Grenzöffnung durch Ungarn
Wesentlichen Anteil an der Zuspitzung der Situation hatte Ungarn, das im Ostblock mit seinen Wirtschaftsreformen schon seit den 1960er-Jahren eine Sonderrolle gespielt hatte und sich seit Mitte der 1980er-Jahre immer mehr nach Westen öffnete. Anfang 1989 erreichten die ungarischen Reformen ein Stadium, in dem offen eine enge Zusammenarbeit mit den westlichen Ländern angestrebt wurde. Dazu gehörte, dass die Regierung in Budapest versprach, internationale Vereinbarungen wie die UN-Menschenrechtskonvention nach Geist und Buchstaben einzuhalten. Im März 1989 trat Ungarn auch der Genfer Flüchtlingskonvention bei.
Als ungarische Soldaten am 18. April 1989 nahe der Ortschaft Köszeg an der Grenze zu Österreich zunächst geheim und ab dem 2. Mai offen mit dem Abbau der elektronischen Sicherungsanlagen und des Stacheldrahtverhaus begannen, war dies ein revolutionärer Vorgang: Ungarn kündigte damit die Solidarität der Ostblockstaaten bei der Abriegelung des kommunistischen Herrschaftsbereiches gegenüber dem Westen auf. Zum ersten Mal seit 1945 wurde das Prinzip des „Eisernen Vorhangs“ grundsätzlich infrage gestellt. Die Versicherung von DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler gegenüber dem SED-Politbüro am 4. Mai, dass es sich dabei nach Mitteilung aus Budapest lediglich um „technische Maßnahmen“ handele, von denen die eigentlichen Grenzkontrollen nicht betroffen seien, wurde daher der wahren Bedeutung des Ereignisses nicht gerecht.
Obwohl die Mitglieder des Politbüros, wie Politbüromitglied Günter Schabowski später berichtete, durchaus ahnten, welche Sprengkraft in dem Vorgang lag, wurde auf Selbstbeschwichtigung gesetzt. „Erschrocken und hilflos“, so Schabowski, habe man beobachtet, „wie der sozialistische Block in die Brüche ging“. Die Flüchtlingszahlen stiegen. Aus Einzelfällen wurden ein Rinnsal und bald ein Strom. Beim Verfall der SED-Macht wirkte Ungarn damit als Katalysator.
Kommunalwahlen und Schulterschluss mit China
Dennoch hielt die SED-Führung weiter starr an ihrem Kurs der Reformverweigerung fest. Dies zeigte sowohl die Manipulation der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 als auch die demonstrative Unterstützung der chinesischen Regierung nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens) in Peking am 4. Juni 1989, wo eine Studentenrebellion gegen das totalitäre Regime von der chinesischen Volksbefreiungsarmee blutig niedergeschlagen wurde. Während die durch die Wahlfälschung erzielten Resultate die Zustimmung der Bevölkerung zum SED-Regime unterstreichen sollten, war der Schulterschluss mit den repressiven Kräften in China offenbar ein Signal an innenpolitische Gegner, wie man auch in der DDR mit umstürzlerischen Elementen umzugehen gedachte, wenn diese zu einer ernsthaften Bedrohung für die Regierung werden sollten.
Tatsächlich waren die Wahlmanipulationen am 7. Mai 1989 kaum gravierender als bei früheren „Wahlen“ in der DDR. Aber das innen- und außenpolitische Umfeld hatte sich verändert: Die wichtigsten ehemaligen Verbündeten der DDR befanden sich jetzt auf Reformkurs, und viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger hielten ihre Regierung inzwischen nicht mehr nur für reformunwillig, sondern auch für reformunfähig. Die SED-Spitze um Honecker hatte den Rückhalt verloren, den sie früher in der UdSSR und bei den anderen „Bruderländern“ besessen hatte, und verfügte auch im Inneren kaum noch über Autorität. Sie war daher weitgehend isoliert. Ihr Verhalten stieß nahezu überall auf Kritik und Verständnislosigkeit.
QuellentextÖffentlicher Wahlbetrug
Am 7. Mai 1989 sind die DDR-Bürger wieder einmal aufgerufen, die „Kandidaten der Nationalen Front“ zu wählen. Das Wahlverfahren ist wie eh und je nur scheinbar demokratisch: Auf einer von der SED abgesegneten Einheitsliste stehen die Kandidaten, die fast keinem der Wähler bekannt sind. Eine Abstimmung über einzelne Wahlvorschläge ist nicht möglich. Für die gesamte Liste gibt es nur die Unterscheidung zwischen Ja-Stimme, Nein-Stimme und ungültiger Stimme. In der Bevölkerung wird der Gang zur Wahlurne deshalb auch treffend als „Zettelfalten“ bezeichnet.
Was nur wenige DDR-Bürger wissen: Eine Nein-Stimme, also eine Ablehnung des Wahlvorschlags, wird nur dann anerkannt, wenn der Wähler auf der Liste jeden einzelnen Namen säuberlich durchstreicht. Jede Abweichung von dieser äußeren Form macht den Stimmzettel ungültig.
Zwar ist in jedem Wahlbüro eine Wahlkabine aufgebaut, doch werden die Bürger, die die Kabine benutzen, von den bestellten linientreuen Wahlhelfern registriert: In einem sozialistischen Staat hat in ihren Augen ein rechtschaffener Mensch nichts zu verbergen.
Es gibt die ungeschriebene Verpflichtung, an der Wahl teilzunehmen, und die Wahlbeteiligung der DDR-Bevölkerung liegt auch ohne die unmittelbare Anwendung von Druckmitteln bei weit über 90 Prozent. Wer jedoch bis 16 Uhr nicht ins Wahllokal kommt, muss damit rechnen, dass ihn Wahlhelfer zu Hause aufsuchen, um die fehlende Stimme abzuholen. Die Wahlkreise konkurrieren untereinander um die höchste Zustimmungsrate. 99 Prozent sollen es am besten sein – und so muss hier und da manipuliert werden.
Schon im Vorfeld der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 kritisieren oppositionelle Gruppen das Wahlverfahren und fordern freie, demokratische Wahlen. Einige Oppositionsgruppen rufen zum Wahlboykott auf. Andere fordern die DDR-Bürger auf, erst recht zur Wahl zu gehen und aus Protest mit Nein zu stimmen. Oder gleich ungültige Stimmen abzugeben.
[…] Zahlreiche Oppositionelle nehmen am 7. Mai 1989 in verschiedenen Teilen der Republik in den Wahllokalen an der öffentlichen Auszählung der Stimmen teil. Einige informieren sich vor den Wahlen ausführlich über die gesetzlichen Grundlagen, die den DDR-Bürgern eine Teilnahme an den Auszählungen zusichern. Sie geben diese Informationen in Schulungen und auf Flugblättern an die Wahlbeobachter weiter.
Damit unterscheidet sich die Situation von der bisheriger Wahlen deutlich. Zwar wurden früher auch schon einzelne Auszählungen „begleitet“, doch im Mai 1989 finden erstmals Wahlkontrollen an vielen verschiedenen Orten des Landes statt. Ihr Ziel ist es, den Wahlbetrug nachzuweisen.
In Berlin werden die Kontrollen der Auszählungen unter anderem durch Mitglieder des Weißenseer Friedenskreises, der Umwelt-Bibliothek (UB) und der Kirche von Unten organisiert. Die Mehrzahl der Leute, die sich hier engagieren, sind junge Menschen. Im Ostberliner Stadtteil Weißensee nehmen auch Schüler an der Beobachtung der Auszählungen teil.
In einigen Wahllokalen verwehren die offiziellen Wahlhelfer den Beobachtergruppen widerrechtlich den Zutritt. Dennoch gelingt es vielen Beobachtern im ganzen Land, die Auszählungen zu verfolgen.
In Berlin wird noch am Abend der Wahlparty in den Räumen der Kirche von Unten ausgezählt. Die Ergebnisse der nächsten Tage bestätigen: Die Wahl ist gefälscht.
Die Ergebnisse der oppositionellen Wahlbeobachter aus dem ganzen Land werden schriftlich festgehalten und in einem Papier mit dem Titel „Wahlfall“ verbreitet, das in der UB gedruckt wird. Diese Dokumentation des staatlichen Wahlbetrugs ist die erste ihrer Art in der DDR. 1989 sprechen und schreiben die Korrespondenten der Westmedien im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen in der DDR das erste Mal das Wort „Fälschung“ offen aus und zitieren dabei aus dem Wahlfall.
Das Staatsblatt Neues Deutschland veröffentlicht ganz andere Zahlen. Das Ergebnis ist erschreckend: Die offizielle Verlautbarung unterschlägt zahlreiche Gegenstimmen im ganzen Land. Die Oppositionsgruppen erheben sofort Protest: Zum einen hagelt es Eingaben an die Staatsführung, zum anderen gehen die Gruppen landesweit mit ihrem Protest auf die Straße. Die mit knapp 200 Teilnehmern erste größere Wahldemonstration findet einen Monat später statt: am 7. Juni 1989, vor dem Gebäude des Konsistoriums der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg in Ost-Berlin […].
In Berlin wird der Alexanderplatz in den folgenden Monaten zum regelmäßigen Treffpunkt (an jedem Siebten des Monats) für Demos gegen den Wahlbetrug. Immer sind es vor allem junge Menschen, [...] die sich mit ihrem Protest an die Öffentlichkeit wagen. […]
„Proteste gegen den Wahlbetrug“, hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Juli 2019, Externer Link: www.jugendopposition.de/145314
Auch die zustimmende Reaktion Ost-Berlins auf die brutale Niederschlagung der Studentenrebellion in Peking am 4. Juni 1989 rief Empörung hervor. Während in der ganzen Welt heftig gegen das Massaker auf dem Tiananmen-Platz protestiert wurde, entschied das SED-Politbüro, dass man dem „hartgeprüften chinesischen Volk“ zu Hilfe kommen müsse: Die Volkskammer verabschiedete eine Resolution, in der die DDR ihre Unterstützung für die Niederschlagung der „konterrevolutionären Unruhen“ in der chinesischen Hauptstadt bekundete. Der stellvertretende Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Egon Krenz, wurde nach Peking entsandt, um Chinas politischer Führung zur erfolgreichen Niederschlagung des „konterrevolutionären Aufstands“ persönlich und im Namen des SED-Politbüros zu gratulieren. Die damit bekundete politische Hilfestellung für ein undemokratisches, totalitäres Regime war zwar in der Geschichte der DDR ebenfalls kaum etwas Neues, aber in der sensiblen Situation des Sommers 1989 signalisierte die SED-Führung damit ihre Entschlossenheit, nicht auf Reformen, sondern auf Repression zu setzen.
Massenflucht und Proteste
Vor diesem Hintergrund fassten immer mehr DDR-Bürgerinnen und -Bürger den Entschluss, ihrem Land so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Allein 120 000 stellten im Sommer 1989 einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Im Juli und August versuchten darüber hinaus Hunderte, die mit ihrer Geduld am Ende waren, ihre Ausreise durch die Besetzung westlicher – vor allem westdeutscher – diplomatischer Vertretungen in Budapest, Warschau, Ost-Berlin und Prag zu erzwingen. Die Prager Botschaft der Bundesrepublik musste sogar binnen zwei Wochen wegen Überfüllung geschlossen werden. Am Rande einer UN-Vollversammlung gelang es Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in Verhandlungen mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer, dem es im Vorfeld der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung um eine Entschärfung der instabilen Lage ging, die Ausreise aller Prager und Warschauer Flüchtlinge zu erreichen. Sie kamen in Sonderzügen Anfang Oktober in die Bundesrepublik.
Egon Krenz, der SED-Generalsekretär Honecker zu dieser Zeit vertrat, weil der Parteichef sich einer Operation unterziehen musste, die ihn für längere Zeit von seinen Amtsgeschäften fernhielt, wusste um die Motive, die die Ostdeutschen dazu brachten, die DDR zu verlassen. Der Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen im Zentralkomitee (ZK) der SED, Wolfgang Herger, hatte sie in einem vertraulichen Bericht für Krenz zusammengefasst. Vom „Verlust an Perspektive als Massenprotest“ war darin die Rede, von „Resignation als Massenphänomen“ sowie von einer alarmierend zunehmenden Rate der Abwendung von der DDR, besonders unter Jugendlichen, einschließlich der Funktionäre der Freien Deutschen Jugend (FDJ).
QuellentextStasi-Bericht vom 9. September 1989 über Ausreisemotive
Die zu diesem Komplex in den letzten Monaten zielgerichtet erarbeiteten Erkenntnisse beweisen erneut, dass die tatsächlichen Handlungsmotive zum Verlassen der DDR sowohl bei Antragstellungen auf ständige Ausreise als auch für das ungesetzliche Verlassen im Wesentlichen identisch sind. […] Die überwiegende Anzahl dieser Personen wertet Probleme und Mängel an der gesellschaftlichen Entwicklung, vor allem im persönlichen Umfeld, in den persönlichen Lebensbedingungen und bezogen auf die so genannten täglichen Unzulänglichkeiten, im Wesentlichen negativ und kommt, davon ausgehend, insbesondere durch Vergleiche mit den Verhältnissen in der BRD und in Westberlin, zu einer negativen Bewertung der Entwicklung in der DDR.
Die Vorzüge des Sozialismus, wie zum Beispiel soziale Sicherheit und Geborgenheit, werden zwar anerkannt, im Vergleich mit aufgetretenen Problemen und Mängeln jedoch als nicht mehr entscheidende Faktoren angesehen. [...] Das geht einher mit der Auffassung, dass die Entwicklung keine spürbaren Verbesserungen für die Bürger bringt, sondern es auf den verschiedensten Gebieten in der DDR schon einmal besser gewesen sei. Derartige Auffassungen zeigen sich besonders auch bei solchen Personen, die bisher gesellschaftlich aktiv waren, aus vorgenannten Gründen jedoch „müde“ geworden seien, resigniert und schließlich kapituliert hätten. [...] Diese Personen gelangen in einem längeren Prozess zu der Auffassung, dass eine spürbare, schnelle und dauerhafte Veränderung ihrer Lebensbedingungen, vor allem bezogen auf die Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse, nur in der BRD oder Westberlin realisierbar sei. [...]
Als wesentliche Gründe für Bestrebungen zur ständigen Ausreise bzw. das ungesetzliche Verlassen der DDR [...] werden angeführt:
Unzufriedenheit über die Versorgungslage;
Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen;
Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung;
eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland;
unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf;
Unzulänglichkeiten bei der Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über Löhne und Gehälter;
Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie über Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern;
Unverständnis über die Medienpolitik der DDR. [...]
Im untrennbaren Zusammenhang damit wirken aktuelle Entwicklungstendenzen in anderen sozialistischen Staaten, insbesondere in der Ungarischen Volksrepublik, Volksrepublik Polen und der Sowjetunion, durch die in beachtlichem Umfang Zweifel an der Einheit, Geschlossenheit und damit der Stärke der sozialistischen Staatengemeinschaft entstanden sind, die zunehmend auch zu Zweifeln an der Perspektive und Sieghaftigkeit des Sozialismus überhaupt führen.
„Stasi-Bericht“, in: Armin Mitter / Stefan Wolle (Hg.), „Ich liebe euch doch alle. Befehle und Lageberichte des MfS“, Basis-Dr.-Verl.-Ges., Berlin 1990, S. 141 ff.
Krenz erhielt den Bericht nur einen Tag vor Antritt eines vierwöchigen Urlaubs an der Ostsee, von wo aus er nichts mehr unternehmen konnte. Honecker hatte Krenz offenbar bewusst in den Urlaub entlassen und stattdessen seinen Vertrauten, Politbüromitglied Günter Mittag, mit der Wahrnehmung der Amtsgeschäfte des Generalsekretärs beauftragt. Doch Mittag erwies sich als unfähig, der Lage gerecht zu werden. Die Zahl der Menschen, die aus der DDR über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik flüchteten, stieg immer weiter an. Der „Eiserne Vorhang“, der schon seit dem 18. April durch Ungarn prinzipiell infrage gestellt worden war, bestand praktisch nicht mehr. Als die ungarische Regierung es DDR-Bürgerinnen und -Bürgern ab dem 11. September gestattete, die Grenze nach Österreich legal zu überschreiten, flohen nicht nur Hunderte, sondern Tausende täglich. Bis Ende September waren es insgesamt bereits 32 500.
Im SED-Politbüro beschuldigte Mittag die Ungarn daher des „Verrats am Sozialismus“. Wie ein Abgesandter aus Budapest berichtete, hatten die Ungarn die Kontrolle verloren und beabsichtigten offenbar nicht, sie zurückzuerlangen. Die Bitte von DDR-Außenminister Fischer, ein Warschauer-Pakt-Treffen einzuberufen, um die Ungarn zur Räson zu bringen, wurde von Gorbatschow mit dem Hinweis beantwortet, die Zeit sei vorüber, in der eine Abweichung von der allgemeinen Linie durch den Druck der Mehrheit habe korrigiert werden können. Die DDR stand allein.
Montagsdemonstrationen
Währenddessen nahm auch der Umfang der Proteste und Demonstrationen innerhalb der DDR zu. Seit Juni 1989 wurden am 7. jeden Monats Protestaktionen veranstaltet, um an die Manipulation der Kommunalwahl vom 7. Mai zu erinnern. Darüber hinaus begannen am 4. September in Leipzig nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche etwa 1200 Menschen mit sogenannten Montagsdemonstrationen, auf denen Forderungen nach Reise- und Versammlungsfreiheit laut wurden. Bis zum 25. September wuchs die Teilnehmerzahl auf 5000 an. Am 2. Oktober belief sie sich bereits auf etwa 20 000.
Ermutigt durch den Erfolg dieser Aktionen wurden nun ebenfalls politische Organisationen gegründet, die sich zum Teil als Parteien, zum Teil als Bürgerbewegungen verstanden: am 10. September das „Neue Forum“, am 12. September „Demokratie Jetzt“, am 7. Oktober die „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ und am 29. Oktober der „Demokratische Aufbruch“. Die SED-Führung sah sich damit jetzt nicht nur den Liberalisierungstendenzen in Osteuropa und der Fluchtbewegung aus der DDR, sondern auch einer wachsenden und immer besser organisierten Opposition in der DDR gegenüber.
40. Jahrestag der DDR
Am Vorabend der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 6. Oktober 1989 erreichten die öffentlichen Demonstrationen und Aktivitäten der Oppositionsgruppen einen neuen Höhepunkt. Besonders Dresden, wo die Durchfahrt eines Zuges mit DDR-Flüchtlingen aus der Bonner Botschaft in Prag am 4. Oktober immer noch andauernde Unruhen ausgelöst hatte, war Schauplatz schwerer Auseinandersetzungen. Die Proteste, die zunächst auf Berlin, Leipzig und Dresden konzentriert gewesen waren, breiteten sich rasch aus. Aus Magdeburg wurde am 5. Oktober eine Aktion mit 800 Demonstrierenden gemeldet, von denen nicht weniger als 250 durch Polizei und Staatssicherheitsdienst verhaftet wurden. Aber auch aus vielen anderen Orten der DDR trafen Berichte über Demonstrationen und Protestaktionen ein, die kaum noch beherrschbar schienen.
Währenddessen bereitete Erich Honecker sich in Ost-Berlin darauf vor, mehr als 4000 geladene Gäste aus der DDR und über 70 ausländische Delegationen zu empfangen, unter ihnen eine sowjetische Abordnung mit Michail Gorbatschow an der Spitze. Die SED-Führung hoffte, vom Glanz des mit großem internationalem Renommee ausgestatteten Generalsekretärs der KPdSU zu profitieren. Doch Gorbatschow war auch ein Hoffnungsträger für die ostdeutschen Dissidentinnen und Dissidenten, die fühlten, dass nur er dem Reformprozess in der DDR zum Erfolg verhelfen konnte.
Gorbatschows Kritik
Am ersten Tag der Feierlichkeiten, dem 6. Oktober, beschränkten sich Honecker und Gorbatschow noch auf den Austausch von Freundlichkeiten, die dem festlichen Anlass angemessen waren. Auffällig war nur die Tatsache, dass Honeckers Festrede am Nachmittag im Palast der Republik jeglichen Hinweis auf die prekäre Lage im Lande vermissen ließ: kein Wort über die Flüchtlinge, kein Satz über die internen Probleme. Bei einem Fackelzug durch Ost-Berlin gab es am Abend allerdings bereits spontane öffentliche Ovationen für Gorbatschow. Erst am folgenden Tag wurde dieser bei einem persönlichen Gespräch mit Honecker und in einer Unterredung mit den Mitgliedern des SED-Politbüros im Schloss Niederschönhausen deutlicher: „Kühne Entscheidungen“ seien notwendig, jede Verzögerung werde zur Niederlage führen. Wörtlich erklärte der Generalsekretär der KPdSU vor den Politbüromitgliedern: „Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun [...]. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.“ Nachdem Gorbatschow mit einem Plädoyer für politische und ökonomische Reformen geendet hatte, pries Honecker aufs Neue den Erfolg des Sozialismus in der DDR, ohne die Flüchtlinge zu erwähnen oder auf die Krise in seinem Land einzugehen.
Der Tag klang aus mit einem Empfang im Palast der Republik, bei dem Krenz und Schabowski gegenüber Valentin Falin – Moskaus Botschafter in Bonn von 1971 bis 1978 und danach Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU – meinten, dass Honeckers Äußerungen entmutigend gewesen seien. Die sowjetischen Genossen könnten aber sicher sein, dass bald etwas geschehen werde.
Währenddessen hatten sich auf dem Alexanderplatz, unweit des Palastes der Republik, mehr als 15 000 Menschen versammelt, wo sie von „Agitatoren“ der Partei in Diskussionen verwickelt wurden. Doch niemand wurde geschlagen oder verhaftet. Erst als die Menge sich bereits zu zerstreuen begann, starteten einige Demonstrierende am Ufer der Spree wieder mit „Gorbi, Gorbi“-Rufen und dem Slogan „Wir sind das Volk“. Kurze Zeit später war die Situation völlig verändert: Einheiten der Polizei und der Staatssicherheit, die auf dem Alexanderplatz noch Zurückhaltung geübt hatten, erwarteten die auf dem Heimweg befindlichen Demonstrantinnen und Demonstranten in den Straßen des Stadtteils Prenzlauer Berg. Die Gewalt, die in der Stadtmitte angesichts der dortigen internationalen Medienpräsenz vermieden worden war, wurde nun abseits des Rampenlichts der Öffentlichkeit angewandt.
Honeckers Sturz
Für die SED-Spitze waren die Ereignisse während der Feierlichkeiten zum Jahrestag der DDR ein weiterer schwerer Misserfolg. Vor allem Erich Honecker hatte bewiesen, dass er ohne Einsicht war und jeglichen politischen Instinkt verloren hatte. Zwei Tage nach dem Jubiläum, am 8. Oktober, ergriff daher Egon Krenz am Rande eines Treffens, auf dem Staatssicherheitsminister Erich Mielke vor leitenden Sicherheitskadern über die Vorgänge berichtete, die Initiative und erörterte mit Günter Schabowski ein fünfseitiges, in Ansätzen kritisches Papier. Es sollte vom Politbüro verabschiedet und als Proklamation der Parteiführung veröffentlicht werden, weil bei der anstehenden Montagsdemonstration in Leipzig das Schlimmste befürchtet wurde. Man erwartete nach den vorangegangenen Ereignissen nicht nur einen weiteren Anstieg der Teilnehmendenzahlen, sondern rechnete nach dem Ende der Feierlichkeiten auch mit einem besonders harten Vorgehen der Staatsmacht.
In den Kirchen der Stadt und über den Leipziger Stadtfunk wurde daher am 9. Oktober ein Aufruf verlesen, der zu einem freien und friedlichen Dialog aufforderte, während Krenz sich in OstBerlin bemühte, die örtlichen Sicherheitsorgane von der Zentrale aus zum Stillhalten zu verpflichten. Tatsächlich blieb alles ruhig.
DDR im Aufbruch (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 552 800)
DDR im Aufbruch (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 552 800)
Doch als die von Krenz geforderte Proklamation der Parteiführung am 12. Oktober in leicht veränderter Form im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ veröffentlicht wurde, war das Ergebnis enttäuschend: Die erhoffte positive Resonanz blieb aus. Zu wenig war zu spät vom Politbüro geäußert worden. Die Glaubwürdigkeit war so nicht wiederherzustellen. Allerdings war auch der Sturz Honeckers inzwischen kaum noch aufzuhalten. Am selben Tag, als die Proklamation des Politbüros in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ erschien, wurde der Generalsekretär in einer Sitzung mit den Bezirkschefs der SED derart scharf kritisiert, wie es im Politbüro noch nie vorgekommen war. Vor allem Hans Modrow aus Dresden, der durch die Flüchtlingszüge aus Prag und die damit zusammenhängenden Zusammenstöße schwer in Bedrängnis geraten war, tat sich hervor.
QuellentextErklärung des SED-Politbüros vom 11. Oktober 1989 zur Massenflucht
[…] Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektive für alle. Er ist die Zukunft der heranwachsenden Generationen. Gerade deshalb lässt es uns nicht gleichgültig, wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten, von unserer Deutschen Demokratischen Republik losgesagt haben. Viele von ihnen haben die Geborgenheit der sozialistischen Heimat und eine sichere Zukunft für sich und ihre Kinder preisgegeben. Sie sind in unserem Land aufgewachsen, haben hier ihre berufliche Qualifikation erworben und sich ein gutes Auskommen geschaffen. Sie hatten ihre Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn. Sie hatten eine Heimat, die sie brauchte und die sie selbst brauchen. Die Ursachen für ihren Schritt mögen vielfältig sein. Wir müssen und werden sie auch bei uns suchen, jeder an seinem Platz, wir alle gemeinsam.
Viele von denen, die unserer Republik in den letzten Monaten den Rücken gekehrt haben, wurden Opfer einer groß angelegten Provokation. Wiederum bestätigt sich, dass sich der Imperialismus der BRD mit einem sozialistischen Staat auf deutschem Boden niemals abfinden wird, Verträge bricht und das Völkerrecht missachtet. Mit dem 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik glaubten imperialistische Kräfte den geeigneten Zeitpunkt gefunden zu haben, um mit einer hasserfüllten Kampagne ihrer Massenmedien Zweifel am Sozialismus und seiner Perspektive zu verbreiten. Sie wollen von der Hauptfrage unserer Zeit, der Sicherung des Friedens, ablenken. Das Interesse am gemeinsamen Ringen der Völker um die Lösung globaler Probleme soll geschwächt werden. [...]
Deshalb ist es das Gebot der Stunde, dass sich alle, deren Handeln von politischer Vernunft und humanistischem Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Menschen unseres Landes bestimmt ist, deutlich abgrenzen von jenen, die die Bürger für konterrevolutionäre Attacken zu missbrauchen trachten. Die Probleme der weiteren Entwicklung des Sozialismus in der DDR lösen wir selbst – im sachlichen Dialog und im vertrauensvollen politischen Miteinander.
[…] Gemeinsam wollen wir Antwort finden, wie wir die nicht leichten Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts im Sinne der humanistischen Ideale des Sozialismus bestehen können. Gemeinsam wollen wir unser Vaterland so gestalten, dass die wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse jedes Einzelnen entsprechend seiner Leistungen immer besser erfüllt werden können. Es geht um die Weiterführung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es geht um wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und ihren Nutzen für alle, um demokratisches Miteinander und engagierte Mitarbeit, um gute Warenangebote und leistungsgerechte Bezahlung, um lebensverbundene Medien, um Reisemöglichkeiten und gesunde Umwelt. Es geht um den Beitrag unserer Republik für die Sicherung des Friedens in der Welt. Gemeinsam wollen wir in einer starken sozialistischen DDR die Schwelle zum nächsten Jahrtausend überschreiten. [...]
Zitiert nach Neues Deutschland vom 12. Oktober 1989
Krenz fühlte sich dadurch ermutigt, in der folgenden Politbürositzung am 17. Oktober den Coup zu wagen. Gemeinsam mit Schabowski und dem Vorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Harry Tisch, verabredete er am 15. Oktober, dass Honecker gleich zu Beginn der Sitzung von Ministerpräsident Willi Stoph zum Rücktritt aufgefordert werden solle. Tisch wurde beauftragt, am folgenden Tag anlässlich eines seit langem terminierten Besuchs bei seinem sowjetischen Amtskollegen Stepan Schalajew in Moskau Gorbatschow über die geplante Aktion zu informieren.
Da die Situation in den Bezirken eindeutig zu sein schien und auch aus Moskau keine Einwände kamen, brachte Stoph am 17. Oktober die Rücktrittsforderung vor, die sich ebenfalls auf Günter Mittag und den im ZK der SED für Agitation und Propaganda zuständigen Joachim Herrmann erstreckte. Honecker leistete kaum Widerstand. Alle Politbüromitglieder, auch Günter Mittag und Erich Mielke, plädierten für die Annahme der Rücktrittsforderungen, die einstimmig beschlossen wurden. Honecker, Mittag und Herrmann votierten gegen sich selbst.
Krenz und Modrow als Nachfolger
Bereits am folgenden Tag wurde Egon Krenz auf Vorschlag des Politbüros vom Zentralkomitee der SED zum neuen Generalsekretär der Partei gewählt. Die vorangehende Aussprache war kurz. Während Hans Modrow eine umfassende Debatte über den künftigen Kurs der Partei forderte, waren die meisten ZK-Mitglieder nur daran interessiert, so rasch wie möglich in ihre lokalen Organisationen zurückzukehren, um dort über die dramatischen Veränderungen in Berlin zu berichten. Krenz hingegen wurde aufgefordert, im Fernsehen zu sprechen, weil ein öffentliches Wort des neuen Parteivorsitzenden jetzt wichtiger zu sein schien als endlose interne Diskussionen.
Als Krenz daraufhin am Abend auf dem Bildschirm zu den Menschen der DDR sprach, wiederholte er lediglich, was er tagsüber vor den ZK-Mitgliedern erklärt hatte – so als ob er zu einem zahlenmäßig vergrößerten Zentralkomitee redete. Die Wirkung war verheerend: Der neue Generalsekretär vermittelte das typische Negativ-Image der alten SED-Elite. Die „Reformer“, die glaubten, mit Honeckers Absetzung die Voraussetzung für einen Neuanfang geschaffen zu haben, hatten ihre erste – und vielleicht einzige – Chance vertan, ihren Versuch zur Erneuerung der Partei und ihrer Politik glaubwürdig darzustellen.
Tatsächlich war mit dem Sturz Honeckers keines der Probleme gelöst, die den Anlass zu seiner Ablösung gegeben hatten. Nur substanzielle Reformen hätten vielleicht dazu beitragen können, die Lage zu verbessern. Die neue Führung unter Krenz versprach deshalb rasch, künftig Demonstrationen als Teil der politischen Kultur der DDR zu tolerieren. Neue Reisegesetze wurden angekündigt. Die Berichterstattung in den Medien änderte sich. Eine Debatte über Wahlen begann. Und früher ungekannte kritische Äußerungen SED-gelenkter Organisationen waren nun an der Tagesordnung. Außerdem wurde am 27. Oktober eine Amnestie für Ausgereiste bzw. Flüchtlinge und Demonstranten erlassen.
Die Proteste gegen das SED-Regime gingen dennoch weiter. Zur ersten Montagsdemonstration nach der Ernennung von Krenz zum Generalsekretär versammelten sich allein in Leipzig mehr als 300 000 Menschen. Weitere Großdemonstrationen gab es in Plauen, Dresden, Halle, Zwickau, Neubrandenburg und Jena – und natürlich in Ost-Berlin, wo 5000 Demonstrantinnen und Demonstranten vor dem Palast der Republik zusammenkamen, deren Losung lautete: „Demokratie – jetzt oder nie“. Als Krenz am 1. November in Moskau mit Michail Gorbatschow zusammentraf, war allerdings von einer Krise der DDR kaum noch die Rede. Nachdem Honecker gestürzt und der Weg für eine Umgestaltung nach sowjetischem Vorbild und das von Gorbatschow proklamierte neue Denken in der DDR frei geworden war, hielt Moskau den SED-Staat offenbar wieder für stabil. Doch das Gegenteil war der Fall. Als in der Nacht zum 1. November die Anfang Oktober von den DDR-Behörden verhängten Beschränkungen im Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei aufgehoben wurden, überquerten binnen weniger Stunden mehr als 8000 DDR-Bürgerinnen und -Bürger die Grenze zur ČSSR. Ehe der Tag zu Ende war, hatten bereits wieder 1200 Ostdeutsche in der Bonner Botschaft in Prag Zuflucht gesucht, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen.
In der ersten Novemberwoche erreichte auch die Demonstrationsbewegung in der DDR mit weit mehr als einer Million Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihren Höhepunkt. Am 7. und 8. November traten danach zunächst die Regierung der DDR (der Ministerrat) und dann auch das Politbüro der SED zurück, um einer neuen Führung zu weichen, die im Wesentlichen aus Anti-Honecker-Funktionären bestand – unter ihnen Krenz, Modrow, Schabowski und Herger. Hans Modrow wurde zum neuen Ministerpräsidenten der DDR bestimmt. Anders als Krenz, der keinen Ruf als Reformer besaß, schien er eine glaubwürdige Alternative zur alten Garde der Partei zu verkörpern, auch wenn er kaum als Dissident oder gar als Oppositioneller zu bezeichnen war. Immerhin war es in seinem Parteibezirk Dresden zu den schwersten Übergriffen der Staatsmacht gegen Demonstrierende gekommen. Der 61-jährige Modrow hatte außerdem schon früh in der SED Karriere gemacht. Dennoch glaubten manche in der SED, er habe aufgrund seiner ruhigen Art und würdigen Erscheinung das Zeug, der „Gorbatschow der DDR“ zu werden – auch wenn es dafür kaum Belege gab. Tatsächlich war es ein offenes Geheimnis, dass Modrow das Vertrauen Moskaus besaß.
Der 9. November
Ehe Modrow am 13. November von der Volkskammer offiziell zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, überschlugen sich jedoch die Ereignisse an den Grenzen der DDR. Nach Aufhebung der Reisebeschränkungen gegenüber der Tschechoslowakei am 1. November und der Erklärung der DDR-Regierung, dass ihre Bürger direkt von der ČSSR in die Bundesrepublik fahren könnten – ein Schritt, der die Mauer praktisch irrelevant werden ließ –, machten innerhalb einer Woche nicht weniger als 48 177 DDR-Bürgerinnen und -Bürger von dieser Möglichkeit Gebrauch. Der Massenexodus, der nach der ungarischen Grenzöffnung im Frühjahr 1989 begonnen hatte, setzte sich nun mit immer neuen Rekordzahlen über die Tschechoslowakei fort.
Das Ausmaß der Ausreisen war inzwischen so groß, dass selbst die Bundesrepublik in Schwierigkeiten geriet. Bis zum Ende der ersten Novemberwoche hatten allein 1989 über 225 000 Ostdeutsche ihren Weg nach Westdeutschland gefunden, zu denen noch etwa 300 000 deutschstämmige Immigrantinnen und Immigranten aus Osteuropa hinzukamen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble warnte daher, die Bundesrepublik werde zwar weiterhin alle Übersiedlerinnen und Übersiedler aufnehmen, doch müssten diese damit rechnen, für längere Zeit in bescheidenen Verhältnissen zu leben, während Bundeskanzler Kohl für Hilfen vor Ort statt für eine Übersiedlung in die Bundesrepublik plädierte. Vor dem Bundestag erklärte er dazu am 8. November in seinem „Bericht zur Lage der Nation“, Bonn sei bereit, der neuen DDR-Führung bei der Umsetzung ihrer Reformen zu helfen. Wenn es einen wirklichen Reformprozess gebe, werde man sogar „eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung“ erwägen. Allerdings verknüpfte der Kanzler sein Hilfsversprechen mit Bedingungen und sprach von einer „nationalen Verpflichtung“ seiner Regierung, das „Recht auf Selbstbestimmung für alle Deutschen“ zu fordern.
Inzwischen war die Zahl der Flüchtlinge auf nicht weniger als 500 pro Stunde angestiegen. Innerhalb eines Tages, vom 8. zum 9. November, flohen mehr als 11 000 Ostdeutsche über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Es musste daher dringend etwas geschehen.
Reisegesetz
Krenz und die neue SED-Führung waren sich von Anfang an im Klaren gewesen, dass die Frage der Reisefreiheit entscheidend sein werde, wenn die Erneuerung des Regimes gelingen sollte. Ministerpräsident Stoph hatte daher Innenminister Friedrich Dickel bereits am 19. Oktober – zwei Tage nach Honeckers Sturz – beauftragt, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten. Weitere fünf Tage später hatte das Politbüro verlauten lassen, dass es in der Zukunft allen DDR-Bürgerinnen und -Bürger erlaubt sein werde, „ohne Behinderungen zu reisen“. Der erste Entwurf eines neuen Reisegesetzes lag am 31. Oktober vor. Alle Bürgerinnen und Bürger der DDR sollten danach das Recht haben, ohne harte Währung für einen Monat im Jahr ins Ausland zu reisen, vorausgesetzt dass sie einen gültigen Reisepass und ein Visum besaßen, das von der Polizei innerhalb von 30 Tagen nach Antragstellung zu erteilen sei.
Obwohl der Entwurf noch einige Ungereimtheiten enthielt – vor allem hinsichtlich der Visumserteilung –, wurde er am 6. November veröffentlicht. Die Erwartung der Regierung, dass die Diskussion darüber bis Ende November abgeschlossen sein werde, sodass die neuen Verfahren im Dezember in Kraft treten könnten, erfüllte sich jedoch nicht. Denn die vorgesehenen Bestimmungen stießen auf massive Kritik. Noch am Tag der Veröffentlichung forderten mehrere Hunderttausend Menschen auf einer Massendemonstration in Leipzig „ein Reisegesetz ohne Einschränkungen“. Vertretern der SED wurde nicht mehr erlaubt, auf der Versammlung zu sprechen. „Zu spät, zu spät“, erscholl es aus der Menge. Und zum ersten Mal: „Wir brauchen keine Gesetze – die Mauer muss weg!“
Auch in anderen Städten der DDR gab es Protestaktionen. Sogar das zensierte Fernsehen brachte kritische Stimmen von DDR-Bürgerinnen und Bürgern. Und in den Fabriken kam es im ganzen Land zu spontanen Warnstreiks von Arbeitern, die sich durch das geplante Gesetz diskriminiert fühlten, weil es für sie keine Devisen vorsah, die für Reisen ins Ausland unabdingbar waren. Der Entwurf wurde daraufhin am folgenden Tag vom Rechtsausschuss der Volkskammer als „unzureichend“ verworfen. Zudem teilte der tschechoslowakische Parteichef Miloš Jakeš SED-Generalsekretär Krenz mit, dass seine Regierung nicht länger bereit sei, DDR-Bürgerinnen und Bürgern zu gestatten, die westdeutsche Botschaft in Prag zu betreten oder ohne Verzug über die Grenze nach Bayern in die Bundesrepublik einzureisen. Dies sei Wasser auf die Mühlen der eigenen tschechoslowakischen Opposition. Wenn die Regierung in OstBerlin nicht umgehend Maßnahmen ergreife, um das Problem zu lösen, werde die ČSSR ihre Grenze zur DDR schließen.
Das SED-Politbüro war daher unter großem Druck, als es am 7. November die Beratungen über die Gewährung der Reisefreiheit fortsetzte. Nunmehr schien es notwendig, die ersehnte Reisefreiheit in einem Schritt vorab zu gewähren und das erforderliche Reisegesetz nachträglich von der Volkskammer beschließen zu lassen. Ministerpräsident Stoph, der an diesem Tag zurücktrat, aber noch im Amt blieb, bis das neue Kabinett unter Hans Modrow am 17. November gebildet war, wurde beauftragt, eine entsprechende Entscheidung der Regierung über die neuen Reisebestimmungen herbeizuführen.
Ein an die neue Lage angepasster Entwurf aus dem DDR-Innenministerium lag am 9. November vor, wurde vom Politbüro bestätigt und bis 18 Uhr im Umlaufverfahren vom Ministerrat gebilligt. Am Nachmittag des 9. November informierte Krenz darüber das Zentralkomitee der SED – laut späteren Erinnerung mehrerer Sitzungsteilnehmern eher beiläufig – und übergab die handschriftlich leicht abgeänderte Ministerratsvorlage gegen 18 Uhr dem ZK-Sekretär für Information, Günter Schabowski, der gerade auf dem Weg war, die im Internationalen Pressezentrum versammelten Journalistinnen und Journalisten über die Ergebnisse der ZK-Tagung zu unterrichten. Bei der Aushändigung des zweiseitigen Textes bemerkte Krenz nur knapp: „Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns.“ Natürlich hoffte er, das Einlenken der DDR-Führung in dieser wichtigen Frage werde die Lage entspannen. Die Tatsache, dass es für die Information eine Sperrfrist gab, weil die Neuregelung erst am 10. November um 4 Uhr morgens über die staatliche Nachrichtenagentur ADN veröffentlicht werden sollte, um zuvor die notwendigen Ausführungsbestimmungen den Grenzübergangsstellen mitteilen zu können, erwähnte er nicht.
Öffnung der Mauer
Entsprechend groß war die Aufregung, als Schabowski wenig später mit bemühter Routinemäßigkeit die Nachricht bekanntgab, dass die DDR ihre Grenzen geöffnet habe. „Bedeutet dies“, fragte ein Reporter, „dass jeder DDR-Bürger jetzt frei in den Westen reisen kann?“ Schabowski zitierte daraufhin aus dem Text, dass Anträge auf Reisen ins Ausland ohne Vorbedingungen gestellt werden könnten, dass jeder DDR-Bürger ab dem kommenden Morgen um 8 Uhr ein Visum erhalten könne und dass die Behörden angewiesen seien, Pässe und Visa „schnell und unbürokratisch“ auszustellen. Die Regelung trete „sofort, unverzüglich“ in Kraft.
Quellentext9. November 1989: Internationale Pressekonferenz
Günter Schabowski: [...] Allerdings ist heute, soviel ich weiß (blickt bei diesen Worten zustimmungsheischend in Richtung Labs* und Banaschak*), eine Entscheidung getroffen worden. Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, dass man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus herausnimmt und in Kraft treten lässt, der stän … – wie man so schön sagt oder so unschön sagt – die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es (äh) für einen unmöglichen Zustand halten, dass sich diese Bewegung vollzieht (äh) über einen befreundeten Staat (äh), was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb (äh) haben wir uns dazu entschlossen, heute (äh) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht (äh), über Grenzübergangspunkte der DDR (äh) auszureisen.
Frage: (Stimmengewirr) Das gilt ...?
Riccardo Ehrmann, Journalist, ANSA: Ohne Pass? Ohne Pass – (Nein, nein!)
Krysztof Janowski, Journalist, Voice of America: Ab wann tritt das ...? (... Stimmengewirr ...) Ab wann tritt das in Kraft?
Günter Schabowski: Bitte?
Peter Brinkmann, Journalist, Bild Zeitung: Ab sofort? Ab ...?
Günter Schabowski:... (kratzt sich am Kopf) Also, Genossen, mir ist das hier also mitgeteilt worden (setzt sich, während er weiterspricht, seine Brille auf), dass eine solche Mitteilung heute schon (äh) verbreitet worden ist. Sie müsste eigentlich in Ihrem Besitz sein. Also (liest sehr schnell vom Blatt): „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VPKÄ – der Volkspolizeikreisämter – in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.“
Riccardo Ehrmann, Journalist, ANSA: Mit Pass?
Günter Schabowski: (Äh) (liest): Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstatten.“ (blickt auf) (Äh) Die Passfrage kann ich jetzt nicht beantworten (blickt fragend in Richtung Labs und Banaschak). Das ist auch eine technische Frage. Ich weiß ja nicht, die Pässe müssen ja, … also damit jeder im Besitz eines Passes ist, überhaupt erst mal ausgegeben werden. Wir wollten aber …
Manfred Banaschak: Entscheidend ist ja die inhaltliche Aussage …
Günter Schabowski: … ist die …
Frage: Wann tritt das in Kraft?
Günter Schabowski: (blättert in seinen Papieren) Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich (blättert weiter in seinen Unterlagen) …
Helga Labs: (leise) … unverzüglich.
Gerhard Beil*: (leise) Das muss der Ministerrat beschließen.
Krysztof Janowski, Journalist, Voice of America: Auch in Berlin? (… Stimmengewirr …)
Peter Brinkmann, Journalist, Bild Zeitung: Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für West-Berlin?
Günter Schabowski: (liest schnell vor) „Wie die Presseabteilung des Ministeriums (…,) hat der Ministerrat beschlossen, dass bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft gesetzt wird.“
Peter Brinkmann, Journalist, Bild Zeitung: Gilt das auch für Berlin-West? Sie hatten nur BRD gesagt.
Günter Schabowski: (zuckt mit den Schultern, verzieht dazu die Mundwinkel nach unten, schaut in seine Papiere) Also (Pause), doch, doch (liest vor): „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen.“
* Helga Labs, Manfred Banaschak und Gerhard Beil gehörten dem ZK der SED an.
Hans-Hermann Hertle, Die Berliner Mauer, Ch. Links Verlag, Berlin 2014, S. 194 f.; siehe auch: Externer Link: www.chronik-der-mauer.de/180368
Damit waren die Grenzen praktisch offen. Auch wenn Schabowskis „sofort“ eine aus dem Augenblick heraus entstandene Interpretation war, die außer Acht ließ, dass die von ihm verkündete Reiseregelung bisher nur im Entwurf vorlag und an die Voraussetzung gebunden war, dass die Bürger vor dem Überschreiten der Grenzen noch den Gang zu den Passdienststellen antreten mussten, machten sich nach seiner im Fernsehen und im Radio live übertragenen Pressekonferenz noch in der Nacht Tausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger auf den Weg zur Grenze, um sich an Ort und Stelle einen Eindruck von der überraschenden Entwicklung zu verschaffen. Schabowskis missverständliche Äußerungen hatten bei ihnen die spontane Eingebung geweckt, dass sie „sofort“ den Westen besuchen könnten. Allerdings hatten die DDR-Grenzposten von der angeblichen Grenzöffnung ebenfalls erst aus den Medien erfahren und zeigten sich nun genauso ratlos wie ihre Vorgesetzten. Als der Druck immer mehr anschwoll, wurde schließlich entschieden, die Menschen passieren zu lassen, ihre Pässe aber mit einem Stempel zu versehen, der ihre Wiedereinreise in die DDR ausschließen sollte. Auch Krenz, der gegen 21 Uhr von Mielke telefonisch unterrichtet wurde, dass „mehrere Hundert“ Menschen an der Grenze die sofortige Ausreise verlangten, plädierte dafür, sie „durchzulassen“, da die Öffnung ohnehin beabsichtigt und jetzt nicht mehr zu vermeiden sei.
Damit war die Mauer, 28 Jahre nach ihrer Errichtung, gefallen. Der Jubel und das Chaos, die in den folgenden Tagen herrschten, ließen eine nüchterne politische Bestandsaufnahme der Entwicklung nur schwer zu. Vor allem war unklar, ob die Verwirklichung der Reisefreiheit nur den Druck beseitigen würde, unter dem die DDR-Führung so lange gestanden hatte, sodass sogar eine Stabilisierung des SED-Regimes wieder möglich schien, oder ob die Öffnung der Mauer die Schleusen für den Massenexodus noch weiter aufmachen und das Ende der DDR besiegeln würde.
Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, der zur Zeit des Mauerbaus 1961 Regierender Bürgermeister Berlins gewesen war und später durch seine neue Ostpolitik dazu beigetragen hatte, die Spannungen zwischen Ost und West zu mindern und den Weg für Reformen in Osteuropa zu bereiten, erklärte in einer kurzfristig anberaumten Versammlung am Abend des 10. November vor dem Rathaus Schöneberg, nun sei eine neue Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten entstanden.
QuellentextRede Willy Brandt am 10. November 1989
Liebe Berlinerinnen und Berliner, liebe Landsleute von drüben und hüben, dies ist ein schöner Tag nach einem langen Weg, aber wir befinden uns erst an einer Zwischenstation. Wir sind noch nicht am Ende des Weges angelangt. Es liegt noch 'ne ganze Menge vor uns. [...]
Das Zusammenrücken der Deutschen, darum geht es, das Zusammenrücken der Deutschen verwirklicht sich anders, als es die meisten von uns erwartet haben. Und keiner sollte in diesem Augenblick so tun, als wüsste er ganz genau, in welcher konkreten Form die Menschen in den beiden Staaten in ein neues Verhältnis zueinander geraten werden. Dass sie in ein anderes Verhältnis zueinander geraten, dass sie in Freiheit zusammenfinden und sich entfalten können, darauf allein kommt es an. […]
[…] Es ist sicher, dass nichts im anderen Teil Deutschlands wieder so werden wird, wie es war. Die Winde der Veränderung, die seit einiger Zeit über Europa ziehen, haben an Deutschland nicht vorbeiziehen können. Meine Überzeugung war es immer, dass die betonierte Teilung und dass die Teilung durch Stacheldraht und Todesstreifen gegen den Strom der Geschichte standen. Und ich habe es noch in diesem Sommer zu Papier gebracht [...], ohne dass ich genau wusste, was im Herbst passieren würde: Berlin wird leben und die Mauer wird fallen. […]
Denen, die heute noch so schön jung sind, und denen, die nachwachsen, kann es nicht immer leichtfallen, sich die historischen Zusammenhänge, in die wir eingebettet sind, klarzumachen. Deshalb sage ich nicht nur, dass wir bis zur Überwindung der Spaltung noch einiges vor uns haben, sondern ich erinnere uns auch daran, dass die widernatürliche Spaltung – und mit welchem, mit welchem Zorn, aber auch mit welcher Ohnmacht habe ich hier am 16. August ´61 von dieser Stelle aus dagegen angeredet – ich will sagen: auch das hat natürlich nicht erst am 13. August 1961 begonnen. Das deutsche Elend begann mit dem terroristischen Nazi-Regime und dem von ihm entfesselten schrecklichen Krieg. Jenem schrecklichen Krieg, der Berlin wie so viele andere deutsche und nichtdeutsche Städte in Trümmerwüsten verwandelte. Aus dem Krieg und aus der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands, in Berlin reproduziert auf mehrfache Weise. Und jetzt erleben wir, und das ist etwas Großes – und ich bin dem Herrgott dankbar dafür, dass ich dies miterleben darf – wir erleben, dass die Teile Europas wieder zusammenwachsen. […]
Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, www.willy-brandt-biografie.de, Volltext online: Externer Link: https://www.willy-brandt-biografie.de/