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Die Vielfalt demokratischer Selbstregierung | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 361/2024

Die Vielfalt demokratischer Selbstregierung

Felix Heidenreich

/ 33 Minuten zu lesen

Bei der Gestaltung ihrer Selbstregierung setzen demokratische Gesellschaften Schwerpunkte, zum Beispiel, ob ihr politisches System eher über Streit oder Kompromisse funktioniert.

Als Symbol unserer heutigen Vorstellung von Demokratie kann die attische ekklesia angesehen werden. In der Vollversammlung regierten sich die Bürger Athens selbst. Die Anordnung der Sitze ähnelt sehr der Sitzordnung im Deutschen Bundestag. Im Bild zu sehen ist ein Ekklesiasterion im heutigen Agrigent, Sizilien. Es wurde bereits im 6. Jahrhundert n. Chr. erbaut, damit sich die Bürger zu Vollversammlungen treffen konnten. (© picture-alliance/akg, Rainer Hackenberg)

Wie also kann man mit der Spannung umgehen, die alle Demokratien durchzieht, dass nämlich kollektiv entschieden werden kann – aber zugleich eben nicht über alles? Wie umgehen mit der Ambivalenz zwischen den beiden Wünschen, möglichst stark mitzuregieren aber zugleich möglichst wenig regiert zu werden?

Die Spannung lässt sich auf ganz verschiedene Weisen bearbeiten. Jede institutionelle „Lösung“ hat ihre spezifischen Vorteile, schafft dabei aber auch spezifische Schwierigkeiten und neue Probleme. Es gibt hier keine „richtige“ Antwort, sondern nur verschiedene Methoden, um unüberwindbare Spannungen und Zielkonflikte in produktive Bahnen zu lenken. Meist bewegt man sich dabei auf einem Spektrum – zwischen direkter und repräsentativer Demokratie, zwischen liberalen und republikanischen Demokratievorstellungen, zwischen Konsens- und Konkurrenzdemokratie, zwischen Zentralismus und Föderalismus.

Mit dieser Vielfalt der Ausgestaltung demokratischer Praxis beschäftigt sich die vergleichende Regierungslehre. Aber die Vielfalt bezieht sich nicht nur auf Institutionen und Verfahren, sondern auch auf Erwartungen, Denkbilder, Ideen. Gerade das Wechselverhältnis der beiden Ebenen ist aus demokratietheoretischer Sicht interessant. Wie drücken sich gewisse demokratietheoretische Überzeugungen und Präferenzen in der Gestaltung von Institutionen aus? Inwiefern fördern bestimmte institutionelle Arrangements wiederum spezifische Vorstellungen von Demokratie? Diesen Fragen wollen wir im Folgenden nachgehen, indem wir jeweils ein Spektrum möglicher Antwortversuche nachzeichnen.

Direkte Demokratie oder…?

Auch wenn man bezweifeln kann, dass die Demokratie ausschließlich in Griechenland entdeckt wurde (auf die Irokesen werden wir noch zu sprechen kommen, so wird man doch einräumen müssen, dass sie in Athen ihre erste prägende Ausformung erfahren hat. Die attische Demokratie ist selbst ein „Erinnerungsort“ (Pierre Nora, französischer Historiker) geworden, eine Art Mythos, der aufgerufen wird, wenn es darum geht, die historisch tiefe Weisheit demokratischer Grundprinzipien für ein Argument zu beanspruchen.

Bei genauerer Betrachtung stimmt die attische Demokratie mit unseren Demokratievorstellungen nur in bestimmter Hinsicht überein. In manchen Aspekten widerspricht sie unseren Demokratievorstellungen auch direkt. Das betrifft zunächst den exklusiven Charakter der Bürgerschaft: „Vollbürger“ waren die wenigsten, nicht die Frauen, nicht die Metöken (= „Ansiedler“; dauerhaft in Griechenland (hier: Athen) lebende Person ohne lokales Bürgerrecht) und natürlich nicht die Sklaven. Die Idee von Menschenrechten war der Antike völlig fremd; Sklavenhandel war eine beinahe vollständig unhinterfragte Praxis im gesamten Mittelmeerraum und weit darüber hinaus. Dass Menschen wie Vieh auf Märkten begutachtet und meistbietend verkauft wurden, störte kaum jemanden, ebenso wenig wie die brutale Bestrafung von Sklavinnen und Sklaven im privaten sowie öffentlichen Raum.

Eine zweite wichtige Differenz betrifft die Größe und Homogenität der politischen Gemeinschaft. Die Antike kennt multikulturelle Reiche wie Persien oder Rom. In der Neuzeit (ab ca. 1500 n. Chr.) entstehen allmählich kulturell heterogene Flächenstaaten. Im Falle Athens haben wir es jedoch mit einer zwar sozial ausdifferenzierten, jedoch kulturell homogenen Polis-Gemeinschaft zu tun. Die Bürger der griechischen Polis-Gemeinschaften verfügten über ein geteiltes kulturelles Wissen. In den Dialogen Platons wird beispielsweise aus den Epen des Homer zitiert – und von jedem Gesprächspartner selbstverständlich erwartet, dass man ein Zitat auswendig zu ergänzen vermag.

Die Kommunikation spielte sich zudem in der Regel unter Anwesenden ab; im Zentrum stand das gesprochene Wort. Athen war eben noch keine Mediendemokratie, sondern auch im medientechnischen Sinne eine „direkte“ Demokratie. Die zur Zeit Platons sprunghaft anwachsende Verwendung der Schrift wurde (wie man bei Platon nachlesen kann) durchaus mit Skepsis betrachtet. Ein Buch könne, so Platons Kritik, nicht antworten, wenn man es um Präzisierung der getroffenen Aussagen bitte. Das gesprochene Wort, der direkte Austausch von Argumenten, das Geben und Nehmen von Gründen, sei der einzige Weg zur Erkenntnis. Auch in dieser Hinsicht scheint die attische Demokratie in Zeiten der medialen Vermittlung von Politik fremd. Vor der allzu direkten Übertragung antiker Vorbilder auf die Gegenwart sollte folglich gewarnt werden. Und doch wird das Ideal der direkten Demokratie immer wieder aufgerufen.

Orte der Rede: Die ekklesia

Die Reformen des Kleisthenes (570–506 v. Chr.) im Jahr 508/507 v. Chr. hatten so etwas wie ein Regelwerk zum Ergebnis. Die demoi – man könnte vielleicht von Regierungsbezirken sprechen – bildeten einzelne, sozial durchmischte Einheiten. Sie schickten Delegierte in den „Rat der Fünfhundert“, die boulé.

Das eigentliche Machtzentrum der attischen Demokratie war jedoch die Volksversammlung, die ekklesia. Man geht davon aus, dass zu Zeiten des Perikles rund 35.000 Vollbürger für dieses Gremium qualifiziert waren. Beschlussfähig war das Gremium aber bereits mit 6.000 Männern. Es ist vor allem diese Volksversammlung, in der sich jeder mit dem Wort an die politische Gemeinschaft wenden konnte, die wir als Sinnbild der direkten Demokratie vor Augen haben.

Sie symbolisiert das klassische Element der attischen Demokratie, die in unser kollektives Gedächtnis eingegangen ist: In der ekklesia waren keine Delegierten versammelt; die freien Bürger Athens regierten sich unmittelbar selbst. Lediglich für spezifische Aufgaben wurde für einen begrenzten Zeitraum so etwas wie eine Exekutive bestimmt. Die wichtigste Rolle dieser Art war die Funktion des Strategen, also des Oberkommandierenden der Streitkräfte. Da sich Athen fast ununterbrochen im Krieg befand, war diese Funktion von existenzieller Bedeutung.

Andere Funktionen wie beispielsweise Ratsvorsitzende oder Richterämter wurden per Losverfahren vergeben – in manchen Fällen mit extrem kurzen Amtszeiten von nur einem Tag. Heute spricht man daher auch von einer Losdemokratie manchmal auch von einer „Lottokratie“ (Alexander Guerrero, amerikanischer Philosoph). Der Zufall sollte Oligarchiebildungen und Machtkartelle systematisch verhindern. Durch die ständige Rotation erfolgte eine Art zeitliche Gewaltenteilung. Man musste immer damit rechnen, bereits in naher Zukunft auf der anderen Seite des Rollenschemas zu stehen, vom Ankläger oder Richter zum Angeklagten zu werden.

Diese Grundgedanken sind bis heute für die Demokratietheorie wertvoll. Die Trennung von Amt und Person, die Möglichkeit der Rotation, die Institutionalisierung von Rollenübernahmen. Der Begriff der Rolle stammt bekanntlich aus dem Theater. Ähnlich wie im Theater – welches wohl nicht zufällig gleichzeitig mit der Demokratie eine erste Blüte erlebte – lebt auch die Demokratie davon, sich eine Situation auch aus der Sicht der anderen vorstellen zu können.

Damit Rollenwechsel möglich bleiben, kann in Demokratien Macht nur auf Zeit vergeben werden. In diesem Sinne ist die Praxis, Richterinnen und Richter im US-amerikanischen Supreme Court auf Lebenszeit zu benennen, demokratietheoretisch fragwürdig. Diese Praxis soll maximale Unabhängigkeit gewährleisten. Vorbildlich erscheint daher die Beschränkung der Amtszeiten für das Amt des Präsidenten der USA. Deutschland kennt eine solche Beschränkung für das Amt des Bundeskanzlers nicht.

Die Demokratie lebt davon, dass Rollen grundsätzlich getauscht werden können, dass aus normalen Bürgerinnen und Bürgern Abgeordnete werden können – und umgekehrt. Dazu gehört auch, dass Politikerinnen und Politiker auch ein „bürgerliches“ Leben haben, in das sie zurückkehren können. Die Idee eines Berufspolitikertums ist der attischen Demokratie eigentlich fremd, auch wenn Persönlichkeiten wie Perikles diesem Typus sehr nahekommen. Das Losverfahren war für solche Rollenwechsel das präferierte Mittel.

Dass bereits die attische Demokratie damit auf technische Apparaturen wie die berühmten Losmaschinen, das sogenannte Kleroterion, angewiesen war, wird uns bei der näheren Betrachtung des Verhältnisses der Demokratie zur Technik noch beschäftigen. Zunächst lohnt es aber, die Wirkung des Losverfahrens genauer zu betrachten. Eine naive Vorstellung der direkten Demokratie in Athen könnte nämlich dem Irrtum erliegen, die Nachfrage nach Beteiligung sei groß gewesen, direkte Beteiligung ein umstrittenes Gut, um das hart konkurriert wurde.

Dem ist bei genauerer Betrachtung nicht immer so. Politische Partizipation hat in Athen nicht nur die Form des Mitredens und Mitentscheidens, sondern vor allem des Mitarbeitens. Und die Nachfrage nach Arbeit war keineswegs groß. Wenn beispielsweise Aristoteles in seiner „Nikomachischen Ethik“ schreibt, das Engagement für das Gemeinwesen sei eine notwendige Tugend für das gelingende (bzw. „gute“) Leben, so dürfen wir daraus schließen, dass in Athen das Problem des Eigenbrötlertums durchaus bekannt war. Der idiotês ist „eigen“, kümmert sich nur um die privaten Angelegenheiten, vernachlässigt seine Pflichten. Mehr oder weniger sanft mussten die Bürger durchaus dazu angehalten werden, ihren demokratischen Pflichten nachzukommen. Der Dichter Aristophanes (446 v. Chr. – 386 v. Chr.) erwähnt in der Komödie „Die Archaner“, man habe die Müßiggänger mit einem rotgefärbten Seil zur Teilnahme in die Volksversammlung getrieben. Es wird angenommen, dass diejenigen, die mit roter Farbe an ihrer Kleidung erwischt wurden, Strafzahlungen leisten mussten.

Eine extreme Form der „Mitarbeit“ war natürlich der Wehrdienst. Weltweit bekannt für ihren militärischen Drill sind die Spartaner. Aber auch Athen war eine durch und durch militärisch geprägte Gesellschaft. Die Ausbildung der Jugend bestand neben dem Vertrautwerden mit der Literatur und den anderen musischen Künsten vor allem in einer beständigen Übung militärischer Fähigkeiten. Angesichts eines sich unablässig abspielenden Existenzkampfes, in dem Athen mal von umliegenden griechischen Konkurrenten (wie beispielsweise Sparta), mal vom persischen Großreich bedroht wurde, stellte die Inklusion in die politische Gemeinschaft eine schicksalhafte Verbindung dar.

Demokratie und Sprache

Die Geschichte der demokratischen Institutionen und Regeln ist von zahlreichen Brüchen und Reformen geprägt. Interessanter als diese Institutionen ist die soziale Praxis, die sich in diesen Strukturen ausbildete. Im sprachlichen Ausverhandeln des gemeinsamen Willens besteht vielleicht die eigentliche Innovation der attischen Demokratie. Die „freie Rede“ muss man sich dabei doch eher formalisiert vorstellen. Zusammen mit der Demokratie entsteht nämlich auch die Rhetorik, die Rede als Kunstpraxis. Diese arbeitet mit feststehenden rhetorischen Figuren, die tief in die europäische Kultur eingeprägt sind und auch in der klassischen Musik ihre Wirkung entfalteten, vor allem in der Zeit des Barock.

Auch wenn wir nicht alle diese rhetorischen Figuren sofort benennen können, kennen wir sie doch sehr gut. Redefiguren wie die Metapher, die Hyperbel oder Ironie gehören zu unserem Alltag. Angela Merkels berühmt gewordener Appell zur Coronapandemie,, „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ ist beispielsweise eine Epipher, eine bedeutsamkeitssteigernde Wiederholung des Wortes am Satzende. Man muss die Epipher nicht kennen, aber man sollte sie kennen.

Die entsprechenden Lehrbücher der Antike fassten zusammen, was sich als Praxis der Überzeugungskunst ausgebildet hatte. Das Lehrbuch des römischen Rhetoriklehrers Quintilian (um 35 n. Chr. – um 96 n. Chr.), die Institutio oratoria, entfaltete im Mittelalter und der frühen Neuzeit eine große Wirkung.

Platon war diese Redekunst hochgradig suspekt. Für ihn stellten die für Geld ihre „Weisheiten“ anpreisenden Rhetoriklehrer das Gegenteil der wahren Philosophie dar. Überzeugen zu wollen und dafür sprachliche Mittel einzusetzen, sei an sich schon das Eingeständnis, dass die Sache selbst eben nicht überzeuge. Wer seine Argumente derartig kunstvoll einpacken müsse, könne ja nur schwache Argumente haben. In seinem berühmten Dialog Gorgias verglich er die Sophisten und Rhetoriker mit Zuckerbäckern, die süße, aber schädliche Speise anbieten. Die Philosophen hingegen verabreichen, so Platon, womöglich bittere, aber langfristig gesunde Geistesnahrung.

Diese antirhetorische Haltung fügt sich perfekt zu Platons Ideal einer Herrschaft der Philosophenkönige: Würden Philosophen herrschen, dann wäre keine Rhetorik mehr nötig. Die Antwort auf die Frage wie wir leben wollen, würde sich dann durch Verweis auf überzeitliche Wahrheiten quasi von selbst ergeben. Platons Vorstellung einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft mit fest definierten Ständen und einer intellektuell allen anderen überlegenen Herrscherkaste gilt zurecht als Urmodell einer undemokratischen Expertokratie. Seine Politeia, in der auch das berühmte Höhlengleichnis erzählt wird, gehört zu jenen grundlegenden Texten der europäischen Tradition, in denen die Demokratie heftig kritisiert wird.

Man kann aber aus guten Gründen bezweifeln, dass es sich dabei um eine typisch griechisch-antike Sicht auf Politik handelt. Eher am Puls der Zeit dürfte die Sicht seines Schülers Aristoteles auf die Rhetorik gewesen sein. Aristoteles verdanken wir nicht nur das erste Buch einer vergleichenden Regierungslehre (in dem die eingangs erwähnte Unterteilung in Monarchie-Tyrannis; Aristokratie-Oligarchie; Politie-Demokratie entfaltet wird. Bei ihm finden wir auch einen realistischeren Blick auf das Phänomen der Rhetorik. Sein Buch dazu stellt eine Reflexion über die verborgene Rationalität der Rhetorik dar.

Im Gegensatz zu Platon beschreibt er die Rhetorik nämlich nicht als bloße Kunst des Täuschens und Sich-Verstellens. Auch rhetorisch versierte Sprachverwendung erschließt uns die Welt, macht sie lesbar, enthält Wahrheiten. Um es mit einer Epipher zu sagen: Die Rhetorik simuliert nicht nur Gründe, sondern entfaltet Gründe. Entscheidend ist aus Sicht des Aristoteles jedoch, dass neben den Sprechern auch die Zuhörer um die Kniffe der Rhetorik wissen: Das gemeinsame Beraten ist vor Manipulationstechniken sicher, wenn alle Beteiligten wissen, was Rhetorik ist und wie sie funktioniert, wenn zwischen Sprechern und Zuhörern sozusagen Waffengleichheit herrscht.

Neben der institutionellen Ausbildung der attischen Demokratie ist es heute wohl vor allem diese deliberative Praxis, diese Idee einer Demokratie als Lebensform, die für uns heute von Interesse ist: In einer Demokratie leben bedeutet dann, eine Stimme zu haben, gehört zu werden, das Wort ergreifen zu können – und zwar nicht nur formalrechtlich, sondern auch ganz praktisch: weil man weiß, wie man das macht. Und dazu muss man es üben. Demokratisch leben will gelernt sein.

Die Landsgemeinde

Man muss gar nicht mit der Zeitmaschine ins antike Athen zurückreisen, um sich den freien Austausch der Argumente und die direkte Demokratie anzusehen. Es reicht, bei einer der sogenannten Landsgemeinden in der Schweiz zuzusehen. So heißen in manchen Schweizer Kantonen, zum Beispiel in Glarus, die Vollversammlungen, sozusagen das Äquivalent zur attischen ekklesia.

In Glarus versammeln sich rund 8.000 der 26.000 Vollbürger (inzwischen Männer und Frauen), um über den Haushalt, die Besetzung von Ämtern und einzelne Infrastrukturprojekte zu beraten und abzustimmen. Obwohl der Platz gefüllt ist und die Tagesordnung lang, muss man feststellen – und dies zeigt auch die empirische Erforschung dieser Praktiken –, dass eine solche Landsgemeinde erstaunlich strukturiert und geordnet abläuft. In einem Gremium, in dem im Prinzip jeder und jede Rederecht hat, könnte man abstruse Meinungsäußerungen und die Monopolisierung der Sprecherrolle befürchten. Doch die soziale Kontrolle funktioniert recht gut: Die Menschen mäßigen sich bewusst, wenn Sie auf der Tribüne das Mikrophon gereicht bekommen. Die Abstimmungsergebnisse werden nur durch Schätzung festgestellt.

Der Moment, in dem das Mikrophon von einer Hand in die andere wandert, ist dabei so etwas wie die sichtbare Seite des Gebens und Nehmens von Gründen.

Das Ideal einer deliberativen Demokratie wird in Deutschland vermehrt in sogenannten Bürgerräten umgesetzt. Hier kommen per Losverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger zusammen, um über definierte Fragen zu diskutieren und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Das Verfahren wurde in Kanada, Irland und vielen anderen Ländern bereits erfolgreich umgesetzt. Auch in Deutschland fanden bereits mehrere Bürgerräte statt; weitere sind in Planung. In der Regel haben sie eine beratende Funktion. Ob die erarbeiteten Empfehlungen tatsächlich umgesetzt werden, bleibt meist unklar.

Quellentext„Entscheidend ist, was mit den Empfehlungen der Bürgerräte geschieht“

Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel erklärt die Chancen und Risiken von Bürgerräten und warum sie nicht ohne Volksentscheide zu denken seien.

Frau Geißel, in diesem Jahr [2024] hat der erste Bürgerrat des Deutschen Bundestages zum Thema Ernährung stattgefunden. Wie erfolgreich war der?

Brigitte Geißel: Natürlich war es positiv, dass der Bürgerrat stattgefunden hat, aber er war kaum in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden. Daher war der Bürgerrat Ernährung in verschiedener Hinsicht problematisch. Was ich damit meine: Die Bundesregierung hatte ihre Ernährungsstrategie schon abgeschlossen, bevor der Bürgerrat zur Ernährung überhaupt begonnen hatte. Das hat bei vielen Bürgern für Unmut gesorgt. Zudem war das Thema Ernährung sicherlich nicht dasjenige, das den Menschen besonders unter den Nägeln brennt.

[…] Inwiefern können die Bürgerräte unterstützen?

Bürgerräte eröffnen theoretisch die zusätzliche Möglichkeit, die Interessen und Meinungen der Bürgerinnen und Bürger direkt in politische Entscheidungsprozesse einfließen zu lassen. Traditionell werden bei Gesetzgebungsvorhaben oder anderen politischen Entscheidungen Experten und organisierte Interessengruppen angehört. Bürgerräte aber bringen mit der Perspektive des „einfachen Bürgers“, der sich nicht unbedingt politisch beteiligt oder in Interessengruppen organisiert ist, eine zusätzliche Komponente ein. Das ist der große Vorteil eines Bürgerrates.

Wie unterscheiden sich Bürgerräte von anderen Formen der Bürgerbeteiligung?

Der wahrscheinlich markanteste Unterschied liegt in der Methode der Zufallsauswahl, die bei Bürgerräten angewandt wird. Im Gegensatz zu anderen Beteiligungsformaten werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht aufgrund von Interesse oder Engagement ausgewählt, sondern durch ein sogenanntes stratifiziertes Los-Verfahren. Das heißt, Personen werden zufällig ausgewählt und eingeladen an dem Bürgerrat teilzunehmen und von denen, die partizipieren wollen, wählt man die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann so aus, dass sie ein möglichst gutes Abbild der Bevölkerung darstellen […].

[…] Können Bürgerräte auch negative Effekte hervorrufen? Beispielsweise wenn die Empfehlungen der Teilnehmenden nicht umgesetzt werden.

Definitiv. Das belegt beispielsweise auch eine spanische Studie: Wenn Beteiligungsverfahren ohne echte Konsequenzen bleiben oder als manipulativ wahrgenommen werden, kann das zu einer stärkeren Frustration bei den Teilnehmenden führen, anstatt die politische Unterstützung zu erhöhen. Daher sage ich immer: Besser gar kein Beteiligungsverfahren als ein schlecht gemachtes.

Was ist Ihrer Meinung nach entscheidend für ein erfolgreiches Beteiligungsverfahren?

Ein gutes Beteiligungsverfahren muss neutral und nicht manipulativ wirken. Es muss außerdem echte Konsequenzen haben. Das kann zum Beispiel in Form eines Bürger- beziehungsweise Volksentscheids geschehen, wie es in Irland der Fall ist. Wichtig ist auch, dass sich die Politik ernsthaft mit den Empfehlungen auseinandersetzt und transparent begründet, warum bestimmte Empfehlungen nicht umgesetzt werden.

[…] Werden Bürgerräte in der Zukunft eine größere Rolle in der politischen Entscheidungsfindung spielen?

Viele Politiker setzten sich derzeit für Bürgerräte ein. In Deutschland haben beispielsweise die SPD und die Grünen das Thema Volksentscheide zurückgestellt und setzten stärker auf deliberative Verfahren wie Bürgerräte. Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der Politik bleibt den Abgeordneten aber auch kaum eine andere Wahl. Ich glaube, mehr Bürgerbeteiligung ist generell sinnvoll, um den Menschen wieder das Gefühl zu geben, Teil der Politik zu sein. Ich plädiere dabei für eine Verknüpfung von Bürgerräten und Volks- beziehungsweise Bürgerentscheiden.

Carolin Hasse, „Entscheidend ist, was mit den Entscheidungen der Bürgerräte passiert“, in: Das Parlament vom 29. August 2024. Online: Externer Link: https://www.das-parlament.de/inland/bundestag/entscheidend-ist-was-mit-den-empfehlungen-der-buergerraete-geschieht

Das ist in der Schweiz anders. Hier wird in den Landsgemeinden nicht nur beraten, sondern entschieden. Die Landsgemeinden sind aber auch nur ein Teil der direkten Demokratie in der Schweiz. Bedeutsamer sind die postalisch durchgeführten Abstimmungen, bei der eine Art virtuelle ekklesia zusammentritt. Statt die Hand zu heben, wird dort ein Kreuzchen gemacht.

Direkte Demokratie: Schweiz und Kalifornien

Wenn von direkter Demokratie die Rede ist, meinen wir daher in der Regel nicht nur die direkte Kommunikation, sondern Abstimmungen, bei denen alle Bürgerinnen und Bürger direkt zu einzelnen Politikfragen Position beziehen. An die Stelle, in der in der ekklesia oder der Landsgemeinde die Hand gehoben wird, sind dabei die schriftlichen Abstimmungen getreten. Hier bekommen die Bürgerinnen und Bürger auf der Ebene der Eidgenossenschaft, des Kantons oder der Gemeinde per Post konkrete Fragen zur Abstimmung vorgelegt. Meist sind die Stimmbögen mit mehr oder weniger ausführlichen, möglichst neutral gehaltenen Informationen begleitet. Nicht selten kommt so ein recht dicker Stapel Papier zusammen.

Die Schweiz und der Bundesstaat Kalifornien sind die klassischen Beispiele für die Praxis der direkten Demokratie, wobei im Falle der Schweiz die systematische Bedeutung der direktdemokratischen Verfahren deutlich größer ist.

Die direkte Demokratie wurde immer wieder als Grund dafür genannt, dass die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz mit ihrer Demokratie deutlich zufriedener sind als Menschen in anderen Demokratien. Auch diejenigen, die mit einer Volksinitiative scheitern oder bei einer Abstimmung unterliegen, akzeptieren in der Schweiz die Ergebnisse und betrachten das Verfahren als fair. Der Staat wirkt hier weniger wie ein abstraktes Gegenüber, sondern stärker als Handlungseinheit der Bürgerinnen und Bürger.

Dem Schweizer Demokratieverständnis ist die Vorstellung von Berufspolitikern eigentlich fremd. Auch geht man wohl zu Recht davon aus, dass die beständig drohende Möglichkeit eines Volksbegehrens das politische System der Schweiz zu einer höheren Responsivität (= Reaktionsbereitschaft) zwingt: Viele Probleme und Missstände werden präventiv abgeräumt. Die Politikerinnen und Politiker sind systematisch gezwungen, auf „des Volkes Stimme“ zu hören, auch wenn diese vermeintliche „Stimme“ de facto eine Stimmenvielfalt ist.

Entsprechend ist das Schweizer Modell immer wieder als Vorbild auch für Deutschland angepriesen worden. Ist die direkte Demokratie vielleicht die „wahre Demokratie“? Wären die Probleme der repräsentativen Demokratie, ihre Krise, zu überwinden durch mehr direktdemokratische Verfahren? Lange war diese Forderung von linker Seite zu hören, heute gehört sie zum Parteiprogramm der AfD. Das deutsche Grundgesetz sieht direktdemokratische Verfahren auf Bundesebene nicht vor; auf kommunaler Ebene und auf Ebene der Länder sind diese durchaus möglich.

Dass man in den vergangenen Jahren dennoch skeptisch geworden ist, hat wohl verschiedene Gründe. Das Verfahren des britischen Referendums über den Brexit scheint den Skeptikern Recht zu geben. Erst nach der Abstimmung stellten sich manche Briten die Frage, was mit einem Brexit eigentlich genau gemeint sei und welche Folgen dieser Schritt entfalten würde. Das Beispiel des Brexit-Referendums zeigt, dass direktdemokratische Verfahren nicht unvermittelt in repräsentative Systeme übertragen werden sollten: Auch direkte Demokratie will gelernt und eingeübt sein. Die Schweiz hat eine jahrhundertalte Tradition; direkte Demokratie wird hier von Kindesbeinen an gelernt. Dass ein bestimmtes Abstimmungsverhalten auch eine große Verantwortung impliziert, darf hier als bekannt vorausgesetzt werden – anders als im Großbritannien des Jahres 2016.

Als abschreckendes Beispiel für direktdemokratische Verfahren wird oft der amerikanische Bundesstaat Kalifornien angeführt – immerhin ein politisches Gemeinwesen mit fast 40 Millionen Einwohnern und enormer Wirtschaftskraft. Kritische Stimmen führen die enormen Budget-Probleme Kaliforniens unter anderem auf die Selbstbeschränkung bei den Steuereinnahmen zurück, die durch Referenden zustande kam. Kalifornien hat als Technologiestandort einen globalen Ruf, aber es ist auch ein Bundesstaat mit sehr vielen Obdachlosen. Anders als finanzstarke Lobbygruppen können Obdachlose keine Kampagnen für ihre Interessen fahren. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel kommt zu dem Ergebnis: „In Kalifornien haben Referenden wenig mit Volksabstimmungen zu tun. Sie sind weitgehend zu einem käuflichen Instrument ökonomischer Sonderinteressen verkommen, soweit wirtschaftliche Themen zur Abstimmung stehen.“

Die Beispiele der Schweiz, des Brexits oder Kaliforniens zeigen folglich auch, dass direktdemokratische Verfahren anfällig sind für manipulative Eingriffe in die politische Öffentlichkeit: Wichtig in den direktdemokratischen Verfahren ist ja auch, was vor der Abstimmung geschieht. Die Aussprache, das Argumentieren, die faire Darstellung der Optionen. Auch in der Schweiz können Interessengruppen oder reiche Einzelpersonen die Öffentlichkeit mit Kampagnen beeinflussen. Welche Rolle der US-amerikanische Medienunternehmer Rupert Murdoch und die russische Manipulation im Brexit-Verfahren spielten, wird wohl erst die historische Forschung vollständig ans Licht bringen.

Zunächst kann man festhalten, dass die Ausweitung direktdemokratischer Verfahren – die in Deutschland vor allem auf kommunaler Eben ja durchaus erfolgt – nicht die magische Lösung aller Probleme darstellt. Ein weiteres systematisches Problem stellt der Umstand dar, dass direkte Abstimmung immer nur Einzelthemen adressieren können – und diese dann auch noch zu einer Ja/Nein-Frage zuspitzen müssen. Politische Parteien treten mit dem Anspruch auf, nicht nur Antworten für Einzelfragen zu formulieren, sondern so etwas wie eine Gesamtstrategie, die sich auf verschiedenen Politikfeldern in interagierender Weise zusammenfügt. Würde man sich direktdemokratisch immer nur von Einzelthema zu Einzelthema weiterhangeln, bestünde die Gefahr, dass Entscheidungen nicht zueinander passen. Möglich wären dann immer nur taktische Antworten, aber keine Strategie.

(© KATAPULT MV GmbH)

Trotz dieser offenen Fragen übt die Idee der direkten Demokratie eine enorme Anziehungskraft aus. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) formulierte in seinem Traktat über den „Gesellschaftsvertrag“ den Gedanken, dass Repräsentation und Gewaltenteilung den „Gesellschaftskörper“ (corps social) auf illegitime Weise „zerschneiden“ müssten. Beides sei daher grundsätzlich abzulehnen, die Volkssouveränität müsse unteilbar sein und könne auch nicht repräsentiert werden.

Wie ein Gespenst geistert die rousseausche Idee der unvermittelten Aggregierung des Volkswillens durch die demokratietheoretischen Debatten – und durch den politischen Alltag. Es ist kein Zufall, dass das Abstimmungstool der italienischen populistische Bewegung Movimento 5 Stelle („Fünf-Sterne-Bewegung“) den Namen Rousseau trägt. Es soll angeblich den Volkswillen digital und unvermittelt zum Ausdruck bringen.

Eine weitere Methode der direkten Beteiligung auf lokaler Ebene sind die sogenannten Bürgerhaushalte. Hier können Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde über Projekte abstimmen. Derartige Verfahren werden bereits an vielen Orten erprobt. Meist ist die Beteiligung jedoch eher gering; auch hier stellt sich ein Problem, dass aus anderen Beteiligungsformaten bekannt ist: das Entstehen neuer „Beteiligungseliten.“

Demokratie ohne Wahlen?

Der belgische Autor David Van Reybrouck geht sogar so weit, Wahlen für grundsätzlich undemokratisch zu erklären: Zu einem gewissen historischen Zeitpunkt mögen sie ihre Berechtigung gehabt haben; heute aber stellten sie nur noch ein Hindernis für die Demokratie dar. Er lehnt den Wahlmechanismus als grundsätzlich veraltet ab und plädiert stattdessen für einen flächendeckenden Einsatz von Bürgerräten.

Aber können demokratische Technologien wie ein Online-Abstimmungstool aus komplexen Flächenstaaten wieder eine attische ekklesia oder eine Landsgemeinde machen? Oder scheitert die Idee der direkten Demokratie nicht schlicht an der Größe? Die Schweiz ist relativ klein, das Kanton Glarus ist sogar besonders klein. Auch Rousseau hatte eher Genf oder Korsika vor Augen, als er sein Demokratiemodell entfaltete. Seine Äußerungen zum Flächenstaat Polen klingen bereits ganz anders als das, was wir im Buch über den „Gesellschaftsvertrag“ lesen.

Die Frage der Größe – der richtigen Größe – hat die demokratietheoretische Debatte immer schon beschäftigt. Zu kleine Einheiten könnten anfällig für familiäre Verbandelungen sein; die soziale Kontrolle auf dem Dorf kann auch unangenehm sein, die persönliche Ebene macht die Durchsetzung von Rechtsgleichheit vielleicht schwieriger. Eine gewisse Anonymität tut Demokratien auch gut.

Umgekehrt argumentieren Demokratietheoretiker wie Dirk Jörke, dass für demokratische Gebilde wie die EU die schiere Größe auch zum Problem werden kann. Rund 450 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger mit verschiedenen Muttersprachen, die in ganz verschiedenen geographischen und politischen Situation leben und verschiedene kulturelle Hintergründe haben, könnten sich, so das Argument, schon aus praktischen Gründen nicht darüber verständigen, wie sie leben wollen. Irgendwann seien die Dinge einfach nicht mehr durch demokratische Verfahren in den Griff zu bekommen; eine Expertokratie auf der Ebene der EU wirke dann beinahe unvermeidlich. Eine ekklesia für alle EU-Bürgerinnen und -Bürger ist auch virtuell, digital und massenmedial vermittelt kaum vorstellbar. Und die Repräsentation von Abermillionen Menschen mit verschiedenen Muttersprachen und kulturellen Prägungen stößt irgendwann womöglich an die Grenzen des Machbaren.

Der Blick auf die historischen Ursprünge und zeitgenössischen Formen der direkten Demokratie ergibt folglich kein einheitliches Bild. Direkte Demokratie kann bedeuten, direkt mitsprechen zu können. Dann bezieht sich der Grundgedanke vor allem auf die kommunikative Infrastruktur in einer Demokratie. Bürgerräte sind dann eine mögliche Antwort auf die Erfahrung einer systematischen Asymmetrie in der politischen Kommunikation. Direkte Abstimmungen hingegen sind dann ein erfolgversprechendes Verfahren, wenn sie nicht unvorbereitet in repräsentative Systeme hineingesetzt werden, wenn die Debatte vor der Abstimmung strukturiert und fair ist – und wenn klar definiert ist, wer nach welchen Kriterien bestimmt und wie die Fragen formuliert sind.

Quellentext„Im Osten funktioniert die Demokratie anders“ – Der Soziologe Steffen Mau im Interview

Es ist falsch, zu glauben, dass sich Westen und Osten angleichen werden, sagt der Soziologe Steffen Mau. Manche Unterschiede würden sogar noch größer. Was bedeutet das für die Landtagswahlen im Herbst?

DIE ZEIT: Herr Mau, in diesem Jahr schaut die Politik, schauen viele Menschen besonders auf Ostdeutschland und versuchen zu verstehen, was hier passiert. Können Sie es erklären?

Steffen Mau: In den 35 Jahren seit dem Fall der Mauer gab es eine dominante Erzählung: Der Osten holt auf und gleicht sich irgendwann dem Westen an. Die These war, die Transformation ist komplett, wenn es möglichst wenig Unterschiede gibt. Wenn ich heute Bilanz ziehe, stelle ich fest: Die Angleichungsdynamik ist zum Erliegen gekommen. Viele Charakteristika verstetigen sich. Daraus werden dauerhafte Strukturen. […]

Was heißt das für die Wahlen im Herbst [2024]?

[…] Lange Zeit dachten wir, auch im Parteiensystem gebe es zwar noch ein paar Besonderheiten im Osten, eine PDS oder dann die Linkspartei mit einer Sonderstellung, aber sonst nähert es sich an. […] Wir laufen möglicherweise in völlig unterschiedliche Parteiensysteme in Ost und West hinein. Zugleich geraten die alten Volksparteien in Ostdeutschland unter enormen Druck. Schon jetzt haben SPD und CDU wenige Mitglieder im Osten. Wenn die einen Bundesparteitag machen, können die paar Hanseln aus dem Osten von einzelnen Landesverbänden aus dem Westen überstimmt werden. […]

Warum funktionieren die klassischen demokratischen Instrumente im Osten nicht so gut wie im Westen?

In Ostdeutschland sind die Parteien strukturelle Schwächlinge geblieben. Sie haben nur sehr wenige Mitglieder und haben keine eigenen tragenden Milieus ausbilden können. So können sie ihrer Funktion nicht gerecht werden, die politische Willensbildung zu organisieren. Parteilose Bürgermeister, die in ostdeutschen Kleinstädten sehr erfolgreich sind, erzählen mir, dass ihre Wähler sie auffordern, für das Landesparlament anzutreten. Nur wie? – entgegnen sie dann. Sie sind ja in keiner Partei. Und genau deshalb würden sie gewählt: weil sie in keiner Partei sind. Es ist nicht so, dass die Leute im Osten keine Demokratie wollen. Sie funktioniert nur anders.

Wie meinen Sie das?

In Ostdeutschland gibt es in Teilen eine andere Idee von demokratischer Mitwirkung. Man denkt plebiszitärer [Plebiszit = Volksabstimmung] und in Begriffen eines genuinen Volkswillens. Die Führungsriege der DDR wurde durch Demonstrationen auf der Straße zum Einsturz gebracht. Das ist eine Art demokratische Urerfahrung. Dann hat man im Zuge der Wiedervereinigung einfach die Parteien aus dem Westen ausgedehnt und gehofft, alles werde so wie in der BRD.

Sie stellen eine radikale These auf: Wir müssten anerkennen, dass es unterschiedliche Demokratievorstellungen gebe. Parteiendemokratie im Westen, die Demokratie der Straße im Osten.

Auf die unterschiedlichen Demokratievorstellungen hat die Historikerin Christina Morina hingewiesen. Im Osten ist ein unmittelbares und auf den Volkswillen abgestelltes Demokratieideal verbreiteter, das nicht so stark an das Wirken von Parteien geknüpft ist. Wenn ich die Hoffnung hätte, dass man das Ruder herumreißen könnte, dass die Parteien unglaublich viele Mitglieder einsammeln, dass die wieder lokale politische Kulturen bespielen könnten und als relevante Adressaten von politisch Interessierten wahrgenommen würden, würde ich sagen: Das muss der Weg sein. Nur spricht sehr wenig dafür. Deshalb muss man über alternative Formen der Partizipation nachdenken. Nicht als Ersatz für die Parteiendemokratie, sondern als eine Art Frischluftzufuhr. Als eine Art Wiederbelebung.

Sie schlagen vor, Bürgerräte einzuführen. Das sind Versammlungen von ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern, die Handlungsempfehlungen für die Regierung erarbeiten.

Bürgerräte haben mehrere Vorteile. Erst einmal sind sie immun gegenüber dem Vorwurf, dass Politik eine reine Elitenveranstaltung sei. Außerdem kommen durch sie vielfältigere Positionen zusammen, die Repräsentanz ist höher. Und sie sind so etwas wie eine politische Talentschmiede. Wer durch seine Arbeit im Bürgerrat mit Politik in Berührung kommt, könnte motiviert werden, sich danach auch in Parteien zu engagieren.

Ist das Problem bei Bürgerräten nicht, dass ihre Empfehlungen unverbindlich sind?

Ja, aber das könnte man ändern. Man könnte festlegen, dass sich die Landesparlamente mit den Ergebnissen befassen müssen. Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen stolz sind auf selbst gefundene Kompromisse. Und in Bürgerräten gibt es, weil immer Kompromisse gefunden werden müssen, eine Stärkung der politischen Mitte. Die Ränder egalisieren sich, die Extremen werden pazifiziert, die Mitte wird besser hörbar. Dadurch kommen diese Räte auch zu Ergebnissen, die Parteien niemals hätten erzielen können.

Politiker der repräsentativen parlamentarischen Demokratie würden für sich in Anspruch nehmen, dass auch sie Themen gewälzt, Argumente ausgetauscht, hart verhandelt und einen guten Kompromiss ausgehandelt haben.

Aber der Kompromiss wird selten gefeiert. Gleich mit der Verkündung geht der Deutungskampf los: Wer hat sich durchgesetzt? Auf wessen Konto zahlt das ein? Das ist schade, weil es der Sachfrage nicht gerecht wird. Es geht da um Gesichtsverlust. Etwas, das im Bürgerrat keine Rolle spielt. Wer dort seine Meinung ändert, riskiert keinen politischen Selbstmord, anders als eine Partei, wenn sie öffentlich eine Position aufgibt.

Und Sie glauben, auf diese Weise könnte die Demokratie in Ostdeutschland belebt werden?

Es würde trotzdem Wut und Frust geben, es würde immer noch eine starke rechtsextreme Partei geben. Aber wir müssen doch nachdenken, wie man demokratische Beteiligung weiterentwickeln kann. Vor allem, wenn die bisherigen Formen erschöpft sind. Man kann das Ganze noch weiterdenken, indem man etwa über die Zusammensetzung der Landesparlamente diskutiert. Warum nicht die Hälfte der Abgeordneten über die Parteien einziehen lassen, und die andere Hälfte wird ausgelost? Das wäre eine radikale Vorstellung, die ich nicht propagiere. Aber als Denkfigur finde ich das interessant. Wir sollten uns öffnen für neue, andere, auch ungewöhnliche Demokratieformen. […]

Tina Hildebrandt und August Modersohn, „Im Osten funktioniert die Demokratie anders“, in: DIE ZEIT Nr. 26 vom 13. Juni 2024, S. 8

Repräsentative Demokratie

Dass man bei der Suche nach Formen der direkten Demokratie bei den immer wieder gleichen Beispielen – der Schweiz, Kalifornien – landet, hat gute Gründe. Obwohl gerade auf kommunaler Ebene Anstrengungen unternommen werden, direktdemokratische Verfahren auszubauen, ist die repräsentative Demokratie in der Moderne die Norm: Moderne Demokratie ist in der Regel repräsentative Demokratie.

Die eigentlichen Rätsel liegen dann aber im Begriff der Repräsentation selbst. Was genau meinen Menschen, wenn sie sagen „Ich fühle mich durch die da oben nicht repräsentiert!“? Soll diese Formulierung bedeuten, dass die politischen Eliten die Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen nicht vertreten? Oder ist damit gemeint, dass sich politische Eliten durch ihr Bildungsniveau, ihr Einkommen und durch ihre alltägliche Lebenserfahrung fundamental von jenen unterscheiden, die sie repräsentieren sollen? Was genau ist politische Repräsentation eigentlich und wie ließe sie sich gegebenenfalls verbessern?

Die Repräsentation der Ordnung

Noch bevor Politik in der Neuzeit demokratisch wird, ist sie bereits durch Mechanismen der Repräsentation gekennzeichnet. Denn der Gedanke der politischen Repräsentation hat eine feudale Vorgeschichte. Die jeweiligen Stände sollten einerseits – von unten nach oben – durch Standesvertreter „dargestellt“ oder „repräsentiert“ werden. Hier ging es nicht um individuelle Präferenzen, sondern – beispielsweise in der französischen Generalständeversammlung im Vorfeld der Französischen Revolution – immer auch um eine ästhetische, festliche, quasi-religiöse Abbildung der „göttlichen Ordnung“. Repräsentiert wurde hier „der Klerus“ als Kollektivsingular, nicht etwa „die Kleriker“, „der dritte Stand“ an sich, nicht die Menschen, die dem Dritten Stand zugeordnet wurden.

Die vordemokratische Repräsentation verläuft zum anderen von oben nach unten. Die göttliche Ordnung soll auch im Diesseits abgebildet werden. Nicht nur Jesus Christus hat mit dem Papst einen Stellvertreter auf Erden; auch ein absolutistischer Herrscher „vertritt“ durch Gottesgnadentum eine Macht, die von oben kommt. In ihm wird das Abwesende anwesend.

Der demokratische Begriff der Repräsentation löst sich von diesem Paradigma. Was unter den Vorzeichen des Ancien Régime gedacht ist als Stellvertretung in einer gegebenen Ordnung, wird nun dynamisiert: Wer oder was repräsentiert werden soll, ist nun plötzlich veränderlich. Repräsentation erfolgt nun auf Zeit, durch Wahlen und unter der Voraussetzung, dass sich das zu Repräsentierende verändern kann. Der Wahlmechanismus soll nun vor allem Interessenvertretung, aber auch die Vertretung von politischen Teileinheiten, beispielsweise amerikanischen Bundesstaaten, ermöglichen.

Politische Repräsentation in der Moderne

Dabei lassen sich zwei Bedeutungsvarianten unterscheiden, die die amerikanische Politikwissenschaftlerin Hanna F. Pitkin (1931–2023) herausgearbeitet hat. „Repräsentation“ kann zum einen bedeuten, dass eine Person im Auftrag, im Sinne, im Interesse einer anderen Person agiert. Eine Anwältin vertritt zum Beispiel die Interessen eines Klienten – aber sie tut dies mit besonderer Fachkenntnis und großer Ungebundenheit. In diesem Fall spricht man vom trustee-Modell.

Der oder die Repräsentierte ist betraut mit der Vertretung. Sie entscheidet selbst darüber, wie die Interessen der zu Repräsentierenden im Einzelnen am besten geschützt oder durchgesetzt werden. Trustee bedeutet also auch so viel wie „mit Aufgaben betraute Person“, Person, der etwas anvertraut wird, sprich ein Treuhänder.

Die zweite Variante nennt man delegate-Modell. Hier herrscht die Vorstellung vor, dass Repräsentanten nicht nur im Sinne der Repräsentierten handeln, sondern in deren direktem Auftrag. Die Repräsentanten sind hier bloße „Abgesandte“, Delegierte, die ohne Spielraum, mit „imperativem Mandat“ umzusetzen haben, womit sie beauftragt wurden. Zentral für diese Repräsentationsbeziehung ist dann die genaue Kontrolle der Repräsentanten, der sogenannte track-record. Unter diesem Begriff wird das Abstimmungsverhalten von US-amerikanischen Delegierten genaustens beobachtet und mit ihren Versprechen und Zusagen, aber auch mit den in einem einzelnen Bundesstaat vorherrschenden Interessen abgeglichen.

Die Repräsentation des Ganzen in der Demokratie

Von diesen beiden Varianten lässt sich noch die symbolische Repräsentation im engeren Sinne unterscheiden. Hier geht es weniger um die Repräsentation von Interessen, sondern meist um die symbolische Repräsentation des Ganzen. Typisch ist hierfür das Amt des Bundespräsidenten: Er personifiziert gewissermaßen Deutschland, bzw. die Bundesrepublik Deutschland als Staat. In diesem Sinne spricht man dann auch von den „repräsentativen Aufgaben“ des Staatsoberhaupts.

Auch die symbolische Repräsentation des Ganzen ist nicht ohne Tücken. In Monarchien wie Großbritannien, Dänemark oder Schweden kann man darauf hoffen, die königliche Familie möge doch – sei es durch die Inszenierung eines Idylls, familieninterner Konflikte oder schicksalsbeladener Dramen – das Land als Ganzes widerspiegeln. In Demokratien ist dies schwieriger. Der Bundespräsident in Deutschland darf sich nicht anbiedern, muss immer zugleich den Notar der Nation, den Hüter der Verfassung veranschaulichen.

Mit Flaggen, der Nationalhymne oder Militärparaden tut man sich in Deutschland schwer. Pathos ist in der symbolischen Repräsentation in Deutschland kaum zu erwarten. Eher noch spielt der sogenannte „Produktstolz“ eine sozialintegrative Rolle: Auf den VW-Golf oder die Lufthansa konnte man sich einigen. In Ostdeutschland sind es bis heute Spreewaldgurken und Rotkäppchen-Sekt, die kollektive Identität vermitteln. Aber auch in dieser Hinsicht scheinen die Mittel der symbolischen Repräsentation an ihr Ende zu kommen.

Die Versuchung liegt dann nahe, in der Fußballnationalmannschaft die Repräsentation der Nation zu sehen. Von ihr wird dann gefordert, „Einheit in der Vielfalt“ zu demonstrieren, und das freundliche Gesicht der Nation darzustellen. Das Selbstbild einer Nation an die Ergebnisse von Sportwettbewerben zu binden, scheint indes demokratietheoretisch fragwürdig.

In den verzweifelten Versuchen, beispielsweise in einem Einheitsdenkmal der Nation eine direkte Anschaulichkeit zu verleihen, zeigt sich wohl schlicht, dass die Erwartungen an Repräsentation, die sich aus dem Feudalismus speisen, auf demokratische Strukturen schwer übertragbar sind: Die symbolische Repräsentation der Einheit bleibt in Demokratien immer prekär und schwierig.

Umso größer ist dann auch die Enttäuschung über die Repräsentationskrise im engeren, politischen Sinne. Schon seit vielen Jahren lässt sich eine Repräsentationslücke, also eine Krise der Repräsentation feststellen. Diese Lücke ist erstens daran zu erkennen, dass in den Parlamenten und Regierungsposten immer weniger Menschen ohne Hochschulabschluss zu finden sind. Der Anteil der Handwerkerinnen und Handwerker im Deutschen Bundestag liegt bei unter 5 Prozent. Es dominieren Juristinnen und Juristen, Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst. Landwirte sind fast gar nicht vertreten, und ebenso selten alleinerziehende Mütter.

Vertritt man eine Repräsentationstheorie nach dem trustee-Modell, so wäre dieser Umstand alleine noch nicht problematisch. Eine sozio-ökonomische Verzerrung ließe sich damit begründen, dass auch Rechtsanwältinnen und -anwälte die Interessen von Handwerkerinnen und Bauern vertreten können – womöglich sogar besonders gut, weil sie wissen, wie das Recht funktioniert und welche Rechtssetzung welche Wirkung haben wird.

Doch die Forschung zeigt, dass dies nicht der Fall ist: Auch die Interessen von Nicht-Akademikerinnen und -Akademikern und sozio-ökonomisch schwachen Menschen werden unzureichend repräsentiert. Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer konnte zeigen, dass die Interessen dieser Personengruppen systematisch weniger berücksichtigt werden. Auch der Lobbyismus trägt hier zu einer systematischen Verzerrung bei.

Verschärft wird dieser Trend durch den Umstand, dass sich gerade die sozio-ökonomisch schwachen Bürgerinnen und Bürger besonders häufig der Wahl enthalten. Ganz offenbar besteht bei vielen gar nicht mehr die Hoffnung, durch Wahlen auf ihre Situation Einfluss zu nehmen. Die Repräsentationslücke wird so im schlimmsten Fall zu einer sich selbst verstärkenden Dynamik: Wer sich in den Abgeordneten des Bundestags nicht wiedererkennt oder das Gefühl hat, von diesen nicht berücksichtigt zu werden, enthält sich der Wahl – und muss dann auch nicht mehr berücksichtigt werden.

Repräsentation: Verzerrungsfreie Abbildung oder „die besten Köpfe der Nation“

Aber ist es überhaupt eine realistische Erwartung, sich in Repräsentanten „wiedererkennen“ zu wollen? Für eine Pflicht zur geschlechter-paritätischen Gestaltung von Wahllisten wurde das Argument vorgebracht, in einer Gesellschaft mit ungefähr gleich viel Frauen und Männern sollten auch gleich viele Frauen und Männern in den Parlamenten sitzen. Parteien wie Bündnis 90/ Die Grünen haben daraus die Konsequenz gezogen, Wahllisten grundsätzlich nach dem Reißverschlussprinzip abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen.

(© Maren Amini/www.maren.amini.de)

Überspitzt man den Anspruch auf eine verzerrungsfreie Abbildung der Bevölkerung in den Parlamenten, entstehen jedoch bald Widersprüche. Nach welchen Kriterien sollen welche Gruppen repräsentiert werden? Auch Menschen mit Migrationshintergrund haben ein Recht darauf, in Parlamenten nicht nur als Thema, sondern auch als Akteure vorzukommen. Dasselbe gilt für junge Menschen, aber auch für alte. Aber gibt es auch Personengruppen, für die das nicht gilt? Ein erheblicher Anteil der deutschen Bevölkerung hegt antisemitische Vorstellungen – aber will man diese im Parlament repräsentiert sehen?

Ein Gegenideal zur „verzerrungsfreien Abbildung“ kann man im trustee-Modell sehen. Hier kommt es vor allem auf Kompetenz, nicht auf Betroffenheit an. Eine Strafverteidigerin muss kompetent sein, nicht selbst Straftäterin, um für einen Straftäter angemessen agieren zu können. Aus dieser Perspektive wäre der hohe Anteil von Juristinnen und Juristen im Bundestag nachvollziehbar. Es wäre zu hoffen, dass auch Menschen, die selbst nicht prekär leben, sich für sozio-ökonomisch schwächere einsetzen können.

Auch die Idee der Repräsentation scheint folglich so etwas wie einen Zielkonflikt in sich zu tragen: Sowohl Vertrauen als auch Kontrolle, sowohl Abbildung wie Differenz, sowohl Ähnlichkeit wie Elitenbildung können mit dem Mechanismus der Repräsentation verknüpft werden. Gerade die Differenz zwischen Repräsentierten und Repräsentanten kann ja auch einen Kommunikationsraum öffnen und, wie der deutsche Politikwissenschaftler Winfried Thaa argumentierte, eine produktive Spannung darstellen. Dass sich Wahlvolk und Parlamentarier unterscheiden, würden das Gespräch zwischen beiden erst interessant machen.

Das Bewusstsein für das Potenzial der Differenz scheint indes zurückzugehen. Immer öfter erleben wir politische Bewegungen, die die Idee der Repräsentation insgesamt ablehnen. Die in den 2010er-Jahren erfolgreiche „Piraten-Partei“ versprach durch digitale Technologien eine verzerrungsfreie Abbildung auch eines wechselhaften Mitgliederwillens zu garantieren. Repräsentanten und Sprecher wollte und sollte die Partei nicht mehr haben. Ähnlich repräsentationsfeindlich war die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich. Hier wurden sogar Personen bedroht, die sich erdreisteten, im Namen der Gelbwesten zu sprechen. Unmittelbarkeit ist jedoch ein fragwürdiges politisches Ideal. Denn Demokratie lebt gerade von der Vermittlung, von Spannungen, von Verfahren und Prozessen.

QuellentextDer „Volkswille“ und politische Willensbildung

Vor dem Hintergrund der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen am 1. September 2024 steht die Frage im Raum, ob ein Ausschluss der AfD aus Koalitionsverhandlungen den Volkswillen missachte – und ob eine Bundesregierung mit schwindenden Zustimmungswerten noch regieren kann.

Es gibt diesen Witz von Bertolt Brecht: Wenn das Volk das Vertrauen in die Regierung verliert, sollte dann die Regierung nicht das Volk auflösen und sich ein anderes suchen? Im Osten klingt er nicht mehr lustig. […] In Sachsen wählten nur noch zehn von 100 Wahlberechtigten eine der drei Ampelparteien, in Thüringen etwas mehr als sieben. Die FDP ist im Osten ein Randphänomen, in einigen Wahlkreisen holte die Tierschutzpartei mehr Stimmen.

[…] Wie steht es also um die Legitimität der Koalition nach diesem historischen Wahldesaster? Anders gefragt: Müssen Politiker das eigene Volk fürchten? Oder ihm die Richtung vorgeben?

Fest steht jedenfalls: Nur mit äußersten politischen Verrenkungen ist es – wenn überhaupt – noch möglich, in den beiden Bundesländern eine Regierung ohne Beteiligung der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften AfD zu bilden. Die CDU müsste dazu mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht zusammenarbeiten, was ungefähr so harmonisch verlaufen dürfte wie ein Familientreffen im britischen Königshaus. Damit steht die Frage im Raum, ob es sich die etablierten Parteien erlauben können, eine Partei von der Macht fernzuhalten, die wie die AfD in Thüringen die Wahl gewonnen hat. Die formale Antwort lautet: Sie können es. Wer regieren will, braucht eine Mehrheit im Parlament, und das bedeutet in aller Regel: einen Koalitionspartner. Wenn sich keiner findet, bleibt nur der Gang in die Opposition. So war das zum Beispiel bei der Bundestagswahl 1976, als die Union unter dem Kanzlerkandidaten Helmut Kohl spektakuläre 48,6 Prozent der Stimmen erhielt, sechs Prozentpunkte mehr als die zweitplatzierte SPD. Da die FDP aber ihr Bündnis mit der SPD erneuerte, ging der Wahlsieger leer aus. Bundeskanzler wurde Helmut Schmidt und nicht Helmut Kohl. Bei einer ganzen Reihe von Landtagswahlen – Hamburg 2001, Baden-Württemberg 2011, Thüringen 2014 – ist es ähnlich gelaufen. Eine relative Mehrheit der Stimmen begründet keinen Anspruch auf ein Regierungsamt. […]

Aber wie kann man eigentlich herausfinden, was das Volk will? […] Die einfachste Form der Willensermittlung in modernen Demokratien sind Umfragen. Fast jeden Tag wird irgendwo in Deutschland eine durchgeführt. […] Das Problem ist nur: Menschen ändern im Zweifel schnell ihre Meinung, und oft sind ihre Antworten in solchen Befragungen in sich nicht schlüssig. Die Deutschen mögen keine Steuererhöhungen, aber auch keine Schulden und keine Ausgabenkürzungen. Das passt nicht zusammen, wenn das Geld wie gerade jetzt knapp ist. Entschieden werden muss trotzdem.

Fast alle Demokratien sind deshalb heute repräsentative Demokratien. Das bedeutet: Die Bürger wählen ihre Repräsentanten, die Abgeordneten, die für einen gewissen Zeitraum die Geschäfte des Landes führen und dabei über ein hohes Maß an Autonomie verfügen. Wie bei einem Vertragsverhältnis, das alle vier Jahre erneuert werden muss. Im Grundgesetz steht, dass Abgeordnete „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden“ sind, sondern ihrem Gewissen folgen sollen. In der Praxis folgen sie oft der Parteiführung, aber das ist ein anderes Thema.

In der Geschichte der Republik kam es jedenfalls immer wieder vor, dass eine gewählte Regierung sich gegen die Stimmung im Volk stellt. Konrad Adenauer hat Deutschland in die Nato geführt, obwohl im Jahr 1950 noch 81,5 Prozent der Westdeutschen gegen den Beitritt waren. Für die Entspannungspolitik von Willy Brandt gab es keine Mehrheit in der Bevölkerung, für die Nachrüstung unter Helmut Schmidt nicht und für die Einführung des Euro auch nicht. Doch all dies – Westbindung, Entspannungspolitik, Euro – gehört heute zum Selbstverständnis des Landes. Und auch die Sozialreformen der Agenda 2010 waren in weiten Teilen der Bevölkerung extrem unpopulär, der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) hat sie trotzdem durchgesetzt. Die Bundesrepublik Deutschland ist in ihrer jetzigen Verfasstheit auch ein Elitenprojekt.

Das Volk irrt sich also manchmal, und wenn es nicht so wäre, bräuchte man keine Politiker. Dann würden ein paar Beamte reichen, die die neusten Umfragedaten in Gesetze fassen. In Sachsen und Thüringen hat zudem nicht das Volk abgestimmt, sondern nur ein Teil der Bundesbürger. In den beiden Ländern zusammen leben etwa sechs Millionen Menschen, das sind rund sieben Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Und landesweit sind die Zustimmungsraten der AfD niedriger als im Osten. Bei der Europawahl im Juni kam sie bundesweit auf 15,9, in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, steht sie aktuell bei zwölf Prozent. Die Mehrheit der Deutschen will die Partei nicht an der Macht sehen. Das kann sich aber ändern. Deshalb findet man in Berlin nur wenige Politiker, die nicht beunruhigt sind. […]

In der Demokratietheorie werden zwei Quellen der Legitimation staatlichen Handelns unterschieden. Eine Regierung wird als legitim angesehen, wenn die Bürger an Entscheidungsprozessen beteiligt werden und das Gefühl haben, dass ihre Stimme zählt (Input). Sie kann allerdings auch als legitim angesehen werden, wenn das nicht der Fall ist, aber einfach nur gut regiert wird (Output). Wenn die Bahn pünktlich ist zum Beispiel, oder wenn es genügend Lehrer und Wohnungen gibt. […]

Peter Dausend und Mark Schieritz, „Was ihr wollt“, in: DIE ZEIT Nr. 38 vom 5. September 2024, S. 2

Konsensdemokratie und Konkurrenzdemokratie

Wir waren von der These ausgegangen, dass der Demokratiebegriff zwei konkurrierende Versprechen enthält: Gemeinsam entscheiden zu können – und zugleich einzelne Individuen und Minderheiten vor Entscheidungen zu schützen. Auf ganz unmittelbare Weise schlägt sich die jeweilige Akzentsetzung in der Differenz zwischen Konsens – und Konkurrenzdemokratie nieder. Diese Unterscheidung geht auf den niederländischen und US-amerikanischen Politikwissenschaftler Arend Lijphart zurück.

Dieser hatte sich auf die Suche nach „Mustern“ (engl. patterns) der Demokratie gemacht und stieß auf zwei grundlegend verschiedene Demokratiemodelle. Gemeinsam zu entscheiden kann zum einen bedeuten, einen möglichst breiten Konsens zu erarbeiten, allen Stimmen Gehör zu verschaffen, nach Möglichkeit alle Interessen zu berücksichtigen. Aus der Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger folgt aus dieser Perspektive, dass niemand – nicht einzelne Individuen, aber auch nicht Minderheiten – einfach übergangen werden können.

Die genau entgegengesetzte Interpretation des Demokratiebegriffs verweist auf die Notwendigkeit, Mehrheitsentscheidungen durchzusetzen: Da es unmöglich ist, alle und alles zu berücksichtigen, muss die Mehrheit entscheiden dürfen – sonst würde nie etwas entschieden. Minderheiten – so hier das Argument – müssen eben versuchen, selbst wieder zur Mehrheit zu werden. Die Relativierung der Macht erfolgt gewissermaßen auf der Zeitachse: Wer heute als Minderheit unterlegen war, darf darauf hoffen, morgen eine Mehrheit für die eigenen Ideen zu gewinnen.

Auch hier sehen wir also den grundlegenden Zielkonflikt in Demokratien am Werk: Demokratische Entscheidungen zielen eigentlich auf einen möglichst breiten Konsens, müssen aber in Konkurrenz ausgefochten werden. Diese Ambivalenz macht demokratische Politik so anspruchsvoll: Zwei widersprüchliche Ziele werden zugleich anvisiert. Wird die Konkurrenz zu stark betont, endet man in der politischen Polarisierung, in der Selbstblockade, im geistigen Bürgerkrieg – dies zeigen die USA. Wird indes zu stark nach Konsens gestrebt, kann sich ein Mehltau über das Land legen. Die „Konsenssauce“ erstickt dann jede echte Auseinandersetzung; es wächst womöglich der Wunsch nach „echten“ Alternativen, die im schlimmsten Fall das System als Ganzes in Frage stellen.

Wichtig ist auch hier zu verstehen, dass beide Ideale ihre Berechtigung haben: Ob man „Demokratie“ stärker konsensorientiert oder konkurrenzorientiert versteht, hängt von normativen Setzungen ab, für die es keine Letztbegründungen gibt. Wichtiger scheint es, institutionelle Strukturen zu finden, die der politischen Kultur eines Landes entsprechen und ein funktional überzeugendes Regelwerk darstellen.

An den Polen des Spektrums: Großbritannien und die Schweiz

Arend Lijphart untersuchte die beiden Extremfälle Schweiz und Großbritannien, weil sich hier entsprechende Orientierungen besonders deutlich in institutionellen Arrangements niederschlagen. Hierzu gehört in erster Linie das Wahlrecht. Ein Mehrheitswahlrecht, bei dem, wie im Vereinigten Königreich, pro Wahlkreis nach dem winner-takes-all-System eine Delegierte oder ein Delegierter ins Unterhaus geschickt wird, produziert eine harte Konkurrenz. Es hat in der Regel zur Folge, dass zwei Parteien dominieren. Dies ist in den USA besonders deutlich, in den vergangenen Jahren in Großbritannien nicht mehr ganz so eindeutig der Fall. Zwar dominierten historisch in Großbritannien die konservativen Tories und die links-liberale Labour Party; aber inzwischen spielen auch eine liberale Partei und eine rechtspopulistische Partei wichtige Rollen.

Der große Vorteil des Mehrheitswahlrechts ist, dass es in der Regel klare Mehrheiten hervorbringt. Zudem sind die Rollen von Regierung und Opposition klar verteilt. Im britischen Unterhaus sitzen sich die beiden Teams auch räumlich frontal gegenüber. In der regelmäßigen Befragungsstunde kann der Regierungschef zu allen erdenklichen Themen zur Rede gestellt werden – und muss spontan antworten. Der kämpferische, beinahe sportliche Charakter dieser Art von Politik wirkt unterhaltsam. In der Regel sind die Alternativen klar erkennbar.

Ganz anders setzen sich Parlamente zusammen, wenn per Verhältniswahlrecht gewählt wird. Dann haben auch kleine Parteien gute Chancen im Parlament vertreten zu sein. Zwar gilt für den Deutschen Bundestag bekanntlich eine Fünfprozenthürde; aber im Falle des Europäischen Parlaments liegt diese bei nur zwei Prozent. Daher sind hier noch mehr kleine und Kleinstparteien zu finden. Als „demokratisch“ kann man das Verhältniswahlrecht verstehen, weil hier nicht – wie im Mehrheitswahlrecht – große Stimmenanteile in der Repräsentation unberücksichtigt bleiben: Wer nicht gerade für irrelevante Splitterparteien stimmt, darf darauf hoffen, die eigene Stimme durch Sitzanteile im Parlament gespiegelt zu sehen.

Der große Nachteil des Verhältniswahlrechts besteht darin, dass in der Regel Koalitionsbildungen nötig werden. Je stärker ein Parteiensystem fragmentiert ist, umso schwieriger wird die Koalitionsbildung und umso instabiler sind am Ende die Koalitionen. Die Entwicklungen in Israel und Italien werden hierfür oft als abschreckende Beispiele genannt. Es ist zu befürchten, dass in parlamentarischen Systemen mit Verhältniswahlrecht und fragmentiertem Parteiensystem auch kleine Splitterparteien als „Zünglein an der Waage“ plötzlich enorme Macht entfalten können. Der Trend zur Fragmentierung des Parteiensystems lässt eine „Demokratie ohne Mehrheit“ (Michael Koß, deutscher Politikwissenschaftler) entstehen.

Regieren im Kollektiv: Die Schweizer Kollegialregierung

Für Arend Lijphart war das Verhältniswahlrecht aber nur ein mögliches Element von Konsensdemokratien. Ein weiteres, in der Schweiz praktiziertes Prinzip, ist die sogenannte Kollegialregierung. Gemeint ist damit, dass im Schweizer Bundesrat (der Bundesregierung) alle sieben Ministerinnen und Minister gleichberechtigt sind. Es gibt keinen Regierungschef im bundesdeutschen Sinne, sondern lediglich die rotierende Funktion eines oder einer Vorsitzenden des Bundesrats, den sogenannten Bundespräsidenten oder die Bundespräsidentin, der im Jahresrhythmus als primus inter pares („Erster unter Gleichgestellten“) gewählt wird. Als Staatsoberhaupt fungiert das Kollektivgremium selbst, das dann als „Gesamtbundesrat“ angesprochen wird.

Zu den Eigenheiten der Kollegialregierung gehört auch, dass sich die Ministerinnen und Minister nicht nur für ihre Ministerien (die in der Schweiz Departements heißen) zuständig fühlen, sondern für die Regierung als Ganzes: Was beschlossen wird, wird von allen beschlossen, im Konsens. Dies betrifft auch die Verteilung der Departements; zwar können die Bundesrätinnen und Bundesräte nach Alter geordnet Präferenzen äußern, aber am Ende muss sich das kollektive Gremium im Konsens einigen, welche Aufgabenverteilung gewählt wird.

Im Falle der Schweiz kommt aber noch hinzu, dass der Bundesrat mit Vertreterinnen und Vertretern aus allen wichtigen Parteien besetzt wird. Die Wahlen entscheiden zwar darüber, wie die Gewichtung ausfällt, aber es gibt (eigentlich) keine „Wahlverlierer“, die vollkommen leer ausgehen. Die sogenannte „Zauberformel“ bestimmte lange die Zuordnung nach Größe der Parteien: Die drei wählerstärksten Parteien konnten je zwei und die viertstärkste einen Sitz im Bundesrat beanspruchen. Seit einigen Jahren wird über die Einhaltung oder Neufassung der Formel gestritten, aber der Grundgedanke bleibt: Alle (wichtigen) Parteien gehören mit an Bord.

Das Schweizer Modell hatte lange zur Folge, dass Polarisierungen ausblieben. Doch auch in der Schweiz hat sich dies seit einigen Jahren verändert. Der Ton ist auch in der Schweizer Öffentlichkeit rauer geworden. Zumal durch die Volksabstimmungen auch das Mehrheitsprinzip einen festen Ort im politischen System hat: Nicht alle Entscheidungen werden im Konsens getroffen; über manche „Initiative“ wird sehr heftig gestritten.

Die Vorteile dieses Systems sind jedoch unschwer zu erkennen: Die Schweizer Politik arbeitet meist still und leise, aber hocheffizient daran, die Probleme zu bearbeiten. Es dominiert ein Geist, der nach pragmatischen Lösungen sucht. Zudem hat die Schweizer Konkordanzdemokratie den großen Vorteil, in einem sprachlich und kulturell vielfältigen und stark föderalen Land die je spezifischen Sensibilitäten zu berücksichtigen. Sprachgemeinschaften (von denen es in der Schweiz ja vier gibt), Regionen und Kantone werden nach Proporzprinzip (= Verhältnisprinzip) berücksichtigt. Niemand soll sich übergangen fühlen.

Diese Grundhaltung wird in Deutschland zumindest auf der Ebene der Kommunen praktiziert. Hier spielen parteipolitische Orientierungen – zumindest in den kleineren Kommunen – meist eine nachgeordnete Rolle. Die konsensorientierte Lösung von Sachproblemen steht hier im Vordergrund.

Doch auch eine konsensdemokratische Ausrichtung hat Nachteile. Politische Parteien spielen in der Schweiz eine zentrale Rolle; in ihnen wird über Karrieren und Aufstiege entschieden. Ein wirkliches „Abstrafen“ von Politikerinnen und Politikern ist schwierig; es kann eigentlich nur über Volksbegehren erfolgen. Womöglich ist es auch der Umstand, dass es in der Schweiz gar nicht so viel zu entscheiden gibt, der die Schweizer Demokratie so vorbildlich erscheinen lässt. Zur geopolitischen Rolle und ökonomischen Situation der Schweiz passt die Konsensdemokratie erkennbar sehr gut. Die Zufriedenheit mit der Demokratie ist hier weltweit mit am höchsten.

Und Deutschland?

Während die Schweiz und Großbritannien die Grundideen von Konsensdemokratie und Konkurrenzdemokratie geradezu idealtypisch veranschaulichen, finden wir ansonsten vor allem Mischformen. Das bundesrepublikanische System wird in der Regel den Konsensdemokratien zugeschlagen, auch wenn hier konkurrenzdemokratische Elemente beigemischt sind. Die Dominanz des Verhältniswahlrechts und der Föderalismus erzwingen eigentlich ständige Bemühungen um eine Konsensfindung. Da auf Bundes- und Länderebene meist verschiedene Mehrheiten regieren, wird zum Beispiel im Bundesrat, wo alle Landesregierungen vertreten sind, die Suche nach Kompromissen strukturell erzwungen. Da auch das deutsche Parteiensystem durch den Aufstieg neuer Parteien geprägt ist, muss langfristig mit der Notwendigkeit gerechnet werden, immer komplexere Bündnisse zu schmieden. Auch weltanschaulich sehr verschiedene Parteien werden so in zunehmendem Maße auf Länderebene und Bundesebene in Koalitionen regelrecht hineingezwungen. Im Zentrum steht dann die Suche nach dem gemeinsamen Nenner.

Zugleich aber belohnt die politische Öffentlichkeit Zuspitzung, Konfrontation, ja Polemik. Nicht nur in Bierzelten und Talkshows wird der Eindruck erweckt, Deutschland sei eine Konkurrenzdemokratie. Während dieser Eindruck in den 1950er- und 1960er-Jahren durchaus zutreffend war, weil zwischen der CDU Konrad Adenauers und der SPD Willy Brandts noch große weltanschauliche Differenzen bestanden, wirkt die Simulation der Konkurrenzdemokratie in einem komplexen EU-Mehrebenen-System wie ein Bild-Ton-Fehler: Während die Bürgerinnen und Bürger ständig sehen, dass die meisten politischen Parteien und Entscheidungsträger eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten, wird gleichzeitig so getan, als prallten unversöhnliche Ideologien aufeinander. Da fast ständig auf Länderebene ein Wahlkampf stattfindet, ist ständig „Profilbildung“ gefragt, also die polemische Abgrenzung von der Konkurrenz, mit der man aber andernorts ganz gut zusammenarbeitet.

Im besten Fall bedient das deutsche Mischsystem zwei sich eigentlich widersprechende Bedürfnisse: Zum einen den Wunsch nach sachorientierter, pragmatischer Konsenssuche; zum anderen den Wunsch der eindeutigen Verantwortlichkeit (accountability) und der Möglichkeit des Abstrafens an der Wahlurne. Im schlimmsten Fall führt die Mischung von Elementen dazu, dass durch die Simulation von Konkurrenz die eigentlich nötige Konsensfindung erschwert wird: Obwohl man sich zu 80 Prozent einig ist, wird dann auf die Pauke gehauen, die viel Lärm, aber keine Lösungen produziert. Die kulturkämpferische Aufladung wirkt dann zugleich unglaubwürdig, denn das deutsche System zwingt ja an vielen Stellen zur Konsenssuche.

Politische Parteien: Tragende Säulen, nur notwendiges Übel oder Problem?

Demokratie kann also direkter oder repräsentativer, konsens- oder konkurrenzbetonter organisiert werden. Egal welche Variante man bevorzugt, um einen Institutionen-Typus wird man indes nicht herumkommen: um politische Parteien. Nicht nur die Idee der Repräsentation unterscheidet moderne Demokratien von ihrem attischen Vorfahren; auch politische Parteien sind eine genuin moderne Entwicklung.

Die Kritik an politischen Parteien (und ihren Vorgängern) ist beinahe älter als die Parteien selbst. Dass Rousseau als Befürworter der direkten Demokratie und Gegner der politischen Repräsentation Parteien ablehnte, ist wenig überraschend. Die These, dass Parteien eine spaltende Eigendynamik entfalten und eigentlich sachliche Fragen unnötig in weltanschauliche Konflikte überführen, ist immer wieder neu formuliert worden.

Repräsentative Demokratie ohne politische Parteien scheint heute jedoch nicht mehr vorstellbar. Gerade in weltanschaulich pluralistischen und komplexen Gesellschaften kommt ihnen die zentrale Aufgabe zu, Interessen zu Bündeln und in sich kohärente Pakete von Politikansätzen über verschiedene Politikfelder hinweg zu formulieren. Außerdem dienen sie natürlich der Ausbildung und Rekrutierung politischer Eliten. Für die breite Öffentlichkeit haben sie zudem die Funktion, Argumente zu schärfen, zu sortieren und somit Komplexität zu reduzieren. Auch bei direktdemokratischen Verfahren, bei denen sie nicht unmittelbar beteiligt sind, wirken sie daher oft unmittelbar als orientierende Kommunikationsakteure.

Auch hier erkennt man eine gewisse Spannung oder Ambivalenz: Politische Parteien sind Schleusen und Filter, Verstärker und Puffer. Sie sollen Präferenzen und Argumente verstärken, zuspitzen und sichtbar machen – und sie sollen zugleich radikale Kräfte durch Einbindung neutralisieren oder zumindest schwächen. Sie sollen einschließen – und ausschließen.

Obwohl diese Funktionen von Parteien eigentlich in allen Demokratien gegeben sind, gibt es doch erhebliche Differenzen. Ein weiteres Spektrum spannt sich auf, wenn man untersucht, wie verschieden in den jeweiligen Ländern die Rolle ist, die politischen Parteien eingeräumt wird. In manchen Ländern handelt es sich um wenig regulierte Wahlvereine, lose Verbindungen, die eigentlich nur in der Kampagnenphase lebendig werden. In anderen Ländern wie Deutschland haben politische Parteien Verfassungsrang, sind genau reguliert und finanziell gut ausgestattet. Das Parteiengesetz regelt hier vor allem auch die innerparteiliche Demokratie: Auch demokratische Prozesse in Parteien müssen bestimmten Qualitätskriterien entsprechen. Die Idee fairer Verfahren und gewaltenteiliger Machtkontrolle wird in Deutschland auch innerhalb von Parteien relevant – und zwar nicht nur als unverbindliches Ideal, sondern rechtlich bindend.

Die Zukunft politischer Parteien scheint indes unklar; in vielen Ländern erodieren die Mitgliederzahlen und sogenannte „Bewegungen“ treten an ihre Stelle. Diese Entwicklung wird in der Regel auf die Auflösung von festen sozialen Milieus zurückgeführt. Der Individualismus macht es unwahrscheinlicher, dass Menschen bereit sind, sich in feste Parteistrukturen einzufügen, sich unterzuordnen und ihre oft sehr spezifischen politischen Präferenzen in einem Parteiprogramm widergespiegelt zu sehen. Die Formel „Ich finde mich da nicht repräsentiert!“ wäre zu erklären durch den unrealistischen Anspruch, ganz individuelle Präferenzen passgenau repräsentiert zu sehen.

Ob die Macht von Parteien gerade Ausdruck von Demokratie ist oder diese untergräbt, ist umstritten. Erkennbar ist jedenfalls, dass die Krise von Parteien in vielen Ländern zu einer Krise der Demokratie geführt hat. Wo Demokratien in eine Existenzkrise geraten, ging in vielen Fällen ein Zerfall oder eine Transformation klassischer Parteien voraus. In Frankreich sind die klassischen Konservativen (Les Républicains) und die Sozialdemokraten (Parti socialiste) beinahe bedeutungslos geworden. In den USA hat sich die Republican Party immer mehr zu einer Sekte von Trumpisten entwickelt, die ihrem Anführer bedingungslos huldigen. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen.

Lebendige Demokratien brauchen also lebendige, in sich demokratisch verfasste politische Parteien. In Deutschland geht aber sowohl die Wählerinnen- und Wählerbindung als auch das Engagement in den (meisten) politischen Parteien zurück. Die alten Volksparteien CDU/CSU und SPD erleben einen auch demographisch bedingten Mitgliederschwund. Fraglich ist auch, ob es politischen Parteien gelingen kann, in sehr stark individualisierten Gesellschaften sehr heterogene Gruppen hinter einem gemeinsamen Programm zu versammeln. Eine weitere Fragmentierung und der Aufstieg eher bewegungsförmiger Parteien zeichnet sich ab.

Felix Heidenreich ist Philosoph und Politikwissenschaftler und lehrt an der Universität Stuttgart. Zudem ist er wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart. Heidenreich publiziert zur politischen Theorie, zur Kulturtheorie und Kulturpolitik.