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Informationen zur politischen Bildung Nr. 361/2024
Zwischen Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit
Felix Heidenreich
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Demokratie muss Raum für kollektives Handeln öffnen und zugleich politische Macht einschränken. Diese Ansprüche von Demokratie ergänzen sich idealerweise, können aber auch in Spannung geraten.
Demokratie bedeutet zwar, dass man gemeinsam entscheiden kann. Demokratie bedeutet aber nicht, dass man gemeinsam über alles entscheiden kann. Das Ideal der Demokratie eröffnet also zum einen Gestaltungsspielräume für kollektives Handeln, es rückt Lebensbereiche in den Raum des Verfügbaren, es „politisiert“ zahlreiche Aspekte des Lebens; und zugleich schränkt es politische Macht ein, entzieht der Politik gewisse (zum Beispiel totalitäre) Optionen, zwingt zu einer Disziplinierung im Auftreten und Handeln. Beide entgegengesetzten Ansprüche der Demokratie verweisen aufeinander, sie ergänzen sich, sie können aber auch in Spannung geraten, ja aufeinanderprallen.
Gemeinsam entscheiden…
Der erste Aspekt des Demokratiebegriffs ist intuitiv einleuchtend: Wenn man „Demokratie“ mit „Herrschaft des Volkes“ übersetzt, steht der Aspekt der kollektiven Ausübung von Macht im Zentrum. Gemeinsam darüber entscheiden zu können, wie wir leben wollen – das wäre dann Ausgangspunkt und Grundidee jeder demokratischen Staatlichkeit.
Der Fachbegriff für diesen Grundgedanken lautet „Volkssouveränität“. Im deutschen Grundgesetz drückt er sich in der Formel aus „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ (GG Art. 20, Abs. 2) Mit dieser Formulierung ist natürlich noch nicht gesagt, wie der Begriff des Volkes inhaltlich zu bestimmen ist. Das Kollektivsubjekt „Volk“ wird hier zunächst vorausgesetzt. Dennoch stellt der Grundgedanke eine weithin geteilte, meist unausgesprochen bekannte Grundlage des politischen Zusammenlebens dar.
Im Herbst 1989 konnten die Menschen, die auf den Straßen von Leipzig und zahlreichen anderen Städten der DDR für die Freiheit demonstrierten, an diese Grundintuition anschließen. Sie riefen „Wir sind das Volk!“. Diese Formel wendete die Rhetorik des SED-Regimes gegen das Regime. Ständig war in der DDR vom Volk die Rede, von der „Volkskammer“, von „volkseigenen Betrieben“, der „Volksarmee“, der „Volkspolizei“, der „Volksstimme“. Tatsächlich aber war die Macht in der Hand einer kleinen Parteielite. Die Formel „Wir sind das Volk!“ richtete sich im Herbst 1989 folglich gegen eine Lüge der Staatselite. Die Formel besagte so viel wie: „Ihr behauptet immer nur, das Volk zu sein oder uns zu repräsentieren! Wir sind das eigentliche Volk!“ Was die Menschen auf den Straßen einforderten, war die Umsetzung von Volkssouveränität.
Demokratie vs. Theokratie
Die Formel zur Volkssouveränität im deutschen Grundgesetz kann zugleich als Abgrenzung gegenüber anderen politischen Ordnungsvorstellungen verstanden werden, die andere Quellen als die demokratische Selbstbestimmung für das Staatshandeln beanspruchen. In Demokratien gibt es nur eine Quelle der Legitimation von Staatsgewalt, und daher muss jede Legitimationskette, sei es über Umwege, auf das Volk verweisen.
Historisch stellte das Feudalsystem den entscheidenden Gegenentwurf dar: Hier war es das ererbte Recht von Aristokraten, das der Volkssouveränität im Weg stand. Politische Macht musste sich hier nicht unter Verweis auf einen Volkswillen legitimieren, sondern konnte auf Gottesgnadentum verweisen.
Völlig verschwunden ist diese Gedankenfigur nicht, aber sie verweist heute meist direkter auf die Religion selbst. Nach wie vor gibt es politische Ordnungen, die sich auf transzendente Quellen berufen, also auf ein göttliches Recht. Meist sind es Offenbarungsreligionen, die – wie in der „Islamischen Republik Iran“ – eine göttliche Ordnung behaupten, die in der weltlichen Ordnung berücksichtigt oder gar abgebildet werden soll. Wer sich hier zur Wahl aufstellen lassen darf, entscheiden dann Theologen in einem „Wächterrat“, der über die Einhaltung der göttlichen Ordnung „wacht“, also unliebsame Kandidaten von den Wahlen ausschließt. Ähnliche Versuche einer religiösen Übertrumpfung der Volkssouveränität durch Verweis auf göttliche Offenbarung gibt es auch im Christentum und Judentum, allerdings meist nur als politische Bewegung, nicht in Form eines mächtigen Staates (der Vatikan verfügt vor allem über symbolische Macht).
In den meisten demokratischen Verfassungen ist die Gedankenfigur von „himmlischen Quellen des irdischen Rechts“ (Tine Stein, deutsche Politikwissenschaftlerin) jedoch auf die Formel einer symbolisch relevanten, aber inhaltlich wenig folgenreichen Anrufung geschrumpft. Die Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik beginnt beispielsweise mit den Worten „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen...“. Auch besteht bei der Vereidigung von Regierungsmitgliedern der Bundesrepublik die Möglichkeit, den Eid mit der Formel „…so wahr mir Gott helfe“ zu beschließen.
Auch in der politischen Kultur der USA sind Formeln wie „God bless America!“ allgegenwärtig. Hier wird in Parlamenten gebetet, und das eigene Land als von Gott erwählt gedacht. Demokratietheoretisch problematisch werden diese Verweise erst, wenn aus religiösen Überzeugungen unvermittelt politische Handlungen abgeleitet werden. Dann wird die Volkssouveränität angegriffen und aus der Demokratie eine Theokratie.
In Deutschland ist eine solche unmittelbare Wirkung religiöser Überzeugungen äußerst selten. Die Unionsparteien berufen sich darauf, das „christliche Menschenbild“ als Grundlage ihrer Politik zu vertreten. Diese Formulierung ermöglicht verschiedene Auslegungen, so dass sie die Artikulation von politischen Präferenzen eher rhetorisch begleiten als inhaltlich steuern: Aus dem Glauben an eine Gottesebenbildlichkeit und Sündhaftigkeit des Menschen folgt weder eine bestimmte Sozialpolitik noch ein zwingender Spitzensteuersatz. Auch aus den Unionsparteien könnte man nicht aus religiösen Gründen ausgeschlossen werden. Mit Niklas Luhmann (1927–1998) könnte man hier wohl von einer „Kontingenzformel“ sprechen: Aus dem christlichen Menschenbild kann man zwar nicht Beliebiges folgern, aber doch sehr viel Verschiedenes.
Aus dem Grundgedanken der Volkssouveränität folgt aber auch, dass Demokratien nur hochgradig irritiert, ja bisweilen ratlos reagieren können, wenn sie mit theokratischen Argumentationsmustern konfrontiert sind. Die Forderung nach der Einführung eines „Gottesstaates“ (welcher Art auch immer) verstößt so eklatant gegen die Grundnormen des Grundgesetzes, dass jede Debatte unmöglich scheint. Die Integration oder Vermittlung religiöser Überzeugungen, ihre „Übersetzung“ in eine säkulare (= weltlich, nicht religiöse) Sprache, wird unmöglich, wenn diese Überzeugungen darauf hinauslaufen, die Idee der Volkssouveränität rundweg abzulehnen.
„Souveränität“ – ein problematischer Begriff
Der Rückblick auf das Gottesgnadentum des Feudalismus führt vor Augen, wo der Begriff der Souveränität historisch seinen Ursprung nimmt: In den Rechtstheorien des Absolutismus. Dem französischen Rechtshistoriker, bzw. Rechtsphilosophen Jean Bodin (1530–1596) wird hier eine zentrale Rolle zugeschrieben. In seinen „Sechs Büchern über den Staat“ (1576) entfaltet er eine sehr wirksame Theorie der Souveränität. Den „Staat“ nennt er übrigens République, eine noch etwas unspezifische Verwendung des Begriffs, die an die Übersetzung des durch Platon einschlägig gewordenen Wortes politeia aus dem Griechischen verweist. Sie scheint uns heute beinahe unpassend, weil bei Bodin der Monarch, anders als in unserem Gebrauch des Wortes Republik heute, selbstverständlich die Spitze des Staates darstellt.
Diesem Monarchen kommt, so Bodin, Souveränität zu: Er verfügt über die uneingeschränkte Befehlsgewalt, hat vollumfängliche Gestaltungskompetenz, kann Verwalter und Stellvertreter ernennen und entlassen, Münzen prägen lassen, Maße und Gewichte definieren, über Krieg und Frieden entscheiden, Gesetze erlassen und durch Begnadigung Urteile aufheben.
Vor allem aber definiert Bodin, was für den Souveränitätsbegriff bis heute zentral ist: Es kann auf einem Territorium, nur einen Souverän geben. Es muss so etwas wie eine letzte Instanz der Zuschreibung von Legitimation geben. Souveränität lässt sich, so Bodin, eigentlich nicht teilen.
Der Gedanke des Alleinanspruchs ist vor allem für die Übertragung des Begriffs ins internationale Recht relevant: Souverän sind hier in erster Linie Staaten. Sie üben Souveränität auf ihrem Staatsgebiet aus, können Verträge schließen und Recht im Inneren mit legitimer Gewalt durchsetzen. Umstritten ist, in welchem Maße und auf welche Weise auch Nationalstaaten ihre Souveränitätsrechte in übernationalen Strukturen zusammenführen können, um sie erfolgreicher auszuüben.
Schon auf der Ebene nationaler Souveränität sieht man, wie die Idee der Souveränität problematische Implikationen entfalten kann: Folgt aus der Souveränität von Nationalstaaten das generelle Verbot der „Einmischung in innere Angelegenheiten“? Solche Argumente sind immer wieder zu hören, vor allem von Autokraten, die in der Verrechtlichung internationaler Beziehungen eine Einschränkung ihrer Macht sehen.
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Vorstellung „innerer Angelegenheiten“ durch die Theorie von einer responsibility to protect ergänzt worden: Die Völkergemeinschaft, so lautet die entscheidende These, hat die Verpflichtung, Menschen vor verbrecherischem Staatshandeln zu schützen, auch wenn dieses von legitimen Regierungen und auf dem Territorium souveräner Staaten vollzogen wird. Diese Theorie wendet sich gegen Diktatoren, die die eigenen Verbrechen zu „inneren Angelegenheiten“ erklären, und den Begriff der nationalen Souveränität als Schutz vor Strafverfolgung missbrauchen.
Aber die Frage nach den Grenzen der „nationalen Souveränität“ ist nicht der einzige Aspekt, an dem die problematischen Seiten des Begriffs erkennbar werden. Was bei Bodin angelegt ist – die Möglichkeit von Willkür – blieb in verschiedenen Varianten mit dem Begriff assoziiert. Andere Theoretiker der Souveränität haben versucht, den Begriff mit weiteren Attributen aufzuladen, die Bedeutung zu verschieben. Einschlägig ist die Formel des durch sein Engagement für den Nationalsozialismus und seine antisemitischen Äußerungen zu Recht in Verruf geratenen Staatsrechtlers Carl Schmitt (1888–1985): „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“
Schmitts Formel klingt neu und spektakulär, aber sie ist beinahe klassisch. Der Absolutismus löste den König aus allen weltlichen Regelsystemen und Rechtspflichten; daher stammt auch ursprünglich der Begriff Absolutismus: absolutus, wörtlich losgelöst ist der Herrscher von allen weltlichen Gesetzen. Ludwig XIV, der „Sonnenkönig“ (1638–1715) konnte sich gottähnlich wähnen, nur dem Allmächtigen unterworfen, ansonsten nicht einmal den von ihm selbst gesetzten Regeln unterworfen.
Restbestände dieser Gedankenfigur zeigen sich in verwandelter Form im Begnadigungsrecht. Die Begnadigung stellt gewissermaßen eine Ausnahme von der Regel dar: Ein Gesetz wird hier im Einzelfall aufgehoben so wie ein allmächtiger Gott die eigenen Naturgesetze im Wunder aussetzen kann. Begnadigungen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht als Anwendung einer strikten Regel erfolgen; sie veranschaulichen sozusagen die Gnade, die auch ausfallen oder verweigert werden kann. Wäre eine Begnadigung vorhersehbar oder einklagbar, wäre nicht mehr von Gnade die Rede, dann gebe es Regeln, ja einen Anspruch auf Strafmilderung.
Im System der Bundesrepublik wird das Begnadigungsrecht in den Bestimmungen zu den Funktionen des Bundespräsidenten definiert. Artikel 60 GG lässt durchaus Raum für Interpretationen, aber aus dem bisher Gesagten folgt, dass in einer demokratischen Verfassung das Begnadigungsrecht nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollte. Als bloße Willkürakte bilden sie einen systematischen Fremdkörper in einem demokratischen Rechtssystem.
Zum „Souverän“ im vormodernen Sinne macht das Begnadigungsrecht den Bundespräsidenten in Deutschland jedenfalls nicht. Es ist sogar fragwürdig, ob das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten ein vormodernes und daher eigentlich der Logik des Rechtssystems widersprechende Überbleibsel darstellt. Wo es dazu dienen kann, den inneren Frieden zu stärken und gesellschaftliche Gräben zu schließen, mag es hilfreich sein.
Umgekehrt gilt: Wo Begnadigungen von Präsidenten – wie beispielsweise von US-Präsident Donald Trump – maßlos und ohne nachvollziehbare Motivation ausgesprochen werden, entsteht aus gutem Grund der Eindruck, die Demokratie entwickle sich wieder zu einer vormodernen Monarchie.
In diesem Kontext kommt zum Tragen, was man als ein Säkularisat beschreiben könnte: Die Idee der Souveränität scheint so etwas wie eine Wiederkehr göttlicher Allmacht zu implizieren: Der Souverän steht über dem Gesetz, er kann Ausnahmen (oder gar den Ausnahmezustand) verkünden. Im Kontext der Staatstheorie Carl Schmitts schwingt dabei ganz explizit auch die Option der politischen Gewalt mit: Wo das Recht endet und der Ausnahmezustand beginnt, wird Ordnung durch Gewalt hergestellt. Durch das Recht, Regeln auszusetzen, wird im schlimmsten Fall die Souveränität zur Willkür. Aber gilt das auch für die Volkssouveränität?
„Wir sind das Volk!“ – Aber wer ist „wir“?
Dass der Begriff der Souveränität äußerst fragwürdige Konnotationen und Implikationen hat, führt dazu, dass in der demokratietheoretischen Debatte durchaus auch die Forderung zu hören ist, den Begriff vollends aufzugeben. Denn die Idee der Souveränität hat einen fragwürdigen Kern: Souverän handeln bedeutet gerade nicht, regelkonform zu handeln, sondern mit Verweis auf einen ungebundenen Willen Regeln zu setzen oder diese zu brechen. Dass ausgerechnet der Staatstheoretiker Carl Schmitt, der in Hitler den Retter des deutschen Volkes zu erkennen glaubte, auf der Idee der Souveränität insistiert, ist bezeichnend. Es gibt auch eine „Rhetorik der Souveränität“, bei der im Namen eines Volkswillens Angriffe auf Minderheiten gefordert werden. Dass insbesondere unter Rechtsextremen gerne von Souveränität gesprochen wird, hat folglich systematische Gründe.
In diesem Sinne scheint es bezeichnend, dass die Formel „Wir sind das Volk“ nicht nur 1989 gerufen wurde, sondern auch 2015 während der aggressiven Aufmärsche der PEGIDA-Bewegung (kurz für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) in Dresden. Der Ausruf nahm hier die Form einer Drohung an. Sie schien formulieren zu wollen „Wir können tun, was wir wollen! Wir sind das souveräne Volk, also an nichts gebunden!“. Die Rechte von Geflüchteten, die rechtlichen Bindungen an die Genfer Flüchtlingskonvention, die im Rahmen der EU geschlossenen Vereinbarungen sollten durch den Verweis auf den souveränen Willen des Volkes aufgehoben werden. So lautet zumindest eine plausible Interpretation des Sprechchors im konkreten Kontext.
Wer ist das Volk? Drei Antworten
Ein demos war in Athen zunächst eine Art Verwaltungseinheit; die entsprach eher dem was man in deutschen Kommunalverwaltungen vielleicht als „Bezirk“ bezeichnen würde. Die freien Bürger eines Bezirks sollten sich selbst verwalten – dies ist die etwas exaktere Bedeutung des griechischen Begriffs. Abgrenzen lässt sich demos daher beispielsweise vom Begriff ethnos: Ein demos setzt sich zusammen aus Menschen, die an einem bestimmten Ort wohnen und dort Bürgerrecht haben – nicht aus einer ethnischen Gemeinschaft von Volksgenossen (ethnos). Eine Ethnokratie, in der innerhalb eines demos nur Mitglieder einer bestimmten Volksgruppe mitbestimmen dürfen, wäre folglich keine Demokratie.
Und dennoch gibt es ja auch in Deutschland nicht nur eine „deutsche (Wohn-)Bevölkerung“, sondern durchaus so etwas wie ein „deutsches Volk“. Sonst würde ja auch die Idee einer gemeinsamen historischen Verantwortung im Angesicht der Verbrechen des Nationalsozialismus wenig Sinn ergeben. Der demos der Demokratie muss mehr sein als bloß eine beliebige Gruppe.
Daraus aber folgt, dass der Status und die Konstitution des Subjekts der Demokratie keineswegs von vorneherein klar sind: Wer gehört dazu? Wer darf dazugehören? Und wer darf bestimmen, wer dazugehören darf?
All diese Fragen sind politisch und umstritten. Drei idealtypische Antworten lassen sich mit dem Soziologen Bernhard Giesen (1948–2020) unterscheiden: a) „primordiale Codierung“, ein mehr oder weniger völkischer Volksbegriff, b) Mitgliedschaft durch Konventionen und c) Inklusion durch Kultur.
Eine „primordial“ (also über Abstammung oder angeborene Eigenschaften) vorprogrammierte kollektive Identität scheint heute nicht mehr mit der Demokratie kompatibel. Ein „völkischer Volksbegriff“ ist in letzter Konsequenz rassistisch. Und doch gibt es Demokratien, die durchaus einen solchen, stark exkludierenden und auf Abstammung rekurrierenden Begriff von Zugehörigkeit umsetzen, zum Beispiel Japan. Wirklich im Vollsinne Japaner oder Japanerin werden kann man (fast) nicht, auch wenn das Land vor dem Hintergrund der demografischen Krise in den vergangenen Jahren etwas mehr Migration zugelassen hat. Auch im Falle Israels ergibt sich eine Spannung aus dem Anspruch, sowohl demokratisch zu sein, also alle Staatsangehörigen gleich zu behandeln, und dem Anspruch, ein jüdischer Staat zu sein. Israelische Rechtsradikale träumen ganz offen von einer Ethnokratie.
Eine Alternative zur Definition des „Volkes“ über Abstimmung ist zweitens die Integration durch Normen, also zum Beispiel den Schwur auf eine Verfassung. Diese Variante gilt zurecht als typisch modern. Die USA sind wohl das deutlichste Beispiel für eine solche Konstitution des „Volkes“ durch Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft. Auch Frankreich wird oft als basierend auf „Werten und Prinzipien“ beschworen: Wer sich zu „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ bekennt, kann dazugehören.
Der im deutschen Kontext in dieser Hinsicht einschlägige Begriff lautet „Verfassungspatriotismus“. Mit ihm geht die Vorstellung einher, dass man sich einer politischen Gemeinschaft auch durch Bezug auf gemeinsame Normen zugehörig fühlen kann: Das Gravitationszentrum des deutschen Volkes ist dann eben nicht Hautfarbe oder Abstammung, sondern das Grundgesetz und die darin formulierte Werteordnung.
Diese Werteordnung sollte man keinesfalls als „abstrakt“ oder unhistorisch schmähen. Gerade im deutschen Fall verweist der Normenbestand des Grundgesetzes auf die historische Erfahrung des Zivilisationsbruches während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zurück. Um das Grundgesetz angemessen zu verstehen, muss man auch verstehen, worauf es antwortet.
In anderen Ländern – wie beispielsweise Dänemark – kommt zur formalen Zugehörigkeit zur Rechtsgemeinschaft noch als dritte Option die Erwartung an eine gewisse kulturelle Anpassung hinzu. In Frankreich hat man diesbezüglich lange auf die integrierende Kraft der Literatur gehofft: Citoyennes und citoyens sollten nicht zuletzt durch die Lektüre von Flaubert und Zola eine gewisse Bildung durchlaufen. Daher die enorme Bedeutung der École républicaine in Frankreich, der „republikanischen Schule“, in der sich die Republik Frankreich zugleich als ein auf den Werten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufgebautes Gemeinwesen präsentiert. In Dänemark setzt man hingegen offensiv auf eine Leitkultur, die auch mit Sanktionen und Konformitätsdruck durchgesetzt wird. Die deutsche Romantik träumte ebenfalls von einer deutschen „Kulturnation“, denn einen deutschen Staat hatte man im frühen 19. Jahrhundert noch nicht.
Die begriffliche Unterscheidung zwischen drei Formen der kollektiven Identität bietet außerdem Gelegenheit, an das komplexe Verhältnis von Demokratie und Nation zu erinnern. Mit der Französischen Revolution 1789 werden diese beiden Versprechen verknüpft: Es gilt eine Nation zu formen und diese demokratisch zu organisieren. Die Idee der Nation hat hier zunächst eine integrierende und egalisierende Funktion: Die „Kinder des Vaterlandes“, die in der französischen Nationalhymne angesprochen werden, sind eben gleich, nicht mehr durch Stände getrennt, sondern alle gleichermaßen Bürgerinnen und Bürger. In Ländern wie Polen ist die Verbindung von nationaler Selbstbestimmung und Freiheit sehr lebendig; der eigene Nationalstaat wird hier aus historisch verständlichen Gründen als Garant für die Freiheit betrachtet.
Die Idee der Nation verspricht Gleichheit. Dass im Prozess der Französischen Revolution beispielsweise der Ausschluss von Frauen sehr schnell wieder einsetzte, das Versprechen echter Gleichheit also gebrochen wurde, werden wir noch ausführlicher thematisieren. Wichtiger ist zunächst zu betonen, dass die Idee der Nation im 19. Jahrhundert einen Funktionswandel durchläuft: Was als integrierende Idee eines „einig Vaterland“ begann, wurde im Nationalismus zur Exklusionsmaschine. Die Nation wurde – nicht nur aber auf besonders brutale Weise in Deutschland – zu einer Gemeinschaft, aus der Nationalisten bestimmte Minderheiten ausschließen wollten.
Ein Erbe dieser Verknüpfung ist die offene Frage, ob und auf welche Weise Demokratie jenseits des Nationalstaates möglich ist. Vor allem die Europäische Union wird dafür kritisiert, Souveränitätsrechte von der nationalstaatlichen Ebene „nach Brüssel“ zu verlagern. Das komplexe Gebilde der EU-Institutionen wirkt aus dieser Perspektive demokratisch fragwürdig, ja aus der Sicht von Populisten und Nationalisten ist die EU ein antidemokratisches Projekt, weil es die Verknüpfung von Demokratie und Nation auflöst. Aus der entgegengesetzten Perspektive versteht man die EU als ein Projekt, das die Souveränität der Nationalstaaten bündelt – und daher den europäischen Nationalstaaten durch Koordination möglich macht, was ihnen als einzelne unmöglich wäre, nämlich auf einer globalen geopolitischen Bühne zu bestehen, auf der Akteure wie die USA oder die Volksrepublik China agieren.
Welche Definition von demos man nun plausibel findet und wie erfolgversprechend die verschiedenen Ansätze zur Konstitution eines kollektiv handelnden Subjekts („Volkes“) sind, bleibt Gegenstand unabschließbarer Debatten. Auch hier kann man erkennen, dass die Strittigkeit des Demokratiebegriffs kein Zufall ist. Nicht nur das krateîn ist mehrdeutig, auch das Wörtchen demos lässt sich ganz verschieden ausdeuten. Und auch hier gilt: Dass etwas strittig ist, bedeutet nicht, dass es beliebig ist: Rassistische Vorstellungen von der „reinen“ Volksgemeinschaft sind in jedem Fall undemokratisch.
Die Einhegung von Souveränität 1: Gewaltenteilung
Die Einsicht in die Ambivalenzen des Souveränitäts- und des Volksbegriffs ist natürlich nicht neu. Im Gegenteil: Historisch gesehen steht die Einschränkung von Macht am Anfang der neuzeitlichen und modernen Demokratisierung. Ein erster dabei zentraler Mechanismus dieser Einhegung von Macht lässt sich mit dem Begriff der Gewaltenteilung zusammenfassen. In ihr drückt sich die doppelte Hoffnung, erstens ein Gewaltmonopol errichten zu können (und die Zeit des latenten oder realen Bürgerkriegs zu beenden), und zweitens dieses Monopol zu zähmen.
In der Form der sogenannten Mischverfassung kannte auch die Antike eine Vorform neuzeitlicher Gewaltenteilung. Als „Mischverfassung“ hatte der Historiker Polybios (ca. 200 v. Chr. – ca. 120 v. Chr.) die Römische Republik beschrieben, deren Stärke und Stabilität er durch den Umstand erklärte, dass sich hier die von Aristoteles beschriebenen Herrschaftsformen nicht etwa zeitlich ablösten, sondern ineinander verschachtelt waren: Die Römische Republik war gleichzeitig monarchisch (denn sie kannte die Funktion eines Diktators in Krisenzeiten), aristokratisch (denn sie hatte einen mit Patriziern besetzten Senat) und demokratisch (denn sie kannte Volkstribune). Polybios glaubte so erklären zu können, warum die Römische Republik (anders als die Demokratien und polis-Gemeinschaften in Griechenland) eine besondere Stabilität aufwies. Die Konflikte waren sozusagen eingehegt, in vorbereitete Formen kanalisiert, durch Routinen entschärft.
Zumindest an einem Ort hat eine Variante dieser politischen Ordnung die Antike überlebt: Die Serenissima Repubblica di San Marco, die Republik Venedig, existierte formalrechtlich vom 7. Jahrhundert bis zur ihrer offiziellen Abschaffung 1797. Ihre Verfassung durchlief zahllose Veränderungen und Reformen; dennoch lässt sich so etwas wie eine Kontinuität bezüglich einer gewissen Balancierung von Macht erkennen. An ihrer Spitze stand der auf Lebenszeit gewählte Doge, der im Dogenpalast zu residieren hatte und nicht zurücktreten konnte. Ihm standen verschiedene Gremien gegenüber, allen voran der Große Rat, ein Gremium, das von den mächtigsten Familien besetzt wurde. Daneben agierten weitere Gremien wie der kleine Rat (die sogenannte signoria), ein Weisenrat (collegio dei savi) und weitere Gremien.
Mit einer Demokratie im modernen Sinne hatte die Republik von Venedig natürlich nicht sehr viel gemein; das komplexe Geflecht interagierender Gremien stellte wohlorganisiert die Herrschaft bedeutender Familien sicher. Dennoch wird an diesem Beispiel deutlich, was auch für die Verfassungsdiskussionen der Neuzeit und Moderne zentral ist: Die Idee, dass sich Konflikte durch Verfahren einhegen, deeskalieren, verzeitlichen, kanalisieren lassen.
Eine klassische Gewaltenteilung von Exekutive, Legislative und Judikative wird man in der Republik Venedig nur bedingt erkennen können. Aber hier überlebte wie in einer Zeitkapsel eine antike Tradition der Organisation von Macht, die auf die neuzeitlichen Debatten eine starke Wirkung ausübte. Über Jahrhunderte war Venedig nicht nur aus ökonomischen und künstlerischen Gründen ein europäischer Sehnsuchtsort, sondern auch aus politischen. Es gab zwar immer wieder heftige Konflikte, Verschwörungen, Umbrüche, aber einen Bürgerkrieg hat die Republik Venedig über fast 1000 Jahre vermeiden können.
Die drei Gewalten
Mit dem Begriff der modernen Gewaltenteilung verbindet man heute in der Regel den Namen Montesquieu. In seinem Buch „Vom Geist der Gesetze“ (1748) finden sich zahlreiche interessante Beobachtungen, ja die darin entwickelten Thesen sind als eine frühe Form der Soziologie beschrieben worden. Der Baron von Montesquieu (1689–1755) reflektiert hier über das Verhältnis von Klima und Gedanken, über den Menschen an sich, über die Ökonomie und die Religion. Besonders bekannt ist jedoch das Kapitel über Politik in England, denn hier kommt er auf die Gewaltenteilung zu sprechen, auch wenn er den Begriff selbst noch nicht benutzt.
Noch klarer als der Philosoph John Locke (1632–1704) unterscheidet Montesquieu hier zwischen den drei Gewalten und warnt vor der Despotie (= Allein- oder Gewaltherrschaft), die sich zwangsläufig ergäbe, würden die drei Zuständigkeiten nicht sauber getrennt: „Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen.“
Damit überschreitet Montesquieu das antike Modell der Mischverfassung; hier werden nicht Regierungsformen kombiniert, sondern Staatsaufgaben unterschieden und möglichst sauber getrennt. Man könnte auch von einer funktionalen Differenzierung sprechen: Gesetzgebung, Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung sind drei Funktionen des Staates, die am besten und zuverlässigsten ausgeführt werden, wenn die entsprechenden Personen sich auf eine Aufgabe konzentrieren können und sich gegenseitig kontrollieren.
Zwischen strikter Gewaltenteilung im Präsidentialismus und der Gewaltenverschränkung im Parlamentarismus muss man unterscheiden. Beide Varianten haben je spezifische Vor- und Nachteile. Wenn die Exekutive aus der Legislativen hervorgeht (wie im Parlamentarismus), fallen die checks and balances nicht ganz so heftig aus. Doch auch im Parlamentarismus kann eine Parlamentsmehrheit prinzipiell durch die Budgethoheit Druck auf die (von ihr gewählte) Regierung ausüben.
Entscheidend ist zunächst, dass die Gewaltenteilung die Idee der Souveränität relativiert, auffängt, einhegt. Ein unbeschränktes „Durchregieren“ wird in gewaltenteiligen Systemen unmöglich gemacht; „passgenaue Gesetze“ oder „kurze Prozesse“ entfallen.
Eine besonders interessante materielle Veranschaulichung hat die Idee der Gewaltenteilung in der Architektur der brasilianischen Hauptstadt Brasilia erfahren. Hier wurde das Zusammenspiel von Exekutive, Legislative und Judikative durch die Anordnung spektakulärer moderner Gebäude architektonisch anschaulich gemacht. Der Architekt Oscar Niemeyer (1907–2012) hatte ein kühnes Konzept für den „Platz der drei Gewalten“ entwickelt. Spektakuläre moderne Betonarchitektur macht hier die Verfassung gewissermaßen begehbar. Die Eröffnung im Jahr 1960 ging entsprechend in die Annalen der politischen Architektur ein: Montesquieus Theorie war in Beton gegossen worden.
Einen noch radikaleren Weg der symbolischen Darstellung der Gewaltenteilung ist man in Südafrika gegangen. Hier wurden die drei Gewalten in drei verschiedenen Städten angesiedelt. Pretoria ist Sitz der Regierung, das Parlament befindet sich in Kapstadt und das Oberste Berufungsgericht in Bloemfontein. Ob diese radikale Gewaltenteilung praktikabel und sinnvoll ist, lässt sich durchaus bestreiten. In der Bundesrepublik Deutschland befindet sich das Bundesverfassungsgericht bekanntlich in Karlsruhe. Auch hier soll die räumliche Distanz die funktionale Trennung verstärken. Im Falle Südafrikas lautet eine erstaunliche Konsequenz, dass das Land zwar einen Regierungssitz hat, aber ganz offiziell über drei Hauptstädte verfügt.
Der Konstitutionalismus – Demokratie in guter Verfassung
Die Idee der Gewaltenteilung gehört zu den zentralen Impulsgebern des sogenannten Konstitutionalismus. Darunter versteht man eine breite Bewegung politischer Anstrengungen, die darauf abzielt, politische Macht durch Verfassungen zu ordnen, zu regulieren und zu begrenzen. Der Begriff der Verfassung (constitution) ist dabei zunächst noch fluide: Er kann auch die „Verfassung“ im Sinne eines „Zustandes“ beschreiben, verweist dann aber in einem immer engeren Sinne auf eine geschriebene (oder in selteneren Fällen ungeschriebene) Verfassung.
Der erste zentrale Schritt einer durch eine Verfassung verbürgten Differenzierung von Gewalten stellt die allmähliche Eroberung von Rechten durch Parlamente dar. Beratende Gremien, Räte von Feudalherren, gab es an Höfen seit jeher. Mit der Neuzeit beginnen diese Proto-Parlamente allmählich, sich vor allem das Budgetrecht zu erkämpfen. Bis heute ist ein zentrales Recht der Legislative die Kontrolle über die Staatsausgaben. Im englischen Kontext wird daher das Parlament zum neuen Sitz der Souveränität, weil nur das Parlament plausibel von sich behaupten kann, das Volk zu repräsentieren.
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht, also den Gesetzen in den anderen Rechtsgebieten. Einfache Gesetze können durch einfache Mehrheiten im Parlament geändert werden. Die Verfassung aber legt sozusagen die Spielregeln des demokratischen Spiels fest; diese können nicht einfach während des laufenden Spiels verändert werden. Für Verfassungsänderungen sind daher in der Regel sehr viel höhere Hürden angelegt, beispielsweise eine Zweidrittelmehrheit. Das Verfassungsrecht regelt das Zustandekommen des einfachen Rechts; es stellt ein „Recht zweiter Ordnung“ dar. Die enthaltenen Spielregeln sind „grundlegend“. Noch bevor das Spiel der Demokratie beginnt, sollen in einer Art demokratischem Gründungsakt – der Verfassungsgebung – die Regeln des Spiels definiert werden.
Die deutlichste Ausprägung hat der Konstitutionalismus wohl in den USA erfahren. Hier spricht man auch von einer „Sakralisierung“ der Verfassung: Der Text wird von bestimmten verfassungsrechtlichen Schulen beinahe zu einer religiösen Offenbarung erhoben, der daher auch wortwörtlich zu befolgen ist. Selbst im konkreten Umgang mit dem Originaldokument im Nationalarchiv der USA kann man eine gewisse Tendenz zur religiösen Aufladung gut erkennen.
In den USA wird auf die Verfassung geschworen; sie wird rhetorisch ins Feld geführt, wenn politische Konflikte eskalieren. Indem man politische Maßnahmen als Schutz der Verfassung darstellt, kann man sie unhinterfragbar machen – oder es zumindest versuchen. Angriffe auf die Demokratie werden als Angriffe auf die Verfassung beschrieben. Die sehr weite Auslegung der Meinungsfreiheit oder das Recht, Waffen zu besitzen und diese (in manchen Bundesstaaten) auch offen zu tragen, werden stets mit Verweis auf die unverbrüchlichen Versprechen der Verfassung begründet.
Zentral für die Bedeutung von Verfassungen sind die Momente der Verfassungsgebung. In der pouvoir constituant, also der Versammlung zur Verfassungsgebung, kommt die Volkssouveränität in ihrer klarsten Form zum Ausdruck: „We the people…“ lautet die berühmte Formel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. In gewisser Weise könnte dieses sich selbst proklamierende „Wir“ – das Kollektivsubjekt, das sich selbst ins Leben ruft – am Anfang aller Verfassungserklärungen stehen: Hier ist die Volkssouveränität noch nicht, was sie gleich danach, nach Verabschiedung der Verfassung, sein wird: eingehegt, ins Korsett des Rechts gesteckt.
Dass Prozesse der Verfassungsgebung einer neuen, demokratischen Ordnung zu Legitimität verhelfen können, lässt sich auch an jüngeren Beispielen beobachten. In Südafrika gelang nach dem Ende des Apartheid-Regimes, in dem die weiße Minderheit ein rassistisches System der „Trennung“ (= Apartheid) aufgebaut hatte, etwas, das vielen wie ein Wunder erschien, nämlich der friedliche Übergang in eine neue, nicht mehr rassistische Ordnung. Die Suche nach einer neuen Verfassung war dabei ausschlaggebend, denn sie definierte so etwas wie den neuen Grundkonsens. Ihr symbolisches Äquivalent ist die bunte Flagge der „Regenbogen-Nation“ Südafrika. Sie wurde anlässlich der ersten freien Wahlen am 27. April 1994 zur Staatsflagge erklärt. Trotz aller Schwierigkeiten, die die südafrikanische Demokratie durchläuft, sollte man anerkennen, dass es durch die Verfassungsgebung gelungen ist, weiten Teilen der Bevölkerung die neue Verfassung als Ausdruck von Volkssouveränität plausibel zu machen.
Ein anderes Beispiel für einen Prozess der Verfassungsgebung in der jüngeren Zeit findet sich in Tunesien. Nach dem sogenannten „arabischen Frühling“ waren die Erwartungen in diesem relativ kleinen Land mit sehr hohem Bildungsniveau besonders groß. Auch die neue, am 26. Januar 2014 in Tunis verabschiedete, Verfassung der Republik Tunesien beginnt in der Präambel mit einem großen „Wir“: „Wir, die Vertreter des tunesischen Volkes, Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung…“ es folgen dann über mehrere Seiten eine ganz Reihe von Bestimmungen und Charakterisierungen, bis es schließlich heißt: „…erlassen im Namen des tunesischen Volkes mit der Hilfe Gottes diese Verfassung.“ Am Beispiel Tunesiens lässt sich leider auch beobachten, dass eine demokratische Verfassung allein vor dem Rückfall in autoritäre Strukturen nicht schützt. Demokratische Verfassungen müssen von breiten demokratischen Mehrheiten getragen und aktiv verteidigt werden. Seit der Wiederwahl des Präsidenten Kaïs Saïed im Oktober 2024 sind die Hoffnungen auf eine tunesische Demokratie enttäuscht; das in der Präambel der Verfassung beschworene demokratische „Wir“ des tunesischen Volkes wird erneut unterdrückt.
Obwohl Deutschland keine Verfassung im engeren Sinne hat, sondern „nur“ ein ursprünglich als Zwischenlösung gedachtes „Grundgesetz“, kann auch Deutschland als ein gutes Beispiel für die zentrale Rolle einer Verfassung in Demokratien gelten. Zwar ist die Sakralisierung nicht so weit fortgeschritten wie in den USA; dennoch können selbst Taschenbuchausgaben des Grundgesetzes eine gewisse Aura entfalten. Der Mythos um den Parlamentarischen Rat verleiht dem Grundgesetz einen Teil seiner Strahlkraft: Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik schätzen ihr Grundgesetz und ihr Verfassungsgericht sehr.
Die Einhegung von Souveränität 2: Menschenrechte, Menschenwürde
Dazu trägt vor allem der berühmte Artikel 1 Abs. 1 bei: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder und jede in Deutschland kennt diesen Satz – oder sollte ihn kennen. Er bildet die Grundnorm, den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich alle beziehen und an dem sich alle prüfen sollten. Die Idee der Menschenwürde stellt neben dem Gedanken der Gewaltenteilung die zweite zentrale Strategie zur Einhegung politischer Macht dar.
Hier geht es nicht mehr darum, die Allmacht des Souveräns (sei es ein Monarch, eine Nation oder ein „Volk“) einzuhegen, sondern ihm ein starkes, geschütztes Individuum gegenüberzustellen. In Grundrechtskatalogen wie der amerikanischen Bill of Rights oder der französischen Erklärung der Menschenrechte wird der staatlichen Macht eine klare Grenze gezogen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 wiederholt diese Denkfigur auf globaler Ebene. Auch das bundesrepublikanische Grundgesetz entzieht bestimmte Grundnormen der Verfügbarkeit, erklärt an erster Stelle die Menschenwürde für „unantastbar“. In der Demokratie, so kann man folgern, kann über vieles abgestimmt werden – aber nicht über alles.
Der Begriff der Menschenwürde ist in diesem Kontext durchaus erklärungsbedürftig. Die Herausbildung des Gedankens, dass dem Menschen eine Würde zukommt, die nicht verletzt werden darf, vollzieht sich über mehrere Jahrhunderte. Als ein wichtiger Impulsgeber gilt der Philosoph Pico della Mirandola (1463–1494), der in einer Abhandlung mit dem Titel De hominis dignitate („Über die Würde des Menschen“), den Begriff gewissermaßen erfindet. Würde – dignitas – war bis dahin eine Eigenschaft von Würdenträgern, von politischen oder kirchlichen Funktionären. Ihre Würde ergab sich weniger aus dem Status als individueller Person als vielmehr aus dem für das die Personen standen, durch ihre Amtswürde.
Eine wichtige Folge dieses Arguments stellt die kritische Reflexion über die Strafpraxis dar. Die Folter, die Todesstrafe, die Entehrung stellen entwürdigende Strafen dar. Wieder ist es ein Italiener, der eine Debatte anstößt: Cesare Beccaria (1738–1779) veröffentlicht 1764 ein Buch, das schon bald in zahlreiche Sprachen übersetzt wird: Dei delitti e delle pene („Von den Verbrechen und von den Strafen“). Zwar argumentiert Beccaria stark utilitaristisch, also auf den fragwürdigen Nutzen verweisend, aber das Ergebnis seiner Überlegungen war dennoch spektakulär: Todesstrafe und Folter, so Beccaria, seien einer zivilisierten Gesellschaft unwürdig.
Seine Gedanken entfalteten eine breite Wirkung, auch auf die amerikanischen Revolutionäre und die Philosophinnen und Philosophen der europäischen Spätaufklärung (= eine Phase philosophischen Denkens vor, während und unmittelbar nach der Französischen Revolution). Das Argument fügte sich in andere Argumentationen, die dem Menschen aufgrund seiner „Gottesebenbildlichkeit“, seiner Vernunftbegabung oder seiner besonderen Leidensfähigkeit eine je individuelle Freiheit zusprachen. Religiöse und aufklärerische Argumente konvergieren hier.
Im Recht wirkten sich diese Gedanken in Form einer „Subjektivierung der Rechte“ aus, die bereits sehr viel früher einsetzt. Damit ist gemeint, dass nun nicht mehr bestimmte Gruppen, Amtsträger oder Kollektive zu Trägern von Rechten erklärt werden, sondern das einzelne Individuum. Am deutlichsten wird dies am Beispiel des Eigentumsrechts. Der sogenannte „Besitzindividualismus“ besagt, dass sich die menschliche Freiheit zunächst darin ausdrückt, dass er oder sie über den eigenen Besitz frei verfügen kann. Neben dem Verbot der Folter wird damit der Schutz des Eigentums zu einem wichtigen Motor der Dynamisierung der Gesellschaft. Das freie Subjekt „besitzt“ nämlich auch den eigenen Körper.
Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit und individuellen Würde ist ein zentrales demokratisches Versprechen: Demokratische Freiheit besteht auch darin, frei von Angst leben zu können. Dieses Versprechen ist besonders relevant für jene, die zu Minderheiten gehören oder aufgrund körperlicher Schwäche darauf angewiesen sind, dass der Staat ihre körperliche Unversehrtheit schützt. Dies betrifft in besonderem Maße Menschen, deren Körper oder Körperbilder den gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen. Homosexuelle, nichtbinäre, trans- oder intergeschlechtliche Personen sind in vielen Ländern massiver Diskriminierung und oft körperlicher Gewalt ausgesetzt. Wie am sinnvollsten für ihre Menschen- und Grundrechte gefochten werden sollte, mag umstritten sein. Bekanntlich polarisiert das Thema der Genderpolitik in demokratischen Öffentlichkeiten enorm. Unstrittig sollte unter Demokratinnen und Demokraten indes sein, dass alle Menschen einen Anspruch auf Würde und Selbstbestimmung haben, der sich auch und gerade im Umgang mit dem Körper ausdrücken sollte.
Dass demokratische Politik daher die Grenze des Körpers in aller Regel respektiert, dass staatliche Zugriffe auf Körper (wie beispielsweise Körperstrafen) in Demokratien abgeschafft sind und der Zugriff auf Körper selbst im Falle einer Impfpflicht (die ja kein Impfzwang ist), stark limitiert ist, sollte nicht überraschen. Dass nichtbinäre, trans- und intergeschlechtliche Personen über ihren Geschlechtseintrag auf Ausweisdokumenten selbst bestimmen können, ohne dafür ein psychiatrisches Gutachten einholen zu müssen, hat sich in vielen demokratischen Staaten inzwischen etabliert. Welche Folgereglungen dadurch für sportliche Wettbewerbe oder Schutzräume für Frauen nötig werden, ist Gegenstand heftiger Debatten.
Der liberalen Tradition wird immer wieder vorgeworfen, die „subjektiven Rechte“, also die Rechte der Individuen, auf ökonomische Abwehrrechte zu beschränken – und damit die Reichen und Mächtigen (historisch: weiße Männer mit Vermögen) zu privilegieren. Ein Schutz vor Enteignung kann eben auch bedeuten, dass himmelschreiende Ungerechtigkeiten weiter existieren, ja dass sie unhinterfragbar werden. Aus marxistischer Sicht sind die bürgerlichen Abwehrrechte verdächtig, weil sie den Handlungsraum der Politik einschränken. Sie verkünden formale Freiheiten, übersehen aber, dass zur Umsetzung dieser Freiheiten auch materielle Bedingungen gegeben sein müssen. Sich auf eine formal gegebene Reisefreiheit zu berufen ist sinnlos, wenn man im Elend lebt und sich ohnehin keine Reisen leisten kann.
Ähnlich lautet eine klassische feministische Kritik an der Idee gleicher Rechte. Auch hier lautet das Argument, dass das rein formale Recht, die gleiche Karriere machen zu können, nicht reicht, wenn Frauen an einer „gläsernen Decke“ scheitern, also durch informelle Ausschlussmechanismen von Spitzenpositionen ferngehalten werden. Gleiche Rechte allein, so das Argument, können nur die notwendige Bedingung sein, aber sie allein sind noch nicht hinreichend.
Die Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young (1949–2006) thematisierte entsprechende Formen der Ausschließung in der Sphäre der politischen Kommunikation: Formal mögen in politischen Gremien alle das gleiche Recht haben zu sprechen, aber de facto werden die Stimmen von Frauen oder People of Colour oft an den Rand gedrängt. Unter dem Begriff der Intersektionalität wird die Überschneidung und Dopplung von Diskriminierung thematisiert. Die mal mehr, mal weniger subtile Ungleichbehandlung von Frauen, sozio-ökonomisch schlechter gestellten, Menschen mit Migrationshintergrund und sexuellen Minderheiten findet auch dort statt, wo formal die liberalen Freiheitsrechte allen gleichermaßen zustehen.
Diese verschiedenen – marxistischen, feministischen, gender-theoretischen – Kritiken an der liberalen Erzählung eröffnen grundsätzlich zwei mögliche Schlussfolgerungen: Man kann entweder den Liberalismus an seine eigenen ungehaltenen Versprechen erinnern, also „echte Freiheit für alle“ fordern, oder aber die Ideen des Liberalismus an sich als imperialistisch, kolonialistisch und sexistisch brandmarken.
Blickt man auf die Geschichte der subjektiven Rechte, so kann man eine unbestreitbare Ausweitung der Menge der Berechtigten konstatieren. Bereits während der französischen Revolution ergänzte Olympe de Gouges (1748–1793) die Erklärung der Menschenrechte (die im Französischen wie eine Erklärung der Männerrechte klingt = Les droits de l'homme et du citoyen), um eine „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (1791).
Die konkrete Ausbuchstabierung der Idee der Menschenrechte führte dazu, dass auch Frauen, auch Kinder, auch die rassistisch Ausgebeuteten und auch Nicht-Staatsangehörige heute in den meisten Demokratien einen umfassenden Rechtsschutz genießen. Aber ist mit dieser Vergrößerung des Kreises der Berechtigten wirklich alles getan? Der Fall des sogenannten "Klima-Urteils" von 2019 wirft etwa die Frage auf, ob auch künftige Generationen, Tiere oder die Natur selbst zum Träger von Rechten werden können.
QuellentextKlimaschutz durch Verrechtlichung
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 zur Verfassungswidrigkeit des Klimaschutzgesetzes (KSG) von 2019 (meist verkürzend als „Klima-Urteil“ bezeichnet) wurde von vielen als wegweisend, ja als bahnbrechend eingeschätzt: Erstmals hatte das Bundesverfassungsgericht mit dem Argument einer „intertemporalen Freiheitssicherung“ die Rechte künftiger Generationen gegen die Verbrauchsansprüche der aktuell lebenden Menschen abgewogen. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass der unzureichende Klimaschutz der Gegenwart für kommende Generationen unzumutbare Freiheitseinschränkungen bedeutet. Daraus folgte, dass unzureichender Klimaschutz verfassungswidrig sein kann. Nicht etwa das Parlament, sondern das Bundesverfassungsgericht hatte damit die Interessen kommender Generationen geschützt.
Eine solche Tendenz zum „Klimaschutz durch Verfassungsrecht“ ist in verschiedenen Ländern zu beobachten. Oftmals werden besonders klimaschädigende Konzerne verklagt, bisweilen wird jedoch auch der Weg über die Verfassungsgerichtsbarkeit beschritten. Wie dieser Trend zu bewerten ist, bleibt umstritten. Kritiker sehen in der Verrechtlichung der Auseinandersetzung eine Entpolitisierung: Was eigentlich mit parlamentarischen Mehrheiten beschlossen werden müsste, wird nun von Gerichten entschieden. Andere fordern indes eine noch umfassendere Verrechtlichung des Themas, ein „ökologisches Grundgesetz“ (Jens Kersten, deutscher Rechtswissenschaftler), das jene Menschen (und vielleicht sogar die Natur selbst) vor Umweltzerstörung schützt.
Felix Heidenreich
Als Stimme der Verfassung und Schutzheer der subjektiven Rechte treten Verfassungsgerichte auf. Nicht in jeder Demokratie gibt es Verfassungsgerichte. Die Schweiz beispielsweise kennt keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Aber in vielen Demokratien dienen sie als Bollwerk gegen einen Staat, der seine Kompetenzen überschreitet. In Ländern wie den USA oder Deutschland spielen die Verfassungsgerichte sogar eine zentrale, aus Sicht der Kritiker eine wachsende, ja eine zu große Rolle.
Die Menschenrechte und die konkreten individuellen Schutzrechte bilden sozusagen die andere Seite der Volkssouveränität. Sie schützen den einzelnen Menschen davor, sich vor staatlichen Eingriffen oder politischer Willkür fürchten zu müssen. Nur wer sich ganz sicher sein kann, nicht zum Spielball der Macht zu werden, kann sich auch frei an der kollektiven Willensbildung beteiligen. Die rechtsstaatliche Einschränkung politischer Macht ist folglich kein Angriff auf die Volkssouveränität, sondern schützt deren Voraussetzungen: Die Freiheit der Individuen.
Einhegung der Souveränität 3: Behörden
Gewaltenteilung und Menschenrechte sind zwei zentrale Mechanismen, die der Einschränkung politischer Macht dienen. Aber sie sind nicht die einzigen. Demokratien haben eine ganze Bandbreite von Institutionen ausgebildet, die vor einem autoritären „Durchregieren“, vor der Willkür wechselnder Mehrheit schützen sollen. Teilweise dienen diese dazu, ganz praktische Aufgaben möglichst unabhängig von politischen Konflikten zu bearbeiten; sie sollen vor übertriebener Politisierung schützen, teilweise sind sie aber auch ganz bewusst als Veto-Spieler konstruiert.
Zu den Veto-Spielern gehören neben den Verfassungsgerichten auch unabhängige Behörden. In den USA begann man im 19. Jahrhundert, sogenannte agencies aufzubauen. Heute bestimmen Behörden wie die Food and Drug Administration darüber, welche Medikamente zugelassen werden und welche Inhaltsstoffe in Lebensmitteln vorkommen dürfen. Demokratietheoretisch relevant sind sie im Falle der USA auch, weil beispielsweise das FBI als unabhängige Bundesbehörde sogar gegen Regierungsmitglieder ermitteln kann – wie beispielsweise im Falle Donald Trumps geschehen.
Auch im System der Bundesrepublik und vor allem in der EU spielt diese Idee unabhängiger Behörden eine zentrale Rolle. Auf der Ebene der Bundesrepublik wären in diesem Kontext Behörden wie das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit oder das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) zu nennen. Ein Beispiel für EU-Behörden ist das Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF).
Ihre demokratietheoretische Legitimation mutet zunächst paradox an: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus – aber die unabhängigen Behörden zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht unmittelbar mit der Volkssouveränität verkettet sind. Im Gegenteil: Sie sollen gerade auch im Falle schneller Regierungswechsel und politischer Konflikte reibungslos arbeiten, orientiert allein an der Sache, nicht an partikularen Interessen. Ihre Legitimität ergibt sich – ähnlich wie bei den Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts – durch Sachkenntnis, nicht durch eine direkte Wahl.
Die Vorstellung, dass ein demokratischer Rechtsstaat zumindest zu einem gewissen Grade auch eine neutrale Maschine, eine Art „Staatsapparat“, darstellen sollte, beruft sich auf die funktionale Legitimation demokratischer Herrschaft: Auch Demokratien müssen konkrete Probleme lösen. Und sie sind umso stabiler, beliebter und resilienter, je besser es gelingt, funktionierende Infrastrukturen, gute Schulen, ein verlässliches Gesundheitssystem und die innere Sicherheit tatsächlich bereitzustellen. All dies, so die Idee der unabhängigen Behörden, gelingt am besten, wenn weder die Exekutive noch die Legislative dabei ständig interveniert.
Auch unabhängige Zentralbanken, Selbstbindungen wie die sogenannte „Schuldenbremse“, die internationale Einbettung von Staaten durch Abkommen oder ganze Vertragswerke wie die EU können in diesem Sinne als demokratische Selbstbeschränkung verstanden werden. Diese Mechanismen entziehen der Exekutive und der Legislative bewusst Entscheidungsoptionen. Dies kann man sinnvoll oder problematisch finden, je nach politischen Präferenzen.
Am deutlichsten wird dies im Falle der Zentralbanken. Die Europäische Zentralbank (EZB), ansässig in Frankfurt am Main, setzt den Leitzins fest und kann Staatsanleihen ankaufen. Sie übt eine enorme finanzpolitische Macht aus, die alle Bürgerinnen und Bürger der EU unmittelbar betrifft. Dennoch ist ihre Leitung keinem Parlament Rechenschaft schuldig. Zwar ist mit informeller Einflussnahme durch Regierungen zu rechnen, aber die Legitimationskette, die die Bürgerinnen und Bürger der EU mit der Spitze der EZB verbindet, ist äußerst lang und verläuft über zahlreiche Vermittlungsstufen.
Auch die unabhängigen Behörden können als Ausdruck der Idee von der Einhegung, Vermittlung, Entschleunigung der Volkssouveränität verstanden werden: Gerade in der Finanzpolitik lässt sich sehen, wie der Europäische Stabilitätspakt (der Grenzwerte für die Staatsverschuldung festlegt), aber auch die deutsche „Schuldenbremse“ oder die EZB bestimmte Entscheidungen der Volkssouveränität systematisch entziehen. Man könnte darin auch den Ausdruck eines gewissen Misstrauens gegenüber dem Volk und seinen Mehrheiten sehen. Das Gespenst, das hier umgeht, hört auf den Namen der Expertokratie.
Republikanisch oder liberal?
Die Analyse der grundlegenden Spannung zwischen dem Anspruch, kollektiv entscheiden zu können, und der Hoffnung, nicht zu sehr durch kollektive Entscheidungen eingeschränkt zu werden, lässt sich auch noch einmal anders deuten. Je nachdem, wo in der Gewichtung der Akzent gesetzt wird, hat man es nämlich mit einem republikanischen oder einem liberalen Demokratieverständnis zu tun.
Keiner Demokratie kann und wird es gelingen, die beiden Ansprüche zu jedem Zeitpunkt perfekt auszubalancieren. Akzentuierungen, Gewichtungen scheinen daher unvermeidlich. Die zwei großen Strömungen der neuzeitlichen Demokratietheorien, den Republikanismus und den Liberalismus, kann man sich entsprechend als zwei konkurrierende Vorschläge der Gewichtung denken.
Historisch älter ist zweifellos der Republikanismus, als dessen Stammväter Aristoteles und Cicero gelten. Die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) gilt als eine herausragende Vertreterin der republikanischen Demokratietheorie im 20. Jahrhundert. Mit Verweis auf Aristoteles plädiert sie dafür, im politischen aktiven Leben die eigentliche Bestimmung des Menschen zu sehen. Nicht im kontemplativen, besinnlichen Leben, sondern durch die Einmischung in die gemeinsamen Angelegenheiten des politischen Gemeinwesens entspricht der Mensch seiner Bestimmung, so Arendt.
Der Republikanismus denkt Politik vom Primat der politischen Gemeinschaft her. Gute demokratische Entscheidungen brauchen eine hohe Inputlegitimation; sie müssen gut begründet sein und fair zustande kommen. Dann dürfen sie allerdings auch weit in das Leben der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Der Mensch ist nach republikanischer Vorstellung nicht nur aus Not ein politisches (bzw. soziales) Wesen, sondern von Natur aus. Erst als aktives Mitglied einer politischen Gemeinschaft entfaltet er seine natürliche Bestimmung vollständig.
Daher kann man auch aus gutem Grund damit rechnen, dass Menschen sich aus eigener Motivation für Politik interessieren und sich für diese engagieren werden. Bürgertugenden sind zu erwarten und dürfen vom Staat durchaus gefordert werden. Politik wird nach dieser Vorstellung voller Leidenschaft und durchaus mit vollem Einsatz betrieben. Denn es geht hier nicht nur um die Aushandlung von Interessen, sondern um das gemeinsame Schicksal und das Selbstbild. Politische Gefühle, Pathos und Leidenschaft gehören aus republikanischer Sicht durchaus zur Politik dazu, wie die Philosophin Martha Nussbaum argumentiert.
Der Liberalismus beginnt hingegen seinen Aufstieg erst mit der Neuzeit, institutionell im 17. und dann beschleunigt im 18. Jahrhundert. Sein Grundgedanke besteht zunächst in der Verteidigung jener Freiräume, die dem Menschen als frei geborenem Wesen von Natur aus zustehen. Das Recht ist das zentrale Mittel, mit dem sich der und die Einzelne gegen den Zugriff des Staates wehren kann – auch gegen den Zugriff auf seinen Besitz.
Der politische Prozess besteht aus dieser Perspektive vor allem im fairen Aushandeln legitimer Interessen. Leidenschaft ist hier nicht nötig; sie hat ihren Ort in der Sphäre des Privaten, in der Familie oder im Kreis religiöser Gemeinschaften. Was ein gelungenes Leben ist, stellt aus liberaler Sicht eine ethische, aber keine politische Frage dar. Mehr als die Einhaltung von Gesetzen sollte ein Staat daher nicht verlangen. Ein guter Bürger und eine gute Bürgerin wird man auch, indem man andere in Ruhe lässt und eine Toleranz gegenüber individuellen Lebensentwürfen und Eigenheiten pflegt.
Für beide demokratietheoretischen Traditionen ließen sich Autorinnen und Autoren und klassische Werke anführen. Manchmal sind die Grenzen auch nicht ganz so eindeutig zu ziehen; manche Texte changieren (= wechseln) zwischen liberalen und republikanischen Motiven. Und auch in der politischen Wirklichkeit finden wir in der Regel Mischformen. Frankreich ist sicher stark republikanisch geprägt, Großbritannien liberal. In den USA existieren beide Prägungen oft in einer erstaunlichen Verwobenheit: Wirtschaftspolitischer Ultraliberalismus kann hier mit kulturellem Kommunitarismus einhergehen. Oft wird in den USA das Vorbild der Römischen Republik beschworen, auch symbolisch und architektonisch; zugleich wird Politik aber oft auf ökonomische Kategorien, den berühmten deal, reduziert.
Demokratieverständnisse im Vergleich: Republikanismus vs. Liberalismus
Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass die oft verwendete Formel von der „liberalen Demokratie“ nicht ganz unproblematisch ist. Natürlich müssen Demokratien in einem strukturellen Sinne „liberal“ sein, um als Demokratien bezeichnet werden zu können – genau darin besteht ja die Pointe des Modells von den zwei Säulen.
Aber nicht jede Demokratie, die im engeren Sinne nicht-liberal ist, ist deshalb schon antiliberal. Nicht jede kollektiv bindende Entscheidung, die den individuellen Gestaltungsspielraum einschränkt, ist schon ein Angriff auf die Demokratie oder die Menschenwürde. Die Einführung der Gurtpflicht in der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren wurde als Weg in den totalitären Bevormundungsstaat gebrandmarkt – aber man könnte hier aus republikanischer Sicht auch ganz entspannt von einer kollektiv bindenden Entscheidung, von der Ausübung von Volkssouveränität sprechen. Beide Akzentuierungen und Perspektiven haben folglich ihre Berechtigung, ihre Vor- und Nachteile.
Die grundsätzlichste Spannung betrifft wohl die Frage, in welchem Maße Politik in Demokratien als Aufgabe von Eliten oder als Bürgerpflicht aller verstanden wird. Hier lassen sich liberale und republikanische Demokratieverständnisse gegenüberstellen. Aus liberaler Sicht dient Politik in erster Linie dazu, konkrete Probleme zu lösen. Sie stellt gewissermaßen ein notwendiges Übel dar, das abgearbeitet werden muss, um Rechtssicherheit und ökonomische Prosperität herzustellen – aber sie ist kein Ziel in sich. Daher sollte sie aus liberaler Sicht auch von Profis geleistet werden, die auf einem freien Markt um die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger konkurrieren. Politik soll aus dieser Sicht in erster Linie „liefern“, die Bürgerinnen und Bürger aber nicht unnötig mit Details belästigen.
Aus republikanischer Sicht hingegen wird der Mensch erst als politischer Bürger seiner Bestimmung gerecht. Anders als moderne Kunst, Sport oder andere Hobbies besteht hier zumindest eine moralische (und nur bedingt juristische) Pflicht, sich zu interessieren und sich zu beteiligen. Alle Bürgerinnen und Bürger sind in diesem Sinne immer auch (wenn auch nur in geringem Maße) Politiker, denn durch ihre Wahlbeteiligung (oder -abstinenz) gestalten sie das Gemeinwesen mit. Aus republikanischer Sicht kann demokratische Politik daher nicht einfach an Berufspolitiker delegiert werden, sondern geht alle an.
Zwischenergebnis: Einheit von Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit
Fassen wir ein kurzes Zwischenergebnis zusammen: Demokratie bedeutet, dass man gemeinsam entscheiden kann – aber eben nicht über alles. Volkssouveränität kann man durchaus einklagen, aber man sollte den Begriff der Souveränität nicht naiv als Ungebundenheit missverstehen. Demokratische Souveränität ist immer eingehegte Souveränität. Die Demokratie entzieht bestimmte Grundrechte der politischen Verfügbarkeit, und sie schränkt politische Macht durch Gewaltenteilung ein, die sie (meist) in Verfassungen kodifiziert. Verfassungsgerichte sind folglich nicht einfach als das Gegenteil der Demokratie zu verstehen, sondern selbst Ausdruck einer demokratischen Grundintuition.
Zur Demokratie gehört demnach nicht nur das Recht auf Beteiligung an Politik, sondern auch das Recht auf Schutz vor Politik. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas bringt diesen Gedanken auf den Begriff der „Gleichursprünglichkeit“ von Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit. Zur Verteidigung von Demokratie gehört daher immer auch der Schutz des Rechtsstaats, zum Beispiel die Verteidigung der Unabhängigkeit der Justiz.
Diese begriffliche Analyse macht nun verständlich, dass es eine beinahe unvermeidliche Ambivalenz gibt, ein Oszillieren (= Pendeln) zwischen dem Wunsch, möglichst viel oder am besten alles gemeinsam entscheiden zu können, und dem Wunsch, es solle besser doch nicht alles dem Mehrheitsvotum unterworfen werden. Demokratisierung stellt daher immer beides gleichzeitig dar: eine Ausweitung politischer Macht und ihre Einschränkung.
Zwei Gefahren: „Postdemokratie“ und „illiberale Demokratie“
Die bisherige Analyse des Demokratiebegriffs hat eine grundlegende, man muss wohl sagen: unüberwindbare Spannung erkennbar gemacht. Im besten Fall ist diese Spannung produktiv, im schlimmsten Fall führt diese Spannung zu einer Art Selbstblockade der Demokratie.
Und dieser schlimmste Fall scheint heute in vielen Demokratien einzutreten. Die Berufung auf Souveränität ist zurückgekehrt, ja sie ist zu einer allerorten zu hörenden Forderung geworden. Marine Le Pen in Frankreich beispielsweise verkündet, allein sie könne Frankreichs Souveränität wiederherstellen. Auch die Brexiteers (= Befürworterinnen und Befürworter des Austritts Großbritanniens aus der EU) in Großbritannien oder die Anhängerinnen und Anhänger der AfD berufen sich auf die Souveränität. Wie ist der globale Erfolg entsprechender Bewegungen zu erklären? Wie hängt die einseitige Auslegung des Demokratiebegriffs mit der Krise der Demokratie zusammen?
Stark vereinfachend könnte man sagen, dass der Demokratiebegriff nach zwei Seiten vereinseitigt werden kann. Gegenwartsdiagnose und vorgeschlagene Therapie stehen dann jeweils spiegelverkehrt zueinander.
Beginnen wir zunächst mit der ersten Vereinseitigung: Wenn Verfassungen, internationale Verträge, ökonomische Abhängigkeiten und Veto-Spieler die Volkssouveränität zu stark einschränken, entsteht der Eindruck, in Wahlen werde gar nichts mehr entschieden („elections without choice“). Politische Entscheidungen werden dann als „alternativlos“ beschrieben, der demokratische Prozess wirkt entleert, die Volkssouveränität ausgehöhlt.
Der Politologe Colin Crouch hat dafür den Begriff der „Postdemokratie“ vorgeschlagen. Die Postdemokratie stellt nicht einfach das Gegenteil der Demokratie dar; sie kommt nicht einfach nur zeitlich „nach“ (lat. „post“ = hinten(nach), danach) der Demokratie, sondern führt diese formal fort. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass alle Verfahren völlig intakt sind. Es wird weiter gewählt, Koalitionen werden gebildet, Regierungen erklären ihre Absichten, setzen Maßnahmen um, die Opposition kritisiert das Geschehen. Aber all dies bleibt irrelevant.
Denn trotz aller formalen Korrektheit ist die Idee der Demokratie inhaltlich ausgehöhlt: Es gibt nicht mehr wirklich etwas zu entscheiden. Egal wer regiert, bedient werden die Interessen von internationalen Anlegern, von Interessensverbänden, globalen Eliten und ihren Lobbyisten. Für Crouch standen diese ökonomischen Einschränkungen der Demokratie im Vordergrund. Aber auch die juristische Einhegung der Demokratie kann problematisch werden. Da die Nationalstaaten (bzw. Rechtsräume wie die EU) darum konkurrieren, internationale Investitionen anzulocken, ist die Souveränität aufgehoben. Die Verrechtlichung, die sich beispielsweise im EGMR, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, durchschlägt, tut ihr übriges: Demokratie wird zwar noch simuliert, aber trotz all des Theaterdonners ist sie inhaltlich entleert.
Zuletzt hat der Politikwissenschaftler Philip Manow versucht zu zeigen, dass in der Tat in vielen Ländern die Verfassungsgerichte ihre politische Einflussnahme stark ausgeweitet haben. In Deutschland fiel 2021 das sogenannte „Klima-Urteil“. Es zwang die damalige Bundesregierung, das Klimaschutzgesetz zu ändern. Erneut, so könnte man mit Philip Manow argumentieren, wurde eine eigentlich politische Entscheidung durch Verrechtlichung gelöst. Egal wie man inhaltlich zum Ergebnis steht: Eigentlich wünschenswert wäre eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Inhalte und eine souveräne, kollektiv bindende Entscheidung gewesen.
Es gibt durchaus gute Einwände, die das Szenario von der völligen „Alternativlosigkeit“ relativieren und das Szenario einer die Politik de facto erstickenden Postdemokratie hinterfragen. Die empirische Forschung zeigt, dass Wahlversprechen durchaus gehalten werden, auch wenn dies oft nicht wahrgenommen wird. Nicht immer handelt es sich dabei um so öffentlichkeitswirksame Versprechen wie die Erhöhung des Mindestlohnes. Viele politische Absichten werden still und leise umgesetzt, bemerkt nur von jenen, die von den neuen Regelungen betroffen sind.
Populismus und autoritäre Bewegungen
Wie auch immer man zur These von der Postdemokratie steht: Viele Menschen in den etablierten Demokratien erleben Politik genau so, als eine „Alternativlosigkeit“, in der Wahlergebnisse ohnehin keine Folgen haben. Sie erleben sich als ohnmächtig, und wünschen sich grundlegende, radikale, „disruptive“ Veränderungen.
Entsprechend kann der Aufstieg von Populisten und autoritären Bewegungen verstanden werden als eine ebenfalls demokratiegefährdende Reaktion auf ein unvermeidliches Unbehagen in der Demokratie. Auch hier wird der Demokratiebegriff einseitig interpretiert, jetzt aber zu Gunsten der Idee der Volkssouveränität.
Während die Postdemokratie den Spielraum von Politik einschränkt plädiert der „Souveränismus" oder „Populismus“ für das Gegenteil: Hier wird der Demokratiebegriff in die andere Seite vereinseitigt, weil dem Willen eines als Einheit vorgestellten Volkes gar nichts mehr im Weg stehen soll.
Populisten behaupten von sich, dass sie – und nur sie – den „wahren Willen des Volkes“ vertreten, wie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller herausgearbeitet hat. Sie versprechen eine unmittelbare Umsetzung des Volkswillens, also eine ungefilterte, ungebremste, uneingeschränkte Volkssouveränität. Eine „illiberale Demokratie“ sieht dann die Verfassung und die Verfassungsgerichte nur noch als Hindernisse an. Das „Volk“, das von Populisten beschworen und als homogen vorgestellt wird, soll dann uneingeschränkt und ohne Rücksicht auf Minderheiten, internationale Verträge oder Individuen entscheiden dürfen. Eine Beschwörung ungebundener Souveränität dient der Diffamierung rechtsstaatlicher Grundsätze.
Alles, was für die zweite Seite der Demokratie steht – die Menschenrechte, die Würde des und der Einzelnen, der Schutz von Minderheiten – ist ihnen daher ein Gräuel. Entsprechend ist es kein Zufall, dass populistische Regierungen strukturell in Konflikte mit Verfassungsgerichten geraten. Dies hat man in Polen während der Regierungszeit der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) beobachten können, in den USA, wo Donald Trump Bundesrichter als „so-called judges“ verhöhnte, aber auch in Israel, wo unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu der Versuch unternommen wurde, das Höchste Gericht Israels zu entmachten.
Diese erkennbaren Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz – besonders deutlich vielleicht im Falle von Donald Trump in den USA – führen aber dazu, dass die Unabhängigkeit der Judikative durch neue Maßnahmen gestärkt werden soll. So gibt es auch in Deutschland Bestrebungen, die darauf abzielen, einer möglichen Blockade oder Instrumentalisierung des Bundesverfassungsgerichts vorzubeugen.
Dadurch entsteht eine für die Demokratie fatale Dynamik: Zwei Vereinseitigungen des Demokratiebegriffs prallen aufeinander. Die „Souveränisten“ behaupten, man könne über alles, aber auch wirklich alles entscheiden. Die andere Seite vermittelt den Eindruck, auf vielen Politikfeldern gebe es eigentlich gar nichts zu diskutieren, weil beispielsweise das Asylrecht oder der Klimaschutz längst durch internationale Abkommen geregelt sind, aus denen man sich nicht zurückziehen kann.
Alles scheint sich also daran zu entscheiden, die Spannungen produktiv werden zu lassen. Wir werden im folgenden Kapitel die institutionellen Ausprägungen von Demokratie näher beleuchten. Sie können verstanden werden als der Versuch, mit der Spannung umzugehen, die Konflikte auf geregelte Weise fruchtbar zu machen.
QuellentextWehrhafte Demokratie – Ist der deutsche Föderalismus gewappnet?
In Bund und Ländern werden derzeit verschiedene Verfassungsreformen erwogen, um die Demokratie besser zu schützen. Aber wie gut wäre die föderale Ordnung gerüstet, wenn Populisten oder Extremisten mitregierten?
[…] Die Bundesrepublik Deutschland gilt heute als Inbegriff einer wehrhaften Demokratie. Bei der Erarbeitung des Grundgesetzes 1948/49 folgte der Parlamentarische Rat [Rechtswissenschaftler Karl] Loewensteins Ideen, indem er die Möglichkeit vorsah, extremistische Parteien zu verbieten (Art. 21 Abs. 2 GG) und aktiven Gegnern der freiheitlich demokratischen Ordnung politische Grundrechte abzuerkennen (Art. 18 GG).
Darüber hinaus wurde der in Art. 1 und Art. 20 GG verankerte „Verfassungskern“ für unabänderlich erklärt. Neben Demokratie-, Rechts- und Sozialstaatsprinzip zählt dazu auch die bundesstaatliche Ordnung, die als wirksamer Schutz vor einer autokratischen Zentralisierung von Macht verstanden wurde. […]
Die vermeintliche Gewissheit, dass die bundesdeutsche Demokratie unverletzlich sei, ist jedoch brüchig geworden. […] Vor diesem Hintergrund wird in Wissenschaft und Politik darüber nachgedacht, wie die bundesdeutsche Verfassungsordnung reformiert werden kann, um wählerstarken Populisten und Extremisten standzuhalten. Diese Debatte knüpft nicht nur an die Idee der wehrhaften Demokratie an. Sie steht auch in einer deutschen Tradition des Legalismus, der dazu neigt, politische Probleme mit rechtlichen Mitteln zu lösen.
Im Bund geht es derzeit in erster Linie um eine bessere Absicherung des Bundesverfassungsgerichts, dessen institutionelle Grundlagen nur einfachgesetzlich geregelt sind und somit von einer illiberalen Regierungsmehrheit leicht unterminiert werden könnten. […]
Die Wirksamkeit mancher Reformvorschläge erscheint dennoch fragwürdig. Ein Grundproblem besteht darin, dass Verfahrensregeln je nach den konkreten Mehrheitskonstellationen unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen. Institutionelle Reformen können daher nie einen bestimmten Effekt ohne „Risiken und Nebenwirkungen“ garantieren. […]
Außerdem können Parteien versuchen, sich bei Reformen, die eigentlich dem Schutz vor Extremisten dienen, auch taktische Vorteile gegenüber ihren demokratischen Mitbewerbern zu verschaffen. Ein solches Vorgehen untergräbt aber die Idee einer wehrhaften Verfassung, die von einem breiten Konsens der Demokraten getragen wird. […]
Diese Einwände bedeuten nicht, dass die vorgeschlagenen Änderungen sinnlos wären. Allerdings richten sich auch diese nur auf den Bund oder einzelne Länder. Wie gut aber wäre der deutsche Föderalismus gewappnet, wenn demokratiefeindliche Parteien in einem oder mehreren Ländern mitregieren würden? Es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich der deutsche Föderalismus dann als „Bollwerk gegen Autokratie“ erweist. Vielmehr könnte er so unter Druck geraten, dass die Funktionsfähigkeit der gesamtstaatlichen Demokratie bedroht wäre.
Die föderale Ordnung bildet das politisch-administrative Rückgrat des deutschen Regierungssystems. Im Unterschied zu anderen Bundesstaaten wie den USA oder Kanada […] sieht das Grundgesetz vor, dass Bund und Länder bei der Erfüllung der meisten Staatsaufgaben zusammenwirken.
Dieser „Kooperationszwang“ manifestiert sich auch in dem vom Bundesverfassungsgericht als Verfassungsgrundsatz entwickelten „bundesfreundlichen Verhalten“.
Dieser Zwang hat durchaus Vorteile, weil auch kleinere und finanzschwache Länder ihre Interessen auf die gesamtstaatliche Agenda setzen können. Er führt aber auch zu einer besonderen „Verletzlichkeit“ des deutschen Föderalismus, weil sich ein regelwidriges oder demokratiefeindliches Verhalten einer Landesregierung weniger gut vom Rest des Bundesstaates isolieren ließe als in trennföderalen Systemen. Selbst wenn also populistische oder extremistische Parteien in nur wenigen Ländern mitregierten, könnten sie das föderale Beziehungsgefüge empfindlich treffen.
Ein erstes Einfallstor für eine solche Obstruktion ergibt sich aus der Mitwirkung der Landesregierungen an der Bundesgesetzgebung über den Bundesrat. Besonders bedeutsam sind hier die zustimmungsbedürftigen Gesetze, die knapp vierzig Prozent aller Gesetzgebungsverfahren ausmachen und bei denen Enthaltungen im Bundesrat wie Neinstimmen gewertet werden. Außerdem müssen die Stimmen eines Landes nach Art. 51 Abs. 3 GG einheitlich abgegeben werden. Wäre eine populistische oder extremistische Partei in eine Landesregierung mit anderen Parteien eingebunden, hätte sie also faktisch ein Vetorecht, da sich diese Regierung bei der Abstimmung enthalten müsste, sofern sie sich nicht zuvor intern einigen konnte. […]
Ein zweiter, besonders störanfälliger Bereich des kooperativen Föderalismus sind die Fachministerkonferenzen der Länder, an denen teilweise auch Vertreter der Bundesministerien teilnehmen. Hier stimmen sich die Länder untereinander auf den Politikfeldern ab, die sie weitgehend eigenständig gestalten können, wie Bildung, Kultur, Innere Sicherheit, Medien, Verkehr, Bauwesen etc. Diese Ministerkonferenzen, die es in vielen föderalen Staaten gibt, sind in Deutschland besonders wichtig, weil von ihnen erwartet wird, dass sie die Unterschiede in der staatlichen Daseinsvorsorge möglichst umfassend nivellieren. Sie sind damit ein Instrument, mit dem das verfassungsrechtliche Gebot der gleichwertigen Lebensverhältnisse verwirklicht werden soll. […]
Ein drittes neuralgisches [= heikles, Anm. d. Red.] Strukturmerkmal des deutschen Bundesstaats ist, dass die Länder für den Vollzug von Bundesgesetzen und von EU-Recht zuständig sind. Da die Landesregierungen diesen Vollzug in der Regel als „eigene Angelegenheit“ wahrnehmen und der Bund nur in wenigen Ausnahmefällen über eine eigene Verwaltung verfügt, ist er auf ihre Bereitschaft angewiesen, die bundes- und europarechtlichen Vorgaben fristgerecht und vollständig umzusetzen. Extremisten in einer Landesregierung könnten sich diesen Umstand zunutze machen und den Gesetzesvollzug in ihrem Land ganz oder teilweise lahmlegen. […]
Zusammengenommen weist der bundesdeutsche Föderalismus, der auch im internationalen Vergleich als besonders robust gilt, erhebliche Schwachstellen auf, wenn er mit obstruktiv agierenden Parteien in einer oder mehreren Landesregierungen konfrontiert wäre. Wie also könnten sinnvolle Reformen aussehen?
Ein erster Ansatzpunkt wäre das Abstimmungsverfahren bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen im Bundesrat. […] Um die Blockademacht einzelner Regierungsparteien zu verringern, könnten etwa Enthaltungen als „echte“ Enthaltungen gezählt oder die Abstimmungsfrage umgekehrt formuliert werden („Wer ist dagegen?“).
Natürlich wäre diese Reform nicht zum „Nulltarif“ zu haben. Vor allem kleinere Koalitionspartner in Landesregierungen würden an Einfluss verlieren, und es könnte schwieriger werden, bei strittigen Inhalten einen breiten Länderkonsens herzustellen. […]
Möglich wäre es auch, in den Fachministerkonferenzen der Länder die Einstimmigkeitsregel durch ein hohes Mehrheitsquorum (etwa 13 von 16 Stimmen) zu ersetzen. Dabei könnte man an einen kürzlich unternommenen Vorstoß einiger Kultusminister anknüpfen, der zunächst nicht die erforderliche Zustimmung fand. Demnach würde eine qualifizierte Mehrheitsregel eingeführt, wobei die ablehnenden Länder eigene Lösungen finden könnten, ohne die anderen am gemeinsamen Handeln zu hindern. Solche „Opt-outs“, wie sie es etwa in Kanada oder der Schweiz gibt, würden die autonome Gestaltungsmacht der Länder unberührt lassen und zugleich verhindern, dass einzelne Parteien in einer Landesregierung das gesamte System lahmlegen können. […]
Schließlich wäre zu überlegen, wie man im Konfliktfall die Verbindlichkeit des föderalen Gesetzesvollzugs erhöhen könnte. Das Grundgesetz kennt dafür bereits ein Instrument des „wehrhaften Bundesstaates“: Nach Art. 37 GG kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates den sogenannten Bundeszwang ausüben, wenn ein Land Bundesrecht nicht pflichtgemäß umsetzt. […] Mit diesen scharfen Waffen kann der Bundeszwang allenfalls eine Ultima Ratio darstellen, um die Funktionsfähigkeit des Verwaltungsföderalismus zu sichern. Bislang wurde er noch nie angewandt.
Es erscheint aber auch zweifelhaft, ob er im Bedarfsfall das geeignete Mittel wäre, um den föderalen Vollzugskonsens wiederherzustellen. […] Daher würden sich „weichere“ Sanktionsregeln anbieten, die früher ansetzen oder schon vorab die gewünschte Verhaltensänderung bewirken, sodass sie gar nicht erst zur Anwendung kommen müssten. Denkbar wäre beispielsweise, dass ein Land unter bestimmten Voraussetzungen der Nichtkooperation Strafzahlungen zu leisten hätte, wie sie etwa der Europäische Gerichtshof wegen eines säumigen Vollzugs von EU-Recht verhängen kann (Art. 260 AEUV). […]
Felix Heidenreich ist Philosoph und Politikwissenschaftler und lehrt an der Universität Stuttgart. Zudem ist er wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart. Heidenreich publiziert zur politischen Theorie, zur Kulturtheorie und Kulturpolitik.