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Die Deutsche Frage in der internationalen Politik | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 352/2022

Die Deutsche Frage in der internationalen Politik

Manfred Görtemaker

/ 14 Minuten zu lesen

(© Fritz Behrendt / Baaske Cartoons)

Deutschland und das Gleichgewicht Europas

Von den 1870er-Jahren bis nach dem Zweiten Weltkrieg galt Deutschland für viele ausländische Politiker und Beobachter als Bedrohung für Europa und die Welt. Das vorherrschende Bild von den Deutschen war geprägt von Militarismus, politischer Unberechenbarkeit und dem Mangel an Gespür für die Ängste und Bedürfnisse anderer. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien diese Bedrohung gebannt. Durch die Teilung Deutschlands und die amerikanisch-sowjetische Vorherrschaft schienen Europa und die Welt sicher vor den Deutschen – und die Deutschen sicher vor sich selbst. Die Wende von 1989 stellte diese Lösung wieder in Frage. Das vereinte Deutschland und Europa mussten aufs Neue lernen, miteinander zu leben. Die Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90 lässt sich daher nicht als isoliertes Ereignis der Gegenwart begreifen, sondern muss im Zusammenhang mit der europäischen und internationalen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gesehen werden.

Nach dem Wiener Kongress von 1814/15 war Deutschland in 39 souveräne Einzelstaaten geteilt, darunter mit Preußen und Österreich zwei Großmächte. Die „Schwächung“ der europäischen Mitte war für die Architekten der Wiener Ordnung – die Außenminister Großbritanniens und Österreichs, Lord Castlereagh und Graf Metternich – eine Grundbedingung für das europäische Gleichgewicht, das den Frieden auf dem Kontinent sichern sollte. Mit der Gründung des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck im Jahr 1871 stellte sich daher die Frage, ob ein vereintes Deutschland mit seiner zentralen geografischen Lage und seiner Bevölkerungszahl, vor allem aber mit seiner Wirtschaftskraft und politisch-militärischen Macht mit dem europäischen Gleichgewicht in Einklang zu bringen war. Bismarck selbst erkannte dieses Problem frühzeitig und suchte es nach der Reichsgründung durch eine entschlossene Kehrtwendung seiner Politik zu entschärfen: So wenig er sich vor 1871 gescheut hatte, militärische Gewalt anzuwenden, um seine außenpolitischen Ziele durchzusetzen, so sehr bemühte er sich nach 1871 um einen Kurs der Mäßigung und „Saturiertheit“. Das Deutsche Reich, so Bismarck, solle den Status quo garantieren, anstatt ihn infrage zu stellen.

Tatsächlich trug die Bismarcksche Außenpolitik in den 1870er- und 1880er-Jahren dazu bei, die europäische Ordnung zu stabilisieren. Nach der Entlassung des Reichskanzlers durch Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 drängten jedoch neue Kräfte an die Macht, die schon seit 1871 unter der Oberfläche gewirkt hatten und im Ausland bald ein neues Deutschlandbild prägten. Besonders die Elemente des Nationalismus und des Militarismus, die für die Reichsgründung mobilisiert worden waren, erschienen in Verbindung mit der dynamisch fortschreitenden Industrialisierung als bedrohlich. An die Stelle der vorsichtigen und behutsamen Strategie Bismarcks trat nun ein neuer Stil: dynamisch, großspurig und arrogant, vor allem jedoch ohne Gespür für die Erfordernisse des europäischen Gleichgewichts und die Empfindlichkeiten der Nachbarn.

Der junge Kaiser war ein typischer Repräsentant dieses neuen Deutschlands: „Mit Volldampf voraus“ wollte Wilhelm II. das Reich nun steuern – nicht länger gehindert vom vormals übermächtigen Bismarck – und Deutschland neuen großen Zielen entgegenführen. Dabei galt es, die bisherigen Begrenzungen deutscher Politik zu durchbrechen. Weltpolitik war das Ziel. Was andere Staaten Europas wie England, Frankreich, Spanien, Portugal und die Niederlande seit langem betrieben hatten, sollte Deutschland – als „verspätete Nation“, wie der Soziologe Helmuth Plessner 1935 rückblickend schrieb – endlich nachholen.

Das Ergebnis war vorhersehbar. Auch wenn der deutsche Imperialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts keineswegs das Produkt einer abnormen politischen Kultur oder gar die Folge einer spezifisch deutschen Mentalität des Militarismus und der Aggressivität war, trugen seine Auswirkungen dazu bei, Deutschland zu isolieren und die anderen europäischen Mächte zur Bildung einer Koalition gegen das Reich zu veranlassen. Ein Ausgleich mit England wurde dadurch ebenso verhindert wie die Fortsetzung des Bündnisses mit Russland, das für Deutschland lebensnotwendig war, solange eine Aussöhnung mit Frankreich nicht gelang. Der deutsche Versuch, auf dem Umweg über die Weltpolitik in Europa die Vorherrschaft zu erringen, scheiterte schließlich im Ersten Weltkrieg.

Außenseiter europäischer Politik

Die deutsche Revolution vom November 1918 und die Errichtung der Weimarer Republik boten danach die Chance zu einem Neubeginn, die jedoch schon bald vertan wurde. Verantwortlich dafür waren nicht nur die Deutschen selbst, die es nicht verstanden, aus den obrigkeitsstaatlichen Traditionen des Kaiserreiches auszubrechen und eine von der breiten Masse der Bevölkerung akzeptierte demokratische Ordnung zu errichten. Auch die Westmächte schadeten der Republik, indem sie auf der Versailler Konferenz von 1919 das Versprechen des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson brachen, einen fairen und gerechten Frieden herbeizuführen.

Vor allem der Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages – die offizielle Feststellung der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges – löste zusammen mit der Verpflichtung zu hohen Reparationsleistungen in Deutschland Zorn und Erbitterung aus. Die Kriegsschuldthese vergiftete das politische Klima und führte zu weitreichenden Forderungen nach einer Revision des Versailler Vertrages. Die Reparationszahlungen trugen dazu bei, eine rasche wirtschaftliche Erholung zu verhindern, die zu einer breiteren Akzeptanz der demokratischen Ordnung hätte führen können. Die innenpolitischen Feinde der Weimarer Republik hatten deshalb leichtes Spiel, gegen das „System von Versailles“ zu polemisieren und die neu gewählte demokratische Regierung in Berlin zu diskreditieren, der angesichts der militärischen Niederlage nichts anderes übriggeblieben war, als den Vertrag zu unterzeichnen und ihn vom Reichstag ratifizieren zu lassen. Die Beruhigung, die für die innere Stabilisierung der Republik notwendig gewesen wäre, wurde so erschwert.

Deutschland blieb daher auch nach dem Ersten Weltkrieg – trotz der Bemühungen von Außenminister Gustav Stresemann um deutsch-französische Aussöhnung und eine europäische Integration – letztlich ein Außenseiter der europäischen Politik. Die Erfolge der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei den Reichstagswahlen nach Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929, welche die Nationalsozialisten zwischen September 1930 und dem Sommer 1932 zur stärksten politischen Kraft in Deutschland werden ließen, waren nur ein Ausdruck dieser inneren und äußeren Spannungen, von denen die Weimarer Republik schließlich zerstört wurde. Der Aufstieg Adolf Hitlers und seine Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 bedeuteten nicht nur eine Kapitulation der Deutschen vor den Schwierigkeiten einer demokratischen Erneuerung und die Rückkehr zum gewohnten Modell einer autokratischen Führung, sondern sie dokumentierten auch das Versagen der Westmächte, ihre Politik in Europa so zu gestalten, dass Deutschland darin seinen Platz hätte finden können.

Nach 1933 warf die Politik der Nationalsozialisten sogleich wieder die Frage auf, ob sich Deutschland überhaupt in eine europäische Ordnung integrieren ließ. Denn Hitler forderte nicht nur die Lösung Deutschlands von den Beschränkungen des Versailler Vertrages und die Wiederherstellung der deutschen Ostgrenzen von 1914 sowie den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, sondern auch die Eroberung großer Gebiete im Osten und die Erringung der deutschen Vorherrschaft in Europa. Aus der Sicht des Auslands bewiesen diese Ansprüche erneut die Neigung der Deutschen, die europäische Ordnung zu untergraben, um eine eigene Hegemonie zu begründen – und das schon bevor die territoriale Eroberungssucht und die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen alle Normen verstießen, die sich die Staaten Europas seit dem Wiener Kongress 1815 zur Regelung ihrer Angelegenheiten gesetzt hatten.

Teilung als Lösung?

Vor diesem Hintergrund konnte es kaum verwundern, dass die Gegner Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges in der Aufteilung des Deutschen Reiches den sinnvollsten Weg zur dauerhaften Lösung des deutschen Allmachtsanspruchs sahen. Auf der ersten Kriegskonferenz der „Großen Drei“ im November und Dezember 1943 in Teheran waren der sowjetische Staatschef Josef Stalin, der britische Premierminister Winston Churchill und US-Präsident Franklin D. Roosevelt daher einhellig der Meinung, dass die Erhaltung bzw. Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschlands eine Bedrohung für den Weltfrieden darstelle und dass nur ein geteiltes Deutschland in die internationale Staatengemeinschaft zurückkehren könne.

Beginn des Kalten Krieges

Die Teilung Deutschlands als Weg zur Beseitigung des deutschen Hegemonialstrebens war damit jedoch noch keine beschlossene Sache. Vielmehr wurde schon vor Ende des Krieges immer deutlicher, dass die Gesetze der Machtpolitik durch den gemeinsamen Kampf der Alliierten gegen Hitler-Deutschland nicht außer Kraft gesetzt worden waren. So bereitete das unaufhaltsame Vordringen der sowjetischen Armee nach Mitteleuropa, das durch Hitlers Expansion nach Osten ausgelöst worden war, vor allem den Briten große Sorgen. Auf der zweiten Kriegskonferenz der „Großen Drei“ im Februar 1945 in Jalta zögerte Churchill daher, bei der Frage der Teilung Deutschlands die gleiche Entschiedenheit an den Tag zu legen wie in Teheran. Die drei Regierungschefs verwiesen das Thema deshalb zur weiteren Beratung an eine Expertenkommission und demonstrierten auf diese Weise, dass sie sich in dieser Frage nicht mehr einig waren. Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus.

Auch Stalin rückte schließlich von seinen Teilungsplänen ab und erklärte in einer Ansprache an das sowjetische Volk am 9. Mai 1945, die Sowjetunion feiere den Sieg, wenn sie sich auch nicht anschicke, „Deutschland zu zerstückeln oder zu zerstören“. Doch während Churchill und das britische Außenministerium bei ihren Überlegungen zur Erhaltung der deutschen Einheit von den Erfordernissen des europäischen Gleichgewichts ausgingen, das sie nach der Niederlage Deutschlands nun durch die übermächtige Sowjetunion bedroht sahen, ließ sich Stalin offenbar von der Hoffnung leiten, das Instrument einer gemeinsamen Besatzungspolitik nutzen zu können, um Einfluss auf ganz Deutschland zu erlangen und damit seinen Anspruch auf Reparationen aus dem Ruhrgebiet durchzusetzen.

Die vier Besatzungszonen (© bpb)

Auf der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 im Schloss Cecilienhof war daher von einer möglichen Teilung Deutschlands nicht mehr die Rede. Vielmehr verständigte man sich auf ein Konzept, das einerseits von der „Wirtschaftseinheit“ Deutschlands ausging und andererseits eine „Umerziehung“ (re-education) der Bevölkerung vorsah, wobei man sich von „vier D’s“ leiten ließ: Demokratisierung, Denazifizierung, Demilitarisierung und Dezentralisierung. Auch die Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen, die bei den Verhandlungen der alliierten European Advisory Commission in London 1944 vereinbart und im Februar 1945 in Jalta beschlossen worden war, sollte zunächst nur dem Zweck dienen, Deutschland zu verwalten. Erst die wachsenden Spannungen zwischen den Alliierten nach Kriegsende führten dazu, dass die Verwaltungsgrenze zwischen den drei westlichen Zonen und der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) schließlich zur Teilungsgrenze wurde.

So war die Teilung Deutschlands nach 1945 trotz der Entschlossenheit der Siegermächte, die politische, wirtschaftliche und militärische Macht des Deutschen Reiches dauerhaft zu zerschlagen, nicht das unmittelbare Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Vielmehr folgte sie aus dem Ost-West-Konflikt, in dem die Gemeinsamkeit der alliierten Deutschlandpolitik nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Von den ersten Spannungen 1945 und dem im Mai 1946 verhängten US-amerikanischen Reparationsstopp über den Marshall-Plan 1947, die Währungsreform 1948 und die Berliner Blockade 1948/49 bis hin zur Gründung der beiden deutschen Staaten waren alle Etappen der Teilung unmittelbar mit der Entwicklung des Ost-West-Gegensatzes verbunden. „Die Teilung der Welt“ – so ein Buchtitel des Historikers Wilfried Loth von 1980 – zog also die deutsche Spaltung nach sich. Und der territorial-politische Status quo in Europa, der auf dieser Teilung basierte, konnte von Deutschland aus nicht mehr einseitig verändert werden, solange Europa im gegeneinander wirkenden Sog der neuen „Weltführungsmächte“ USA und Sowjetunion verblieb.

Westintegration

Die Weichenstellungen, die zwischen 1945 und 1949 im beginnenden Ost-West-Konflikt erfolgten, bestimmten auch die Handlungsspielräume der Regierungen in den beiden deutschen Teilstaaten ab 1949. So war die Teilung Deutschlands für Konrad Adenauer – damals noch Vorsitzender der CDU in der britischen Zone – bereits 1948 nicht länger eine drohende Gefahr, sondern schon eine vollzogene Tatsache. Sie sei vom Osten her geschaffen und müsse nun durch den Wiederaufbau der deutschen Einheit vom Westen her beseitigt werden, erklärte er dazu in der „Kölnischen Rundschau“ vom 3. April 1948. Dazu war es nach Ansicht Adenauers notwendig, den westlichen Teil Deutschlands fest in die westliche Gemeinschaft einzugliedern, um ihn zu einem politisch stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen System mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung aufzubauen, das durch seine Attraktivität auf den östlichen Teil Deutschlands wie ein Magnet wirken würde. Aus einer solchen Position der Stärke heraus sollte dann auch die Wiedervereinigung Deutschlands angestrebt werden, die ohne gesicherte Westbindung nur um den Preis der Sowjetisierung ganz Deutschlands zu erreichen wäre.

Am 23. Mai 1949 wurde aus den drei Westzonen die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Nach seiner Wahl zum Bundeskanzlerverfolgte Adenauer deshalb eine Politik der Westintegration, die von vornherein nicht national, sondern europäisch bestimmt war. Wie Winston Churchill, der in einer Rede in Zürich bereits am 19. September 1946 für eine Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich plädiert hatte, um damit einen ersten Schritt zu tun, „so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa“ zu errichten, trat auch Adenauer für einen Zusammenschluss Westeuropas ein. Eine klare Entscheidung für den Westen zu treffen und damit die alte deutsche „Schaukelpolitik“ zwischen Ost und West zu beenden, war für ihn umso dringlicher, da nun zusätzlich die Gefahr einer weiteren Ausdehnung des sowjetischen Machtbereiches bestand, der inzwischen schon bis zur Elbe reichte.

Die Integrationspolitik Adenauers, durch die die Bundesrepublik von vornherein an den neu entstehenden europäischen Institutionen beteiligt wurde, kam bereits beim Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) auf der Grundlage des Schuman-Plans vom Mai 1950 zum Ausdruck. Die zunehmenden Spannungen im Ost-West-Konflikt führten nach Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 überdies zu einer intensiven Debatte über einen deutschen Wehrbeitrag zur Verteidigung Westeuropas und die Errichtung einer Europa-Armee mit deutscher Beteiligung im Rahmen einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG). Diese scheiterte jedoch im August 1954 am Widerstand in der französischen Nationalversammlung. Mit den Pariser Verträgen vom Oktober 1954 und dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik im Mai 1955 wurde aber eine Ersatzlösung gefunden, durch welche die von Adenauer angestrebte Westintegration der Bundesrepublik praktisch verwirklicht wurde. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) auf der Grundlage der Römischen Verträge vom 25. März 1957 führten diese Integrationspolitik weiter.

Die Erwartung Adenauers, durch Anbindung an den Westen nicht nur Sicherheit und Beistand für die Bundesrepublik gegenüber dem Kommunismus, sondern auch Anerkennung und Akzeptanz unter den neuen Verbündeten zu erhalten, ging in Erfüllung. Das loyale Verhalten der Bundesrepublik innerhalb des westlichen Bündnisses und die Verlässlichkeit der Adenauerschen Politik sorgten zudem für eine positive Veränderung des Deutschlandbildes im Ausland. Die Bundesrepublik wurde von einer Gegnerin zu einer soliden Partnerin der Westmächte im Ost-West-Konflikt und beim Neuaufbau Europas. Der Preis dafür war allerdings die Teilung Deutschlands, die damit auf Dauer zementiert schien.

Die DDR im Sowjetimperium

Ob eine Wiedervereinigung nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt möglich gewesen wäre – und wenn ja, zu welchen Konditionen –, ist in der historischen Forschung umstritten. Sicher ist nur, dass die Sowjetunion durch ihr Verhalten in Osteuropa nach der Besetzung durch die Rote Armee frühzeitig ihren Willen dokumentierte, die eroberten Gebiete nicht ohne Bedingungen wieder zu räumen. Das sowjetische Sicherheitsbedürfnis verlangte nach einem territorialen Einflussgürtel. Deutschland spielte dabei eine besondere Rolle, weil es nicht nur die Schuld am Zweiten Weltkrieg trug, in dessen Verlauf etwa 27 Millionen sowjetische Soldaten und Zivilisten starben, sondern auch der Schlüssel zur Beherrschung Mittel- und Osteuropas war.

Welche Bedeutung Stalin der Kontrolle der deutschen Entwicklung beimaß, wird nicht zuletzt durch das umfangreiche Engagement der Sowjetunion bei der Ausbildung deutscher Exil-Kommunisten während des Krieges in Moskau unterstrichen, bei der kommunistische Kader wie die „Gruppe Ulbricht“, die bereits am 30. April 1945 an Bord einer sowjetischen Militärmaschine in Berlin eintraf, systematisch auf ihren Einsatz im Nachkriegsdeutschland vorbereitet wurden.

Die Integration, die im Westen Deutschlands von Adenauer in langen politischen Kämpfen durchgesetzt werden musste, gelang daher im Osten problemlos: Die Sowjetische Besatzungszone und später die Deutsche Demokratische Republik (DDR) wurden praktisch vom ersten Tag an nahtlos in den sowjetischen Machtbereich eingefügt. Zwar gab es in Ostdeutschland Widerspruch gegen diesen Kurs. Insbesondere die neu gegründete Ost-CDU sowie die Liberal-Demorkatische Partei und in geringerem Maße auch die SPD plädierten für einen „Brückenbau“ und wollten einem wiedervereinigten Deutschland eine Sonderrolle zwischen Ost und West zuweisen. Aber Teile der einflussreichen Sozialdemokratie, die allerdings nur bis zur Zwangsvereinigung mit der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) im April 1946 bestand, und vor allem die KPD votierten für eine Ostorientierung und eine revolutionäre Umgestaltung, um den Kapitalismus zu überwinden, der ihrer Auffassung nach direkt in den Nationalsozialismus gemündet hatte. Und die grundlegenden Strukturreformen (Verstaatlichung, Planwirtschaft, Einparteiherrschaft), die nach 1945 in Ostdeutschland durchgeführt wurden, demonstrierten die Entschlossenheit der Sowjetunion und ihrer deutschen Verbündeten, zumindest in diesem Teil Deutschlands ihre Vorstellungen durchzusetzen.

In dem Maße, in dem sich ab 1946 der Kalte Krieg ausprägte, wurde damit die Teilung vorangetrieben, obwohl die Einheitsforderung verbal aufrechterhalten wurde. Faktisch war die Einbeziehung Ostdeutschlands in das sowjetische Imperium aber schon 1945 eine Tatsache, die auch nach Gründung der DDR 1949 nicht mehr zur Disposition stand. Eine freie Wahl gab es dabei für die ostdeutsche Bevölkerung ebenso wenig wie für deren politische Repräsentanten. Das damit einhergehende Legitimitätsdefizit des SED-Regimes konnte bis 1989 nie kompensiert werden. Da die DDR ihre Existenz einzig der sowjetischen Besatzungsmacht verdankte, blieb die Anwesenheit sowjetischer Streitkräfte bis zuletzt eine zentrale Bestandsgarantie für das Regime.

Neue Ostpolitik

Der Ost-West-Konflikt, der seit 1945 die Entwicklung in Deutschland und Europa beherrschte, machte somit auf Jahrzehnte jeden Gedanken an eine Überwindung des Status quo illusorisch. Immerhin trug die enge Einbeziehung der beiden deutschen Staaten in die jeweiligen Machtblöcke dazu bei, die Furcht vor Deutschland und vor „den Deutschen“ abzubauen: Indem die Siegermächte ihren jeweiligen Teil Deutschlands in ihr Bündnissystem einfügten, hielten sie ihn zugleich unter Kontrolle. Im Westen entstanden darüber hinaus im Rahmen der europäischen Integration neue überstaatliche Strukturen, die es erleichterten, die Deutschen gleichberechtigt in die Staatengemeinschaft wiederaufzunehmen.

Zugleich wurde das Bild vom „militaristischen Deutschen“ der Vergangenheit in den 1950er- und 1960er-Jahren, als der Kalte Krieg die Ost-West-Beziehungen bestimmte, auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ durch neue Feindbilder ersetzt, die sich nun an der ideologischen Auseinandersetzung zwischen den Blöcken orientierten: hier der „imperialistische Klassenfeind“ in der Bundesrepublik, dort das „kommunistische Satelliten-Regime“ in der DDR.

Erst nach der Doppelkrise um Berlin und Kuba 1961/62, die kurzzeitig die Gefahr eines Dritten Weltkrieges heraufbeschwor und damit zum Wendepunkt im Kalten Krieg hin zur Entspannungspolitik wurde, gelang es, die positiven Auswirkungen, welche die Politik der Führungsmächte bereits innerhalb der jeweiligen Blöcke auf das deutsche Image gehabt hatte, auf das Ost-West-Verhältnis zu übertragen. Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hatte die neue Ostpolitik der Bundesrepublik unter Bundeskanzler Willy Brandt, der auf der Grundlage einer sozialliberalen Koalition nach der Bundestagswahl vom 20. September 1969 die Regierung übernahm.

Brandt hatte als Regierender Bürgermeister von Berlin den Mauerbau am 13. August 1961 erlebt und danach erkannt, dass entgegen den Hoffnungen der 1950er-Jahre eine Überwindung der deutschen Teilung noch für lange Zeit unmöglich sein werde, weil die mit Unterstützung der Sowjetunion erfolgte äußere Abriegelung der DDR das SED-Regime stabilisierte. Brandt schloss daraus, dass man in der Deutschlandpolitik künftig vom Status quo ausgehen und direkte Vereinbarungen mit der DDR anstreben müsse, um den Kontakt zwischen den Menschen in den beiden deutschen Staaten nicht abreißen zu lassen und „menschliche Erleichterungen“ im geteilten Deutschland zu erreichen. Langfristig, so die Hoffnung, würde sich dadurch vielleicht auch ein „Wandel durch Annäherung“ ergeben, wie Brandts Pressesprecher Egon Bahr im Juli 1963 in der Evangelischen Akademie in Tutzing erklärte.

QuellentextWandel durch Annäherung

[…] Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjet-Union zu schaffen. Sie sind nicht in Ost-Berlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjet-Union, nicht ohne sie. Wer Vorstellungen entwickelt, die sich im Grunde darauf zurückführen lassen, dass die Wiedervereinigung mit Ost-Berlin zu erreichen ist, hängt Illusionen nach und sollte sich die Anwesenheit von 20 oder 22 gut ausgerüsteten sowjetischen Divisionen vergegenwärtigen. […]

Die amerikanische Strategie des Friedens lässt sich auch durch die Formel definieren, dass die kommunistische Herrschaft nicht beseitigt, sondern verändert werden soll. Die Änderung des Ost/West-Verhältnisses, die die USA versuchen wollen, dient der Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll. Das klingt paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hat. Das Vertrauen darauf, dass unsere Welt die bessere ist, die im friedlichen Sinn stärkere, die sich durchsetzen wird, macht den Versuch denkbar, sich selbst und die andere Seite zu öffnen und die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen.

Die Frage ist, ob es innerhalb dieser Konzeption eine spezielle deutsche Aufgabe gibt. Ich glaube, diese Frage ist zu bejahen, wenn wir uns nicht ausschließen wollen von der Weiterentwicklung des Ost/West-Verhältnisses. Es gibt sogar in diesem Rahmen Aufgaben, die nur die Deutschen erfüllen können, weil wir uns in Europa in der einzigartigen Lage befinden, dass unser Volk geteilt ist.

Die erste Folgerung, die sich aus einer Übertragung der Strategie des Friedens auf Deutschland ergibt, ist, dass die Politik des Alles oder Nichts ausscheidet. Entweder freie Wahlen oder gar nicht, entweder gesamtdeutsche Entscheidungsfreiheit oder ein hartes Nein, entweder Wahlen als erster Schritt oder Ablehnung, das alles ist nicht nur hoffnungslos antiquiert und unwirklich, sondern in einer Strategie des Friedens auch sinnlos. Heute ist klar, dass die Wiedervereinigung nicht ein einmaliger Akt ist, der durch einen historischen Beschluss an einem historischen Tag auf einer historischen Konferenz ins Werk gesetzt wird, sondern ein Prozess mit vielen Schritten und vielen Stationen.

Wenn es richtig ist, was [Präsident John F.] Kennedy sagte, dass man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsse, so ist es sicher für die Sowjet-Union unmöglich, sich die Zone [DDR] zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen zu lassen. Die Zone muss mit Zustimmung der Sowjets transformiert werden. Wenn wir soweit wären, hätten wir einen großen Schritt zur Wiedervereinigung getan. […]

Der amerikanische Präsident hat die Formel geprägt, dass so viel Handel mit den Ländern des Ostblocks entwickelt werden sollte, wie es möglich ist, ohne unsere Sicherheit zu gefährden. Wenn man diese Formel auf Deutschland anwendet, so eröffnet sich ein ungewöhnlich weites Feld. Es wäre gut, wenn dieses Feld zunächst einmal nach den Gesichtspunkten unserer Möglichkeiten und unserer Grenzen abgesteckt würde. Ich glaube, sie sind sehr viel größer als alle Zahlen, die bisher genannt wurden. Wenn es richtig ist, dass die Verstärkung des Ost-West-Handels mit der genannten Einschränkung im Interesse des Westens liegt, und ich glaube, es ist richtig, dann liegt sie auch im deutschen Interesse, erst recht in Deutschland. […] Uns hat es zunächst um die Menschen zu gehen und um die Ausschöpfung jedes denkbaren und verantwortbaren Versuchs, ihre Situation zu erleichtern. Eine materielle Verbesserung müsste eine entspannende Wirkung in der Zone haben. Ein stärkeres Konsumgüterangebot liegt in unserem Interesse. […]

Ich sehe nur den schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in so homöopathischen Dosen, das sich daraus nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags ergibt, die das sowjetische Eingreifen aus sowjetischem Interesse zwangsläufig auslösen würde.

Die Bundesregierung hat in ihrer letzten Regierungserklärung gesagt, sie sei bereit, „über vieles mit sich reden zu lassen, wenn unsere Brüder in der Zone sich einrichten können, wie sie wollen. Überlegungen der Menschlichkeit spielen hier für uns eine größere Rolle als nationale Überlegungen“. Als einen Diskussionsbeitrag in diesem Rahmen möchte ich meine Ausführungen verstanden wissen.

Wir haben gesagt, dass die Mauer ein Zeichen der Schwäche ist. Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Selbstbewusstsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in das westliche Konzept der Strategie des Friedens einpasst, denn sonst müssten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik.

Rede von Egon Bahr in der Evangelischen Akademie in Tutzing am 13. Juli 1963; online:
Externer Link: www.1000dokumente.de/

Diese neue Ostpolitik, die Brandt nach 1969 in die Tat umsetzte, führte zwischen 1970 und 1973 zu Verträgen mit Moskau, Warschau und Prag sowie zum Vier-Mächte-Abkommen über Berlin und zum Grundlagenvertrag mit der DDR, in denen die bestehenden Grenzen anerkannt, der Status West-Berlins gesichert und Maßnahmen zur Zusammenarbeit vereinbart wurden. Die neue Ostpolitik leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Entschärfung des Ost-West-Konflikts. Außerdem schuf sie die Voraussetzungen für die Einberufung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, heute OSZE – Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) sowie für Gespräche über beiderseitige, ausgewogene Truppenbegrenzungen und trug so dazu bei, der gesamteuropäischen Entspannung den Weg zu ebnen.

Alle diese Entwicklungen ließen die „deutsche Gefahr“, die vor allem die Nachbarn Deutschlands mit Sorge erfüllt hatte, in einem neuen Licht erscheinen: Die Deutschen waren nicht länger „Störenfriede“ der internationalen Politik, sondern fügten sich, wie schon seit 1945 innerhalb der Blöcke, nunmehr auch in die Neugestaltung der Ost-West-Beziehungen ein. Dabei stellte die Sicherung des Status quo ein zentrales Element dar, weil ohne die Anerkennung der bestehenden Grenzen und die Beachtung der jeweiligen Einflusssphären keine Kooperation über die machtpolitischen und ideologischen Gräben des Kalten Krieges hinweg möglich gewesen wäre.