Entwicklungen nach der Wiedervereinigung | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung
Informationen zur politischen Bildung Nr. 352/2022

Entwicklungen nach der Wiedervereinigung

Manfred Görtemaker

/ 17 Minuten zu lesen

Neue Außen- und Sicherheitspolitik

Eine Karte zeigt die Staaten Europas, wie sie sich durch die Umbrüche und Entwicklungen um 1989/91 ergeben haben: Deutschland ist wiedervereinigt, die ehemalige Sowjetunion wird nach deren Auflösung in die Staaten Russland, Estland, Lettland, Litauen, Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan unterteilt.

Das neue Gesicht Europas (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 58 295)

Besonders in der Außen- und Sicherheitspolitik war die Zäsur bald unübersehbar. Der Zusammenbruch des Kommunismus, der Zerfall der Sowjetunion und die daraus erwachsende Unabhängigkeit zahlreicher Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas waren neben der deutschen Wiedervereinigung Prozesse von historischer Bedeutung, die Anfang der 1990er-Jahre eine weitgehende Neuordnung Europas erforderten. Die Regierung des geeinten Deutschlands setzte sich dabei nicht nur für die Fortsetzung des seit Konrad Adenauer betriebenen Einigungsprozesses Westeuropas ein, sondern unterstützte auch die Erweiterung der europäischen Integration nach Osten.

Deutschland, so Bundeskanzler Kohl am 2. Oktober 1990, habe als ein Land im Herzen Europas „alles Interesse daran, dass das wirtschaftliche West-Ost-Gefälle in Europa überwunden wird“. Deshalb gehörte die Bundesregierung in der Folgezeit zu den maßgeblichen Förderern einer Osterweiterung der EU, um den Transformationsprozess in den mittel- und osteuropäischen Staaten zu unterstützen, die ökonomische Angleichung zu beschleunigen und Grundlagen für eine neue gesamteuropäische Architektur zu schaffen.

Neuordnung Europas

Einen wichtigen Schritt zur Neuordnung Europas stellte der Vertrag von Maastricht dar, der am 7. Februar 1992 unterzeichnet wurde und am 1. November 1993 in Kraft trat. Mit ihm wurde nicht nur stufenweise die Wirtschafts- und Währungsunion verwirklicht, zu der ein gemeinsamer europäischer Binnenmarkt, der „Euro“ als gemeinsame Währung und die nach dem Modell der Deutschen Bundesbank konzipierte Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main gehörten, sondern auch die politische Union vorangetrieben. Der europäische Integrationsverbund erhielt den vielversprechenden neuen Namen „Europäische Union“ (EU) und kann seitdem als Völkerrechtssubjekt in eigenem Namen internationale Verträge und Abkommen schließen, diplomatische Beziehungen mit anderen Staaten unterhalten und Mitglied in internationalen Organisationen werden.

Am 1. Januar 1999 wurde zudem der Euro in elf Mitgliedstaaten als gesetzliche Buchwährung eingeführt, am 1. Januar 2002 auch als Bargeld. Damit löste er die nationalen Währungen ab und gilt heute in 19 EU-Ländern als gesetzliches Zahlungsmittel. Die Euphorie, die anfänglich mit der Einführung des Euro verbunden war, ist seit Beginn der „Eurokrise“ 2009 allerdings deutlich geschrumpft. Aufgrund der unterschiedlichen Wirtschaftsleistung kam es nach dem Wegfall der Möglichkeit, die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften durch Änderungen der Wechselkurse zu steuern, in einzelnen Ländern immer wieder zu Haushaltsproblemen, die in mehreren Fällen dramatische Ausmaße annahmen. Verstöße gegen grundlegende Regeln des Maastricht-Vertrages – wie die Drei-Prozent-Grenze bei der jährlichen Neuverschuldung und die Maximalverschuldungsgrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – waren keine Ausnahme. Besonders schwerwiegend waren die Probleme im Falle Griechenlands. Aber auch andere Länder, vor allem im Süden Europas, waren nicht in der Lage, die Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu bewältigen und mussten Hilfen der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Anspruch nehmen.

Der 2011 als „Rettungsschirm“ der EU verabschiedete Europäische Stabilitätsmechanismus, der Europäische Fiskalpakt und die Europäische Bankenunion sowie die Steuerungsmechanismen der EZB führten zwar vorübergehend zu einer Beruhigung, konnten die Krise aber lediglich eindämmen und nicht lösen. Durch die Coronavirus-Pandemie, die ab 2020 auch in Europa ausbrach, wurden die Probleme noch einmal verschärft, sodass ein spezielles Ankaufprogramm für Staatsanleihen (Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP) in Höhe von 1850 Milliarden Euro aufgelegt werden musste, das zu knapp einem Viertel (24,6 Prozent) von Deutschland getragen wird. Die Länder mit der höchsten Verschuldung in Prozent des BIP sind weiterhin Griechenland sowie Italien, Portugal und Spanien, aber auch Frankreich und Belgien.

Auch der Vertrag von Lissabon, der im Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs der EU zur Vertiefung der europäischen Integration unterzeichnet wurde, geriet mit zunehmender Dauer der Wirtschafts- und Finanzprobleme immer mehr in die Kritik. Insbesondere Großbritannien zeigte sich nicht mehr gewillt, zugunsten eines als fragwürdig empfundenen Brüsseler Zentralismus auf nationale Souveränität zu verzichten. Am 23. Juni 2016 stimmten die britischen Wählerinnen und Wähler in einem Referendum mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der EU, der nach langwierigen Verhandlungen und mehrmaligen Verschiebungen am 31. Januar 2020 vollzogen wurde („Brexit“). Gründe für den Austritt waren neben dem generellen Einfluss der Europäischen Union auf die Politik des Vereinigten Königreichs und den gemeinsamen EU-Regelungen zu Handelsbeziehungen ebenfalls die Konflikte, die aufgrund der Zuwanderung nach Großbritannien – nicht zuletzt von Arbeitskräften aus osteuropäischen EU-Staaten – entstanden und durch die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 noch einmal eine Zuspitzung erfuhren. Auch die meist populistisch geführten Kampagnen – inklusive falscher Zahlen und Versprechungen – der Brexit-Befürworter leisteten ihren Beitrag zu dem Ergebnis.
„Eurokrise“ und „Flüchtlingskrise“ förderten aber auch in anderen Staaten der Europäischen Union eine verbreitete Skepsis gegenüber Brüssel. Die Machthabenden einiger ostmitteleuropäischen Länder – wie Polen und Ungarn – nutzten die Krisen, um eine Abkehr von gemeinsamen EU-Werten und Normen einzuleiten und die Pressefreiheit und den Rechtsstaat nach und nach einzuschränken. Deutschland hingegen hielt trotz der Konflikte, die sich daraus für die Zusammenarbeit zwischen den 28 (nach dem Brexit 27) Staaten der Union ergaben, an seiner engagierten Europapolitik fest.

Militär- und Sicherheitspolitik

Weniger Bereitschaft, Verpflichtungen einzugehen, gab es dagegen nach 1990 in Deutschland in der Militär- und Sicherheitspolitik. Gründe waren zum einen die Rücksicht auf das historische Erbe und die mehrheitlich pazifistische Grundhaltung der Bevölkerung. Zum anderen setzte der Artikel 87a des Grundgesetzes, wonach deutsche Streitkräfte außer zur Verteidigung nur in bestimmten Fällen eingesetzt werden dürfen, dem Handeln der Bundesregierung enge Grenzen. Gegenüber den Bündnispartnern in der NATO konnte Deutschland nach der Wiedervereinigung die historisch verständliche Zurückhaltung jedoch immer weniger rechtfertigen und sah sich Mitte der 1990er-Jahre schließlich gezwungen, seine außen- und sicherheitspolitische Rolle und mögliche Auslandseinsätze der Bundeswehr zu überdenken. Als der UN-Sicherheitsrat während des Bürgerkrieges in Jugoslawien im März 1993 entschied, ein Flugverbot über Bosnien-Herzegowina durchzusetzen, und zu diesem Zweck AWACS-Fernaufklärer der NATO anforderte, in denen auch deutsche Soldaten Dienst taten, ließ sich eine Klarstellung der deutschen Position nicht länger hinausschieben. Nachdem ein Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes im Bundestag gescheitert war, entschied das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994, dass die Bundesrepublik gemäß Artikel 24 Absatz 2 GG ermächtigt sei, sich in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit wie der NATO einzuordnen. Allerdings müsse jeder bewaffnete Einsatz vom Bundestag beschlossen werden.

Damit war der Weg für Auslandseinsätze der Bundeswehr grundsätzlich frei. Deutsche Streitkräfte konnten dadurch sowohl im Kosovo-Konflikt 1998/99 gegen Serbien als auch nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 im Kampf gegen die Taliban und das Al-Qaida-Netzwerk in Afghanistan eingesetzt werden. Die Beteiligung der Luftwaffe an Angriffen auf Serbien im Frühjahr 1999 stellte dabei den ersten Kriegseinsatz deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg überhaupt dar. Die Teilnahme der Bundeswehr an der Operation Enduring Freedom in Afghanistan bedeutete ebenfalls ein Novum, da die NATO nach dem 11. September 2001 zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages ausrief. Anschließend beteiligte sich die Bundeswehr in Afghanistan unter Führung der NATO auch an einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force, ISAF) auf der Grundlage eines UN-Mandats sowie an der NATO-Mission „Resolute Support“. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan endete nach fast 20 Jahren erst am 29. Juni 2021.

In zwei Fällen verweigerte die Bundesregierung ihren Bündnispartnern hingegen die Unterstützung und lehnte eine Beteiligung deutscher Soldaten ab: im Irak-Konflikt 2002, der 2003 unter Führung des US-Präsidenten George W. Bush zu einem Krieg gegen das Regime von Saddam Hussein führte, und im Libyen-Konflikt 2011, in dem insbesondere Frankreich und Großbritannien den Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi betrieben. Im Fall des Irak lagen nach Meinung der Bundesregierung keine Beweise für den Besitz von Massenvernichtungswaffen und Verbindungen zum Al-Qaida-Netzwerk vor. Im Fall Libyens bestanden zwar große Sympathien für den „Arabischen Frühling“, der in Tunesien und Ägypten bereits zu einem Regimewechsel geführt hatte. Aber eine militärische Einmischung in den libyschen Bürgerkrieg zur Unterstützung der Aufständischen gegen das Gaddafi-Regime lehnte die Bundesregierung ab. Diese Haltung, die vor allem im Irak-Konflikt zu einer ernsthaften Belastung für das deutsch-amerikanische und deutsch-britische Verhältnis führte, war ein Zeichen für die zunehmende außenpolitische Eigenständigkeit Deutschlands nach der Wiedervereinigung. Dadurch wurden jedoch weder die NATO-Mitgliedschaft noch die Allianz mit den USA und Großbritannien infrage gestellt. Die Bundesregierung machte aber deutlich, dass sie sich inzwischen ein eigenes Urteil in außen- und sicherheitspolitischen Fragen zutraute, selbst wenn dies Konflikte im Bündnis auslöste.

Eine ähnliche Eigenständigkeit bewies die Bundesrepublik auch im Ukraine-Konflikt 2013/14, der im Herbst und Winter auf dem Majdan in Kiew mit Massenprotesten gegen die Politik der damals noch russlandfreundlichen ukrainischen Regierung begann. Als der Konflikt eskalierte, vermittelte Frank-Walter Steinmeier in seiner damaligen Funktion als Bundesaußenminister gemeinsam mit seinen französischen und polnischen Amtskollegen am 21. Februar 2014 einen Vertrag, der zur Beilegung der Krise beitragen sollte. Er setzte diese Vermittlungsaktion auch dann noch fort, als sich der Konflikt in den ostukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk zu einem unerklärten Krieg zwischen von Russland unterstützten Separatisten und ukrainischen Truppen ausweitete und Russland im März 2014 die Halbinsel Krim militärisch besetzte und widerrechtlich annektierte, also in seinen Besitz brachte. Mit dem Protokoll von Minsk vom September 2014 und dem erneuerten Protokoll Minsk II vom 12. Februar 2015, das unter direkter Mitwirkung von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgehandelt wurde, bemühte sich Deutschland nicht nur um die Wiederherstellung des Friedens in der Region, sondern unternahm zugleich große Anstrengungen, mit Russland im Gespräch zu bleiben und durch intensive Handelsbeziehungen zu einer Mäßigung des russischen Verhaltens beizutragen.

Die Strategie, durch Schaffung gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeiten die Stabilität der europäischen Ordnung zu sichern, erwies sich allerdings spätestens mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 als Illusion. Ob mit dem Beginn des Ukraine-Krieges eine „Zeitenwende“ eingeleitet wurde, wie Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar vor dem Bundestag erklärte, als er zugleich eine massive Aufrüstung der Bundeswehr ankündigte, bleibt abzuwarten. Die Bundesrepublik unterstützte die umfassenden westlichen Sanktionen gegen Russland und liefert auch Waffen an die Ukraine. Gleichzeitig bemühte sie sich – wie auch andere Partner – den Weg zu Verhandlungen offen zu halten.

Probleme der inneren Einigung

Die innergesellschaftliche Entwicklung Deutschlands nach der Wiedervereinigung schwankte zwischen Euphorie und Ernüchterung. Im Überschwang der Gefühle, die mit den sich überstürzenden Ereignissen der Wendezeit 1989/90 verbunden waren, wurden viele der Schwierigkeiten übersehen, die der Strukturwandel als Folge der Wiedervereinigung in beiden Teilen Deutschlands mit sich bringen würde. Als Bundeskanzler Kohl am 21. Juni 1990 in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag behauptete, nur die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten biete die Chance, „dass Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder blühende Landschaften sein werden, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt“, weckte er Erwartungen, die zunächst nur schwer einzulösen waren. Der Begriff der „blühenden Landschaften“ verkehrte sich in sein Gegenteil und wurde zum Sinnbild für die Deindustrialisierung Ostdeutschlands: So wurden darunter bald nicht mehr restaurierte Häuser, pulsierende Städte und florierende Wirtschaftsparks verstanden, sondern überalterte Dörfer, strukturschwache Regionen und stillgelegte Industrielandschaften sowie Rangierbahnhöfe, die sich die Natur zunehmend zurückeroberte.

Die verfügbaren Daten unterstreichen den dramatischen Verfall der ostdeutschen Wirtschaft nach 1990: Die Industrieproduktion, die bereits von 1989 bis zum Herbst 1990 um die Hälfte gesunken war, fiel bis April 1991 auf 30 Prozent ihres Ausgangsniveaus von 1989 und konnte sich in den folgenden Jahren kaum erholen. 1997 entfielen auf Ostdeutschland nur noch neun Prozent der Industrieproduktion und rund 10,5 Prozent der Industriebeschäftigten der Bundesrepublik; 1989 hatten die entsprechenden Anteile bei 20 bzw. 32 Prozent gelegen. Das Bruttoinlandsprodukt sank 1990 um 30,5 Prozent und 1991 noch einmal um 2,2 Prozent, ehe sich eine – wenn auch sehr langsame – Verbesserung einstellte.

Ob dieser Absturz vermeidbar gewesen wäre, ist fraglich. Denn anders als in anderen Transformationsländern wie Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarn wurde die DDR-Mark zu einem Umtauschkurs von 1:1 sofort auf eine „harte Währung“, die D-Mark, umgestellt, wie es zuvor auch von der ostdeutschen Bevölkerung und allen ostdeutschen Parteien mit großem Nachdruck gefordert worden war. Damit aber brachen die bisherigen Absatzmärkte der meisten ostdeutschen Betriebe weg, da die ehemaligen Kunden aus dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) – dem sozialistischen Gegenstück zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – aufgrund ihrer Devisenknappheit nicht mehr zahlungsfähig waren. Zum anderen entsprach die Anhebung der Löhne in der ehemaligen DDR nur selten der Produktivität der Betriebe. Die Maßnahme war zwar politisch geboten, um die Gefahr sozialer Unruhen oder eine Fortsetzung der Massenabwanderung in den Westen zu vermeiden. Die ostdeutsche Wirtschaft wurde dadurch jedoch einer „Schocktherapie“ ausgesetzt, die sie nicht überleben konnte.

Die daraus resultierende Massenarbeitslosigkeit, die plötzliche Konfrontation mit einer völlig neuen ökonomischen und soziokulturellen Umwelt sowie die Entwertung bisheriger Institutionen, Normen und Leistungen lösten bei vielen Ostdeutschen jedoch einen „Transformations- und Einheitsschock“ aus, der verbreitet zu Verunsicherung, Enttäuschung und Resignation führte. Zwar war Deutschland jetzt wieder vereint, aber es existierten noch immer zwei Gesellschaften. Mitte der 1990er-Jahre wurde daher vielfach die Frage gestellt, ob die Entfremdung zwischen Ost und West den Wiedervereinigungsprozess dauerhaft stören könnte.

Anders als häufig vermutet, stellte sich der größte Teil der Ostdeutschen in hohem Maße und mit viel Erfolg auf die neuen Gegebenheiten ein. Ganz abgesehen davon, dass es keinen ostdeutschen „Separatismus“ (d.h. Streben nach einer Abspaltung von Deutschland) und keine nennenswerten Bestrebungen gab, das Rad der Geschichte zurückdrehen, wurden der politische Ordnungswechsel, der sich 1989/90 vollzog, und die Einigung Deutschlands bei Umfragen seit 1990 regelmäßig von etwa 80 Prozent der Befragten befürwortet. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass diese Zustimmung quer durch alle sozialen Schichten und politischen Parteien verlief. Die eingetretene Ernüchterung war demzufolge nicht das Ergebnis einer grundsätzlichen Ablehnung der Wiedervereinigung, sondern hauptsächlich eine Begleiterscheinung der Enttäuschung, die sich aus den schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Einigungsprozesses ergab. Nachdem der Systemwechsel und der Institutionentransfer in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre weitgehend abgeschlossen waren, wurden die neuen Verhältnisse von den Menschen daher je nach Erfolg oder Misserfolg als Glücksfall, Chance und Herausforderung oder als Belastung, Ausgrenzung und traumatisches Ende bisheriger Lebensentwürfe begriffen.

Inzwischen scheint die wirtschaftliche Integration insgesamt weitgehend gelungen zu sein. So ergab eine 2019 im Auftrag des Mitteldeutschen Rundfunks von Infratest dimap durchgeführte Befragung zu „30 Jahre Mauerfall“, dass jeweils 82 Prozent der Ost- und Westdeutschen ihre persönliche wirtschaftliche Situation als „sehr gut“ oder „gut“ betrachten. Drei Viertel der Ostdeutschen erklärten, die Entwicklung seit 1989 habe für sie „starke oder zumindest einige Verbesserungen“ gebracht; nur 10 Prozent sehen Verschlechterungen.

Dennoch sind die beiden deutschen Teilgesellschaften auch mehr als drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall von einer wirklichen Verschmelzung weit entfernt. Jedenfalls zeigt eine 2020 von „forsa“ durchgeführte Umfrage, dass weniger als die Hälfte der Bundesbürginnen und -bürger (47 Prozent) der Meinung sind, dass die Menschen in Ost- und Westdeutschland mittlerweile zu einem Volk zusammengewachsen seien; für 53 Prozent besteht die „Mauer in den Köpfen“ also weiter.

Besonders groß sind die Unterschiede in der Haltung zur Demokratie. So waren laut „Jahresbericht 2020 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“ 91 Prozent der Menschen im Westen der Meinung, die Demokratie sei die beste Staatsform, im Osten nur 78 Prozent. Zufrieden mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, waren 2020 laut Infratest dimap nur 35,6 Prozent der Ostdeutschen, unter den AfD-Anhängerinnen und -Anhängern sogar nur 7,2 Prozent. Konträr dazu sagen 86 Prozent der Westdeutschen, dass sie mit der Demokratie in Deutschland zufrieden sind.

Es besteht also eine erhebliche Kluft zwischen der Einschätzung der persönlichen Lebenssituation und der Bewertung der allgemeinen Lage. Dieses Phänomen ist allerdings nicht neu, sondern in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung durchgängig zu beobachten. In den ersten zweieinhalb Jahrzehnten nach 1990 profitierten davon vor allem die PDS und später die Linkspartei.

In der Abbildung links wird in Form eines Balkendiagramms die Demokratiezufriedenheit für Gesamt-, West- und Ostdeutschland ermittelt: 64 % der gesamten deutschen Bevölkerung geben an sehr zufrieden oder zufrieden zu sein; für Westdeutschland liegt der Wert bei 68 % und für Ostdeutschland bei 50 %.<br />
<br />
In der Abbildung rechts werden die Bundesrepublik und die DDR werden gegenübergestellt und anhand der Frage Wenn Sie die heutigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit denen in der DDR vergleichen. Was meinen Sie: Ist im heutigen Deutschland die Situation im Vergleich zur früheren DDR eher besser oder eher schlechter?“ miteinander vergleichen. Dabei wurde die Frage jeweils hinsichtlich der Aspekte Meinungsfreiheit, Gesundheitssystem, Schulsystem frühkindliche Betreuung und sozialer Zusammenhalt gestellt. Für die Aspekte Meinungsfreiheit und Gesundheitssystem haben die Befragten aus West- und Ostdeutschland überwiegend „eher besser“ angegeben. Beim Thema Schulsystem geben 47 % der Westdeutschen eher besser und 54 % der Ostdeutschen eher schlechter an. Zum Aspekt der frühkindlichen Betreuung geben 37 % der Westdeutschen eher besser und 51 % der Ostdeutschen eher schlechter an. Sowohl die Westdeutschen mit 42 % als auch die Ostdeutschen mit 74 % geben beim sozialen Zusammenhalt eher schlechter an.

Demokratiezufriedenheit / Vergleich Bundesrepublik und DDR (© infratest dimap für den ARD-DeutschlandTrend Oktober 2020; online: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-2347.pdf)

Ein Liniendiagramm zeigt innerhalb des Zeitraums von September 1998 bis Oktober 2020 den Aspekt der Demokratiezufriedenheit an und vergleicht dabei anhand zweier Linienverläufe die Werte von Westdeutschland in grün mit Ostdeutschland in apricot. Im direkten Vergleich verlaufen die Linien annähernd parallel zueinander und folgen sich auch bei Auf- und Abschwüngen. Im Oktober 2020 liegt der Wert für Westdeutschland bei 68 % und für Ostdeutschlands bei 50 %.

Demokratiezufriedenheit in Prozent (© infratest dimap für den ARD-DeutschlandTrend Oktober 2020; online: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-2347.pdf)

Bei der Frage zur Identität und ob sich die Befragten gesamtdeutsch, westdeutsch oder ostdeutsch fühlen, werden anhand von drei Kreisdiagrammen Vergleiche gezogen. Für die gesamte Bundesrepublik geben 73 % an, sich als deutsch im allgemeinen Sinne zu fühlen, 13 % geben an sich westdeutsch zu fühlen und 9 % fühlen sich als ostdeutsch. Bei der Befragung der Westdeutschen werden 78 % ermittelt, die angeben sich als deutsch zu fühlen und nur 16 % fühlen sich ausschließlich westdeutsch. Die Befragung der in Ostdeutschland lebenden Personen ergibt, dass sich 55 % als deutsch und 41 % als ostdeutsch betrachten.

Identität: Deutsch? Westdeutsch? Oder Ostdeutsch? (© infratest dimap für den ARD-DeutschlandTrend Oktober 2020; online: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-2347.pdf)

Inzwischen kommt die Unzufriedenheit der Ostdeutschen besonders der rechtspopulistischen AfD zugute, die bei der Bundestagswahl 2021 in Sachsen und Thüringen mit 24,6 bzw. 24,0 Prozent der Stimmen stärkste Kraft wurde, aber auch in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit Stimmenanteilen zwischen 18,0 und 19,6 Prozent weit über dem Bundesdurchschnitt von 10,1 Prozent lag. Ein Beispiel für den Rechtstrend der politischen Kultur in Ostdeutschland sind ebenfalls die völkisch-nationalistischen Proteste in Dresden seit 2014, nachdem sich dort infolge verstärkter Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland das islam- und fremdenfeindliche Bündnis „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) gründete.

Reformzwänge und ihre Auswirkungen auf die politischen Strukturen

Zu den Herausforderungen, denen sich die „Berliner Republik“ nach der Wiedervereinigung gegenübersah, gehörte neben der Außen- und Sicherheitspolitik und der Zusammenführung der beiden Teilgesellschaften auch die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik. Der Preis der deutschen Einheit war keine Festgröße, sondern addierte sich in den drei Jahrzehnten seit 1990 zu einer Summe von mehr als zwei Billionen Euro, die für die Sanierung der Infrastruktur der ehemaligen DDR, die Erneuerung der Innenstädte oder zur Förderung von Unternehmen im Bereich der ostdeutschen Länder sowie für Transfers in der Renten- und Arbeitslosenversicherung benötigt wurden, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die sozialen Errungenschaften, über die sich die alte Bundesrepublik zu einem wesentlichen Teil definiert hatte und die nach dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 1990 auf ganz Deutschland übertragen worden waren, ließen sich daher immer weniger finanzieren. Die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder legte daraufhin 2002 mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission und danach mit der Agenda 2010, die Schröder am 14. März 2003 im Bundestag vorstellte, ein Konzept vor, das drastische Kürzungen im Sozialetat vorsah und von dem Grundsatz ausging, dass man, wie er erklärte, „Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern“ müsse.

Dieser sozialpolitische Neuansatz wurde zwar von der Regierungskoalition gebilligt, löste aber eine öffentliche Protestwelle aus, die bald auch die SPD erfasste. Schon bei der Bundestagswahl im September 2005 verlor die rot-grüne Koalition ihre Mehrheit, sodass die SPD sich gezwungen sah, eine Große Koalition mit der CDU/CSU unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einzugehen. Enttäuschte SPD-Anhängerinnen und -Anhänger schlossen sich in der Folge 2007 mit der seit 1990 als ostdeutsche Regionalpartei erfolgreichen PDS zur Partei „Die Linke“ zusammen, die sich seither als Bundespartei links der SPD etablieren konnte. Die Große Koalition hingegen führte die Politik der Agenda 2010 im Wesentlichen fort und erreichte damit in den folgenden Jahren einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Auch nach der Bundestagswahl 2009, als die Union eine Koalition mit der bürgerlich-liberalen FDP bildete, wurde dieser Kurs beibehalten. Im Laufe ihrer Amtsperioden erhielt Merkel für Ihre Politik auch über ihre Parteigrenzen hinweg immer wieder Zustimmung.

Beispiele dafür sind unter anderem – wenige Tage nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 – der vorzeitige Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022, die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht am 24. März 2011 und der Umgang mit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16. Mit dem Beschluss zum stufenweisen Ausstieg aus der Atomenergie übernahm Merkel eine Politik, die bereits am 14. Juni 2000 von der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder durch eine Vereinbarung mit den Energieversorgungsunternehmen eingeleitet worden war. Bei der Aussetzung der Wehrpflicht stimmten im Bundestag nicht nur die Fraktionen von CDU/CSU und FDP, sondern auch die Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen für die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses, nachdem die SPD sich bereits Ende Oktober 2007 in ihrem „Hamburger Programm“ für einen „freiwilligen Wehrdienst“ ausgesprochen hatte. Zudem rief Merkel während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 unter dem Slogan „Wir schaffen das“ zu einer „Willkommenskultur“ gegenüber Geflüchteten auf. Diese führte dazu, dass in den Jahren 2015 und 2016 mehr als eine Million Migrantinnen und Migranten sowie Schutzsuchende nach Deutschland kamen, die mehrheitlich aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch Südosteuropa stammten.

Wie außergewöhnlich die Situation 2015 war, wird erst in einer Gesamtschau der Entwicklung seit den 1950er-Jahren verständlich. So waren nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in der Bundesrepublik von 1953 bis 1989 nur 0,9 Millionen sogenannte „Zugänge“ zu verzeichnen, von 1990 bis 2021 aber rund 5,2 Millionen – davon allein 2015/16 knapp 1,2 Millionen. Aufgrund der Tatsache, dass Deutschland ebenso wie andere Staaten Europas und die USA ihre gesetzlichen Regelungen zu Migration und Asyl im Laufe der sogenannten Flüchtlingskrise mehrfach verschärften, betrug die „Nettozuwanderung“ laut Statistischem Bundesamt 2020 nur noch etwa 220 000 Personen und ist im fünften Jahr in Folge gesunken.

Dazu trug auch die Coronavirus-Pandemie bei, die ab dem Jahr 2020 ebenfalls Einreisebeschränkungen zur Folge hatte. Der Migrationsdruck auf Europa hält jedoch an und führt zu einem breiten Spektrum an Einstellungen und Verhaltensweisen, die zwischen Willkommenskultur und Fremdenfeindlichkeit schwanken.

Die Folgen, die sich aus diesen Entwicklungen ergaben, beeinflussten die politische Struktur und das gesellschaftliche Klima der Bundesrepublik nachhaltig. Insbesondere gilt dies für das Parteiensystem, das von 1949 bis weit über das Jahr 1990 hinaus durch eine hohe Integrationskraft der „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD geprägt war. Zusammen mit der FDP und den Grünen (seit 1993 Bündnis 90/Die Grünen), denen 1983 erstmals der Einzug in den Bundestag gelang, bildeten SPD und Union ein stabiles Drei- bzw. Vier-Parteiensystem.

Ein Kreisdiagramm zeigt die Sitzverteilung des 20. Deutschen Bundestags: Mit 206 Sitzen ist die SPD in rot mit den meisten Abgeordneten vertreten; die Fraktion aus CDU/CSU in schwarz hat 197 Sitze; Bündnis 90/Die Grünen in grün haben 118 Sitze; die FDP in gelb hat 92 Sitze, die AfD in blau besetzt 80 Sitze und die Partei Die Linke in lila ist mit 39 Sitzen vertreten. Für die jeweiligen Parteien bzw. Fraktionen sind jeweils Werte für den Frauenteil in Prozent, das Durchschnittsalter und die Anteile direkt Gewählter in Prozent ermittelt worden. Der Frauenanteil ist bei Bündnis 90/Die Grünen mit 59,3 am höchsten und bei der AfD mit 13,8 % am geringsten. Das Durchschnittsalter ist mit knapp über 50 Jahren bei den Linken am höchsten und mit knapp 43 Jahren bei den „Grünen“ am niedrigsten. Die Anteile der direkt Gewählten ist mit 72,6 % bei der CDU/CSU am höchsten und mit 0 % bei der FDP am geringsten. Betrachtet man die Gesamtheit aller Abgeordneten liegt der Frauenanteil bei 34,9 %, das Durchschnittsalter bei 47,5 Jahren und der Prozentwert für direkt Gewählte bei 40,6 %.

Der 20. Deutsche Bundestag (© picture-alliance/dpa, dpa-infografik GmbH, Globus 015 173; Quelle: Bundestag)

Inzwischen ist die Parteienbindung der Wählerinnen und Wähler deutlich schwächer geworden, sodass der Stimmenanteil der Union von 43,8 Prozent im Jahr 1990 auf 24,1 Prozent 2021 zurückging. Die SPD, die 1998 ebenfalls über 40 Prozent erreichte, sank im gleichen Zeitraum von 33,5 auf 25,7 Prozent. Die FDP, Bündnis 90/Die Grünen, die Linkspartei und die AfD gewannen mit Stimmenanteilen zwischen 4,9 und 14,8 Prozent bei der Bundestagswahl im September 2021 dementsprechend an Bedeutung. Wie in einem Vielparteiensystem üblich, werden Regierungsbildungen erschwert, auch wenn damit nicht zwangsläufig größere politische Unsicherheit einhergeht. Das Anwachsen der rechtspopulistischen AfD, bei der vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) geprüft wird, ob sie überhaupt noch auf dem Boden der Verfassung steht, ist jedoch ein Zeichen für die Polarisierung der politischen Kultur, die Radikalismus wieder zulässt und den gesellschaftlichen Konsens gefährdet.

Fazit

Die Zwischenbilanz drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung fällt damit zwiespältig aus. Der Umbruch von 1989/90 ist Geschichte, aber die innere Einheit ist noch nicht erreicht. Die mit der Agenda 2010 eingeleiteten Reformen erwiesen sich als wirksam und haben zu sinkenden Arbeitslosenzahlen und einer Konsolidierung der öffentlichen Haushalte geführt, sodass die Bundesrepublik sich trotz der Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise 2008 und der „Eurokrise“ seit 2009 zumindest bis 2019 wirtschafts- und finanzpolitisch auf einem guten Weg befand. Angesichts der notwendigen Ausgaben zur Bewältigung der Coronavirus-Pandemie und des demografischen Wandels hin zu einer überalterten Gesellschaft, der vor allem die Bereiche Gesundheit und Renten zunehmend belastet, sowie des Ukraine-Krieges, der zu energiepolitischen Engpässen und hoher Inflation führte, scheint dieser positive Trend jedoch gebrochen. Zukunftssorgen prägen stattdessen die Gegenwart.

In der Innenpolitik vermochte die „Berliner Republik“ durch drei Machtwechsel 1998, 2005 und 2021 ihre demokratische Reife auch unter neuen parteipolitischen Bedingungen zu beweisen. Die unterschiedlichen Akzente, die von den Bundeskanzlern Helmut Kohl und Gerhard Schröder sowie von Bundeskanzlerin Angela Merkel gesetzt wurden und die auch Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner „Zeitenwende“-Rede und seiner Neuorientierung der deutschen Russland-Politik bereits gesetzt hat, spiegelten dabei den Wandel des Zeitgeistes wider, der sich mit dem „Epochenbruch“ 1989/90 ankündigte. Doch Spaltungstendenzen in der Gesellschaft und Angriffe auf die demokratische Ordnung, die sich in Deutschland wie in manchen anderen Ländern Europas und nicht zuletzt in den USA zeigen, geben deshalb einigen Anlass zur Sorge.

In der Außenpolitik hat sich Deutschland in das neue europäische Mächtesystem nach dem Ende des Kalten Krieges eingefügt und als Mitglied der Europäischen Union, der NATO und der UNO sowie zahlreicher weiterer Organisationen eine aktive Rolle auf der internationalen Bühne übernommen. Zugleich ist die Welt unübersichtlicher und unsicherer geworden.

Eine Karikatur zeigt zwei nebeneinanderstehende Männer, die den Arm um die Schulter des jeweils anderen gelegt haben. Die Beschriftung „W“ und „O“ der Pullover kennzeichnen jeweils deren Zugehörigkeit zu West- bzw. Ostdeutschland. Beide halten ihr Smartphone in der Hand und nehmen anlässlich des 3. Oktobers ein Selfie von sich auf, ohne dabei den anderen miteinzubeziehen. Der westdeutsche Mann ist weitaus dicker als der ostdeutsche.

Selfie zum 3. Oktober (© nelcartoons.de)

Regionale Konflikte, wie im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika oder in der Ukraine, haben zugenommen und könnten die internationale Stabilität zusammenbrechen lassen. Und die Herausforderungen, die aus der Globalisierung, terroristischen Bedrohungen, der Migration und dem immer noch schwierigen und durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine noch schwieriger gewordenen Verhältnis zu Russland sowie zur neuen „Supermacht“ China erwachsen, stellen Risiken dar, die vielfach bereits als Beginn eines neuen Kalten Krieges zwischen Ost und West gesehen werden. Zudem besteht die Notwendigkeit, durch einen raschen Verzicht auf neue Treibhausgase und weitreichende Eingriffe in Verkehr und Wirtschaft die Klimakrise zu bewältigen, um die globale Erwärmung einzudämmen. Welche Auswirkungen sich daraus für die Energieversorgung, das wirtschaftliche Wachstum und den gesellschaftlichen Wohlstand ergeben, ist noch nicht absehbar.