Eine große Rolle in der Entstehung und Festigung von Demokratien spielt die sogenannte „vorpolitische Primärsozialisation“ in einer Gemeinschaft. Außerhalb des politischen Raumes lernen Menschen in der Familie, in Vereinen, in der Schule oder in anderen Begegnungsräumen Fähigkeiten, die eine demokratische Gesellschaft braucht und politisieren sich. Flaggenkinder mit einem Statement gegen Rassismus begleiten den Einlauf der Spieler des SV Werder Bremen beim Spiel gegen den VfL Wolfsburg am 30. März 2024. (© picture-alliance, nordphoto GmbH / Kokenge)
Eine große Rolle in der Entstehung und Festigung von Demokratien spielt die sogenannte „vorpolitische Primärsozialisation“ in einer Gemeinschaft. Außerhalb des politischen Raumes lernen Menschen in der Familie, in Vereinen, in der Schule oder in anderen Begegnungsräumen Fähigkeiten, die eine demokratische Gesellschaft braucht und politisieren sich. Flaggenkinder mit einem Statement gegen Rassismus begleiten den Einlauf der Spieler des SV Werder Bremen beim Spiel gegen den VfL Wolfsburg am 30. März 2024. (© picture-alliance, nordphoto GmbH / Kokenge)
Ist die Demokratie „westlich“?
Die Standarddarstellungen zur Geschichte der Demokratie scheinen in einer Hinsicht übereinzustimmen: Die Demokratie nimmt ihren Anfang in Athen. Und wer wollte das bestreiten? Natürlich stammt der Begriff der Demokratie trotz aller Bedeutungsverschiebungen aus dem Altgriechischen. Aber was folgt aus dieser historischen Genese? Lässt sich daraus schließen, die Demokratie stehe in einem besonderen Verhältnis zu einem im weitesten Sinne als „westlich“ apostrophierten Kulturkreis? Ist die Demokratie gar eine westliche Erfindung? Eignet sie sich nur für „den Westen“?
Der großzügige Einsatz von Anführungszeichen soll signalisieren, dass bereits die Begrifflichkeit in diesen Formulierungen zu hinterfragen ist. Seit wann gibt es eigentlich „den Westen“ als rhetorisch adressierbare Größe? Was genau wird damit gemeint?
Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist die Rede von „The West and the Rest“, vom Westen und dem Rest der Welt, wieder sehr verbreitet. Zugleich hat sich jedoch die Bedeutung dieses Begriffs verschoben. Während des Kalten Krieges konnte man mit „Ost“ und „West“ noch die beiden Kontrahenten in der Systemkonkurrenz benennen: Den Sowjetkommunismus (und seine Verbündeten) einerseits, die in der NATO militärisch verbundenen aber zumindest in Teilen auch kulturell eng verknüpften Staaten Westeuropas und Nordamerikas andererseits. Die Begriffe „West“ und „Ost“ standen hier synonym für die „offenen Gesellschaften“ mit starker Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit einerseits und Einparteienherrschaft und Überwachungsstaat andererseits.
Mit den Anschlägen auf die Twin Towers des World Trade Centers und das Pentagon im September 2001 rückte als Feind des „Westens“ jedoch der Islamismus in den Fokus.
Einen Interpretationsvorschlag dieser Konstellation liefert der Politikwissenschaftler Samuel Huntington (1927–2008) in seinem Buch „Der Kampf der Kulturen“. Darin hatte Huntington große Kulturkreise identifiziert, und zugleich die Behauptung aufgestellt, die Konflikte des 21. Jahrhunderts würden sich an den Grenzlinien dieser Kulturkreise abspielen: zwischen der islamischen Welt und dem Westen beispielsweise oder zwischen China und Indien.
Aus Huntingtons Sicht waren die kulturellen Vorbedingungen für gelingende Demokratien vor allem im „Westen“ (also Europa, Nordamerika und den ehemaligen Staaten des British Empire) gegeben. Konfuzianisch geprägte Staaten wie Japan oder Südkorea würden sich diesem Modell zwar annähern können, müssten dies aber gegen stärker kollektivistische Prägungen in der eigenen Kultur tun.
Huntingtons Thesen erfreuten sich enormer öffentlicher Zustimmung; die Rede vom Kampf der Kulturen war über Jahre omnipräsent. Doch seine Verknüpfung von Kultur und Politik wurde auch heftig kritisiert. Stimmt es denn, so konnte man zurückfragen, dass die Grenzen zwischen den Kulturkreisen besonders blutig waren? Oder waren nicht umgekehrt innerhalb der islamischen Welt enorme Spannungen (beispielsweise zwischen Schiiten und Sunniten) zu beobachten? Dass lebendige, streitlustige Demokratien auch in Südkorea oder Taiwan möglich sind, war ebenfalls schwer zu leugnen. Vielen erschien Huntingtons Einteilung in große Kulturkreise schlicht unterkomplex.
Die demokratietheoretisch zentrale Frage in dieser Auseinandersetzung lautet, ob die Idee der Demokratie etwas ist, was erfunden wurde oder gefunden wurde. Hängen diese Ideale und Vorstellungen von spezifischen kulturellen Kontexten ab – oder kann und könnte man sie ähnlich wie den Satz des Pythagoras auch woanders, in anderen Sprachen, in anderer Formelsprache auf analoge Weise entdecken? Mit anderen Worten: Ist die Idee der Demokratie „westlich“ oder universell?
Orientalismus und Okzidentalismus
Man kann diese Fragen heute nicht mehr stellen, ohne auf jene Perspektive einzugehen, die in der Regel als „postkoloniale Theorie“ oder als Theorie des Orientalismus bezeichnet wird. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in einem Buch, dass der (ursprünglich aus Palästina stammende, aber lange in New York lehrende) Literaturwissenschaftler Edward Said (1935–2003) verfasste. In seinem epochalen Werk Orientalism (1979) versucht er zu zeigen, dass es sich bei der Unterscheidung von Abendland und Morgenland, vom Westen und vom Orient um eine von europäischen Sprachforschern, Archäologen und Ethnologen hervorgebrachte Projektion (= unbewusste Zuschreibung eigener Vorstellungen und Gefühle auf Andere) handelt. In ihrer Beschäftigung mit den Sprachen und Literaturen des Orients, in ihren Reiseberichten und Studien trugen sie zu einem Bild des Orients bei, dass diese Weltregion und ihre Menschen wahlweise als besonders diesseitig, lasziv, erotisch und hedonistisch beschreibt, oder aber als verrohte Massengesellschaft, die in Körperstrafen einen kollektiven Sadismus auslebt. Demokratie – so die in diesem Sinne „orientalistischen“ Autoren und Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts – sei schon aus kulturellen Gründen im Nahen Osten nicht zu erwarten, sondern nur Despotie.
Said selbst bezog seine Theorie auch auf die konkrete Erfahrung der Darstellung von arabischen Menschen im amerikanischen Fernsehen während der vielen Kriege im Nahen Osten. Bilder von johlenden arabischen Massen wurden, so sein Vorwurf, inszeniert oder ausgewählt, um ein Stereotyp zu bedienen, das Stereotyp vom gewaltaffinen, demokratieunfähigen jungen arabischen Mann, der in der Regel in der Gruppe auftritt. Damit würde zugleich das Narrativ bedient, wonach „westliche“ Gesellschaften eine besondere Befähigung oder Neigung zur Toleranz und Demokratie hätten, womit zu allem Übel auch – wie im Zweiten Golfkrieg geschehen – ein von George W. Bush angekündigter „Kreuzzug“ legitimiert wurde.
Edward Saids Buch löste bereits direkt nach Erscheinen eine heftige Debatte aus, die in Teilen bis heute anhält. Aus Sicht seiner Anhänger hatte er treffend beschrieben, dass das Selbstbild des Westens auf der Projektion negativer Eigenschaften, auf ein vorgestelltes „Außen“ aufruhte. Vor allem nach dem Zivilisationsbruchs des Völkermords an den europäischen Juden, der Schoa, musste das Bild vom zivilisierten Westen und unzivilisierten Außen geradezu grotesk wirken. Die westliche Welt musste aus dieser Perspektive viel intoleranter, gewalttätiger und erbarmungsloser erscheinen, hatte sie doch einen weltumspannenden Kolonialismus und zwei Weltkriege hervorgebracht.
Die Kritiker warfen Said vor, die positive Seite des europäischen Exotismus zu verkennen. Das Fernweh, die Begeisterung für „das Andere“ habe eben auch dazu beigetragen, dass Europa immer sehr lernwillig alles Verwendbare absorbiert habe: die lateinische Schrift, die arabischen Ziffern, das chinesische Papier etc.
Demokratisierung – warum in Europa?
Im Hintergrund steht hier die Frage, warum sich Demokratie und Menschenrechte ausgerechnet in Europa und Nordamerika entwickelt haben. Gibt es so etwas wie einen Sonderweg des „abendländischen Rationalismus“ (Max Weber, deutscher Soziologe)? Interessanterweise bejahen diese Frage nicht nur diejenigen, die sich brüsten, Vertreter einer ganz besonders fortschrittlichen Kultur zu sein und dabei nicht selten auf den „Rest“ – „The West and the Rest!“ – herabblicken. Auch bei den Kritikerinnen und Feinden der Demokratie findet man die These, westlicher Individualismus und westliche Demokratie stellten einen Sonderweg dar. Gerade darin aber, so ist zu hören, bestünde das Problem. Denn „der Westen“ habe sich von den eigentlichen abendländischen, „christlichen“ Werten wie Gehorsam, Demut, Opferbereitschaft verabschiedet und sei einem Kult um das Individuum erlegen.
Derartige Thesen und Behauptungen findet man sowohl bei reaktionären Kräften in Demokratien als auch bei Autorinnen und Autoren, die der russischen oder chinesischen Führung nahestehen. Wirklich originell sind die Beschreibungen eines von Profitgier zerfressenen und moralisch verkommenen Westens nicht. Die Selbstkritik der Moderne beginnt bereits mit Jean-Jacques Rousseau und der Romantik. Der modernen Entzauberung der Welt wird hier eine Wiederverzauberung entgegengestellt, dem Rationalismus die Poesie, dem ökonomischen Kalkül das eigentliche, einfache Leben auf dem Lande.
Im 19. Jahrhundert werden viele dieser Motive von den russischen „Slawophilen“ (den Freunden der Slawen) verschärft. Als Gegner einer russischen Annäherung an europäische Vorbilder, beschreiben sie den „Westen“ als seelenlos, kühl rational, oberflächlich, lediglich an Geld interessiert. Ihm steht das vermeintlich weise, einfache russische Volk gegenüber, das, so eine weit verbreitete These, die tiefen Einsichten des Christentums ganz intuitiv verinnerlicht habe.
Der niederländische Journalist Ian Buruma und der israelische Philosoph Avishai Margalit haben für das Gemisch dieser Thesen den Begriff des „Okzidentalismus“ vorgeschlagen – in expliziter Analogie zu Saids Begriff des Orientalismus. Parallel (bzw. orthogonal) zum Orientalismus betreibt auch der Okzidentalismus eine Projektion: Er unterstellt einem Gegenüber all jene negativen Eigenschaften, die am eigenen Selbst negativ auffallen, zum Bespiel Korrumpierbarkeit, Werteverfall, Nihilismus. Diese immer gleichen okzidentalistischen Klischees finden sich sowohl in der islamistischen wie auch in der russischen oder chinesischen Propaganda.
Orientalismus und Okzidentalismus existieren also parallel: Sowohl die Überhöhung als auch die Verdammung von Demokratie, Liberalismus und westlichen Individualismus kann illusionären Charakter annehmen. Aber was folgt daraus für die Selbstbeschreibung von Demokratien?
Dass die Demokratie eine im weitesten Sinne europäische Erfindung zu sein scheint, könnte auch am verzerrten Blick in die Vergangenheit liegen, der gewisse kulturelle Eigenschaften in Griechenland in den Fokus rückt, ähnliche Errungenschaften in anderen Weltteilen indes in den Hintergrund schiebt oder schlicht ganz ausblendet. Womöglich lassen sich Strukturen kollektiver, freiheitlicher Selbstorganisation viel öfter finden als es dem eurozentrischen Blick erscheint.
Demokratie außerhalb Europas: Die Irokesen
Dass die Ideengeschichte der Demokratie meist eurozentrisch geschrieben wird, ist schwer zu bestreiten. Eine durch Sprachkenntnisse fundierte, interkulturelle politische Theorie steckt noch in ihren Anfängen; das hängt auch damit zusammen, dass die Einarbeitung in klassische arabische oder chinesische Texte ein ganzes Forscherleben fordert. Doch inzwischen gibt es eine breite Literatur über Formen der Selbstorganisation in außereuropäischen Gesellschaften.
Im Folgenden wird ein Beispiel herangezogen, das in besonderem Maße die demokratietheoretische Debatte angeregt hat: Das Beispiel der Föderation der Irokesen. In ihrer Eigenbezeichnung heißen sie Haudenosaunee („Bewohner des Langhauses“). Auch wenn der Begriff Irokesen auf eine abfällige Bezeichnung benachbarter Nationen zurückgeht, hat sich der Begriff auch in der Forschung gehalten. Sie bildeten bereits vor der Ankunft europäischer Siedler in den Gebieten südlich der großen Seen im Nordosten der heutigen USA eine politische Ordnung, die oft als die Föderation der Irokesen bezeichnet wird. Das genaue Gründungsdatum ist unbekannt, es wird auf ca. 1450 n. Chr. geschätzt. In einem Friedensvertrag hatten sich zunächst fünf, später sechs große Nationen zu einem Bündnis zusammengefunden. Sie schonten sich nicht nur gegenseitig, sondern standen sich auch im Kampf gegen äußere Feinde bei.
Von Interesse ist dabei vor allem der konsensdemokratische Modus der Aushandlung von Konflikten, die in mancherlei Hinsicht an die attische ekklesia oder die Landsgemeinde in Glarus erinnert. Die Quellenlage deutet darauf hin, dass den Angehörigen der Haudenosaunee die Idee, Befehle zu befolgen, die sie nicht nachvollziehen konnten, völlig fremd war. Auch im Kriegsfall wurden Anführer nur für bestimmte Zeit gewählt und mit sehr beschränkten Kompetenzen ausgestattet. Manche Forscherinnen und Forscher sprechen daher auch von einer „regulierten Anarchie“ (Thomas Wagner, Kulturwissenschaftler), der Vergleich zur Kollegialregierung liegt nahe.
Interessant und bemerkenswert ist vor allem, dass die neuere Forschung zeigen konnte, wie stark diese Praktiken als Vorbilder für europäische Siedler wirkten. Lange lebten französisch- und englischsprachige Siedler mit den native americans in engem Austausch. Immer wieder kam es auch dazu, dass Menschen „die Seiten wechselten“, also von einem Lebensstil in den anderen übertraten. Auch wenn man die exotistische Verklärung des native american als „edlem Wilden“ in Rechnung stellt, die in der europäischen Kultur weit verbreitet war und ist, zeigen die Quellen doch sehr deutlich, dass die Kulturbegegnung auch zu einem Übersprung eines Freiheitsideals geführt hat:
Nicht nur der föderale Charakter der USA wird bisweilen auf das Vorbild des Irokesenbundes zurückgeführt, sondern auch Vorstellungen eines Matriarchats. In den Langhäusern der Irokesen hatten Frauen das Sagen – ein Umstand, an den auch in der amerikanischen Frauenrechtsbewegung erinnert wurde. Weitere Anknüpfungspunkte ergaben sich schließlich durch das Thema der Ökologie. Auch wenn den Irokesen die Idee individueller Schutzrechte und ein Folterverbot fremd waren, so zeigt sich an ihnen doch, dass Prozesse der Kulturbegegnung keine Einbahnstraßen sind. Nicht nur übernahmen native americans aus Europa stammende Technologien wie das Gewehr; auch umgekehrt ließen sich europäische Siedler von ihren politischen Praktiken inspirieren.
Diese Verweise zeigen, dass die Geschichte der Demokratie keineswegs eine bloße Exportgeschichte ist, in der Gedanken oder Verfahren aus Europa in die Welt getragen wurde. Die Wechselwirkungen waren – wie bei jedem Kulturaustausch – vielfältig.
Ist ein demokratischer Rechtsstaat auf die vorpolitischen Haltungen der Bürgerinnen und Bürger angewiesen?
Demokratische oder proto-demokratische Verfahren sind, so wurde es zu zeigen versucht, keine allein „westliche“ Errungenschaft: In ganz verschiedenen Kulturen finden wir Formen des deliberativen Entscheidens, des fairen Aushandelns von Interessen, des Schutzes von Individuen. Es gibt auch keine plausiblen Gründe anzunehmen, dass sich Gesellschaften mit spezifischen kulturellen Prägungen nicht für demokratische Politik eignen. Im Gegenteil: Die Fälle von Tunesien und Taiwan zeigen, dass auch muslimische und konfuzianische Prägungen dem Wunsch danach, in Menschenwürde und politisch selbstbestimmt leben zu wollen, nicht im Wege stehen müssen. In Hongkong, in Belarus und dem Iran können die mutigen Demokratinnen und Demokraten der These vom kulturspezifischen Charakter der Demokratie nichts abgewinnen.
Bedeutet dies aber, dass es gar keiner vorpolitischen Haltungen bedarf, um eine Demokratie lebendig zu halten? Bedeutet es, dass allein die Motivation der individuellen Nutzenmaximierung genügt, um eine Demokratie stabil zu halten? Wieviel demokratische oder zumindest demokratiekompatible Tugendhaftigkeit muss in einer Gesellschaft gegeben sein, damit demokratische Institutionen überleben?
Diese Frage drängt sich vor dem Hintergrund einer, auch empirisch messbaren, Verrohung der politischen Auseinandersetzung in vielen demokratischen Ländern auf. Die Beispiele hierfür sind zahllos; sie reichen von Hasspostings im Internet über die Pöbelei in der analogen Welt der Kommunalpolitik bis zum politischen Mord. Die empirischen Zahlen sind diesbezüglich eindeutig: Immer neue Höchststände der politischen Gewalt sind zu verzeichnen.
Aber zu den Bürgertugenden gehört ja nicht nur, nicht zu tun, was man nicht tun soll (etwa politische Konkurrenten zu bedrohen), sondern auch, zu tun, was man tun soll: sich politisch zu beteiligen, ja besser noch: sich zu engagieren. Auch hier sind die Zahlen in vielen etablierten Demokratien ernüchternd. Zwar gibt es eine lautstarke Artikulation von Interessen durch politische Gruppierungen. An Demonstrationen und Protestaktionen herrscht kein Mangel, durchaus hingegen an engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich auch in den etablierten Institutionen der repräsentativen Demokratie zu engagieren bereit sind, allen voran den politischen Parteien.
Für beides – für die Mäßigung wie für die Motivation zur Beteiligung – bedürfe es bestimmter Werthaltungen, so lautet eine oft geäußerte Vermutung. Die klassische Formulierung dieser These hat der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019) geleistet. Seine Formel ist derartig präsent, dass sie auch als „Böckenförde-Diktum“ oder „Böckenförde-Theorem“ bezeichnet wird: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
In der Regel wird dieser Satz so verstanden, dass ein demokratischer Rechtsstaat bestimmte eingeübte Haltungen und Tugenden bei seinen Bürgerinnen und Bürgern voraussetzen muss, die sich einer vorpolitischen Primärsozialisation verdanken. Von den zahlreichen Aspekten, die diesbezüglich relevant sind, erscheint einer besonders aktuell: Bürgerinnen und Bürger müssen beispielsweise darin geübt sein, auch in höflicher und respektvoller Weise verschiedener Meinung zu sein.
Diese Anforderung mutet zunächst trivial an. Sie stellt so etwas wie die Grundvoraussetzung zur Deliberationsfähigkeit dar. Aber historisch ist diese Fähigkeit keineswegs selbstverständlich. Im von Religionskriegen gezeichneten Europa der frühen Neuzeit konnten Meinungsabweichungen über theologische Fragen den Tod bedeuten. Einem Feudalherren zu widersprechen war extrem riskant. Selbst in den patriarchalen Strukturen von Großfamilien war freundschaftlicher Dissens nicht die Norm: Die Autorität des pater familias durfte nicht in Frage gestellt werden.
Jürgen Habermas hat in seiner Studie über „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) zu zeigen versucht, dass das Feld der ästhetischen Kritik (also der Literatur- oder Musikkritik) in der Frühphase der bürgerlichen Öffentlichkeit eine Art Experimentierfeld für das entschiedene und zugleich gepflegte Streiten darstellte: Im Schutzraum einer nicht existenziell relevanten Kunstkritik konnte das kritische Vermögen an sich eingeübt und erprobt werden. Diese „Deliberation“ ließ sich zunächst fern von der Politik als kollektive Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen etablieren. Implizite Regeln wie der faire Umgang mit den Kritisierten bei gleichzeitiger Schärfe in der Sache konnten hier eingeübt werden.
Nun ist aber entscheidend, dass Verhaltensweisen wie „Respekt“ oder „Höflichkeit“ Tugendpflichten sind, keine Rechtspflichten. Ein demokratischer Rechtsstaat kann immer nur rechtswidriges Verhalten sanktionieren (also beispielsweise Beleidigung bestrafen), aber kann kein tugendhaftes Verhalten verlangen. Genau darauf verweist auch Böckenförde in seiner Formel: Der demokratische Rechtsstaat kann vorpolitische Haltungen nicht anerziehen – und er sollte es auch auf keinen Fall versuchen, denn sonst würde er in einem demokratiegefährdenden Sinne antiliberal, so seine These.
Böckenförde scheint damit eine seltsame Zwischenstellung einzunehmen: Anders als hartgesottene Liberale glaubt er nicht, dass rein nutzenmaximierende Menschen („ein Volk von Teufeln“, in der Formulierung Kants) einen demokratischen Rechtsstaat lebendig halten könnten. Anders als manche republikanische Demokratietheorien weist er aber auch alle Versuche zurück, Menschen durch den Staat zu guten Bürgerinnen und Bürgern erziehen zu wollen. Die Primärsozialisation, so lautet sein Argument, müssen Familien, Kirchen und Vereine leisten.
Eine ähnliche Argumentation finden wir auch bei dem amerikanischen Soziologen und Politikwissenschaftler Robert Putnam. Er hat den Begriff des Sozialkapitals zur Beschreibung des Niveaus an gegenseitigem Vertrauen in Gesellschaften eingeführt. In welchem Ausmaß sind Menschen bereit, Fremden spontan zu helfen, in welchem Ausmaß gehen sie davon aus, dass sich ihr Gegenüber kooperativ verhalten wird? Diese Haltungen lassen sich abfragen und quantifizieren; man kann dann beobachten, in welchem Maße sich das Sozialkapital in verschiedenen Gesellschaften unterscheidet und wie es sich über den Zeitverlauf verändert.
Putnam selbst diagnostizierte bereits Ende der 1990er-Jahre einen dramatischen Rückgang des Sozialkapitals in den USA. Der Titel seines weltweiten Bestsellers Bowling Alone (2000) verweist auf den Umstand, dass in den USA ein Trend zu beobachten ist, der vom engagierten Sport in organisierten Amateurgruppen hin zur bloßen Beobachtung von Profisport geht: Statt in einer Gruppe mit Nachbarn zum Bowling zu gehen, sitzen die Menschen eher vor dem Fernseher und schauen den Profis in der NBL zu. Die Zunahme der Bildschirmzeit nach Einführung des Smartphones dürfte diesen Trend weiter verschärft haben.
Ähnlich wie bei Böckenförde stellt sich auch bei Putnam die Frage, wie dem Wegfallen von vorstaatlichen Sozialisationserfahrungen entgegengearbeitet werden kann. Auch für Böckenförde war bereits erkennbar, dass Vereine und vor allem Kirchen eine schwindende Bedeutung im Alltag der Menschen haben. Demokratie ermöglicht Individualismus – aber ein übertriebenes Maß an Individualismus gefährdet im schlimmsten Fall die Demokratie.
Zumindest aus der Sicht mancher Beobachterinnen und Beobachter gibt es daher eine inhärente Spannung zwischen einer politischen Ordnung, die ein Maximum an Individualisierung erlaubt, die aber zugleich ein Minimum an Ent-Individualisierung, an Ein-, ja sogar Unterordnung voraussetzt. Versteht man Demokratie nicht nur als Regierungsform, sondern als Lebensform, dann folgt daraus: Demokratien brauchen Demokratinnen und Demokraten. Und ob der Staat diese hervorbringen kann, ist fraglich.
Während man aus liberaler Sicht darauf spekuliert, dass eine sich selbst organisierende Zivilgesellschaft diese Haltungen einüben wird, hofft man in der republikanischen Tradition darauf, dass eine selbstbewusste Republik durchaus in der Lage ist, brauchbare Bürgerinnen und Bürger selbst heranzuziehen. In Frankreich beispielsweise zielt die Ecole républicaine ganz explizit darauf ab, nicht nur Kompetenzen, sondern auch republikanische Tugenden zu vermitteln. Die politische Bildung, die in Deutschland in Schulen und durch andere Träger stattfindet, tritt ebenfalls an, um Böckenförde zu widerlegen: Kann der Staat womöglich doch dabei helfen, jene Haltungen einzuüben, die für die Demokratie überlebenswichtig sind?
QuellentextDemokratie in der Schule: „Im Unterricht hört die Mitbestimmung oft auf“
Demokratie sollte an Schulen nicht nur unterrichtet, sondern auch gelebt werden. Das Deutsche Schulportal der Robert-Bosch-Stiftung interviewte im Oktober 2019 vier Schülerinnen und Schüler aus den Landesverbänden Berlin und Brandenburg zu ihren Erfahrungen mit Demokratie im Schulalltag. Im Dezember 2024 berichten die Interviewten davon, wie es weiterging.
Deutsches Schulportal: Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Demokratie? Ist es Ihnen persönlich gelungen, als Schülerinnen und Schüler Veränderungen in der Schule zu bewirken?
Luisa Regel [18, Landesschülerausschuss Berlin]: Ein gutes Beispiel für echte gelebte Demokratie ist die Projektwoche an meiner Schule. Die findet immer einmal im Jahr statt. In der Vergangenheit haben die Lehrerinnen und Lehrer die Themen bestimmt. Die Schüler fanden das oft total langweilig. In der Schülervertretung haben wir dann beschlossen, dass wir die Projektwoche selber machen. Inzwischen sind die Projekte komplett in Schülerhand. […]
Adrian Petzold [19, Landesschülerrat Brandenburg]: Bei uns an der Schule wird der gesamte Campus neu gestaltet, auch im Zuge der Digitalisierung. Die Schülerinnen und Schüler können in der gesamten Planungsphase ihre Vorstellungen mit einbringen. Zum Beispiel bei der Gestaltung des Schulhofs. Uns war es wichtig, auch Ruhezonen zu schaffen, die frei sind von digitalen Medien. Dafür bekommen wir sogar zusätzlich Geld von der Kommune.
Felix Stephanowitz (15), Landesschülerausschuss Berlin: Bei uns organisiert die Schülervertretung viele Feste oder Sportwettkämpfe, um das Ganztagsschulleben aufzulockern. Das ist an den meisten Schulen möglich. Allerdings stößt man als Schülervertretung schnell an Grenzen, wenn man tatsächlich am Unterricht etwas ändern will. Da wollen die meisten Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler nicht mitreden lassen. Viele wissen noch nicht mal, dass das eigentlich gesetzlich vorgeschrieben ist. […]
Was würden Sie Schulen empfehlen, um die gelebte Demokratie zu verbessern?
Felix Stephanowitz: Wichtig ist es, die Lehrkräfte aufzuklären, welche Rechte die Schülerinnen und Schüler haben, was die Partizipation für die Schule bewirken kann. Lehrkräfte und Schulleitungen können davon ja auch profitieren. Viele Lehrkräfte wissen es einfach nicht. An meiner Schule habe ich den Lehrkräften zum Beispiel eine Fortbildung dazu angeboten. Die Schule war sehr aufgeschlossen und hat mein Angebot gern angenommen. Aber nicht an jeder Schule gibt es Schülerinnen und Schüler, die so etwas anbieten könnten. Viele sind ja selbst nicht genug informiert über unsere Rechte.
Katharina Swinka [17, Landesschülerrat Brandenburg]: Beim Landesinstitut für Schule und Medien für Berlin und Brandenburg gibt es auch Seminare für Schülerinnen und Schüler zu diesem Thema. Das hat mir geholfen und mich bestärkt. Auch Eltern können dort Seminare zur Beteiligung an Schule belegen. Unterstützung können sich Schülerinnen und Schüler zum Beispiel auch bei der Friedrich-Ebert-Stiftung holen. […]
Adrian Petzold: Die Partizipation der Schülerinnen und Schüler müsste schon in der Lehrerbildung eine größere Rolle spielen – und zwar verpflichtend. Schließlich ist das ja einer der besten Wege, politische Bildung in die Praxis umzusetzen. Wenn Schüler erlebt haben, dass sie selbst mitbestimmen und etwas verändern können, werden sie sich immer daran erinnern.
Informationen zur politischen Bildung: Wie blicken Sie heute auf Ihren Einsatz für Demokratie an der Schule zurück?
Katharina Swinka (2016–2022): Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die öffentliche Wahrnehmung ein immenser Faktor hierbei ist. Während der Corona-Pandemie standen Schüler*innen im Fokus. Wir wurden gehört und gesehen. Leider ließ dies sehr schnell nach und Schülervertreter*innen wurde nicht die Aufmerksamkeit und Anerkennung gezollt, die nötig wäre. Schüler*innen haben heute immer noch zu kämpfen ihre Interessen durchzusetzen, obgleich in der Schule oder höheren Ebenen und trotz vorhandener Strukturen, werden sie nicht entsprechend beachtet. Demokratie in Schulen lebt von Partizipation. Dafür braucht es viele Supporter*innen!
Adrian Petzold (2014–2020): Mein Einsatz war geprägt von mühsam erkämpften Entscheidungen, deren Umsetzung oft Jahre dauerte. Digitalisierung war 2014 bereits wichtig, doch erst jetzt gibt es Fortschritte in WLAN und geschultem Personal. Schulen brauchen mehr gleichberechtigte, integrierte Mitbestimmung. Auch heute als Lehrer setze ich mich für demokratische Prozesse ein und hoffe auf nachhaltige Veränderungen.
Felix Stephanowitz (2018–2023): Ich habe in meiner Arbeit in der Schüler*innenvertretung gelernt, dass jede*r Beteiligte an Schule einen immensen Beitrag für ein demokratisches Schulklima liefern kann. Man kann Heranwachsenden Demokratie nur näherbringen, wenn sie in einem demokratischen Umfeld aufwachsen. Die Struktur von Schule lädt allerdings nicht dazu ein, sie mitzugestalten. Die Schulleitung und das Kollegium haben einen zu großen Einfluss darauf, ob Schüler*innen beteiligt werden oder nicht. Echte demokratische Strukturen bauen nicht auf Wohlwollen auf, sondern auf gegenseitige Verpflichtung.
Luisa Regel (2017–2021): Während meiner Zeit in der Schulpolitik hatte ich das Gefühl, wirklich etwas verändern zu können. Rückblickend war das leider nicht immer der Fall. Sowohl auf Bezirks-, als auch auf Landesebene, hatten wir innovative und spannende Projekte, die abgeblockt wurden, weil wir leider nicht ernst genommen wurden. Durch Corona sind Schüler*innen deutlich mehr in den Fokus gerutscht und endlich auf großer Bühne angehört worden. Dies war jedoch schnell wieder vorbei. (Schul-) Politik muss dringend zugänglicher gemacht werden. Kinder und Jugendliche müssen wissen, dass sie etwas verändern können und die Politik muss lernen zuzuhören.
Deutsches Schulportal: „Im Unterricht hört die Mitbestimmung oft auf“, 29. Oktober 2019 (aktualisiert am 11. Juli 2023). Online: Externer Link: https://deutsches-schulportal.de/schulkultur/demokratie-im-unterricht-hoert-die-mitbestimmung-oft-auf/; schriftliches Statement an die IzpB-Redaktion, 11. Dezember 2024.
Demokratische Öffentlichkeit
Der Ort, an dem der Bedeutungsverlust von Bürgertugenden besonders deutlich zu erkennen ist, ist die politische Öffentlichkeit. Der Grad der Verrohung ist oft beschrieben und auch quantifizierend untersucht worden. Am deutlichsten wird er vielleicht, wenn man historische Kontrastfolien anlegt. Als der damalige Bundespräsident Theodor Heuss 1958 zu einem Besuch in Oxford weilte, entstand ein Foto, das für einen Skandal sorgte: In Anwesenheit des Bundespräsidenten hatten es Studenten gewagt, die Hände in den Hosentaschen zu behalten. In der deutschen Presse war von den „Oxford-Flegeln“ die Rede.
Vergleicht man dieses Vergehen gegen die Etikette mit dem Grad an Aggression und Verachtung, denen Politikerinnen und Politiker selbst auf kommunaler Ebene heute ausgesetzt sind, wird die Verschiebung der Vergleichsgrößen deutlich. In den vergangenen Jahren wurden bei Demonstrationen immer wieder Galgen als Protestzeichen mitgeführt, im Januar 2024 blockierten protestierende Landwirte eine Fähre, auf der sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck befand. Im Vorfeld der Landtagswahlen 2024 wurden mehrere Politikerinnen und Politiker beim Straßenwahlkampf angegriffen und verletzt. Ob hierfür große kulturelle Trends verantwortlich sind, beispielsweise der Bedeutungsverlust einer heute spießig empfundenen bürgerlichen Kultur, oder der Übergang in eine postredaktionelle Öffentlichkeit auf Social-Media-Plattformen, ist schwer zu sagen. Bestimmte Entwicklungen kommen hier in einem Prozess der Enthemmung und Verrohung zusammen.
Demokratiepolitisch dramatisch ist diese Entwicklung vor allem aus Sicht eines Demokratiebegriffs, der die öffentliche Aushandlung von Argumenten für den eigentlichen Kern der Demokratie hält. Die Praxis der Deliberation lebt davon, dass eine nicht vermachtete und nicht verrohte Öffentlichkeit diesen freien Austausch der Argumente auch erlaubt.
Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas ist wohl der bedeutendste und wirkmächtigste Demokratietheoretiker dieser Denkschule. Ohne Verweis auf ewig gültige, religiöse Handlungsgebote, kann Verbindlichkeit nur dadurch hergestellt werden, dass der Prozess der Entscheidungsfindung den hohen Ansprüchen der Fairness möglichst umfassend entspricht, so seine These. Nicht die Macht sollte in der Deliberation entscheidend sein, sondern „der zwanglose Zwang des besseren Arguments“, so Habermas‘ berühmte Formulierung.
Dass eine gesunde Presselandschaft, ein unabhängiger Journalismus, eine kontroverse und zugleich zivilisierte öffentliche Debatte zu den Voraussetzungen der Demokratie gehören, wirft die Frage auf, wie diese Bedingungen geschützt werden können. Angegriffen werden sie nicht nur durch die Konzentration von Finanz- und Medienmacht privater Konzerne. Es gibt auch so etwas wie eine Tendenz zum Infotainment, zur gamification der politischen Kommunikation, zur in Talkshows inszenierten Spektakelhaftigkeit der Demokratie. Eine solche Überblendung von Politik und Spektakel hat antike Vorläufer wie beispielsweise den römischen Kaiser Nero, der zum Inbegriff einer Politik wurde, die mit „Brot und Spielen“ das Volk bei Laune hält und Politik als Unterhaltung inszeniert. Im modernen, digitalen und von Plattformöffentlichkeiten geprägten Medienumfeld, beobachten wir ähnliche Tendenzen hin zu einer Politik, die dem Publikum beständige Abwechslung und spektakuläre plot-twists zu bieten versucht.
Auf die technisch bedingten Wirkungen der Plattformöffentlichkeiten werden wir noch im folgenden Kapitel zurückkommen. Festzuhalten gilt es zunächst, dass die Krise der Demokratie auch eine Krise der politischen Öffentlichkeit ist. Sie zeigt sich in einem bisweilen maßlosen, ja verschwörungstheoretischen Misstrauen gegenüber etablierten Medien („Lügenpresse“); sie zeigt sich aber auch im Niedergang des Lokaljournalismus und in der Angleichung der Massenmedien an die Spektakelformate der Unterhaltungsindustrie.
Eine interessante Gegenentwicklung stellt indes die wachsende Bedeutung von Podcasts dar. Sie haben oft kein Zeitlimit, erlauben ein „Geben und Nehmen von Gründen“, wie wir es auch in der ekklesia, bei den Irokesen oder einem sachorientierten Parlamentsausschuss erwarten würden. Dass in diesem Format auch sehr ausführlich äußerst komplexe Inhalte behandelt werden können, mag man als Zeichen dafür nehmen, dass die Idee der demokratischen Debatte in neuen Formen weiterlebt.
Demokratie und ökonomische Gleichheit
Als eine weitere Vorbedingung der Demokratie wird oft ein Mindestmaß an ökonomischer Gleichheit genannt. Für Aristoteles war selbstverständlich, dass extreme Vermögensunterschiede für ein politisches Gemeinwesen schädlich sind. Die formale Rechtsgleichheit aufrecht zu erhalten, scheint schwierig oder nicht ausreichend, wenn die Schere zwischen Arm und Reich dazu führt, dass Menschen in getrennten Welten leben. Auch eine maßvolle Verteilung von Vermögen könnte man also unter jenen „Voraussetzungen“ aufführen, die Böckenförde erwähnte. Ob er allerdings tatsächlich nicht in der Lage ist, diese herzustellen, ist umstritten.
Eine Studie der Boston Consulting Group kam 2024 zu dem Ergebnis, dass in Deutschland 3.300 Superreiche rund 23 Prozent des gesamten Vermögens besaßen. Als „superreich“ gelten Personen mit einem Vermögen über 100 Millionen Euro. Ob diese Ungleichverteilung gerecht ist, ist eine Frage der Ethik. Ob sie demokratiegefährdend ist, ist eine Frage der Politikwissenschaft.
Extreme Vermögensungleichheit ist ein globales Phänomen. Noch extremer als in Deutschland fällt die Ungleichheit in den USA aus. In Deutschland schätzt man, dass es rund 230 Milliardärinnen und Milliardäre gibt. In den USA sind es über 800. Allein das Vermögen des französischen Luxusmarken-Besitzers Bernard Arnault wird auf 230 Milliarden US-Dollar geschätzt. Der Tech-Unternehmer Elon Musk hat seine finanzielle und mediale Macht im Herbst 2024 direkt in den Wahlkampf für Donald Trump eingesetzt. Von „gleicher Beteiligung“ kann natürlich keine Rede mehr sein, wenn Milliardäre Sendezeit und Einfluss kaufen können.
Diese Einflussnahme muss nicht immer so offensichtlich und unverhohlen erfolgen wie im Falle von Elon Musk. Extreme Vermögensungleichheit schadet Demokratien auch, weil sie subtile Machtungleichheiten schafft.
Dass eine solche extreme Kapitalakkumulation enorme politische Ungleichheiten zur Folge hat, ist schwer zu übersehen. Finanzielle Macht lässt sich in Medienmacht konvertieren. In den USA kann die Einflussnahme außerdem unmittelbar über gigantische Wahlkampfspenden erfolgen.
In den USA lässt sich auch beobachten, welche zerstörerische Wirkung extreme Ungleichheit auf das soziale Zusammenleben ausübt. Während die einen erben und „passives Einkommen“ genießen, können die anderen, die working poor, von ihrer Arbeit nicht leben.
QuellentextArmut schadet der Demokratie
Seit 2010 sind die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland und die Armut deutlich gestiegen. Das hat für viele Menschen drastische Folgen in ihrem Alltag: Schon 2021, also vor dem Beginn der Inflationswelle, hatten mehr als 40 Prozent der Armen und über 20 Prozent der Menschen in der Gruppe mit prekären Einkommen etwas oberhalb der Armutsgrenze keinerlei Rücklagen, um kurzfristige finanzielle Notlagen zu überbrücken. Rund zehn Prozent der Armen waren zudem finanziell nicht in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen. Knapp 17 Prozent konnten sich Freizeitaktivitäten wie einen Kinobesuch im Monat oder den Besuch einer Sportveranstaltung nicht leisten. Knapp 14 Prozent fehlte das Geld, um wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen einzuladen. Das geht aus dem jüngsten Verteilungsbericht des WSI [Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in Düsseldorf] hervor, den Dorothee Spannagel und Jan Brülle verfasst haben.
Die Analysen der Forschenden zeigen zudem, dass Menschen mit geringen Einkommen öfter mit dem politischen System hadern als andere. Während in der oberen Mittelschicht immerhin 52 Prozent der Menschen die Einschätzung äußern, sie hätten die Möglichkeit, auf die eigenen Anliegen aufmerksam zu machen, sind es bei den Armen nur 44 Prozent. Der Zuschreibung, „die regierenden Parteien betrügen das Volk“ stimmen mehr als ein Drittel der Menschen in Armut und mit prekären Einkommen zu, während das in der oberen Mitte etwas mehr als ein Viertel so sieht. Von den Armen erklären knapp 20 Prozent, bei der nächsten Bundestagswahl nicht wählen gehen zu wollen. Mit steigendem Einkommen sinkt der Anteil – bis auf knapp elf Prozent in der oberen Einkommensmitte. Arme entwickelten eine erhebliche – und bedenkliche – Distanz zur Demokratie, warnen Spannagel und Brülle. Sie nennen Ansatzpunkte zur Bekämpfung von Armut, Marginalisierung und Verunsicherung, die sich in den vergangenen Jahren bis in die Mittelschicht ausgebreitet hat.
Wirksame Grundsicherung: Die Regelsätze der sozialen Grundsicherung müssen nach Analyse der Forschenden so weit angehoben werden, dass sie „ein Mindestmaß an Teilhabe tatsächlich ermöglichen“. Zudem gelte es, die nach wie vor hohe Quote derer zu reduzieren, die einen Anspruch auf eine Grundsicherungsleitung nicht geltend machen, „etwa aus Unwissenheit oder Angst vor Stigmatisierung“.
Qualifizierung und Vereinbarkeit: Parallel könnten Qualifizierungsmaßnahmen für Menschen am Rande des Arbeitsmarktes die Teilhabemöglichkeiten nachhaltig verbessern, so Brülle und Spannagel. Ebenso wichtig sei die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um gerade jenen Menschen, meist Frauen, die sich verstärkt um Kinderbetreuung kümmern, auch eine Vollzeiterwerbstätigkeit zu ermöglichen. „Eine volle, sichere, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist in unserer Gesellschaft einer der Schlüssel für eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe. Menschen mit soliden, nachhaltig abgesicherten Teilhabemöglichkeiten haben auch eine höhere politische Teilhabe“, betonen die Forschenden.
Sicherheit durch Sozialversicherung: Gesellschaftliche Teilhabe für Menschen in der unteren Mitte der Gesellschaft könne besonders durch Sozialversicherungssysteme gestärkt werden, „die eine angemessene Balance zwischen solidarischem Ausgleich und Sicherung des individuellen Lebensstandards finden“, schreiben die Fachleute. Hier gehe es etwa um ein stabiles Rentenniveau in Kombination mit einer auskömmlichen Grundrente.
Bessere Infrastruktur: Zusätzlich halten es die Forschenden für zentral, soziale Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge zu stärken. Dazu zählen sie unter anderem ein gutes Quartiersmanagement, eine bessere Ausstattung des Bildungssystems, eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung und einen gut ausgebauten ÖPNV. Solche Maßnahmen kämen allen zugute. Besonders wichtig seien sie aber für die Teilhabe der unteren Einkommensgruppen. Denn „Menschen mit sehr niedrigen finanziellen Ressourcen können Defizite in der öffentlichen Infrastruktur nicht durch eigene Ressourcen kompensieren und eben nicht auf oftmals teure private Alternativen ausweichen“.
Zur Finanzierung dringend notwendiger Investitionen beitragen würde „neben einer Reform der Schuldenbremse auch eine wirksamere Besteuerung sehr großer Vermögen, die auch der gewachsenen wirtschaftlichen Ungleichheit entgegenwirken kann“, sagt Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI.
Hans Böckler Stiftung (Hg.), „Was gegen Armut hilft“, in: Böckler Impuls (18/2024). Online: Externer Link: https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-was-gegen-armut-hilft-64961.htm