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Demokratie heute | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 361/2024

Demokratie heute

Felix Heidenreich

/ 3 Minuten zu lesen

Die Demokratie ist weltweit in der Krise. Umso wichtiger scheint ein kritischer Blick darauf, wie sie funktioniert oder funktionieren könnte.

(© Statista, The Economist Intelligence Unit (https://de.statista.com/infografik/20599/economist-democracy-index))

Lange konnte es so erscheinen, als sei die Demokratie nicht nur weltweit auf dem Vormarsch, sondern als sei sie unter den Formen der Gesellschaftsorganisation geradezu konkurrenzlos. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus 1991 demokratisierten sich immer mehr Länder, nicht nur im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion, sondern weltweit. Auch in Lateinamerika schien der Trend klar in eine Richtung zu weisen. Gegenentwürfe wie das totalitäre System Nordkoreas oder der Islamismus der Taliban in Afghanistan waren so wenig attraktiv, dass sie keine ernstzunehmende Konkurrenz darstellten. Sie galt es zwar militärisch zu besiegen oder zumindest einzuhegen, aber ideologisch stellten autoritäre Regime keine Herausforderung dar.

Entsprechend ließen sich die Errungenschaften der Demokratie, ihre Geschichte und ihre Praxis wahlweise als heldenhafte Fortschrittsgeschichte erzählen oder als etablierter Wissensbestand präsentieren. Einige demokratische Innovationen mochten vielleicht das klassische Angebot demokratischer Verfahren ergänzen, aber im Wesentlichen schien festzustehen, was Demokratie ist, wie sie funktioniert und warum sie so erfolgreich ist.

Nicht nur gefestigt, sondern geradezu unverbrüchlich wirkten auch die politischen Systeme in demokratischen Ländern wie Großbritannien, den USA, in Frankreich oder in der Schweiz. Der Vergleich von Regierungssystemen in der politikwissenschaftlichen Forschung konnte nicht nur explizite Regeln in Verfassungen vergleichen, sondern auch recht stabile implizite Gewohnheiten voraussetzen.

Spätestens um das Jahr 2016 gerieten all diese Sicherheiten in eine Krise. Das Brexit-Votum für einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU und die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika führten vor Augen, dass die Geschichte der Demokratie keineswegs in die verlässlichen Bahnen eines stetigen Fortfließens gemündet war. Weltweit ließ sich empirisch eine „demokratische Rezession“ beobachten: In zahlreichen Ländern nahm die Demokratiequalität ab, andere kippten endgültig in autoritäre Strukturen. Zugleich schien die globale Macht der Demokratien zu sinken, während autoritär geführte Staaten wie die Volksrepublik China und die Russische Föderation ihren Einfluss in vielen Ländern systematisch ausbauten.

Mittlerweile kann man nicht mehr leugnen, dass die Demokratie gefährliche innere und äußere Feinde hat, die viele klassische Errungenschaften erklärtermaßen abschaffen wollen. Von einer geradlinigen Heldengeschichte oder einem fest etablierten Wissensbestand sind wir aktuell weit entfernt. In dieser Situation lässt sich die Idee der Demokratie nicht mehr als historische Aufschichtung immer neuer Kenntnisse darstellen. Vielmehr gilt es den Stier der antidemokratischen Herausforderung bei den Hörnern zu packen.

In der Tat gibt es Widersprüche, Spannungen, Ambivalenzen, die sich aus der Idee der Demokratie ergeben und die demokratische Praxis durchziehen. Es gibt daher auch nicht die eine richtige Form der Demokratie. Entsprechend stellt diese Ausgabe die Demokratie nicht als fest etablierten Bestand vordefinierter Regeln und Verhaltensweisen vor, sondern als eine Vielzahl möglicher Arten, mit grundlegenden Zielkonflikten und Spannungen umzugehen. Vorgestellt werden hier weniger „Lösungen“ oder „Antworten“ als vielmehr Bearbeitungsstrategien.

Aus einer solchen problemorientierten Betrachtung folgt aber keineswegs, dass der Begriff der Demokratie völlig beliebig wäre. Es lassen sich bezüglich des Demokratiebegriffs sehr wohl ein gewisser Grundkonsens und bestimmte Denkschulen angeben – und dadurch eine Art Landkarte zeichnen, die in der Debatte über die Demokratie Orientierung bietet. Genau darin besteht die Aufgabe der vorliegenden Ausgabe; sie soll nicht abschließende Antworten und autoritative Definitionen vorgeben, sondern so über die demokratietheoretische Diskussion informieren, dass das eigene Nachdenken und Argumentieren wohlinformiert und möglicherweise anspruchsvoller ausfällt.

Felix Heidenreich ist Philosoph und Politikwissenschaftler und lehrt an der Universität Stuttgart. Zudem ist er wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart. Heidenreich publiziert zur politischen Theorie, zur Kulturtheorie und Kulturpolitik.