Kohleversorgung und ein wachsendes Zahlungsbilanzdefizit zusätzlich bedroht wurde. Um dieser Gefahr entgegenzutreten, forderten sie, ausnahmsweise im Einklang mit der sozialdemokratischen Opposition, eine wirtschaftspolitische Kurskorrektur: die Rückkehr zu staatlicher Bewirtschaftung und Lenkung, Preiskontrollen und einen Prioritätenkatalog für "lebenswichtige" Importe, also eine "bedeutsame Modifizierung der Sozialen Marktwirtschaft", wie der amerikanische Hohe Kommissar im Frühjahr 1951 dem Bundeskanzler schrieb. Auf Drängen Adenauers gab Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard diesem Druck nach - allerdings in eher bescheidenem Umfang.
Zu den strategisch wichtigen Rohstoffen zählte damals noch die Kohle, unverzichtbar für die Energiegewinnung ebenso wie für die Stahlerzeugung und in der Bundesrepublik in großen Mengen vorhanden. Die Lenkung des Kohleverbrauchs überließ der Bundeswirtschaftsminister mangels geeigneter staatlicher Instrumente und aus ordnungspolitischer Überzeugung der mit Unternehmern und Gewerkschaftern paritätisch besetzten Treuhandorganisation des westdeutschen Kohlenbergbaus und den Industrieverbänden. Sie lösten die Aufgabe, indem sie den einzelnen Branchen die verfügbare Menge an Kohlen nach bestimmten Dringlichkeitsstufen zuteilten, ohne jedoch den amerikanischen Wünschen nach einer rigiden Bewirtschaftung nachzukommen.
Die Überwindung der Zahlungsbilanzkrise stellte Erhards Wirtschaftspolitik auf eine härtere Probe. Auslöser der Krise waren ein rasanter Anstieg immer teurer werdender Rohstoff- und Nahrungsmittelimporte und die gleichzeitige Liberalisierung des Außenhandels im Rahmen der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (Organization for European Economic Cooperation: OEEC), der Westdeutschland, zunächst vertreten durch die Militärregierungen, seit ihrer Gründung im April 1948 angehörte. Unter dem Dach der OEEC war Mitte 1950 zur multilateralen Verrechnung der Überschüsse und Defizite im Handel mit den Mitgliedsländern die Europäische Zahlungsunion (EZU) gegründet worden, die auch längerfristige Kredite gewährte, um einem Land trotz eines akuten Defizits weitere Einfuhren zu ermöglichen. Als die Bundesrepublik diesen Kreditrahmen zu überschreiten drohte, setzte die Regierung die Handelsliberalisierung widerstrebend außer Kraft, um durch Importbeschränkungen, exportfördernde Maßnahmen und eine nachfragedämpfende Erschwerung der Kreditaufnahme Ein- und Ausfuhren wieder ins Gleichgewicht bringen zu können.
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
Im Widerspruch zur liberalen Wirtschaftskonzeption standen schließlich neben einem Paket von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch die wiederum von den Unternehmerverbänden in eigener Regie vorgenommene, vom Gesetzgeber mit Steuervergünstigungen honorierte Investitionslenkung zugunsten der Kohle- und Stahlindustrie, der Energie- und Wasserwirtschaft und der Bundesbahn. Die rechtliche Grundlage dieser Aktion bildete das Investitionshilfegesetz vom Januar 1952, das die gewerblichen Unternehmen dazu verpflichtete, insgesamt eine Milliarde DM zur Deckung des Investitionsbedarfs der Grundindustrien aufzubringen. Zu dieser ungewöhnlichen Maßnahme hatten sich die Spitzenverbände der Industrie entschlossen, nachdem deutlich geworden war, daß die Unternehmen der betreffenden Wirtschaftszweige aus eigener Kraft nicht in der Lage und die anderen Branchen freiwillig nicht bereit waren, die dringend erforderlichen Investitionen zu finanzieren. Im Grunde bedeutete dies eine Ausschaltung der nach der Verfassung für die Wirtschaftspolitik zuständigen Bundesregierung, zumal die Verbände die staatliche Entscheidung nicht nur beeinflußt, sondern selbst formuliert hatten.
Zweifellos konnten insbesondere die Unternehmerverbände - der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) - in den krisenhaften Anfangsjahren der Bundesrepublik ihren Einfluß zu Lasten der Regierung vergrößern - allerdings nur vorübergehend: Die Entspannung auf den internationalen Rohstoffmärkten, die Normalisierung des westdeutschen Kapitalmarkts, der Umschwung in der Zahlungsbilanz und der wachstumsbedingte Rückgang der Arbeitslosigkeit regenerierten und rehabilitierten Erhards Soziale Marktwirtschaft. Deren konstitutive Elemente waren eine liberale, wettbewerblich ausgerichtete Ordnung, soziale Sicherheit und wirtschaftspolitische Gewaltenteilung. Zum Schutz dieser Grundpfeiler bedurfte es eines "starken" Staates, der eingriff, wenn ihnen Gefahr drohte.
Sozialer Frieden
Zwei wichtige Voraussetzungen für die wirtschaftliche Stabilisierung und den folgenden Aufschwung verdienen noch erwähnt zu werden: die Anfänge der Sozialpartnerschaft und die innere und äußere Bereinigung der Kriegsfolgen. Um die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen zu schaffen, waren allerdings heftige Auseinandersetzungen vonnöten.
Im Zeichen des Booms bedingten sich wirtschaftliche Prosperität und sozialer Frieden wechselseitig. Während einer Aufschwungphase hätten störende Einflüsse wie zum Beispiel Arbeitskämpfe jedoch leicht den Aufwärtstrend verzögern oder stoppen können. Daß in der Bundesrepublik dergleichen nicht passierte, war nicht zuletzt der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unternehmen der beiden Schlüsselindustrien Kohle und Stahl zu verdanken. Die britische Militärregierung hatte diese Form kooperativer Betriebsleitung 1947 im Zuge der Entflechtung der großen, kaum zu kontrollierenden Stahlkonzerne gegen starke Widerstände seitens der betroffenen Besitzer und Manager durchgesetzt.
Als nach der Gründung der Bundesrepublik im Herbst 1949 Forderungen nach einer bundeseinheitlichen, branchenübergreifenden Regelung laut wurden, versuchten die Unternehmer, ihre betriebliche Entscheidungsfreiheit wiederherzustellen bzw. zu verteidigen. Die Gewerkschaften, die ursprünglich wesentlich weiter gehende Ziele verfolgt hatten, bestanden dagegen auf der gleichberechtigten Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft in den Aufsichts- und Verwaltungsgremien insbesondere der Großindustrie "in allen personellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen". Am Ende stand ein Kompromiß: Das im Mai 1951 nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften verabschiedete Mitbestimmungsgesetz blieb zwar auf die Montanindustrie beschränkt, garantierte aber die Parität im Aufsichtsrat - nur bei Stimmengleichheit fiel dem elften, "neutralen" Mitglied die Rolle des "Züngleins an der Waage" zu - und einen für die sozialen Belange der Betriebsangehörigen zuständigen "Arbeitsdirektor" im Vorstand von Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten.
Dagegen bescherte das für die übrigen Industriezweige geltende Betriebsverfassungsgesetz vom Oktober 1952 den Arbeitnehmervertretern lediglich in personal- und sozialpolitischen Fragen - beispielsweise bei der Regelung der Arbeitszeit, bei Einstellungen und Entlassungen oder der Einführung neuer Techniken - gewisse Mitwirkungsrechte und blieb damit deutlich hinter den Erwartungen der Gewerkschaften zurück.
Beide Gesetze bildeten dennoch die Basis für jene partnerschaftliche Form der Konfliktregulierung, die für das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik seither charakteristisch war und die sich deutlich von den auf Konflikt und Konfrontation, auf Arbeitskämpfe anstelle von Verhandlungen angelegten Sozialbeziehungen in Frankreich oder Großbritannien unterschied.
Dem sozialen Frieden diente auch das Lastenausgleichsgesetz von 1952, das ursprünglich zusammen mit der Währungsreform hatte in Kraft treten sollen. Mit ihm wurde der Versuch unternommen, die Unterschiede in der Belastung der Bevölkerung durch Kriegsschäden und Besitzverluste wenigstens teilweise auszugleichen. Dies geschah mit Hilfe individueller, in Raten zu entrichtender Abgaben auf land- und forstwirtschaftliches Vermögen, Grundbesitz, Betriebs- und sonstiges Eigentum, die sich bis 1989 auf über 130 Milliarden DM summierten. Dieses Geld kam den Anspruchsberechtigten - vor allem Vertriebenen, Kriegssach- und Währungsgeschädigten - in Form von Entschädigungen, Renten, Darlehen oder Ausbildungsbeihilfen zugute. Obwohl das Ziel, ein tatsächlicher Ausgleich der Lasten, letztlich verfehlt wurde, da die Leistungsempfänger günstigstenfalls eine Entschädigung in Höhe von 30 Prozent ihres ehemaligen Besitzes erhielten, während die effektive Belastung der abgabepflichtigen Vermögen zehn Prozent kaum überschritt, trug das Gesetz als Geste des guten Willens zur sozialen Integration der Nachkriegsgesellschaft bei.
Internationale Kreditwürdigkeit
Um der Bundesrepublik den Weg in die westliche Staatengemeinschaft zu ebnen und die deutsche Kreditwürdigkeit wiederherzustellen, mußten schließlich noch die finanziellen Ansprüche insbesondere der Westmächte befriedigt werden. Im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 akzeptierte die Bundesregierung deutsche Vor- und Nachkriegsschulden in Höhe von 14,5 Milliarden DM, rückzahlbar in jährlichen Raten von zunächst 567, dann 765 Millionen DM. Auf diese Weise gelang es, Vertrauen zurückzugewinnen, neue Kapitalmärkte zu erschließen und den Handelsverkehr zu erleichtern.
In diesem Sinne wirkte auch, von den wichtigeren moralisch-politischen Aspekten einmal abgesehen, das im September 1952 abgeschlossene Wiedergutmachungsabkommen mit Israel und der Claims Conference, einem Dachverband jüdischer Organisationen, über eine Summe von zusammen 3,45 Milliarden DM; die Zahlungen sollten überwiegend in Form von Waren aus deutscher Produktion erfolgen. Mit dem Abschluß der beiden Verträge signalisierte die Bundesregierung ihre Bereitschaft, für die Handlungen ihrer Rechtsvorgänger einzustehen; daß sie zugleich zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil gereichten, war ein willkommener Nebeneffekt.
"Wirtschaftswunder"
Der Durchbruch zum "selbsttragenden" Wachstum gelang in der ersten Hälfte des Jahres 1952. Charakteristisch für das folgende Jahrzehnt waren außergewöhnliche Steigerungsraten des Bruttosozialprodukts und des Außenhandels - Erfolge, die im In- und Ausland bald als "Wirtschaftswunder" apostrophiert wurden. Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard mochte diesen Begriff freilich nicht, war er doch geeignet, die eigentlichen Ursachen des Aufschwungs - dazu zählte für ihn auch sein Wirtschaftsprogramm - zu verschleiern.
Wachstum
Zwischen 1950 und 1960 stieg der Index des Bruttosozialprodukts von 100 auf 215; in Preisen von 1954 ausgedrückt, bedeutete dies einen Anstieg von 113 auf 235 Milliarden DM. Die jährlichen Steigerungsraten betrugen durchschnittlich 7,6 Prozent; ein Rekordergebnis mit 11,5 Prozent wurde 1955 erreicht. Im selben Zeitraum wuchs die Industrieproduktion um 149 Prozent, die für den Export wichtige Investitionsgüterindustrie verzeichnete sogar einen Zuwachs von über 220 Prozent. Die Investitionen stiegen von 1952 bis 1960 um 120 Prozent. Der Wert der Aus- und Einfuhren verdoppelte sich von 17 auf 37 bzw. 16 auf 31 Milliarden DM.
Dieses außergewöhnliche Wachstum läßt sich folgendermaßen erklären: Die Währungs- und Wirtschaftsreform hatte ihm den Boden bereitet, die Exporterfolge aufgrund des internationalen Korea-Booms gaben ihm die wesentlichen Impulse, und die Investitionen verliehen ihm Beständigkeit. Daß die Bundesrepublik die Chance, welche der Export Anfang der fünfziger Jahre bot, auch tatsächlich nutzen konnte, verdankte sie ihrer auf die spezifischen Weltmarktbedürfnisse zugeschnittenen Industriestruktur, den großen Kapazitätsreserven sowie der großen Zahl hochqualifizierter und hochmotivierter Arbeitskräfte.
Zusätzlich profitierte die westdeutsche Industrie davon, daß die westlichen Länder während des Korea-Krieges ihre Rüstungsproduktion auf Kosten des zivilen Sektors ausbauten. Da der Wiedereinstieg in das Rüstungsgeschäft durch alliierte Verbote zunächst blockiert war, konnten sich die westdeutschen Unternehmen darauf konzentrieren, die Auslandsnachfrage nach Investitions- und Konsumgütern zu befriedigen. Ihre Produkte waren aber auch deshalb attraktiv, weil sie nicht in - überall in Westeuropa knappen - Dollars bezahlt werden mußten. So wuchs das Ausfuhrvolumen beispielsweise nach Frankreich zwischen 1952 und 1958 von 1 auf 2,1 Milliarden und nach Großbritannien von 900 Millionen auf 1,4 Milliarden DM.
Strukturwandel
Der Boom war verbunden mit Verschiebungen zwischen den und innerhalb der einzelnen Wirtschaftssektoren. Gewinnerin der Umschichtungen war die Industrie, die große Verliererin die Landwirtschaft. Dieser Strukturwandel läßt sich anhand mehrerer Indikatoren verdeutlichen: Während der Anteil der Landwirtschaft an der Beschäftigung von 24 auf 14 Prozent sank, verbesserte sich die Industrie von 43 auf 48 Prozent und der Dienstleistungssektor von 33 auf 38 Prozent. Noch deutlicher wird die Dominanz der Industrie, vergleicht man die Produktionsentwicklung. Hier verzeichnete die Industrie zwischen 1950 und 1963 einen Zuwachs von 185 Prozent, Handel und Verkehr brachten es immerhin auf 126 Prozent, während die Landwirtschaft mit lediglich 43 Prozent klar zurücklag. Damit konnte die Industrie ihren Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 47,3 im Jahr 1950 auf 55,6 im Jahr 1960 erhöhen; insbesondere die verarbeitenden Sparten - an der Spitze die Chemieindustrie, der Maschinenbau, die Automobilindustrie und die Elektrotechnik - avancierten nach Bedeutung und Wachstumstempo zum "Motor der Expansion" (Gerold Ambrosius) der westdeutschen Wirtschaft. Das "Wirtschaftswunder" war in der Bundesrepublik also in erster Linie ein "Industriewunder".
Das dynamische Wachstum des industriellen Sektors blieb verständlicherweise nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis der einzelnen Branchen zueinander. Erwirtschafteten die vier Bereiche Bergbau und Nahrungsmittel, Grundstoff- und Produktionsgüter, Investitionsgüter und Konsumgüter 1950 jeweils etwa ein Viertel der Gesamtproduktion, kamen die Produktions- und die Investitionsgüterindustrien zehn Jahre später mit 29 bzw. 34 Prozent zusammen auf einen Anteil von fast zwei Dritteln. Überdurchschnittlich wuchsen die besonders innovationsfreudigen Branchen: die kunststoffverarbeitende Industrie, die Automobilindustrie, die Mineralölverarbeitung, die elektrotechnische und die chemische Industrie, der Fahrzeug- und der Maschinenbau. Fundierte Berechnungen haben ergeben, daß sich das Wachstum in den fünfziger Jahren etwa zur Hälfte auf technische und organisatorische Fortschritte zurückführen läßt.
Im Zeichen eines expansiven wirtschaftlichen Wiederaufbaus hingen Produktion und Beschäftigung noch eng zusammen: So stieg die Zahl der Arbeitsplätze im Maschinenbau und in der elektrotechnischen Industrie zwischen 1950 und 1960 jeweils um fast eine halbe Million; prozentual lag die kunststoffverarbeitende Industrie mit einem Zuwachs von 285 Prozent hingegen einsam an der Spitze vor der elektrotechnischen Industrie mit 173 und dem Maschinen- sowie dem Fahrzeugbau mit jeweils etwa 100 Prozent.
Technischer Fortschritt
Verglichen mit dem stürmischen Wirtschaftswachstum verlief die technologische Entwicklung unspektakulär. Technischer Fortschritt erschöpft sich nicht allein in der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien, sondern schließt auch die Verbesserung erprobter Produkte oder Verfahren und neue Kombinationen älteren Wissens ein. Charakteristisch für die westdeutsche Entwicklung in diesem Zeitraum waren technisch anspruchsvolle Produkte von hoher Qualität und langer Lebensdauer. Angesichts der bemerkenswerten Exporterfolge fehlten die erforderlichen Impulse zu einer Kurskorrektur, die notwendig gewesen wäre, um in zukunftsträchtigen High-Tech-Sparten wie der Datenverarbeitung einen Spitzenplatz und damit neue Märkte zu erobern; überdies scheiterten deutsche Ingenieure und Unternehmer bei dem Versuch, in Spitzentechnologiesektoren Fuß zu fassen, zweimal: in der Luftfahrt mit einem Senkrechtstarter und in der Kernenergie mit dem Schwerwasserreaktor. Anders als in der Zeit nach der Ölkrise konzentrierte man sich noch ganz auf energie-, rohstoff- und kapitalintensive Technologien, "Produktinnovationen" rangierten deutlich vor "Prozeßinnovationen", das heißt vor der Entwicklung neuer, kostensparender Herstellungsverfahren.
Für einen gewissen Umschwung sorgte erst der "Sputnik-Schock" von 1957. Mit dem erfolgreichen Einstieg in die unbemannte Raumfahrt zerstörte die Sowjetunion auf einen Schlag das in der westlichen Welt verbreitete Gefühl der eigenen technischen Überlegenheit. Schlagartig geriet der Rückstand in der deutschen Hochtechnologie ins öffentliche Bewußtsein der Deutschen. Die Ausgaben der Privatwirtschaft für Forschung und Entwicklung (FuE) stiegen von 200 Millionen DM (1950) über 600 Millionen (1955) auf 1,6 Milliarden DM (1960); die öffentlichen Aufwendungen erreichten ungefähr die gleiche Höhe. Bereits zuvor hatte die Gründung des Ministeriums für Atomfragen im Jahr 1955 den Beginn einer gezielten staatlichen Technologiepolitik markiert; Förderschwerpunkte waren neben der Kernenergie die Luftfahrt- und Weltraumtechnologie. Ungeachtet dieses privaten und staatlichen Engagements herrschte in der westdeutschen Industrie bemerkenswerterweise kein Konsens über die Notwendigkeit verstärkter FuE-Aktivitäten, von dem Bereich der Reaktortechnologie einmal abgesehen.
Wirtschaftsordnung
Wiichtigste Voraussetzung einer marktwirtschaftlich-sozialstaatlichen Ordnung war nach Ansicht Ludwig Erhards und seiner Anhänger ein funktionierender Leistungswettbewerb, der andere als marktkonforme oder aus sozialen Gründen gebotene staatliche Eingriffe ebenso ausschloß wie privatwirtschaftlichen Dirigismus. Unmittelbar nach der Amtsübernahme ging Bundeswirtschaftsminister Erhard deshalb daran, dafür den gesetzlichen Rahmen zu schaffen.
Der Streit mit der Industrie um eine Anti-Kartell-Gesetzgebung konzentrierte sich bald auf die Frage, ob ein prinzipielles Kartellverbot angestrebt werden sollte oder lediglich, wie die Industrie wünschte, eine Mißbrauchsregelung für den Fall, daß Kartelle sich nicht an die gesetzlichen Vorschriften hielten oder den Wettbewerb völlig unterbanden.
Wegen des anhaltenden Streits zwischen Erhard und der Industrie konnte das "Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen" erst 1957 im Bundestag verabschiedet werden. Ungeachtet eines generellen Kartellverbots wurden zahlreiche Ausnahmen erlaubt: Konditionen-, Strukturkrisen-, Rationalisierungs-, Export- und Importkartelle; alle anderen Kartelle bedurften der Genehmigung des Wirtschaftsministers. Beide Seiten hatten also Abstriche hinnehmen müssen.
Aufgrund seines Kompromißcharakters und weil es keine Handhabe gegen Unternehmenszusammenschlüsse bot, vermochte das Kartellgesetz den in den sechziger Jahren einsetzenden Rekonzentrationsprozeß nicht nennenswert zu stören. Daß die westdeutsche Industrie in den folgenden Jahrzehnten dennoch wettbewerblich organisiert und damit im großen und ganzen auch wettbewerbsfähig blieb, war eher dem internationalen Konkurrenzdruck zu verdanken. Obgleich die Rede vom "Grundgesetz" der Sozialen Marktwirtschaft vor diesem Hintergrund übertrieben erscheint, dürfte die langanhaltende öffentliche Debatte das ordnungspolitische Selbstverständnis der Bundesrepublik entscheidend geprägt haben.
Durchschnittliche Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts von annähernd acht Prozent könnten den Eindruck einer wirtschaftlichen Dynamik entstehen lassen, die keinerlei steuernder Eingriffe bedurft hätte. Konjunkturfördernde Maßnahmen waren in den fünfziger Jahren in der Tat kaum erforderlich, konjunkturdämpfende allerdings sehr wohl: Die große Herausforderung bestand in der "Meisterung der Hochkonjunktur", wollte man den gewohnten, große wirtschaftliche und soziale Probleme erzeugenden Zyklus von Boom, Abschwung, Krise und Aufschwung endlich überwinden. Der Bundeswirtschaftsminister suchte dieser Aufgabe in Zusammenarbeit mit der Bank deutscher Länder bzw. der Bundesbank durch eine Kombination steuer-, kredit- und geldpolitischer Maßnahmen gerecht zu werden.
Flankiert wurden die Aktivitäten durch die berühmten Erhardschen "Maßhalteappelle". Von den Gewerkschaften forderte er Zurückhaltung bei den Löhnen, von den Unternehmern bei den Preisen, von den Verbrauchern beim Konsum. Zweimal, 1956 und 1961, waren diese Versuche einer "antizyklischen" Konjunkturpolitik "mit erhobenem Zeigefinger" erfolgreich. Dennoch blieb Erhard, seinem demonstrativ zur Schau getragenen Optimismus zum Trotz, besorgt, daß im "gleichen Maße, in dem durch die Mehrung des Wohlstands die soziale Sicherheit aus eigener Kraft sich verbessert und die Gleichförmigkeit einer nicht mehr von Risiken bedrohten, ständigen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung das Gespenst sozialer Notstände gebannt hat, der Schrei nach immer mehr kollektiver Sicherheit nur immer lauter erschallt."
Europäische und weltwirtschaftliche Integration
Zum Abschluß dieses Kapitels soll noch der Anteil der internationalen Zusammenarbeit am "Wirtschaftswunder" in der Bundesrepublik Deutschland untersucht werden. Obwohl eine exakte Quantifizierung nicht möglich ist, kann doch kein Zweifel bestehen, daß ohne die Bereitschaft der Vereinigten Staaten und der westeuropäischen Staaten, dem einstigen Kriegsgegner zu helfen, ein Aufschwung in diesem Ausmaß und in diesem Tempo kaum denkbar gewesen wäre.
Die Wiederaufbauhilfe setzte ein mit dem vom damaligen amerikanischen Außenminister George Marshall initiierten European Recovery Program, einem Hilfsprogramm für Europa. Aus diesem Programm erhielt Westdeutschland zwischen 1948 und 1952 insgesamt 1,4 Milliarden Dollar, entsprechend 10 Prozent des Gesamtvolumens. Dieser Beitrag wurde für Einkäufe in den USA - hauptsächlich Nahrungs- und Futtermittel sowie Industrierohstoffe - verwendet; 1949 wurden auf diese Weise über ein Drittel, 1950 immerhin noch fast ein Fünftel aller westdeutschen Importe finanziert. Noch wichtiger dürfte indes der psychologische Effekt der nach ihrem Initiator benannten Marshallhilfe gewesen sein, vermittelte sie den Westdeutschen doch erstmals nach Kriegsende die Gewißheit, zum "Westen" zu gehören.
Der Beitrag der OEEC, die ursprünglich gegründet worden war, um die Verteilung der Marshallplanmittel zu regeln, bestand vor allem darin, daß sie die koordinierte Befreiung des Handels von Mengenbeschränkungen und, mit Hilfe der unter ihrem Dach operierenden Europäischen Zahlungsunion, die gemeinsame Abwicklung des Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedsländern erlaubte: Hatte bis zu diesem Zeitpunkt jeder Staat auf eine ausgeglichene Zahlungsbilanz mit jedem seiner Handelspartner geachtet, war es nun möglich, sämtliche Schulden und Guthaben innerhalb der EZU gegeneinander zu verrechnen.
Für eine Wiederbelebung des Handelsverkehrs in Westeuropa war dies unerläßlich, und die Bundesrepublik, die vom Außenhandel abhängig war, profitierte davon: 1950 kamen 52,4 Prozent der Importe aus Westeuropa, 1960 waren es 54 Prozent; die Zahlen für die Exporte - 72 bzw. 63,5 Prozent - unterstreichen die Bedeutung des westeuropäischen Marktes sogar noch eindrucksvoller. Obwohl diese Orientierung langfristig auch Nachteile in sich barg, weil sie das Engagement auf anderen wichtigen Märkten bremste, war sie für die Rückkehr Westdeutschlands in den Kreis der Wirtschaftsmächte lebenswichtig. Nicht vergessen werden darf ferner, daß die bereits erwähnte Zahlungsbilanzkrise von 1950/51 nur dank der Hilfe der EZU so rasch überwunden werden konnte.
War die OEEC erfolgreich bemüht, die Kooperation auf dem Gebiet des Handels- und Zahlungsverkehrs zu intensivieren, wurde 1952 mit dem Inkrafttreten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ein anderer Weg eingeschlagen: die supranationale Lenkung der Montanindustrien Frankreichs, Westdeutschlands, Italiens und der Benelux-Staaten durch eine "Hohe Behörde", an die jedes Mitgliedsland bestimmte wirtschaftspolitische Kompetenzen abtrat. Die EGKS sollte "die rationellste Verteilung der Erzeugung auf dem höchsten Leistungsstande sichern", wie es im Vertrag hieß, und auf diese Weise zur Ausweitung der Wirtschaft, zur Steigerung der Beschäftigung und zur Erhöhung des Lebensstandards beitragen. Obwohl ihre Effekte auf die Produktion kaum exakt zu quantifizieren sind, läßt sich doch feststellen, daß Westdeutschland seinen Anteil an der Steinkohlen- bzw. an der Rohstahlerzeugung Westeuropas zwischen 1948 und 1957 von 22 auf 28 bzw. von 14,6 auf 29,8 Prozent steigern konnte. Diese Zahlen blieben zwar deutlich hinter denen von 1937 - 35,6 bzw. 40,2 Prozent - zurück, doch wären ohne die EGKS und die damit verbundene Aufhebung der alliierten Restriktionen für die Stahlproduktion mit Sicherheit nicht einmal diese Marken in so kurzer Zeit erreicht worden.
Die Integration der sechs EGKS-Staaten wurde mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) fortgesetzt. 1957 wurden in Rom die Gründungsverträge (Römische Verträge) unterzeichnet. Im Januar 1958 traten sie in Kraft. Die EWG, die wichtigere der beiden Organisationen, erstreckte sich im Gegensatz zur EGKS auf alle Wirtschaftsbereiche, doch fehlten ihr deren ausgeprägt supranationale Entscheidungsstrukturen. Ihre Hauptziele waren der Abbau aller Hindernisse für den internen Waren- und Dienstleistungsverkehr, Freizügigkeit für Kapital und Arbeit, ein gemeinsamer Agrarmarkt, ein gemeinsamer Außenzoll sowie eine teilweise Harmonisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Teilnehmerländer. Daß es der Bundesregierung weitgehend gelang, die EWG nach ihren marktwirtschaftlichen, freihändlerischen Vorstellungen zu gestalten, spiegelte den in den fünfziger Jahren ständig wachsenden deutschen Einfluß in Westeuropa wider und war eine wichtige Voraussetzung dafür, daß die Liberalisierungspolitik in der EWG fortgesetzt werden konnte. Die Folge war ein beschleunigtes Wachstum des Handels innerhalb der Gemeinschaft. So stieg beispielsweise der Anteil der EWG-Länder am westdeutschen Export kontinuierlich von 27 auf über 40 Prozent.
Weltmarkt und Konvertibilität
Die Konzentration des Handelsaustauschs auf Westeuropa im allgemeinen, auf die EWG im besonderen stand in einem gewissen Gegensatz zur offiziellen Parole von der "Rückkehr zum Weltmarkt", so der Titel eines 1953 erschienenen Buches von Ludwig Erhard. Zwar rückte die Bundesrepublik Mitte der fünfziger Jahre auf den dritten Rang unter den Welthandelsnationen vor, zog 1958 mit Großbritannien gleich und belegte 1960 bereits den zweiten Platz hinter den USA; von einer gleichmäßigen Präsenz auf den Weltmärkten konnte dennoch keine Rede sein. Die Rückkehr auf den nordamerikanischen Markt, dessen Anteil am deutschen Export allerdings traditionellerweise niedrig war und 1960 gerade neun Prozent betrug, ging nämlich sehr langsam vonstatten; auch der frühere Anteil Lateinamerikas, Asiens und Afrikas wurde bis 1960 nicht ganz erreicht.
Der eigentliche Einbruch gegenüber der Vorkriegszeit erfolgte jedoch im Austausch mit Osteuropa. Hatte Deutschland 1937 noch 17 Prozent der Ein- und 16 Prozent der Ausfuhren mit Osteuropa abgewickelt, waren es 1960 nur noch jeweils vier Prozent. Dafür waren freilich weder das Versagen der westdeutschen Exporteure noch Qualitätsmängel verantwortlich, sondern vor allem politische Gründe: der Ost-West-Konflikt und die von den USA durchgesetzten Handelsrestriktionen gegenüber dem Ostblock. Immerhin konnte die Bundesrepublik den generellen Aufschwung im Osthandel zwischen 1953 und 1958 am besten nutzen. Ab 1957 übernahm die Bundesrepublik die Spitzenposition. Ermöglicht wurde dieser Erfolg hauptsächlich durch die auf den Investitionsgüterbedarf der dortigen Kunden zugeschnittene Produktpalette der westdeutschen Industrie.
Besondere Bedingungen galten für die innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen, die 1951 vertraglich geregelt wurden. Zum einen erstreckte sich das "Interzonenhandelsabkommen" (Berliner Abkommen) nicht auf Staaten (da seitens der Bundesrepublik Deutschland die DDR nicht als fremdes Wirtschaftsgebiet galt), sondern auf die beiden Währungsgebiete DM-West und Mark-Ost. Zum anderen sah es ausschließlich bilaterale Handelsbeziehungen vor, die mittels einer Verrechnungseinheit abgewickelt werden mußten; schließlich sollte ein zinsloser Überziehungskredit (Swing) in Höhe von 200 Millionen Verrechnungseinheiten, der allerdings fast ausnahmslos von der DDR in Anspruch genommen wurde, für einen permanenten Ausgleich der Salden sorgen. Der Handel mit der DDR unterlag den gleichen Embargorichtlinien wie der Osthandel insgesamt. Während er für die DDR mit einem Anteil von etwa 15 Prozent am gesamten Außenhandel von existentieller Bedeutung war, fiel er für die Bundesrepublik mit weniger als zwei Prozent ökonomisch kaum ins Gewicht.
Bis Anfang 1959 fehlte auch eine wichtige Voraussetzung eines ungehinderten, weltweiten Handels - die Konvertibilität der D-Mark. Die Möglichkeit eines uneingeschränkten Umtauschs einer Währung in ausländisches Geld oder in Gold ist bei "normalen" internationalen Wirtschaftsbeziehungen nichts Besonderes. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren jedoch die meisten westeuropäischen Länder von der währungspolitischen Normalität weit entfernt. Der Handel erfolgte auf "bilateraler" Basis, jede Seite erklärte sich bereit, die Währung des Partnerlandes zu einem festgelegten Wechselkurs und bis zu einer vereinbarten Höhe gegen eigene Währung anzukaufen; ergänzend wurden Abkommen über wechselseitig erwünschte Warenlieferungen getroffen. Auf Druck der USA, die möglichst schnell zum Freihandel zurückkehren wollten, hatte Großbritannien schon 1947 den Versuch gewagt, das Pfund Sterling gegenüber dem Dollar konvertibel zu machen - und war gescheitert. Erhard blieb davon jedoch unbeeindruckt; angesichts steigender Devisen- und Goldreserven der Bank Deutscher Länder, hoher Wachstumsraten und innerer Geldwertstabilität machte er sich zum unermüdlichen Fürsprecher einer raschen Rückkehr zur Konvertierbarkeit. Vor einem deutschen Alleingang schreckte er allerdings doch zurück, zumal zahlreiche Experten vor einem solchen Schritt warnten. So dauerte es bis Dezember 1958, ehe erneut Großbritannien die Initiative ergriff; die meisten anderen westeuropäischen Länder folgten umgehend.
Ganz ohne bestimmte Regeln und Institutionen, das lehrte die Erfahrung, waren ein freier Welthandel und geordnete internationale Währungsbeziehungen jedoch nicht zu verwirklichen. Die Bundesregierung trug dieser Einsicht Rechnung, indem sie den entsprechenden Organisationen beitrat: 1951 dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), 1952 dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Das GATT verpflichtete seine Mitglieder dazu, alle Partnerländer handelspolitisch gleich zu behandeln (Meistbegünstigung); der IWF bemühte sich um eine stabile Währungsordnung und um ein multilaterales, handelsförderndes Zahlungssystem. In beiden Institutionen spielte die Bundesrepublik dank ihrer liberalen Handelspolitik und ihrer stabilen Währung eine wichtige Rolle.
Bedeutung des "Wirtschaftswunders"
Alles in allem war die Boom-Phase, die ja noch bis Anfang der siebziger Jahre dauerte, eine Zeit grundlegender Weichenstellungen. Die Soziale Marktwirtschaft entwickelte sich vor allem dank wachsenden Wohlstands zur allseits anerkannten Wirtschaftsordnung, ein auf Konsens angelegtes Modell der sozialpolitischen Interessenregulierung setzte sich durch, die De-Agrarisierung erhielt einen kräftigen Schub, die Verflechtung der westeuropäischen Volkswirtschaften erreichte eine neue Intensität. Das "Wunder" hatte aber auch seine Schattenseiten - es verdeckte wirtschaftsstrukturelle Fehlentwicklungen, insbesondere die "Überindustrialisierung", und förderte das Anspruchsdenken. Zu übertriebenem Stolz bestand ohnehin kein Anlaß: Der Boom war das Ergebnis gemeinsamer, zielstrebiger Aufbauarbeit, aber vor allem auch ausländischer Hilfe - und "glücklicher" Umstände.