Mit der Tatsache, dass die beiden deutschen Staaten „normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ entwickelten, wie es im Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 21. Dezember 1972 hieß, verschwand die Wiedervereinigung allerdings nicht völlig aus der öffentlichen Diskussion. Für die Bundesrepublik war sie eine grundgesetzliche Verpflichtung. Und die DDR-Führung argumentierte, dass eine Wiedervereinigung möglich sei, falls sich der Sozialismus in der Bundesrepublik durchsetze. Aus östlicher Sicht blieben die innerdeutschen Beziehungen damit Teil der „globalen Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus“. Die Politik der „friedlichen Koexistenz“ – des friedlichen Nebeneinanders von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung – war aus dieser Perspektive kein Versuch zur Aussöhnung, sondern eine Form des internationalen Klassenkampfes.
QuellentextGrundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, 21. Dezember 1972
Artikel 1
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik entwickeln normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung.
Artikel 2
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden sich von den Zielen und Prinzipien leiten lassen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, insbesondere der souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbständigkeit und territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht, der Wahrung der Menschenrechte und der Nichtdiskriminierung.
Artikel 3
Entsprechend der Charta der Vereinten Nationen werden die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten.
Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.
Artikel 4
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gehen davon aus, dass keiner der beiden Staaten den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln kann.
Artikel 5
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden friedliche Beziehungen zwischen den europäischen Staaten fördern und zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa beitragen. Sie unterstützen die Bemühungen um eine Verminderung der Streitkräfte und Rüstungen in Europa, ohne dass dadurch Nachteile für die Sicherheit der Beteiligten entstehen dürfen. […]
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden mit dem Ziel einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle der internationalen Sicherheit dienende Bemühungen um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, insbesondere auf dem Gebiet der Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen, unterstützen.
Artikel 6
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gehen von dem Grundsatz aus, dass die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt. Sie respektieren die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten.
Artikel 7
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären ihre Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung ihrer Beziehungen praktische und humanitäre Fragen zu regeln. Sie werden Abkommen schließen, um auf der Grundlage dieses Vertrages und zum beiderseitigen Vorteil die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des Verkehrs, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens, des Gesundheitswesens, der Kultur, des Sports, des Umweltschutzes und auf anderen Gebieten zu entwickeln und zu fördern. Einzelheiten sind in dem Zusatzprotokoll geregelt.
Artikel 8
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden ständige Vertretungen austauschen. Sie werden am Sitz der jeweiligen Regierung errichtet. […]
Artikel 9
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik stimmen darin überein, dass durch diesen Vertrag die von ihnen früher abgeschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen und mehrseitigen internationalen Verträge und Vereinbarungen nicht berührt werden. […]
Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik („Grundlagenvertrag“) vom 21. Dezember 1972; hier nach: Bundesgesetzblatt, 1973, Nr. 25, Teil II, S. 423–430;
online: Externer Link: www.1000dokumente.de/
Abgrenzungspolitik der DDR
Die innerdeutschen Beziehungen (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 56 840)
Die innerdeutschen Beziehungen (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 56 840)
Für die DDR kam erschwerend hinzu, dass die neue Ostpolitik der Bundesrepublik zunehmend ihre innere Stabilität gefährdete. Probleme ergaben sich vor allem aus den Folgewirkungen der Vereinbarungen, die in den Jahren 1971 bis 1973 zwischen den beiden deutschen Staaten geschlossen wurden. So willkommen die internationale Anerkennung war, die sich damit für die DDR verband, so problematisch erschienen deren innenpolitische Konsequenzen: Während beispielsweise 1970 nur etwa zwei Millionen Menschen aus der Bundesrepublik und West-Berlin die DDR und Ost-Berlin besucht hatten, stieg diese Zahl bereits 1973 auf über acht Millionen an. Und die Zahl der Telefongespräche zwischen Ost und West, die 1970 lediglich 700 000 betragen hatte, explodierte bis 1980 förmlich auf über 23 Millionen. Angesichts der Tatsache, dass die DDR bereits durch die westlichen Medien – vor allem das westdeutsche Fernsehen, das abgesehen vom Raum Dresden und dem nordöstlichen Teil des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns überall in der DDR empfangen werden konnte – starker Beeinflussung ausgesetzt war, wuchs daher die Sorge der SED-Führung, dass die Zunahme der persönlichen Kontakte sich negativ auf den inneren Zusammenhalt der DDR auswirken könnte.
Das SED-Regime suchte dieser Gefahr durch eine Politik der „Abgrenzung“ zu begegnen, die darauf abzielte, die Kontakte möglichst einzudämmen. Außerdem wurde es Schlüsselgruppen wie Partei- und Staatsfunktionären sowie Wehrpflichtigen untersagt, Kontakte zu „Ausländern“ zu unterhalten, zu denen auch die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik zählten. Auf einem Parteitag der SED 1971 vertrat Honecker zudem die Auffassung, dass sich in Deutschland zwei getrennte Nationen entwickelten: die „sozialistische Nation“ in der DDR und die „kapitalistische Nation“ in der Bundesrepublik. Historiker und Parteiideologen wurden beauftragt, den Standpunkt der Bonner Regierung, wonach die deutsche Nation aufgrund der gemeinsamen Geschichte und des weiter vorhandenen Zusammengehörigkeitsgefühls fortbestehe, zurückzuweisen.
Ausbau des Sicherheitsapparates
Die schärfste Form der Abgrenzung vollzog sich jedoch auf dem Gebiet des Staatssicherheitsapparates, der seit der neuen Ostpolitik immer weiter ausgebaut wurde und sich bald zu einem Instrument der flächendeckenden Kontrolle der DDR-Bevölkerung entwickelte. Der Etat des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der 1968 eine Summe von 5,8 Milliarden DDR-Mark aufgewiesen hatte, wuchs bis 1989 um etwa 400 Prozent auf 22,4 Milliarden. Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter, die beim Amtsantritt Erich Mielkes als Minister für Staatssicherheit 1957 erst 17 400 betragen hatte, stieg bis 1989 auf 91 000. Noch bemerkenswerter ist, dass sich deren Zahl allein in den Jahren der Entspannung von 1972 bis 1989 verdoppelte, wobei die größten Zuwachsraten in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre zu verzeichnen waren. Nicht eingerechnet sind dabei die zuletzt 173 000 „Inoffiziellen Mitarbeiter“, die ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Bespitzelung der DDR-Bevölkerung leisteten.
Alle Anstrengungen der Staatssicherheit (Stasi) konnten indessen nicht verhindern, dass die Bürgerinnen und Bürger der DDR das Klima der Entspannung zum Anlass nahmen, auch im eigenen Land eine Lockerung der strengen Zensur und Überwachung zu fordern, die in den ersten zwei Jahrzehnten seit Gründung der DDR geherrscht hatten. SED-Parteichef Erich Honecker gestand daher im Mai 1973 zumindest den Intellektuellen, Schriftstellerinnen und Schriftstellern sowie Künstlerinnen und Künstlern der DDR „ein weites Feld für künstlerische Kreativität“ zu. Doch die Grenzen der Autonomie wurden erneut sichtbar, als Wolf Biermann 1976 nach einer Konzerttournee in der Bundesrepublik nicht wieder in die DDR zurückkehren durfte und Personen aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis, die dagegen protestierten, ebenfalls verfolgt wurden.
Wachsende Unruhe
Unruhe und Opposition gab es in den 1970er-Jahren in der DDR aber auch in anderen Bereichen. So begannen Pastoren damit, sich gegen die Diskriminierung ihrer Kirchen aufzulehnen und jungen Menschen unter dem Dach der Gotteshäuser ein Forum zu bieten. Von den Kirchen veranstaltete Diskussionen über Sexualität, Alkoholismus, Rockmusik, das Leben in der DDR und die Militarisierung der Gesellschaft waren keine Seltenheit mehr. Sie führten dazu, dass die Gottesdienste oft überfüllt waren und dass sich vor allem die evangelischen Kirchen zu einem Sammelbecken der Opposition entwickelten. Der am 6. März 1978 auf einem Treffen zwischen Honecker und den Kirchenführern der DDR unter Bischof Albrecht Schönherr geschlossene informelle Pakt, welcher der Kirche bescheinigte, „eine autonome Organisation von sozialer Bedeutung“ zu sein, sollte zwar dazu beitragen, die Kirchen näher an den Staat heranzuführen und für Beruhigung zu sorgen. Doch die Beruhigung, die sich die SED-Führung von dem Treffen erhofft hatte, trat nicht ein. Die Kirchen blieben ein Angelpunkt der Opposition in der DDR. Beispiele dafür waren die 1979/80 öffentlich geübte Kritik am Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan und im Januar 1982 die Übersendung des von mehreren hundert Ostdeutschen unterzeichneten sogenannten Berliner Appells an Honecker durch den Ost-Berliner Pastor Rainer Eppelmann, in dem die Militarisierung der Kindererziehung in der DDR angeprangert wurde. Auch die Friedensbewegung, die in Westeuropa bereits seit 1980 aktiv war, gewann nicht zuletzt mit Unterstützung der Kirchen in der DDR an Bedeutung. Zehntausende von zumeist jungen Ostdeutschen nahmen unter dem Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“ an einer Vielzahl von Veranstaltungen teil, ehe die SED-Führung nach dem Scheitern der Kampagne gegen die NATO-Nachrüstung 1983 offen gegen die Friedensbewegung in der DDR vorging und Ausweisungen sowie Verhaftungen vornehmen ließ.
Mit der Ausweisung einzelner Oppositioneller war es jetzt aber nicht mehr getan. Anfang 1984 beschloss die DDR-Regierung daher, 31 000 Bürgerinnen und Bürgern die Ausreise zu erlauben. Verglichen mit den 7729 Personen, die 1983 die DDR verlassen hatten, war dies eine bemerkenswerte Steigerung. Dass sich die Stimmungslage in der DDR grundsätzlich zu ändern begann, zeigte sich auch an der ersten „Botschaftsbesetzung“ im Juli 1984, bei der 50 Ostdeutsche in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin Zuflucht suchten, um die Genehmigung zur Ausreise aus der DDR zu erhalten. Nachdem die ökonomischen Rahmenbedingungen aufgrund der Ölkrisen von 1973 und 1979 ungünstiger geworden waren und die DDR im direkten, auch optisch sichtbaren Vergleich mit der Bundesrepublik entgegen der staatlichen Propaganda immer schlechter abschnitt, schien die Unzufriedenheit der Menschen mit den Verhältnissen in der DDR zuzunehmen. Die Zuversicht, die zu Beginn der Honecker-Ära 1971 zunächst geherrscht hatte, war verflogen.
Entwicklung in den Nachbarstaaten
Die Frustration der ostdeutschen Bevölkerung über den Mangel an Reformen in der DDR wurde noch verstärkt durch Beispiele des Wandels in Polen und Ungarn.
In Polen eskalierten im Sommer 1980 Arbeiterunruhen auf den Werften von Danzig und Gdingen und brachten die unabhängige Gewerkschaftsbewegung „Solidarität“ (poln.: Solidarność) hervor, aus der heraus im September 1980 der gleichnamige unabhängige Gewerkschaftsverband gegründet wurde. Diese Entwicklung bedeutete eine Herausforderung der etablierten kommunistischen Parteiherrschaft, die auch die innere Stabilität der DDR bedrohte, die eine Grundbedingung der Entspannungspolitik seit den 1970er-Jahren gewesen war. Streiks und Arbeiterproteste waren in der DDR zwar nicht in gleicher Weise wahrscheinlich wie in Polen, aber auch nicht, wie die Erinnerung an den 17. Juni 1953 zeigte, unmöglich. Die Regierung in Ost-Berlin hob deshalb am 30. Oktober 1980 den visafreien Verkehr zwischen der DDR und Polen auf und erließ für den Reiseverkehr zwischen den beiden Staaten strenge Auflagen. Die Abgrenzung gegenüber dem Westen wurde nun ergänzt durch Abschirmung gegenüber dem Osten.
In Ungarn kam es zwischen 1982 und 1984 zu einer intensiven Diskussion über die wirtschaftliche und politische Zukunft des Landes, weil der seit 1956 vom langjährigen Chef der Kommunistischen Partei, János Kádár, praktizierte „ungarische Weg“ – das heißt die Strategie, ökonomische Reformen von politischer Liberalisierung zu trennen – sich als ungeeignet erwiesen hatte, den erhofften Fortschritt herbeizuführen. Obwohl diese Debatte, anders als in Polen, nicht von Streiks und sozialen Unruhen begleitet wurde, sah sich Kádár schließlich doch gezwungen, Maßnahmen zur Verstärkung der unternehmerischen Freiheit, zur Durchsetzung des Prinzips der persönlichen Verantwortung für ökonomische Leistung und zu einer Liberalisierung des Wahlgesetzes zuzustimmen.
In der DDR war man von solchen Veränderungen weit entfernt. Die Weigerung der SED-Führung, ebenfalls Reformen wie in Polen oder Ungarn einzuleiten oder diese zumindest zuzulassen, trug deshalb dazu bei, dass viele Ostdeutsche die Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse verloren und Fluchtpläne schmiedeten oder nach Alternativen innerhalb der eigenen Grenzen Ausschau hielten. Die ostdeutsche Revolution des Jahres 1989 bahnte sich damit an.
QuellentextBilanz der Umsturzbewegungen 1989 in Mittel- und Osteuropa
[…] Die Ereignisse von 1989 sind im historischen Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 in der DDR, dem polnischen Oktober und dem Ungarn-Aufstand 1956, dem Prager Frühling 1968 und der polnischen Gewerkschaftsbewegung seit 1980 zu sehen. Die unterschiedliche vorrevolutionäre Erfahrung und das gemeinsame kollektive Erlebnis der Niederwerfung der Volksbewegungen durch den sowjetischen [Militärapparat] prägten in den geschilderten Umbruchszeiten sowohl das Handeln der Opposition als auch das Reagieren der Regime. In Rumänien vollzog sich die Preisgabe der kommunistischen Staatsmacht nicht gewaltfrei. Eine echte Chance auf Regeneration der sozialistischen Einparteiensysteme und Kommandowirtschaften gab es nicht. Die kommunistischen Diktaturen waren von „Selbsterneuerungsunfähigkeit“ gekennzeichnet: Mit den permanenten Systemdefiziten waren mittelfristig Systemkrisen und langfristig Systemzerfall verbunden.
[Der britische Historiker und Publizist] Timothy Garton Ash hat auf Polen und Ungarn bezogen von „Refolutionen“ gesprochen, einem Mischungsverhältnis von „Revolutionen“ als Druck der Straße („von unten“) und „Reformen“ der Systeme („von oben“). Pointierter nannte er den Zusammenbruch der DDR eine Kombination „aus gesundem Menschenverstand und Schlamperei der neuen Parteiführung“. Daneben agierte das Fernsehen als Produzent und Multiplikator. [Der britische Historiker] Ben Fowkes hat die sogenannten Revolutionen als „Kettenreaktion“ bezeichnet. Die Gewerkschaftsbewegung in Polen und die sozioökonomische Liberalisierung in Ungarn bildeten Vorläufer und Pioniere der Umsturzbewegungen; die ostdeutschen und tschechoslowakischen Oppositionellen profitierten davon. […] Die DDR und CSSR erlebten demokratische Revolutionen mit einer starken nationalen Dimension: In der DDR hatte sie die Vereinigung mit der Bundesrepublik, in der CSSR den Zerfall […] zur Folge.
Die Forderung nach Freiheit und Volkssouveränität war ein zentrales Anliegen der Protestbewegungen. Sie manifestierte sich durch Runde Tische, die sich gegen die kommunistischen pseudo- oder semidemokratisch legitimierten Parlamente profilierten. Über die transitorischen Artikulationsforen führte der Prozess unaufhaltsam zu pluralistischen Erscheinungen westlich-demokratischer Ausprägung. Die Erringung der Freiheit bedeutete allerdings nicht automatisch die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaat. So ergaben sich neue Spannungsfelder: einerseits die Diskrepanz zwischen politischer Veränderung und wirtschaftlicher Neugestaltung, andererseits das Dilemma zwischen rascher institutioneller Reform im staatlichen Bereich und zäher Demokratisierung des politischen Lebens.
Die Anciens Régimes gaben – mit Ausnahme des rumänischen – ohne größeren Widerstand auf und teilten [bald] die Macht mit der Opposition. Im Wandel von postkommunistischen zu neudemokratischen Herrschaftsverhältnissen mischte sich Altes mit Neuem. Fast überall zeigten sich alsbald Spannungen und Rivalitäten innerhalb der Opposition. Ihre starke Pluralisierung war nicht immer förderlich für die Demokratisierung der politischen Systeme. Wie Polen befreite sich Ungarn selbst, ohne dass durch die Machtverschiebungen schon demokratiepolitische Stabilität erzielt worden wäre. Im Vergleich zu Polen (Walesa) und der CSSR (Havel) gab es in der DDR keine herausragende Führungspersönlichkeit des Widerstands. Personen, die sich dafür geeignet hätten, verweilten entweder in innerer Emigration oder befanden sich bereits in der Bundesrepublik. In der DDR gab es weder eine gewachsene organisierte Massenopposition wie die polnische Gewerkschaftsbewegung noch eine Plattform der Intellektuellen wie die tschechische Charta 77. Es waren vor allem Friedens-, Umwelt- und Dritte-Welt-Gruppen unter dem Dach der Evangelischen Kirche, die zu den Akteuren des Herbstes 1989 wurden.
Im Unterschied zu Ungarn hatte die KPC-Führung unter Husák weder einen Kurs der nationalen Versöhnung eingeschlagen noch sich von der Politik der Rache gegenüber den Exponenten des Prager Frühlings lösen können. […] Die Neubewertung des sowjetischen Einmarsches 1968 markierte den Klimasturz. Der Versuch einer Achsenbildung Berlin-Prag- Bukarest konnte nicht mehr gelingen. Im Unterschied zu anderen Ländern war die Kommunistische Partei der CSSR gleich am Anfang des Transformationsprozesses als politischer Faktor ausgeschaltet und kam als Verhandlungspartner mit der Opposition nicht mehr in Frage.
Ein Prinzip traf auf alle Umsturzbewegungen zu: Die „Refolution“ fraß in Polen, der CSSR und der DDR ihre Kinder. Solidarnos´c´ zerbrach in Einzelparteien, das Bürgerforum zerfiel noch vor der Sezession der Slowaken von den Tschechen, und das Neue Forum war [schon] im Frühjahr 1990 nur mehr eine Marginalie. Die Macht der Aufbegehrenden 1989 bestand demnach in der Beseitigung alter, nicht aber in der Herstellung neuer Machtverhältnisse: In der Delegitimierung des alten Regimes bestand ihre Stärke, in der ausgebliebenen Konstituierung neuer Ordnungen ihre Schwäche.
Aus der „Augenblicks-“ und „Freiheitsrevolution“, einer Ereignisverdichtung mit „Folgen einer unerhörten Begebenheit“, wurde ein Transitorium mit unkalkulierbaren Folgen. Verbindlich war nur das Ende der russischen Hegemonie über Mittel- und Osteuropa. Insofern wurde ein „Jahrhundert abgewählt“. Der Kalte Krieg ging zu Ende, der Friede brach aber nicht aus: An Stelle des Kommunismus trat [bald vielerorts] ein neuer Nationalismus, der scheinbar vom sozialistischen Sowjetuniversalismus befriedet worden war. Nach dem Ausbleiben rascher Freiheitserfolge mündete vieles in die ebenfalls nicht schnell einlösbare Gleichheitsforderung. Diese doppelte Enttäuschung führte viele Menschen in den postkommunistischen Gesellschaften zu neuer politischer Gleichgültigkeit und Agonie sowie zur Wiederentdeckung der Nische des Privaten oder zu sozialistischer Nostalgie. 1989 bedeutete eine scheinbare Wiederkehr der Ereignisgeschichte. Tatsächlich fanden in den Folgen der Geschehnisse unterschiedliche Strukturen ihren Ausdruck. Die rasche Demokratisierung der postkommunistischen Gesellschaften reichte nicht aus, um [in Jahrzehnten des] real existierenden Sozialismus entstandene Gewohnheiten und Mentalitäten zu überwinden, die Legitimation neuer Institutionen zu gewährleisten und die konstitutionelle Balance zu halten. Daraus resultierten Stabilisierungs-, Konsolidierungs- und Identitätskrisen. […]
Michael Gehler, „Die Umsturzbewegungen 1989 in Mittel- und Osteuropa“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte „15 Jahre Mauerfall“ (APuZ 41-42/2004), S. 36 ff. online:
Sowjetunion: Revolution wider Willen?
Honeckers Strategie, die Westkontakte der DDR auszubauen, aber das Eindringen demokratischer Ideen in die DDR zu verhindern, wurde endgültig infrage gestellt, als Michail Gorbatschow am 10. März 1985 zum neuen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) ernannt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) trotz gelegentlicher Akzentverschiebungen der sowjetischen Politik unter Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow und Tschernenko stets eine Bastion leninistischer Einparteiherrschaft und einer staatlich gelenkten Planwirtschaft gewesen. Für die DDR hatte dies Existenzsicherung und Stabilität bedeutet. Die konservative Kremlführung, revolutionärem Wandel und demokratischem Aufruhr zutiefst abgeneigt, sicherte durch die bloße Anwesenheit sowjetischer Truppen, aber auch den damit verbundenen psychologischen Druck und die militärische Macht den Einfluss der SED als bestimmende Kraft in Ostdeutschland. Die 380 000 in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten dienten daher mindestens ebenso dem Zweck, die SED an der Macht zu halten, wie dazu, die äußere Sicherheit der DDR zu garantieren. Solange die Regierung in Moskau keinen Zweifel daran ließ, dass die Präsenz der Roten Armee auch der inneren Disziplinierung diente und die Möglichkeit zur Niederschlagung oppositioneller Bewegungen einschloss, waren weder die Stabilität der DDR noch der Zusammenhalt des sowjetischen Imperiums in Osteuropa ernstlich in Gefahr.
All dies änderte sich – wenn auch nicht über Nacht – mit dem Amtsantritt Gorbatschows im Frühjahr 1985. Der neue Generalsekretär der KPdSU besaß zwar zunächst noch kein Gesamtkonzept für Reformen, sodass seine Politik von Glasnost (Offenheit, Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) oft widersprüchlich und wenig homogen wirkte. Aber die grundsätzliche Abkehr vom Stil und von den Denkweisen seiner Vorgänger war nicht zu übersehen. Dabei ging es im Kern allerdings nicht um die Beseitigung, sondern um die Stärkung des Sozialismus. Denn Gorbatschow und seine Mitstreiter hatten erkannt, dass das sowjetische System in seiner bisherigen Form zwar geeignet gewesen war, der Industrialisierung im rückständigen Russland und den angrenzenden Gebieten zum Durchbruch zu verhelfen und Massengüter zu produzieren. An der Schwelle zu einer modernen Kommunikationsgesellschaft waren jedoch Anforderungen entstanden, denen das bürokratisch verkrustete, von der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei geprägte sowjetische System nicht gewachsen war. Die neue Welt basierte auf Computern, auf der weitgehenden Vernetzung aller relevanten Informationsträger sowie auf Kreativität und Verantwortungsbereitschaft aller Ebenen – das heißt auf einer Struktur, die in einer abgeschotteten Gesellschaft undenkbar war.
Die Verwirklichung von Glasnost im Sinne einer Öffnung der sowjetischen Gesellschaft war daher ein primäres Anliegen der Politik Gorbatschows. Durch größere Offenheit und Transparenz sollte die UdSSR auf die Ansprüche und Bedürfnisse der modernen Kommunikationsgesellschaft vorbereitet werden. Dies war allerdings nur möglich, wenn zugleich ein grundlegender Umbau des politischen, ökonomischen und sozialen Systems der Sowjetunion erfolgte, bei der vor allem der wirtschaftliche Bereich durch eine Neustrukturierung und personalpolitische Wechsel auf vielen Ebenen reformiert und flexibilisiert wurde. Die Strategie der Perestroika sollte deshalb die Möglichkeit eröffnen, der diktatorischen Einengung zu entkommen und eine Differenzierung und Regionalisierung der Entscheidungen und Handlungsabläufe zu ermöglichen. Zugleich sollte mit dieser Abwendung von der bisherigen Parteidiktatur die Kooperationsbereitschaft des Westens zurückgewonnen werden, die unter Staatschef Breschnew und seinen Nachfolgern Andropow und Tschernenko verloren gegangen war.
Aufgabe der Breschnew-Doktrin
Für die DDR war indes die Tatsache entscheidend, dass eine solche Reformpolitik, die Gorbatschow als „zweite sozialistische Revolution“ bezeichnete, aus mehreren Gründen bedrohlich werden konnte: Zum einen gefährdeten innere Reformen, die auf eine Schwächung der repressiven Macht des Partei- und Staatsapparates hinausliefen, den inneren Zusammenhalt der DDR, die sich noch nie auf politische Legitimität durch freie Wahlen hatte stützen können. Zum anderen war spätestens seit 1987 absehbar, dass die Umsetzung dieser Politik zu einer Revision der sogenannten Breschnew-Doktrin führen würde. Diese war nach dem Einmarsch von Truppen aus fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei (ČSSR) zur Beendigung des „Prager Frühlings“ im August 1968 von sowjetischen Parteiideologen entwickelt und danach von Generalsekretär Breschnew zur nachträglichen Rechtfertigung der ČSSR-Intervention verkündet worden. Die Doktrin erhob mit der Begründung einer „begrenzten Souveränität sozialistischer Länder“ und einem „beschränkten Selbstbestimmungsrecht“ einen militärischen Interventionsanspruch für die Sowjetunion, falls die kommunistische Herrschaftsordnung in einem Land ihres Machtbereiches bedroht schien.
Gorbatschow selbst glaubte offenbar nicht, dass die Aufhebung der Breschnew-Doktrin und damit die Rücknahme der sowjetischen Bestandsgarantie für die sozialistischen Systeme in den osteuropäischen Ländern zu schwerwiegenden Konsequenzen führen werde. Auch im Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern, so meinte er, seien Reformen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen notwendig. Die damit verbundene Neugestaltung des Verhältnisses der sozialistischen Länder untereinander werde sogar zu einem weiteren Aufschwung des Sozialismus beitragen. Am 10. April 1987 deutete sich diese Positionsveränderung erstmals in der Öffentlichkeit an, als Gorbatschow in einer Rede in Prag erklärte, jede Bruderpartei entscheide „vor dem Hintergrund der jeweiligen nationalen Bedingungen selbst über ihre politische Linie“.
Eine ähnliche Auffassung vertrat er auch bei anderen Gelegenheiten noch mehrfach. So bemerkte er etwa in einer Rede vor dem Europarat in Straßburg am 7. Juli 1989 unter direkter Bezugnahme auf die Breschnew-Doktrin, die „Philosophie des gemeinsamen europäischen Hauses“ schließe die Möglichkeit eines bewaffneten Zusammenstoßes und „die Anwendung von Gewalt, vor allem militärischer Gewalt, zwischen den Bündnissen, innerhalb der Bündnisse oder wo auch immer“ aus.
Demokratische Revolution in Mittelosteuropa 1989 (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 701 890)
Demokratische Revolution in Mittelosteuropa 1989 (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 701 890)
Im Oktober 1989 verkündete der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, schließlich am Rande eines Besuchs von Gorbatschow in Finnland unter Anspielung auf den populären Song „My Way“ von Frank Sinatra, die Breschnew-Doktrin werde durch die „Sinatra-Doktrin“ ersetzt. Die hintergründige Bemerkung war offenbar ironisch gemeint, kam jedoch einem Bekenntnis zur Selbstbestimmung gleich und bedeutete mithin eine indirekte Aufforderung für die Länder im bisherigen sowjetischen Machtbereich, nunmehr ohne Furcht vor sowjetischer Intervention ebenfalls politische, wirtschaftliche und soziale Reformen einzuleiten.
Die DDR als Insel der Orthodoxie
Bei der DDR-Spitze riefen diese Entwicklungen folgerichtig große Besorgnis hervor. Zwar war die Regierung in Ost-Berlin mehr als ein Jahrzehnt lang in der Lage gewesen, durch ihre Politik der Abgrenzung die Kontakte der Bürgerinnen und Bürger der DDR mit dem Westen zu begrenzen und die destabilisierenden Folgen der Entspannung durch eine Mischung aus sozialer Bedürfnisbefriedigung und staatlicher Kontrolle abzufangen, sodass Beobachter schon dazu verleitet wurden, die innere Stabilität und den relativen Erfolg der DDR zu überschätzen. Aber nachdem die Sowjetunion, die für die Rückendeckung des SED-Regimes unverzichtbar war, nun selbst eine „Revolution von oben“ forderte und andere Ostblockstaaten wie Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei bereits Auflösungserscheinungen zeigten, wurde die Lage für die DDR kritisch.
Natürlich sah sich die DDR-Führung durch die „reformistische Einkreisung“ bedroht. Aber sie reagierte darauf nicht mit eigenen Reformen, sondern mit weiterer Selbstisolierung: Das SED-Regime wurde zu einer Insel der Orthodoxie in einem Meer politischer, ökonomischer und ideologischer Strukturveränderungen. Honecker bestand sogar ausdrücklich darauf, dass die DDR nicht gezwungen werden dürfe, dem sowjetischen Modell zu folgen, sondern dass es ihr erlaubt sein müsse, einen Sozialismus „in den Farben der DDR“ zu entwickeln. Kurt Hager, Mitglied des Politbüros der SED und Chefideologe der Partei, stellte in diesem Zusammenhang in einem Interview mit der Zeitschrift „Stern“ vom 9. April 1987 die viel zitierte rhetorische Frage, ob man sich denn verpflichtet fühlen müsse, seinem Nachbarn zu folgen, wenn dieser beschließe, in seinem Haus die Wände neu zu tapezieren. Die DDR-Führung jedenfalls – so ließ sich den Äußerungen Honeckers und Hagers entnehmen – verspürte keine Verpflichtung zu inneren Reformen. Im Gegenteil, man hielt sie für unnötig und schädlich, ja gefährlich.
Aus der begrenzten Sicht einer kommunistischen Kaderpartei war diese Einschätzung sogar zutreffend. Denn die improvisierten Bemühungen Gorbatschows, Glasnost und Perestroika in die Tat umzusetzen, hatten Reformer in anderen Ländern Osteuropas bereits ermutigt, weiter voranzuschreiten, da man ein militärisches Eingreifen der Sowjetunion nicht mehr befürchten musste. So wurde der tschechoslowakische Staats- und Parteichef Gustáv Husák im Dezember 1987 durch den jüngeren und flexibleren Miloš Jakeš ersetzt. In Polen kam es im April und Mai 1988 zu neuen Streiks der Stahl- und Werftarbeiter, die sich zu einer Kraftprobe zwischen der offiziell inzwischen verbotenen Gewerkschaft „Solidarität“ und dem Regime von General Jaruzelski entwickelten. Im April 1989 führten die Proteste zu einer Verfassungsreform und zur Wiederzulassung der „Solidarität“ sowie im Juni 1989 zu den ersten Parlamentswahlen in Polen nach dem Krieg mit teilweise freier Kandidatenaufstellung. Und in Ungarn wurde Ministerpräsident Károly Grósz am 22. Mai 1988 als Verfechter weitreichender politischer und wirtschaftlicher Reformen zum neuen Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei ernannt.
Die Regierung in Ost-Berlin war über diese Entwicklung derart besorgt, dass sie im November 1988 fünf sowjetische Filme und den Vertrieb der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“, die von vielen reformorientierten Ostdeutschen als Ausdruck sowjetischer Offenheit gern gelesen wurde, in der DDR verbot. Die Selbstisolierung der DDR, die in diesen Maßnahmen erneut zum Ausdruck kam, und der antireformistische Kurs Honeckers waren innerhalb der SED-Führung zwar nicht unumstritten. Doch die meisten Funktionäre zogen es vor, zu schweigen, auch wenn sie vielfach mit der offiziellen Politik ihrer Regierung nicht mehr übereinstimmten.
QuellentextProteste gegen die Einstellung der Zeitschrift „Sputnik“
Die sowjetische Monatszeitschrift „Sputnik“ existierte seit 1967 in der UdSSR und erschien in mehreren Sprachen. Mit Beginn von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion informierte „Sputnik“ in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre auch über die Reformpolitik Gorbatschows und griff frühere Tabuthemen auf, wie die Verbrechen Stalins. In der DDR eröffnete die Zeitschrift ihrer Leserschaft damit eine willkommene Abwechslung in der Medienlandschaft. Mit Beginn der Politik von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion interessierten sich vermehrt intellektuelle Kreise für die Zeitschrift.
Das Verbot durch den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker im November 1988 provozierte in der gesamten DDR Proteste. Die Stasi ermittelte landauf und landab die Stimmungslage und Meinungen in der Bevölkerung, vielfach durch Inoffizielle Mitarbeiter (IM).
Es war nicht die erste Maßnahme dieser Art: Bereits zu Beginn des Jahres 1988 waren aufgrund ideologischer Bedenken drei Ausgaben der deutschsprachigen, sowjetischen Zeitschrift „Neue Zeit“ nicht ausgeliefert worden. Zeitgenössische Literatur aus dem Bruderland wurde kaum noch veröffentlicht, Filme kamen nicht in den Verleih. Nicht anders erging es den Zeitungen „Budapester Rundschau“ und „Prager Volkszeitung“.
Zu einem Proteststurm kam es jedoch erst mit dem Auslieferungsstopp des „Sputnik“. Bereits die Nichtauslieferung der Oktoberausgabe zog eine Flut von Eingaben an das offiziell zuständige Postministerium nach sich.
Am 18. November folgte eine lapidare ADN-Meldung folgenden Inhalts: „Wie die Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen mitteilt, ist die Zeitschrift ‚Sputnik‘ von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte“.
Es war unschwer zu erraten, dass nicht das Postministerium das Verbot veranlasste. Vielmehr handelte es sich um einen Entschluss der SED-Führung. In der November-Ausgabe des „Sputniks“ ging es um den 1939 geschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin, der auch eine Aufteilung Polens vorsah. Diese Darstellung widersprach jedoch dem in der DDR propagierten Geschichtsbild. Mit dem Artikel „Gegen die Entstellung der historischen Wahrheit“ lieferte die SED-Führung in ihrem Zentralorgan „Neues Deutschland“ am 25. November die Begründung für ihre Entscheidung nach. […] Sie war eine heimliche Abwendung vom Demokratisierungsprozess in der UdSSR.
Die Reaktionen auf das „Sputnik“-Verbot waren ablehnend, wütend und teilweise aggressiv und kamen sowohl von SED-Mitgliedern wie auch von Parteilosen.
Im Dezember 1988 registrierte die Stasi in Berlin-Pankow mehrere von Unbekannten hergestellte Handzettel, die sich gegen das „Sputnik“-Verbot richteten. […]
Das Zentralkomitee der SED, die Jugendorganisation der Partei (FDJ), die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF), das Presseamt, verschiedene Zeitungsredaktionen sowie weitere staatliche und gesellschaftliche Organisationen erhielten Tausende von Eingaben aus Betrieben, Universitäten, Schulen und von Einzelpersonen. […]
Drastisch formulierte Einzel- und Kollektiveingaben wurden zur weiteren Bearbeitung an die Stasi übergeben. Alle anderen Einsendungen erhielten standardisierte Antworten unter Verweis auf die oben erwähnten Artikel. Die Aussprachen zwischen der Parteikontrollkommission (PKK) und den Verfasserinnen und Verfassern der Eingaben vom Dezember 1988 basierten auf den Argumenten aus diesen beiden Artikeln. Sie dienten zur „Gesinnungsprüfung“ der betreffenden SED-Mitglieder. Schließlich gelang es damit, Diskussionen über die Situation in der DDR noch einmal abzuwürgen.
Auch Stasi-Angehörige schrieben Eingaben an das Zentralkomitee der SED. Bei anschließenden Aussprachen sollten sie ihren kritischen Standpunkt zu der Zensurmaßnahme aufgeben.
Für die Parteiführung hatte das „Sputnik“-Verbot schwerwiegende Folgen. Es vertiefte die Entfremdung zwischen der SED und ihren „loyal-reformorientierten“ Anhängern, befürchteten letztere doch eine Abschottung der DDR auch nach Osteuropa. Die beinahe unterschiedslosen Argumentationen von SED-Mitgliedern und Parteilosen zeugten laut Stasi-Berichten von Unverständnis und Ablehnung des Verbots. Selbst SED-Anhänger übten Kritik an der Informationspolitik der Partei und forderten eine argumentative Auseinandersetzung mit den Positionen im „Sputnik“.
Reaktionen gab es auch von sowjetischer Seite. Im Februar 1989 musste das SED-Politbüro zur Kenntnis nehmen, dass die Sowjetunion zum 1. April eine erhebliche Reduzierung der Bezugszahlen von 24 DDR-Zeitungen und -Zeitschriften mit der Begründung eines erforderlichen Ausgleichs der gegenseitigen Lieferungen verfügte […].
Erst unter dem neuen SED-Generalsekretär Egon Krenz wurde im Oktober 1989 eine Wiederaufnahme des „Sputnik“ in die Postzeitungsliste angekündigt.
„Das ‚Sputnik‘-Verbot“, Quelle: Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv; online: Externer Link: www.stasi-unterlagen-archiv.de/
(zuletzt abgerufen 27.09.2022)
Politik des Westens
Auf westlicher Seite blieb man in den 1980er-Jahren bei der Ausnutzung der Chancen, die sich durch die Reformprozesse in den osteuropäischen Ländern boten, bis zum Zusammenbruch der dortigen Regime eher vorsichtig. Da grundlegende Strukturveränderungen in Osteuropa unmöglich waren, solange die sowjetischen Streitkräfte an Elbe und Werra standen, und man sich andererseits nicht vorstellen konnte, dass die Westgruppe der Roten Armee in absehbarer Zeit friedlich abziehen würde, hätte eine Aufheizung der Situation von außen leicht zu einer Katastrophe führen können. Die Westmächte betrieben daher eine behutsame Politik der Zurückhaltung, die sich an den Bedingungen der Entspannung orientierte und sich auf dieser Grundlage weiter um Fortschritte bemühte.
So hieß es im Bericht zur Lage der Nation, den Bundeskanzler Helmut Kohl im März 1984 – ein Jahr vor Gorbatschows Amtsantritt, aber lange nach Beginn der Liberalisierungsbestrebungen in Polen und Ungarn – vor dem Deutschen Bundestag abgab, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR stünden „in einer Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden und die Sicherheit in Europa“, beide müssten „sich um eine Entschärfung der internationalen Lage bemühen“. Selbst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, als die inneren Schwierigkeiten und die Isolation der DDR innerhalb des eigenen Lagers zunahmen, wurde diese Bereitschaft zur Zusammenarbeit nicht geringer. So konnte auch der Besuch von SED-Generalsekretär Honecker, der bereits 1980 geplant gewesen war und nach der Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen im Gefolge des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan und nach dem Streit um die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa immer wieder hatte verschoben werden müssen, 1987 schließlich noch stattfinden.
Verständigungswille
Im gemeinsamen Kommuniqué von Honecker und Kohl wurde erneut betont, dass das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander ein „stabilisierender Faktor für konstruktive Ost-West-Beziehungen“ bleiben müsse. Die Wiedervereinigung Deutschlands war dagegen kein Thema. Zwar wurden „Unterschiede in den Auffassungen zu grundsätzlichen Fragen, darunter der nationalen Frage“ festgestellt. Im Anschluss daran wurde allerdings hervorgehoben, „dass beide Staaten die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten respektieren“. Verständigungswille und Realismus sollten Richtschnur für eine konstruktive, auf praktische Ergebnisse gerichtete Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten sein.
Tatsächlich bewies die Bundesrepublik ein hohes Maß an Verantwortungsbereitschaft, indem sie auf die demonstrative Propagierung eigener politischer Ziele verzichtete, die sich etwa aus dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes ergaben. Die Liberalisierung der kommunistischen Regime – darüber herrschte in den 1980er-Jahren in Bonn, wie in den westlichen Hauptstädten überhaupt, weitgehend Einigkeit – musste von innen erfolgen und konnte von außen höchstens gefährdet, aber kaum gefördert werden.
Das hieß allerdings nicht, dass man die bestehenden Verhältnisse billigte. Das Dilemma der Bundesregierung bestand vielmehr darin, im Augenblick für den Status quo eintreten zu müssen, um längerfristig angestrebte Änderungen zu erreichen. Dies war bereits das Grundprinzip der neuen Ostpolitik Willy Brandts nach 1969 gewesen („Wandel durch Annäherung“) und hatte damals zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen geführt, weil die CDU/CSU-Opposition seinerzeit den Erfolg eines solchen Kurses bezweifelt hatte. Inzwischen war das Prinzip jedoch weithin als einzig mögliche Veränderungsstrategie akzeptiert und wurde jetzt auch von der Regierung Kohl aus innerer Überzeugung vertreten.