"Zentralmacht Europas", "Zivilmacht" oder "globale Wirtschaftsmacht" - mit diesen "Etiketten" für die Rolle des vereinten Deutschlands in der Welt wird seit fast zwei Jahrzehnten versucht, den Charakter gesamtdeutscher Außenpolitik in knappe Formeln zu fassen. Sowenig solche Schlagworte der gerade geschilderten komplexen Realität gerecht werden, so hilfreich ist die Auseinandersetzung mit ihnen, um Kontinuität und Wandel der bundesdeutschen Außenpolitik zu verdeutlichen.
Die Entwicklung der EU in den letzten 20 Jahren mit ihren vielen Fortschritten, aber auch Stagnationsphasen und Krisen zeigt zweifellos, dass die Bundesrepublik als EU-Mitglied immer eine zentrale Rolle gespielt hat. Das vereinte Deutschland ist wegen seiner Größe und seines ökonomischen Potenzials als bislang drittgrößte "Wirtschaftsmacht" der Welt im wahrsten Sinne des Wortes "gewichtiger" als die anderen EU-Partner. Daraus resultieren ein politischer Gestaltungsanspruch, aber auch eine besondere Verantwortung.
Dabei hat sich die Europapolitik, die ein Kernelement bundesdeutscher Außenpolitik und der Staatsraison geblieben ist, vom Charakter her deutlich verändert: Stark vergemeinschaftete Politikfelder wie die Währungspolitik, der Binnenmarkt oder die gemeinsame Handelspolitik haben so gut wie nichts mehr mit klassischer Außenpolitik zu tun. Dynamische Kooperationsbereiche wie die Innen- und Justiz-, Asyl- und Flüchtlingspolitik weisen trotz der noch fehlenden Gemeinschaftszuständigkeit ebenfalls starke Europäisierungstendenzen auf, da nur noch eine enge Abstimmung der nationalen Positionen auf europäischer Ebene sinnvolle Lösungsstrategien zu ermöglichen scheint. Lediglich bei den klassischen diplomatischen Beziehungen zwischen Regierungen, bei der Entscheidung über den Einsatz militärischer Mittel oder bei der Ausrichtung der Finanzpolitik gibt es weiterhin nur eine fallweise Koordinierung der nationalen Politiken. Gerade im letztgenannten Punkt hat sich auch die "Integrationseuphorie", die die Bundesregierungen bis Maastricht zeitweise ausgezeichnet hatte, gelegt. Die Bundesrepublik hat somit ihre Europapolitik weitgehend den Partnern angepasst.
Mit dieser "Normalisierung" war ein Wandel des bilateralen Verhältnisses zum wichtigsten Partner in Europa, Frankreich, verbunden. Die Abkehr von der einstmals oft demonstrativen Unterordnung deutscher Vorstellungen unter die französischen Positionen hat bisweilen zum Vorwurf einer neuen deutschen Machtpolitik geführt. Dies zeigt jedoch eher die Pariser Unzufriedenheit mit der Veränderung des bilateralen Verhältnisses als eine berechtigte Angst vor einem Dominanzstreben Berlins in Europa. Diese französischen Befürchtungen haben sich auch durch das deutsche Anliegen nach Aufnahme der ehemaligen Ostblockstaaten in EU und NATO nicht bewahrheitet. Trotz der Rolle als "Anwalt der Osteuropäer" haben die Bundesregierungen keine festen Koalitionen geschmiedet; die schwierigen Nachbarschaftsbeziehungen zu Polen oder Tschechien hätten dafür ohnehin kaum Spielraum gelassen.
Neben der fortgesetzten Selbsteinbindung in die europäischen Integrationsstrukturen blieb das entschlossene Festhalten am bewährten transatlantischen Bündnis ein wesentlicher Stabilisator deutscher Außenpolitik, der Bedenken vor einer Wiederkehr des deutschen Militarismus nach 1990 zerstreute. Die Bereitschaft, an internationalen Militäreinsätzen von UNO oder NATO zur Friedenssicherung bzw. -schaffung mitzuwirken, war zunächst gering. Dies führte zu wachsenden Spannungen mit der ehemaligen "Schutzmacht" USA, die von den Bundesregierungen - vergeblich - verlangte, größere finanzielle und operative Bündnislasten zu übernehmen und nach dem 11. September 2001 eine weitreichende Unterstützung im "war on terror" forderte. Zwar rückte die Bundeswehr durch die Beteiligung an einer wachsenden Zahl internationaler Friedens- und Stabilisierungsmissionen - mehr schleichend als von Regierungsseite geplant - in den 1990er Jahren in die Rolle einer "normalen" Bündnisarmee und schwächte damit den alten Vorwurf des militärischen "Trittbrettfahrens" ab. Deutschland wurde damit zu Beginn des 21. Jahrhunderts vom "Konsumenten" zum "Lieferanten" von Sicherheit (security provider). Welchen Beitrag es angesichts der Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus oder die zunehmende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen weltweit zu leisten bereit ist, wurde innenpolitisch allerdings nie intensiv diskutiert. Diese Diskussion ist jedoch dringend erforderlich, um sich über die eigenen Interessen klar zu werden - gerade angesichts weiter voranschreitender globaler Umbruchprozesse mit parallel laufenden Wachstums-, Krisen- und Konfliktdynamiken in verschiedenen Weltregionen, insbesondere in Asien, dem Mittleren Osten und in Afrika. Eine wie bisher lediglich auf den Einzelfall bezogene Ausweitung oder Einschränkung des internationalen Engagements ohne klare Kriterien ist der Bevölkerung nicht mehr zu vermitteln.
Im Falle des zunehmend schwieriger werdenden Afghanistan-Einsatzes hat dies dazu geführt, dass die Bundesregierung die internationale Strategie zur Bekämpfung der militanten Taliban durch eine wachsende Zahl von Bundeswehrsoldaten mitträgt, innenpolitisch jedoch mit einem zivil-militärischen Ansatz wirbt, der angesichts der Gewalteskalation nicht umgesetzt werden kann.
Dieses Defizit bei der Klärung der eigenen sicherheitspolitischen Rolle, das längst nicht mehr durch ein - eher abstraktes - Bekenntnis zur "Zivilmachtrolle" überspielt werden kann, wird noch deutlicher, wenn man sich die deutsche Entschlossenheit bei der Neugestaltung der internationalen Ordnung seit 1990 im ökonomischen, entwicklungspolitischen und umweltpolitischen Bereich im Rahmen von UNO, Weltbank, IWF, WTO und G8 vor Augen hält: Mit der ausdrücklichen Begründung der Mitverantwortung Deutschlands für die Bewältigung globaler Herausforderungen, vor allem Armutsbekämpfung, Klimawandel, Neuordnung von Handel und Wirtschaft, haben alle Bundesregierungen ihr internationales Engagement innenpolitisch nachdrücklich vertreten, selbst wenn die wiederholt multilateral bekräftigten Ziele, zum Beispiel MEZ, G8-Beschlüsse oder Kyoto-Ziele, letztlich weit weniger konsequent umgesetzt wurden.
Problematisch ist diese mangelhafte Realisierung der außenpolitischen Zusagen der westlichen Industrieländer auch, weil so gegenüber aufstrebenden Mächten wie China, Indien, Russland und weiteren potenten Schwellenländern nicht glaubwürdig begründet werden kann, dass es notwendig ist, an multilateral festgesetzten Zielen mitzuwirken: Klimaschutz als globale Aufgabe von existenzieller Bedeutung für alle kann ohne das Engagement der boomenden Staaten mit Milliardenbevölkerung nicht erreicht werden; der Appell zur Einhaltung von Handelsregeln bleibt unglaubwürdig, solange der westliche Agrarprotektionismus weiter existiert; die Beachtung von sozialen und demokratischen Standards läßt sich nicht einfordern, solange die OECD-Länder ihr 0,7-Prozent-Ziel bei der Entwicklungshilfe ignorieren.
Die traditionell über multilaterale Institutionen agierende Bundesrepublik steht damit vor einem doppelten Problem: Wenn die Industriestaaten die multilateralen Vereinbarungen selbst nicht einhalten, kann die Bundesregierung über diese präferierten Strukturen immer weniger Einfluss auf die aufstrebenden Mächte nehmen. Über die ebenfalls intensiv gepflegten bilateralen Beziehungen zu Beijing, Neu Delhi, Moskau oder Brasilia gelingt dies jedoch auch immer weniger, weil die neuen Mächte die westlichen Führungsstaaten zunehmend gegeneinander ausspielen können: Zugang zum boomenden chinesischen Markt, Aufträge durch indische Großunternehmen oder Verträge über russisches Gas erhält nur das Land, mit dem sich die Beziehungen problemlos entwickeln. Dass die Industrienationen diese neuen "global player" mittlerweile immer öfter in der Formation der G20 in die Diskussion um drängende Aufgaben (Entwicklung, Finanzordnung, Klima) einbeziehen, hat somit nicht nur mit der Sorge um angemessene Problemlösungen zu tun, sondern auch mit einer Anerkennung der realen Machtverhältnisse.
Die neuen außenpolitischen Herausforderungen für die Bundesrepublik im siebten Jahrzehnt ihres Bestehens sind also gleichermaßen inhaltlicher wie struktureller Art:
Sicherheitspolitisch geht es um die Klärung der eigenen Interessen in Form einer breiten innenpolitischen Diskussion sowie eine offenere Auseinandersetzung mit den Bündnispartnern über die Bewältigung der neuen militärischen Aufgaben.
Ökonomisch gilt es, ausgehend von einer gestärkten europäischen Basis, die globalen Wandlungsprozesse weiter mitzugestalten und sich auf neue Rahmenbedingungen bzw. Akteure einzustellen.
Umwelt- und entwicklungspolitisch müssen die bekannten Zusagen schrittweise umgesetzt und rasch weitgehende Ziele vereinbart werden.
Strukturell geht es um die feste Etablierung des G20- anstelle des G8-Rahmens, um die aufsteigenden Mächte in internationale Entscheidungstrukturen einzubinden, an denen die alten Mächte - die Bundesrepublik eingeschlossen - beteiligt sind, solange die neuen dies noch akzeptieren.
Werden diese Herausforderungen von den Deutschen angenommen, kann die Bundesrepublik in einer globalisierten Welt außenpolitisch die Rolle einer "Verantwortungsmacht" übernehmen, die dem eigenen Potenzial, den selbst formulierten Ansprüchen und den Erwartungen von außen entspricht.
QuellentextDemokratischer Frieden als Ziel der Politik?
[...] Wenn Demokratien keine Kriege führen und Hungersnöte vermeiden würden, dann wäre eine ausschließlich demokratisch verfasste Welt eine nahezu paradiesische Veranstaltung. Der Wunsch, die Demokratie weltweit auszubreiten, ist daher verständlich - er ist, wenn man so will, eine Neubelebung des jahrhundertealten westlichen Missionarstums. So ist Demokratieförderung als ein erstrangiges Ziel in die westliche Außen- und Entwicklungspolitik eingegangen. In nichtdemokratischen Ländern eine demokratiefreundliche Zivilgesellschaft zu fördern, Menschenrechtsverletzungen gegebenenfalls auch mit Sanktionen einzudämmen, über die Konditionierung von Entwicklungshilfe Demokratisierungsprozesse mehr oder weniger sanft zu erzwingen, friedenserhaltende Missionen nach Bürgerkriegen (oder Kriegen) mit dem Aufbau demokratischer Strukturen zu kombinieren - all das ist heute gängige Praxis westlicher Politik. [...]
Freilich wäre es übertrieben, in ihr das dominierende Politikziel zu sehen. Dazu ist die Palette außenpolitischer Interessen dann doch zu vielfältig. Manche Nichtdemokratien werden als "Partner im Krieg gegen den Terror" gebraucht, weshalb die Stabilität dieser Regime erwünscht ist und durch Demokratisierungsprozesse oder gar eine demokratische Revolution nicht riskiert werden soll. [...]
In anderen Fällen führen wirtschaftliche Interessen dazu, dass über undemokratische Regierungsformen und Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen wird. Rohstoffreiche Länder sind überwiegend nicht demokratisch. Gleichwohl kommt der Westen nicht umhin, mit ihnen Handel zu treiben und wünscht sich nichts so sehr wie stabile Verhältnisse dort. [...]
Demokratieförderung steht also stets in Konkurrenz mit anderen außen- und sicherheitspolitischen Belangen. Das wirkt zum Teil sehr scheinheilig und zynisch, zum Teil reflektiert es einfach ein unlösbares politisches Dilemma. Dennoch kann konstatiert werden, dass diese Politik heute in höherem Maße als je zuvor einen unbestrittenen Platz auf der außenpolitischen Agenda praktisch aller westlicher Demokratien behauptet. [...]
Die Teilung der Welt in "Demokratien" und "Nichtdemokratien" ist - wie alle Polarisierungen zwischen "uns" und "denen" - politisch höchst problematisch. Erinnert sei daran, dass die Praxis der Zweiteilung, des Ein- und des Ausschlusses, eine lange Geschichte hat (und natürlich nicht nur im westlichen Lager, sondern auch anderswo intensiv stattfindet): Die Christenheit und die Heiden, der "weiße Mann" und die "unzivilisierten Wilden", die "freie Welt" und der Totalitarismus - und heute eben "the west" und "the rest": In all diesen Entgegensetzungen diente bzw. dient der "Andere" als Feindbild, der das eigene Lager zusammenschweißen soll. [...]
In der Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen hat es eine intensive Debatte darüber gegeben, warum der "demokratische Friede" statistisch nicht eine deutlich größere Friedfertigkeit der Demokratien insgesamt, sondern nur ihren außergewöhnlichen Pazifismus gegenüber ihresgleichen beinhaltet. Denn im Ganzen sind sie ebenso kriegerisch oder nur kaum messbar friedlicher als alle anderen Staaten der Welt: Sie führen gegenüber Nichtdemokratien (fast) ebenso häufig Krieg wie diese untereinander und gegen Demokratien. [...]
Die Präsenz nichtdemokratischer Staaten im internationalen Raum, allgemeiner: das Phänomen kultureller und politischer Heterogenität, stellt die Demokratien vor ein strategisches Dilemma. Einerseits müssen sie an einer Ordnung dieses Raums interessiert sein, andererseits kommen sie aufgrund des in ihrer Weltanschauung verankerten Universalismus nicht umhin, sich die weltweite Ausbreitung ihrer liberalen Ideen, also die universale Demokratisierung zu wünschen. [...]
Am Ende dieser Überlegungen steht damit die vielleicht überraschende Folgerung, dass der "demokratische Frieden" als Muster gewaltfreier innerdemokratischer Beziehungen seine besten Chancen zur Universalisierung hat, wenn das friedliche Verhalten der Demokratien sich nicht auf ihresgleichen beschränkt, sondern wenn diese sich so weit wie möglich kooperativ und entspannungsfreudig zeigen - unter gebührender Berücksichtigung der eigenen Sicherheit. Deutschland, das trotz der Beteiligung am Kosovo-Einsatz zu den eher "pazifistischen" Demokratien zählt und in seiner Demokratieförderung einen eher kooperativen Stil pflegt, wird hart zu arbeiten haben, um seine eher "militanten" demokratischen Partner von dieser politischen Linie zu überzeugen. Werden Bundesregierungen den dazu erforderlichen "Mut vor dem Freund" haben?
Harald Müller, "Der demokratische Frieden und seine außenpolitischen Konsequenzen", in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43/2008 vom 20. Oktober 2008, S. 41 ff.