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Die moderne Industriegesellschaft | Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 | bpb.de

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Die moderne Industriegesellschaft

Prof. Dr. Benjamin Ziemann Benjamin Ziemannn

/ 19 Minuten zu lesen

Ähnlich wie heute zeigen sich schon während der Kaiserzeit die Ambivalenzen der modernen Industriegesellschaft. Industrielle Fertigung und Liberalisierung schaffen einerseits Wachstum und Wohlstand, andererseits aber konjunkturelle Unsicherheit und soziale Ungleichheit. Auch bleiben bestimmte Gesellschaftsgruppen von der rechtlichen Gleichstellung ausgeschlossen.

Im Kaiserreich wachsen die Städte. Passanten in der Hohe Straße, Köln (© Ullstein Bild - H. Lehmann)

In den vier Jahrzehnten vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 vollzog sich in der deutschen Gesellschaft ein dramatischer sozialer Wandel. Zum Zeitpunkt der Reichsgründung arbeiteten noch fast die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft und nur etwas weniger als 30 Prozent im gewerblichen Sektor von Industrie und Handwerk. Zugleich lebten um 1871 noch knapp 64 Prozent der Bevölkerung in Dörfern und Landgemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern, in Großstädten mit mehr als 100.000 Bewohnern dagegen weniger als fünf Prozent. Bis 1910 stieg der Anteil der Großstädter auf 21,3 Prozent, und nur noch 40 Prozent der Bevölkerung lebten in Dörfern. Selbst wenn man die bei Bauern und Landarbeitern recht zahlreichen Kinder einrechnet, waren 1907 gerade einmal noch 28,4 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Rund 42 Prozent der Bevölkerung (Erwerbstätige und Angehörige) bezogen im selben Jahr ihr Einkommen aus Industrie und Gewerbe. In vier Jahrzehnten hatte sich so der Wandel zur modernen Industriegesellschaft vollzogen. Dieser Prozess war begleitet von einem bereits länger anhaltenden, rapiden Bevölkerungsanstieg, der die Reichsbevölkerung bis 1910 von ursprünglich 41,1 auf 64,9 Millionen wachsen ließ.

QuellentextDas Kaiserreich – eine Gesellschaft in Bewegung

Das Kaiserreich war eine Migrationsgesellschaft. In bislang nicht gekanntem Ausmaß wanderten Deutsche nach Übersee aus und kamen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland. Aber auch die Wanderung innerhalb Deutschlands war enorm. Vor allem in den Industriestädten erreichten sowohl das Bevölkerungswachstum als auch die jährliche Fluktuation der Bevölkerung Extremwerte. Die Sozialwissenschaftlerin Li Fischer-Eckert beschreibt dies 1913 am Beispiel der Industriegemeinde Hamborn. Heute ein Stadtteil von Duisburg, war Hamborn 1913 de facto eine Großstadt, als Gemeinde ohne Stadtrecht aber nur das "größte Dorf Preußens".

"Die Einwohnerzahl von Hamborn betrug am 1. April 1900: 29.000; 1. April 1905: 61074; 1. April 1910: 96127; 1. April 1911: 101599. [...] Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich die Bevölkerung in der Gemeinde mehr als verdreifacht, und es ist leicht einzusehen, dass es schwierig war, die Gemeindeeinrichtungen mit diesem raschen Anwachsen gleichen Schritt halten zu lassen. Die Verkehrsverhältnisse des Dorfs, das fast über Nacht zu einer Großstadt geworden war, waren die denkbar schwierigsten. Ausgebaute Straßen fehlten fast ganz, abgesehen von einer kurzen gepflasterten Strecke der Provinzialstraße. Die außerordentlichen Maßnahmen, die zur Förderung des Wegebaus getroffen wurden, gehen am klarsten aus folgenden Zahlen hervor. 1900 verfügte die Gemeinde über 2800 laufende [Meter] gepflasterter Straßen, im Jahr 1910 dagegen waren 217.000 laufende [Meter] ausgebaut. Mit Basalt befestigt waren 1900 sechs laufende [Meter], 1910 13.875 laufende [Meter]. Ebenso verlangte die Durchführung der Kanalisation zur Entwässerung des Gemeindegebiets bedeutende Aufwendungen. [...]

Eine ganz ungeheure Menge der Bevölkerung ist demnach an den Zu- und Wegzügen beteiligt. Im Allgemeinen kann man sagen, dass in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs der Zuzug überwiegt, in den Jahren wirtschaftlichen Stillstands der Wegzug ziemlich nah an die Zuzugszahl heranreicht. Besonders stark fällt diese Tatsache in dem ersten Jahrfünft der Statistik in die Augen. Während in den Krisenjahren 1900–1902 der Zuzug von 49,07 Prozent auf 46,2 Prozent fiel, steigt er rapide in den nun folgenden Jahren der steigenden Konjunktur im Jahr 1905/1906 auf 57,9 Prozent der Gesamtbevölkerung, um bei dem bald einsetzenden Sinken der Konjunktur in den Krisenjahren 1906 und 1907/1908 auf 33,3 Prozent zu fallen. 1905/06 überstieg der Zuzug den Wegzug um 14,5 Prozent, 1907–1908 war dies nur noch um 5,3 Prozent der Fall. Dass in den letzten Jahren besonders seit 1908 der Zuzug nach Hamborn nicht mehr so stark ist wie in den vorhergehenden Jahren, liegt da­ran, dass an den Grenzen des Grubenfelds von Hamborn neue Bergwerke entstanden sind, die […] einen großen Teil Arbeiter an sich ziehen. Der relative Zuwachs der Gemeinde ist infolgedessen immer mehr gesunken. Die Unternehmer klagen ganz besonders über den Mangel an geschulten Arbeitern, was wohl zu dem Schluss berechtigt, dass gelernte Arbeiter an anderen Orten einen ausreichenden Verdienst finden und keine Veranlassung zur Wanderschaft haben.

Immerhin zeigt die Statistik, dass ein starkes Drittel der Bevölkerung von außen hereinströmt und fast ein volles Drittel in demselben Zeitraum auch wieder die Stadt verlässt. Dass bei diesem ständigen Wechsel keine festere Bande wirtschaftlicher, sozialer oder ethischer Natur aufkommen, liegt auf der Hand. [...] Niemandes Heimat! Das ungefähr ist der Eindruck, den man aus der Hand der Zahlen über die Fluktuation der Bevölkerung erlangt. Die Menschen, die die Stadt bevölkern, kommen aus allen Gegenden zusammen, in der Hoffnung, hier das Idealland des hohen Verdienstes gefunden zu haben, und da diese Hoffnung sich meistens nicht erfüllt, greifen sie wieder zum Wanderstab, um in einem andern Zechenort dieselbe Enttäuschung zu erleben. Niemandes Heimat, dies traurige Wort für jeden, dem der Begriff der Heimat eine ganze eigene Welt von Seligkeiten umschließt, das ist das Milieu, in dem Tausende von Frauen dort in Hamborn die schwere Aufgabe ihrer Mutter- und Gattinnenpflichten erfüllen sollen, in dem Tausende von Kindern aufwachsen, die durch den ständigen eigenen Wechsel und den der Nachbarschaft niemals die heilsame Wirkung einer Kindheits- und Jugendfreundschaft erfahren."

* Li. Fischer-Eckert, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn, Hagen 1913, S. 14–15, S. 65, 68 in: Benjamin Ziemann / Klaus Tenfelde, Die Entwicklung der Städte bis zum Ersten Weltkrieg, in: Klaus Tenfelde / Thomas Urban (Hg.), Das Ruhrgebiet. Ein historisches Lesebuch, Klartext-Verlagsgesellschaft, Essen 2010, Band 1, S. 334 f.

Die Hochindustrialisierung

Bevölkerung und Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen in Deutschland (© Bevölkerung und Erwerbstätige nach Gerhard A. Ritter (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871 - 1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 1992, S. 29 f.)

Die treibende Kraft dieses sozialen Wandels war die mit der Hochindustrialisierung verbundene wirtschaftliche Umwälzung und damit das Vordringen des modernen Industriekapitalismus. Ab den 1840er-Jahren hatte sich die industrielle Produktionsweise in Deutschland durchgesetzt. Der Eisenbahnbau, der viel Kapital erforderte und zugleich technologische Neuerungen mit sich brachte, fungierte dabei zusammen mit der Schwerindustrie (Kohleförderung, Eisen- und Stahlproduktion) als Führungssektor. In den Jahrzehnten von 1850 bis 1870 befand sich die Industrialisierung in einer beinahe ungebrochenen Aufschwungsphase. Diese reichte bis in den "Gründerboom", der jedoch mit dem "Gründerkrach" der Jahre ab 1873 ein abruptes Ende fand und in die schwere Wirtschaftskrise der Jahre 1873 bis 1879 mündete. Die Krise verankerte die Tatsache, dass sich die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft in zyklischen Auf- und Abschwüngen vollzieht, tief im Bewusstsein der Zeitgenossen. Zudem war der Abschwung 1879 noch nicht beendet. Unterbrochen von zwei kurzfristigen Aufschwüngen setzte sich die Stockungsphase der Wirtschaft bis 1895 fort. Über den gesamten Zeitraum von 1873 bis 1895 gesehen, gab es allerdings ein wenn auch nur mäßiges Wachstum der Wirtschaft. Deshalb ist es falsch, diese Periode als eine "Große Depression" zu bezeichnen. Vielmehr sind drei andere Beobachtungen für diesen Zeitraum der deutschen Wirtschaftsgeschichte zentral.

Erstens befand sich der Agrarsektor seit 1876 in einer strukturellen Krise, die bis zum Weltkrieg und darüber hinaus anhielt. Ihr unmittelbarer Auslöser war der Verfall der Getreidepreise durch massenhafte Billigimporte aus den USA seit 1876. Die Einführung der Schutzzölle 1878/79 sollte dieses Problem beheben. Doch der Preisverfall für Agrarprodukte hielt weiter an, obwohl der Zolltarif in den 1880er-Jahren und dann noch einmal nach 1900 mehrfach erhöht wurde. Statt sieben Prozent wie 1883 betrug der Zollanteil des Preises für Weizen am Vorabend des Ersten Weltkrieges etwa 37 Prozent. Dennoch sank der Weizenpreis von 1873 bis zum Tiefpunkt 1894 um 48 Prozent und erholte sich auch danach nur zögerlich. Die agrarischen Produzenten – Bauern und die vor allem im Preußen östlich der Elbe ansässigen Großgrundbesitzer – versuchten diesen Preisdruck insbesondere durch den Einsatz von Maschinen aufzufangen. So konnten sie zwar insgesamt die Erträge deutlich steigern, aber die Wertschöpfung des Agrarsektors sank, und die Abwanderung von Arbeitskräften in die Städte verursachte große Probleme.

Der Preisverfall betraf – zweitens – aber nicht nur die Landwirtschaft. Bis 1895 fielen auch die Preise für gewerbliche Pro­duktions- und Konsumgüter, was Ausdruck einer verschärften Konkurrenz auf dem Weltmarkt und steigender Produktivität war. Am stockenden Konjunkturverlauf bis 1895 zeigt sich drittens, dass sich die Dynamik des Führungssektors der ersten Welle der deutschen Industrialisierung, des Eisenbahnbaus, erschöpft hatte.

An seine Stelle traten in der Hochindustrialisierung drei andere Sektoren. Dies war zum einen der Maschinenbau, der mit der Einführung technologischer Neuerungen um 1900 zur größten Branche der Industrie aufstieg. Hinzu kamen die Großbetriebe der Chemieindustrie. Sie profitierten von einer intensiven innerbetrieblichen Forschung und Entwicklung, die im Bereich der fotografischen Filme, der Herstellung von Plastik und künstlichem Dünger innovative Produkte bereitstellte. Betriebe wie die Badische Annilin und Soda Fabrik (BASF), die Farbwerke Hoechst oder die Bayer Werke waren um 1900 die weltweit führenden Hersteller von chemischen Erzeugnissen. Die technologische Spitzenposition der deutschen Betriebe zeigte sich auch im Export, der vier Fünftel des Umsatzes der Branche ausmachte. Bei der Produktion von künstlichen Farbstoffen dominierten deutsche Betriebe mit 90 Prozent des weltweiten Absatzes den Weltmarkt.

Der dritte Führungssektor war die Elektroindustrie. Hier dominierten zwei Unternehmen, die seit 1847 bestehende Firma Siemens und die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG). Wie bei der chemischen Industrie führten intensive betriebseigene Forschung sowie die Verwertung von Patenten des Pioniers der Elektrotechnik, Thomas Alva Edison (1847–1931), beide Betriebe an die Spitze des Weltmarktes, den sie dann unter sich aufteilten. Im Jahr 1913 erwirtschaftete die von Siemens und AEG dominierte deutsche Elektrotechnik ein Drittel des gesamten weltweiten Umsatzes in dieser Branche.

Chemie und Elektrotechnik sind gute Beispiele für einen wichtigen Trend in der deutschen Wirtschaft vor 1914, den Übergang zur großbetrieblichen Produktion. In den ersten Dekaden nach der Reichsgründung war das Heimgewerbe noch ein wichtiger Teil der gewerblichen Produktion. Vor allem in der Textilherstellung konnte das ländliche Heimgewerbe sich lange behaupten, bei dem Heuerlinge und andere Besitzer von kleinen Parzellen die Wintermonate zur Spinnerei und Weberei nutzten. Auch die handwerkliche Produktion konnte in vielen Bereichen dem Konkurrenzdruck der Industrie zunächst noch standhalten. So waren 1882 noch in rund 95 Prozent aller Betriebe weniger als sechs Personen beschäftigt. Doch im Zuge der Hochindustrialisierung nutzten Großbetriebe die Vorteile, die sich aus einer Verbreiterung der Produktpalette, der vertikalen Integration – bei der auch Zulieferer und Vertrieb in das Unternehmen eingebunden werden – und der Expansion auf Exportmärkten ergaben. Die Rechtsform der Aktiengesellschaft erlaubte es, diese Expansion zu finanzieren. 1907 arbeiteten 42,4 Prozent aller gewerblich Beschäftigten in Großbetrieben mit mehr als 50 Mitarbeitern. Gegenüber der Zählung des Jahres 1882 hatte sich deren Anteil damit fast verdoppelt. Bereits 13,7 Prozent der gewerblich Beschäftigten waren 1907 in Betrieben mit mehr als 1000 Mitarbeitern tätig. Die Firma Siemens allein hatte knapp 43.000 Beschäftigte.

Die Expansion der drei neuen Führungssektoren leistete einen erheblichen Beitrag zu der anhaltenden, nur von zwei kurzen Rezessionsphasen unterbrochenen Konjunktur, welche die deutsche Wirtschaft von 1895 bis 1913 erlebte. Ein wichtiger Indikator für die Dynamik dieses Aufschwungs ist die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Nettoinlandsprodukts. Für den Zeitraum von 1895 bis 1913 lag sie bei 3,3 Prozent. Die gewerbliche Wirtschaft leistete dazu einen besonderen Beitrag. Er wird daran deutlich, dass sich ihr Umsatzvolumen allein von 1895 bis 1913 mehr als verdoppelte. Das anhaltende Wachstum führte insgesamt zu einer Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens, auch wenn dieses höchst ungleich verteilt blieb.

Allerdings reichte die gesteigerte Binnennachfrage bei weitem nicht aus, um die Produkte der deutschen Industriewirtschaft aufzunehmen. Das war nur durch eine massive Steigerung des Exports möglich, die sich bereits in der Deflationsphase seit 1879 anbahnte, aber erst in der Hochkonjunktur der Jahre ab 1895 voll zum Durchbruch kam. Von 1895 bis 1913 stieg der Wert der deutschen Exporte noch stärker als die gewerbliche Produktion, nämlich um 180 Prozent. 1913 entfielen etwa 28 Prozent aller weltweiten Exporte chemischer Produkte auf die deutsche Industrie. Der Exportorientierung der deutschen Industrie entsprach eine Ideologie, die in der Vergrößerung des Exportanteils das Patentrezept zur Vermeidung von Überproduktionskrisen sah. Eine andere Reaktion auf die konjunkturellen Schwankungen war die Bildung von Kartellen, mit denen Großunternehmen durch Absprachen über Preise und Produkte den Markt kontrollierten. Seit der Depression der 1870er-Jahre setzten sie sich vor allem in der Schwerindustrie durch.

Neben die Kartellierung, also die formellen Absprachen zwischen Unternehmen, traten Formen des Interessenabgleichs zwischen Staat und Großindustrie, die auch als Korporatismus bezeichnet werden. Sie stützten sich auf den Zusammenschluss der Industrie in Interessenverbänden und auf personelle Verflechtungen und Absprachen zwischen Verbandsvertretern und Ministrialbürokratie. Hinzu kam, dass sich der Staat durch wachsende Ausgaben im Bereich der Bildungs- und Sozialpolitik selbst zu einem Faktor der Wirtschaft entwickelte. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges lag der Anteil der Staatsausgaben (Reich, Bundesstaaten, Kommunen) am Nettosozialprodukt bei etwa 15 Prozent. Seit der Jahrhundertwende entfernte sich die institutionelle Struktur der kapitalistischen Wirtschaft somit vom klassischen liberalen Modell der unregulierten Konkurrenz. Der sozialdemokratische Theoretiker Rudolf Hilferding (1877–1941) beschrieb in seinem Buch "Das Finanzkapital" von 1910 diese Tendenz zur Vermachtung der Wirtschaft durch Kartelle und korporative Absprachen als einen "organisierten Kapitalismus".

Konturen der Klassengesellschaft

Die seit 1895 von einer langen Konjunkturphase unterstützte Dynamik der Hochindustrialisierung trieb den Wandel zu einer Klassengesellschaft voran. Ständische und damit feudale Formen der sozialen Ungleichheit – also rechtliche Privilegien sowie die Abschließung sozialer Gruppen durch gemeinsame Ehrvorstellungen – wurden dabei durch solche ersetzt, die auf der jeweiligen wirtschaftlichen Marktposition beruhten. Neben dem weniger dynamischen Markt für Grundbesitz – der durch Vererbung und Kauf die Sozialhierarchie der ländlichen Gesellschaft steuerte – waren Märkte für Aktien, Produkte und vor allem der Arbeitsmarkt entscheidende Faktoren sozialer Ungleichheit. Auf dem Arbeitsmarkt mussten nicht nur manuell tätige Arbeiter in Stadt und Land ihre Qualifikationen anbieten, sondern auch Angestellte und Angehörige bürgerlicher Berufsgruppen wie Anwälte, Ärzte oder Ingenieure.

An der Spitze der sozialen Hierarchie der deutschen Gesellschaft stand eine Gruppe, die sich aus dem Adel sowie den Wirtschafts- und Bildungsbürgern zusammensetzte. Mit ihren Familien machte diese Oberklasse um 1900 insgesamt etwa fünf Prozent der Bevölkerung aus. Der Adel war dabei eine kleine und in sich äußerst heterogene Gruppe. Sie umfasste die Familien der 22 Fürsten des 1871 geschaffenen Reiches sowie jene des Hochadels und der vor allem südwestdeutschen Standesherren, die seit 1803 ihre reichsunmittelbare Stellung verloren hatten. Zu ihr zählten aber auch die etwa 20.000 Familien des niederen grundbesitzenden Adels in Preußen, die sogenannten Junker. Angesichts der seit 1876 anhaltenden Agrarkrise kämpften viele von ihnen gegen wachsende Verschuldung und den Zwangsverkauf ihres Gutes an bürgerliche Besitzer. Im preußischen Landtag verteidigten sie hartnäckig ihre Privilegien. Die 1872 erlassene preußische Kreisordnung hob zwar die gutsherrliche Polizeigewalt auf, beließ aber die Gutsbesitzer als Vorsteher in den – als Gemeinde selbstständigen – Gutsbezirken. Damit blieben die Gutsbesitzer im ländlichen Preußen östlich der Elbe bis 1918 in einer rechtlich privilegierten, ständischen Herrschaftsposition. Zudem verteidigten und erweiterten die adeligen Gutsbesitzer die Institution des Fideikommisses, der Güter für unveräußerlich erklärte und damit dem Besitzwechsel entzog.

Zum Wirtschaftsbürgertum zählte neben den Eigentümern von Banken, Industrie- und Handelsunternehmen die steigende Zahl der Manager, die etwa im Bankensektor den Typus des patriarchalischen Einzelunternehmers mehr und mehr ablösten. Zeitgenössische Beobachter im Kaiserreich kritisierten, dass bürgerliche Unternehmer und Manager Normen und Lebensstil des Adels imitiert hätten, was zu einer "Feudalisierung" des Bürgertums und damit zu einem Mangel an selbstbewusster Vertretung bürgerlicher Interessen geführt habe.

Doch dies war ein polemisches Zerrbild, das sich empirisch nicht halten lässt. So wurden etwa im Kaiserreich weit weniger bürgerliche Millionäre nobilitiert als zur selben Zeit in Großbritannien. Einige wohlhabende, bürgerliche Unternehmer – wie etwa der Hamburger Bankier Max Warburg (1867–1946) oder der Hamburger Reeder Albert Ballin (1857–1918) – lehnten eine ihnen angebotene Erhebung in den Adelsstand voller Stolz ab. Auch das Heiratsverhalten der Unternehmer lässt eine Annäherung an den Adel nicht erkennen, sie heirateten überwiegend Frauen aus bürgerlichen Familien. Auffällig ist allerdings die Bereitschaft vieler Unternehmer und Manager, sich als staatsnahe sowie Regierung und Staatsbürokratie folgsame Bürger auszuweisen und damit den Primat des monarchischen Staates anzuerkennen. Dieser belohnte solche Loyalität durch die Verleihung von Auszeichnungen wie etwa den Titel "Kommerzienrat", den viele Besitzer und Manager von Spitzenunternehmen führten.

Eine Besonderheit der deutschen Sozialgeschichte war das Bildungsbürgertum. Die Zeitgenossen benutzten dafür den Begriff der "gebildeten Stände". Es umfasste weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung. Dennoch übte es einen nachhaltigen und zugleich ambivalenten Einfluss auf die Normen und Wertvorstellungen nicht nur des Bürgertums aus. Im Kern gehörten dem Bildungsbürgertum Berufsgruppen mit einer durch Studium nachgewiesenen akademischen Qualifikation an. Dies waren zum einen die sogenannten freien Berufe wie Ingenieure, Architekten, aber auch die Ärzte und Rechtsanwälte. Bei den letzten beiden Gruppen war die Ausbildung und Berufspraxis weitaus stärker staatlich reglementiert als etwa in Frankreich oder Großbritannien. Auf der anderen Seite standen die akademisch gebildeten höheren Beamten, Professoren, Gymnasiallehrer sowie die dem Beamtenstatus vergleichbaren evangelischen Pfarrer. Die überwölbende Klammer dieser ökonomisch sehr verschiedenartigen Gruppen bildete die um 1800 entstandene neuhumanistische Bildungsidee. Ihr galt Bildung nicht als Erwerb formaler Qualifikationen, sondern als die Arbeit an der inneren Vervollkommnung und ästhetisch-geistigen Formierung des Individuums. Ausgehend von Kunst und Sprache des antiken Griechenlands widmete sich der Lehrplan des humanistischen Gymnasiums der Aneignung dieses Ideals. Nicht nur durch die zentrale Position der evangelischen Pfarrer als Vermittler dieser Ideen war das Bildungsbürgertum eine im Kern protestantische Elite.

QuellentextJugend und Jugendbewegung

Am Ende des 19. Jahrhunderts war die deutsche Gesellschaft "jugendlicher" als je zuvor. Vor allem in den industriellen Großstädten führten hohe Geburtenraten und stetig sinkende Säuglingssterblichkeit in der Arbeiterschaft zu einem besonders großen Anteil von Kindern und Jugendlichen. Heranwachsende aus der Arbeiterklasse standen auch im Zentrum der "Entdeckung" der Jugend, die sich im selben Zeitraum vollzog. Arbeiterkinder vollendeten die Volksschule mit 14 Jahren und traten dann, wenn sie nicht eine Lehre absolvierten, in den häuslichen Dienst oder in die Fabrikarbeit ein. Damit lockerten sich familiäre Bindungen. Vor allem den Arbeiterjungen brachte das Geldeinkommen eine relative Selbstständigkeit. Erst mit 18 Jahren traten sie den Wehrdienst an. Besorgte Politiker und die neue Profession der Sozialarbeiter verstanden diese vier Jahre nun als eine eigenständige Jugendphase und zugleich als eine Lücke in der autoritären Sozialisation "zwischen Volksschule und Kaserne". Die staatliche Jugendpflege reagierte darauf seit 1900 mit organisierten Freizeitaktivitäten. Seit 1911 fasste der Jungdeutschlandbund diese Aktivitäten zusammen. Er organisierte 1914 um die 750.000 Jugendliche, die sich so "staatsfromm" betätigten.

Jugend um 1900 war eine stark klassenspezifisch geprägte Lebensphase. So lebten bürgerliche Jugendliche in einer viel stärker durch die Schule geprägten Umwelt, die Jungen durch den Besuch des Gymnasiums, die Mädchen in den höheren Töchterschulen, ab 1900 dann vermehrt auch im Lyzeum (Mädchengymnasium). Bürgerliche Jugendliche waren von jeglicher Erwerbsarbeit entlastet, aber dafür in die autoritären Strukturen von Familie und Schule eingebunden. Anders als Arbeiterjugendliche lebten vor allem Jungen aus dem Bürgertum in durch den schulischen Klassenverband geprägten Gruppen. An die Stelle jahrgangsübergreifender außerschulischer Geselligkeit, wie bei Arbeiterjungen, trat bei Schülern aus dem Bürgertum die schulische Aneignung abstrakter Werte und Ordnungsvorstellungen. Im neuhumanistischen Bildungsideal stand seit 1800 die "edle Einfalt und stille Größe" – so die von Johann Joachim Winckelmann bereits 1755 geprägte Formel – der griechischen Antike als Vorbild im Zentrum der Pädagogik. Doch in der schulischen Praxis des Gymnasiums war dieses Ideal lange vor 1900 zu einem leeren Ritual erstarrt.

Auch vor dem Hintergrund dieses an Pflicht und formalen Prinzipien orientierten Schulalltages ist der Aufbruch der bürgerlichen Jugendbewegung seit 1900 zu sehen. Sie nahm ihren Anfang im Gymnasium Steglitz vor den Toren Berlins. Dort praktizierten dessen Schüler seit 1896 das Wandern als Gruppenerlebnis, erst in den Wäldern um Berlin, 1899 dann mit einer mehrwöchigen Fahrt in den Böhmerwald. Der Steglitzer Primaner Karl Fischer betreute auch nach Antritt seines Studiums neue Gruppen, die sich 1901 als "Wandervogel" organisierten und bald reichsweite Nachahmer fanden. Nach zahlreichen Abspaltungen und Neuverbindungen gründeten sie 1912/13 einen ebenfalls "Wandervogel" genannten Bund, dem 25.000 Mitglieder in 800 Orten angehörten. Seit 1907 gab es allerorten auch Mädchengruppen. Mitglieder des Wandervogels blieben nach Beginn ihres Studiums den studentischen Korporationen fern. Stattdessen gründeten sie vom Stil der Jugendbewegung geprägte Verbände. Mehrere von ihnen schlossen sich auf dem Hohen Meißner bei Kassel 1913 zur "Freideutschen Jugend" zusammen.

Mit ihrem Motto "Jugend will von Jugend geführt werden" betonte die Jugendbewegung die Autonomie ihrer Gemeinschaften gegenüber den Zwängen der bürgerlichen Lebensweise und gegenüber der als erstarrt wahrgenommenen Kultur des wilhelminischen Deutschland. Durch die eigene "Kluft" aus kurzer Hose und Hemd mit offenem Schillerkragen, durch das gemeinsame Singen zur "Klampfe" und die große "Fahrt" in den Sommerferien sowie durch den Verzicht auf Alkohol und Tabak grenzte der Wandervogel einen selbstbestimmten Raum ab. Obwohl ein großstädtisches Phänomen, war die Jugendbewegung großstadtfeindlich. Man verstand sich als apolitisch. Mit ihrer Beschwörung der Gemeinschaft als "Volksgemeinschaft" und mit ihrer romantischen Zivilisationskritik stand die Jugendbewegung zwar dem "Kulturpessimismus" der völkischen Rechten nahe, einer Tendenz moderne gesellschaftliche, kulturelle und politische Entwicklungen als Dekadenz oder Niedergang zu werten, die der Historiker Fritz Stern in seinem Werk "Kulturpessimismus als politische Gefahr" von 1963 behandelt. Doch bis 1914 waren politische Fragen nachrangig, und es wäre falsch, die Jugendbewegung direkt in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus einzureihen.

Sozial gesehen war das Bildungsbürgertum offener als das gehobene Wirtschaftsbürgertum. Bei wachsenden Studentenzahlen konnten auch Söhne des Kleinbürgertums und der unteren Beamtenschaft bildungsbürgerliche Berufe ergreifen. Auch die Bildungsidee selbst hatte einen anti-elitären Grundzug, da sie den "Geistesadel" (Friedrich Schiller) an die Stelle des Adels der Geburt setzte. Doch am Ende des 19. Jahrhunderts war deutlich sichtbar, dass sich der offene und liberale Impuls der neuhumanistischen Bildungsidee erschöpft hatte. In ihrem Rahmen fiel es schwer, den raschen sozialen und ökonomischen Wandel im Kaiserreich angemessen zu deuten. Viele Bildungsbürger sahen sich als Verlierer der Modernisierung und in der Defensive gegen den Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung. Neben manchen Reformströmungen machte sich deshalb ein Kulturpessismus breit, dessen nationalistische und oft antisemitische Ausprägungen seit 1900 zu einer Entliberalisierung des Bildungsbürgertums beitrugen.

Die Durchsetzung einer auf Marktchancen basierenden Klassengesellschaft wird nirgendwo deutlicher als im Vordringen der Lohnarbeiter. Noch 1875 hatten sie erst 56,7 Prozent aller Erwerbstätigen gestellt. Bis 1907 war ihr Anteil an allen Erwerbstätigen auf 76,3 Prozent angestiegen. Entscheidend dafür war, dass sich die Zahl der in der Industrie beschäftigten Arbeiter von 1882 bis 1907 nahezu verdoppelt hatte. Erst damit waren die Industriearbeiter noch vor den Landarbeitern zur größten Gruppe innerhalb der Arbeiterschaft angewachsen. Im Einklang mit der Entwicklung der Wirtschaft hin zu großbetrieblichen Organisationsformen war eine stetig wachsende Zahl von ihnen in Großbetrieben mit mehr als 200 Mitarbeitern beschäftigt. Dennoch war die Arbeiterklasse in sich vielfach differenziert und auch gespalten.

Erhebliche Unterschiede gab es zunächst zwischen Branchen, etwa zwischen dem Bergbau, in dem männliche Beschäftigte dominierten und ständische Traditionen die Kultur der Bergleute prägten, und der Textilindustrie, die hauptsächlich von Frauen getragen wurde. Gravierend war auch der Unterschied zwischen ungelernten und gelernten Arbeitern, bei denen bestimmte handwerklich geprägte Berufe wie die der Drucker und Setzer einen eigenen Berufsstolz wahrten. Die wohl wichtigste Trennlinie verlief zwischen Stadt und Land. Das Millionenheer der landwirtschaftlichen Arbeiter – nach der hier sehr unvollkommenen Statistik mindestens 3,17 Millionen Männer im Jahr 1907 – teilte sich wiederum in verschiedene Gruppen. Viele von ihnen waren über Deputatlöhne (Gewährung von Wohnung und Lebensmitteln) oder den Besitz von Kleinstparzellen in quasifeudale Arbeitsverhältnisse eingezwängt. Allen Landarbeitern gemeinsam war, dass die Herrschaftsgewalt der Grundbesitzer und Großbauern es der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung praktisch unmöglich machte, sie zu organisieren.

Die Reallöhne der Industriearbeiter verdoppelten sich von 1871 bis 1913 beinahe. Dieser Anstieg führte allerdings nur bei der Gruppe der besser qualifizierten Facharbeiter zu einer wirklich spürbaren Anhebung des Lebensstandards. Für die Masse der gewerblichen Arbeiter blieb die Erfahrung der durch geringe Chancen bestimmten proletarischen Lebensweise oder "Proletarität" maßgeblich. Als übergreifende Klassenlage schuf sie auch die Bereitschaft zur kollektiven Interessenvertretung in Gewerkschaften und Parteien und hier vor allem in der Arbeiterpartei SPD.

QuellentextBeschwerde Essener Bergleute an den preußischen König 1867

Die durch mehrere Gesetze eingeleitete Bergrechtsreform der Jahre 1860 bis 1865 setzte den Bergbau von den korporativen Schranken der frühneuzeitlichen Montanindustrie frei und überführte ihn in die kapitalistische Produktionsweise. Doch die Entwicklung der Bergarbeiter hin zur sozialen Klasse der Lohnarbeiter begann damit erst. Diese Beschwerde aus dem Jahr 1867 zeigt, wie die Bergleute mit einem Appell an die "gute Obrigkeit" auf die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen reagierten.

Essen, den 29. Juni 1867 […]
Allerdurchlauchtigster, großmächtigster König!
Allergnädigster König und Herr!

Die alleruntertänigst unterzeichneten Bergleute im Kreise Essen wagen es, durch die immer größer werdende Not dazu getrieben, Ew. Majestät Throne zu nahen, und mit der gehorsamsten Bitte einer gnädigen Berücksichtigung Folgendes alleruntertänigst vorzutragen:

Nachdem durch das Gesetz vom 20. Mai 1860 "die Aufsicht der Bergbehörden über den Bergbau und das Verhältnis der Berg- und Hüttenarbeiter betreffend" […] die Abschließung der Verträge zwischen den Bergeigentümern und den Bergleuten lediglich dem freien Übereinkommen derselben überlassen ist, und eine Mitwirkung der Königlichen Bergbehörde bei Annahme und Entlassung der Bergleute, sowie bei Festsetzung und Zahlung des Schicht- und Gedingelohnes nicht mehr stattfindet, findet die Festsetzung der Arbeitszeit und des Arbeitslohnes von den Gewerkschaften (d.  h. den Kapitalisten)* ganz nach ihrem Belieben statt. Von ihnen ist seitdem die Arbeitszeit zwangsweise so übermäßig verlängert worden, daß bei der ohnehin schon so ungesunden Arbeit viele Bergleute bereits mit 30–35 Jahren arbeitsunfähig werden, zudem die Gewerke [=Unternehmer] unsern Lohn auch so niedrig gestellt haben, daß er kaum hinreicht, uns die nötigsten Lebensbedürfnisse zu verschaffen. Sie betrachten uns nur als willenlose Maschinen und Arbeitsinstrumente, deren Arbeitskraft sie zu ihrem Vorteile möglichst ausnutzen können; denn wie wenig bei Festsetzung der Arbeitszeit von einem "freien Übereinkommen" die Rede ist, werden Ew. Majestät aus folgenden Angaben ersehen.
Wenn wir früher freiwillig und ausnahmsweise bei Störungen im Betriebe, wie Zubruchgehen von Strecken, Reißen von Bremsseilen usw. einige Stunden über die achtstündige Schicht gearbeitet, auch wohl eine Doppelschicht gemacht haben, so ist das jetzt Zwang geworden, und wer sich nicht in die längere Arbeitsdauer fügen will, wird von der Zeche entlassen und womöglich mit einem derartigen Zeugnis versehen, daß er auf einer anderen Zeche keine Arbeit mehr bekommen kann. […]

So ist auf den meisten Zechen jetzt eine 10–11 stündige Schicht eingeführt. Zudem dauert die Förderung der Leute meist noch zwei Stunden. So lange Arbeitsschichten kann aber unser Körper unmöglich auf die Dauer aushalten, so erfreulich es auch ist, wenn die Gruben einen regen Absatz ihrer Produkte haben. […]

Ist aber die Gesundheit der Leute oft schon mit 35 Jahren durch diese Überanstrengungen so angegriffen, daß sie nicht mehr in der Grube arbeiten können, oder daß sie nicht mehr dasselbe leisten können, wie die jüngeren Leute, die ihre Kräfte noch nicht geopfert haben, und erhalten sie von den Knappschafts­ärzten gewöhnlich das Zeugnis "zu leichter Hüttenarbeit noch tauglich", so haben sie keinen Anspruch auf Invalidenpension aus der Knappschaftskasse. Ist aber solche leichtere Grubenarbeit nicht zu bekommen, sind sie gezwungen, sich bei Privatleuten passende Arbeit zu suchen, so werden sie ihrer Rechte als Knappschaftsmitglieder vollständig verlustig, in ihrem frühen Alter erwartet sie das traurigste Los. […]

Bei alledem sind die Gedinge [=Leistungslohn] so niedrig gestellt, daß wir trotz der übermäßigsten Anstrengungen allgemein in den drückendsten Verhältnissen leben. Gegenwärtig verdient ein mittlerer Arbeiter, wie die Mehrzahl ist, bei dem größten Fleiße während einer elfstündigen Schicht im Monat durchschnittlich 17 bis 18 Taler. […] Für eine Familie von vier Personen betragen […] die Kosten für die unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse […] monatlich 20 Taler 25 Sgr., wobei auch Licht, Heizung, Kleidung, Schuhzeug, Hausgerät, Schulgeld und Steuern (15 Taler jährlich) noch gar nicht gerechnet ist, während der Arbeiter durchschnittlich im Monat nicht mehr als 15 bis 16 Taler verdient.

Gegen alle angeführten Notstände aber haben wir gegenwärtig sozusagen gar keinen tatsächlichen Schutz, teils weil das Kgl. Oberbergamt seinen Sitz in Dortmund hat, teils weil den Bergleuten nicht die Mittel zu Gebote stehen, ihre Klagen vernehmlich und mit Nachdruck vorzubringen. […]

* Mit Gewerkschaft wurde im Bergbau eine bergbauliche Unternehmensform einer Kapitalgesellschaft bezeichnet. Das Wort stammt von Gewerke, das waren im 16. Jh. Mitglieder einer bergbaulichen Genossenschaft.

Klaus Tenfelde / Helmuth Trischler (Hg.), Bis vor die Stufen des Throns. Bittschriften und Beschwerden von Bergleuten im Zeitalter der Industrialisierung, C. H. Beck, München 1986, S. 187 ff.

Die Erfahrung der "Proletarität" speiste sich aus vielen Quellen: Am Arbeitsplatz war es die Entrechtung durch das paternalistische Regiment der Fa­brikherren; hinzu kam die Enge des proletarischen Wohnens in den vom Bürgertum getrennten Wohnvierteln; im Lebenszyklus drohten elementare Risiken durch Krankheit, Arbeitsunfälle und Altersverarmung. Die Erfahrung staatlicher Repression im Militärdienst, bei der Niederschlagung von Streiks und durch die polizeiliche Überwachung der Arbeiterbewegung komplettierte die Wahrnehmung einer tiefen Spaltung der Gesellschaft in die entgegengesetzten Lager des Bürgertums und der Arbeiterschaft.

QuellentextDie Anfänge des deutschen Sozialstaates

In den 1880er-Jahren liegen die Anfänge des modernen deutschen Sozialstaates. Das in diesem Jahrzehnt geschaffene System der Sozialversicherung ruhte auf drei Säulen: Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung. Es wird oft als ein Versuch Bismarcks beschrieben, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nicht nur mit der "Peitsche" des Sozialistengesetzes, sondern auch mit dem "Zuckerbrot" der Sozialpolitik zu zähmen. Das ist im Prinzip richtig, aber bei weitem nicht hinreichend, um Entstehung und Ziele der Sozialversicherung zu verstehen.

Aus dem Blick gerät dabei erstens, dass die Sozialversicherung in Deutschland Vorläufer hatte. So verfügten die Bergarbeiter mit der 1854 auf eine öffentlich-rechtliche Grundlage gestellten Knappschaft bereits seit dem 13. Jahrhundert über ein korporatives Instrument der sozialen Sicherung. Die Krankenversicherung knüpfte an ältere Hilfskassen auf betrieblicher Ebene oder in den Innungen an. Zudem hatte das preußische Gesetz über Unterstützungskassen 1854 ein lokales System der Pflichtversicherung geschaffen, das bereits – und das war ein Novum – die Arbeitgeber per Umlage zur Deckung der Kosten heranzog.

Zweitens verstanden sowohl Bismarck wie auch seine sozialpolitischen Berater Hermann Wagener und Theodor Lohmann die Sozialpolitik in der Tradition der sozialkonservativen Vorstellung eines "von oben" in soziale Konflikte eingreifenden Staates. Im 18. Jahrhundert hatte man das als "gute Polizey" (verstanden im damaligen Sinne der gesamten innerstaatlichen Machtausübung) bezeichnet.

Drittens – und dies ist bei weitem der wichtigste Punkt – war die Einführung der Sozialversicherung ganz unabhängig von den Motiven ihrer Architekten ein fundamentaler Strukturbruch. Ältere Formen der Hilfeleistung in sozialen Notlagen wie die Armenfürsorge bedeuteten für die Betroffenen im Nebeneffekt eine moralische Stigmatisierung und zogen eine soziale Kontrolle ihrer Lebensweise nach sich. Zudem war der Umfang der Leistungen je nach Ort höchst unterschiedlich.

Im Gegensatz dazu begründete die unter Bismarck geschaffene Sozialversicherung einen Rechtsanspruch der Versicherten auf Versorgung, der auf der vorherigen Beitragszahlung basierte. Sie legte nationale Standards für Umfang und Höhe der Leistungen fest und befreite die Empfänger vom Stigma eines moralisch unzulänglichen Lebenswandels. Das Versicherungsprinzip erkannte an, dass Arbeitsunfälle, berufsbedingte Krankheiten sowie vorzeitige Invalidität nicht auf das Fehlverhalten der Betroffenen zurückgingen. Nunmehr wurde davon ausgegangen, dass sie sich zwangsläufig aus der industriellen Arbeitswelt und damit aus gesellschaftlichen Ursachen ergaben und deshalb keine Prüfung ihrer individuellen "Bedürftigkeit" nötig machten – eine fundamentale Veränderung. Im Blick stand aber vor allem der als "Familienernährer" verstandene männliche Arbeiter, landwirtschaftliche Arbeiter hatten bis 1918 keinen Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung.

Als Bismarck mit einer Kaiserlichen Botschaft im November 1881 sein Programm einer staatlichen Sozialversicherung verkündete, fehlte ihm zu dessen Durchsetzung eine parlamentarische Mehrheit. Im Lager der Unternehmer forderte man private Versicherungen, im katholischen Zentrum favorisierte man subsidiäre, also nachgeordnete lokale Träger sozialer Fürsorge. Die Sozialdemokratie unterstellte Bismarck antisozialistische Motive und lehnte das Projekt zu diesem Zeitpunkt komplett ab. Es bedurfte deshalb langwieriger Kompromisse und mehrerer Anläufe, bis die entsprechenden Gesetze im Reichstag verabschiedet waren. In diese gingen dann auch die Vorstellungen der bürgerlichen Sozialreformer ein, die im "Verein für Socialpolitik" organisiert waren. Die Sozialversicherung war auch deshalb nicht allein Bismarcks Werk.

Am Beginn stand die 1883 eingeführte Krankenversicherung, 1884 folgte die Unfallversicherung und 1889 die Invaliditäts- und Alterssicherung. Alle drei Säulen der Sozialversicherung basierten auf dem Umlageprinzip, das Beiträge von Arbeitgebern und -nehmern erhob. Dies geschah zu gleichen Teilen bei der Invaliditätsversicherung, während die Krankenversicherung zu zwei Dritteln von den Versicherten getragen wurde.

Die drei Sparten hatten unterschiedliche Träger, deren Differenzierung noch heute den deutschen Sozialstaat prägt: Bei der Unfallversicherung waren (und sind) es nach Branchen organisierte Berufsgenossenschaften; die Krankenversicherung basierte auf einer Vielzahl von Kassen, unter denen die Ortskrankenkassen der bei weitem vorherrschende Typ waren. Das System der Alterssicherung schließlich oblag öffentlich-rechtlichen Landesversicherungsanstalten.

Alle drei Zweige der Sozialversicherung griffen zugleich auf das Prinzip der Selbstverwaltung zurück. Bei den Krankenkassen waren den Arbeitern durch Statut gar zwei Drittel der Sitze im jeweiligen Vorstand eingeräumt. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes besetzten vor allem in den Ortskrankenkassen viele sozialdemokratische Gewerkschaftsmitglieder Vorstandssitze, am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren es zwei Drittel. Dies stärkte nicht nur den Einfluss der SPD auf die praktische Arbeit des Sozialstaates. Als Vorstandsmitglieder in Ortskrankenkassen übten sich zugleich Tausende von Sozialdemokraten in praktischer Reformarbeit, die den Kurs der Partei bis 1914 mehr und mehr prägte.

Der Kreis der Leistungsberechtigten blieb zunächst ebenso eng begrenzt wie Höhe und Qualität der Leistungen. In beiderlei Hinsicht wurde die Sozialversicherung aber sukzessive stark erweitert. Immerhin waren 1914 um die 15 Millionen Erwerbstätige gegen Krankheit, 28 Millionen gegen Berufsunfälle und 16 Millionen gegen Altersinvalidität versichert. Ein Vergleich der Sozialquote hilft, die Grenzen des Sozialstaates im Kaiserreich zu verstehen: 1885 machte die Gesamtheit der öffentlichen Sozialleistungen weniger als ein halbes Prozent des Bruttosozialproduktes aus. Bis 1913 stieg dieser Anteil auf rund drei Prozent. Auf ihrem bisherigen Höhepunkt in der Bundesrepublik im Jahr 2003 lag die Sozialleistungsquote bei knapp 31 Prozent. Trotz seiner finanziellen Grenzen trug der deutsche Sozialstaat aber bereits vor 1914 maßgeblich dazu bei, die Arbeiterschaft besser vor den Risiken der industriellen Arbeitswelt abzusichern und ihre Lebenshaltung zu stabilisieren.

Deutsche Juden zwischen Partizipation und Ausgrenzung

Die Herausbildung einer durch scharfe soziale Gegensätze geprägten Klassengesellschaft war ein Aspekt der sozialen Ungleichheit im Kaiserreich. Über Unterschiede in Einkommen, Besitz und Bildung hinaus ist es nötig, auch nach der Einbeziehung religiöser und ethnischer Minderheiten und nach dem Umgang mit kultureller Differenz zu fragen. Der wichtigste Lackmustest für die Beurteilung, wie offen die deutsche Gesellschaft war, ist die Integration der jüdischen Minderheit. Im Jahr 1871 lebten 512.000 Juden auf dem Gebiet des Deutschen Reiches, das waren 1,25 Prozent der Bevölkerung. Bis 1910 stieg ihre Zahl zwar auf 615.000. Doch das stärkere Wachstum der Gesamtbevölkerung und Faktoren wie Taufen (ca. 23.000 bis 1918) sowie die überwiegend christliche Erziehung der Kinder in Misch­ehen ließ ihren Anteil auf 0,95 Prozent sinken.

Nur eine kleine Minderheit der in Deutschland ansässigen Juden waren ausländische Staatsbürger, 1900 etwa nicht mehr als 41100. Allerdings gab es seit den 1880er-Jahren eine erhebliche Zuwanderung von Juden aus Russland, die Deutschland als Transitland nutzten. Vor 1914 schifften sich allein in Hamburg jährlich 100.000 osteuropäische Juden zur Auswanderung in die USA ein. Antisemitische Gruppen und Verbände nutzten ihre vorübergehende Anwesenheit zu einer lautstarken Agitation gegen die von den "Ostjuden" angeblich ausgehende "Gefahr".

Mit der Gründung des Reiches 1871 war der langwierige Prozess der Emanzipation der Juden in Deutschland abgeschlossen. Deutsche Juden waren nunmehr als deutsche Staatsbürger rechtlich in allen Belangen gleichgestellt. Dies ging auf ein Gesetz des Norddeutschen Bundes vom Juli 1869 zurück, das ab 1871 im Reich gültig war. Die formale rechtliche Gleichstellung bedeutete jedoch nicht, dass Juden damit gleichen Zugang zu allen öffentlichen Ämtern hatten. So blieb die Ernennung zum Offizier oder Reserveoffizier abhängig von der Zustimmung der Offiziere eines Regiments. Antijüdische Vorurteile und ein exklusives Standesdenken, die im Offizierskorps weit verbreitet waren, sorgten dafür, dass es in der preußischen Armee bis 1918 keine jüdischen Offiziere gab. Seit 1885 fanden Juden dort auch keine Aufnahme als Reserveoffizier mehr. Dies betraf im Übrigen auch getaufte Juden. Ähnliches galt für den höheren Staatsdienst in den Ministerien und das diplomatische Korps. Etwas besser war die Situation in der Justiz, obwohl den Juden auch hier leitende Positionen verschlossen blieben und ein hoher Anpassungsdruck die Taufe zur Vorbedingung einer reibungslosen Karriere machte. Dennoch waren in Preußen rund vier Prozent der Richter bekennende Juden. Vergleichbares galt für die Hochschulen. Etwa acht Prozent der Studenten waren jüdisch, und 1910 waren nicht weniger als 12 Prozent der – unbesoldeten, auf einen Ruf als Professor wartenden – Privatdozenten Juden. In beiden Gruppen waren Juden also deutlich überrepräsentiert. Ordinarien, also ordentliche Professoren, wurden von den Fakultäten berufen. In dieser Gruppe lag der Anteil der Juden 1910 bei nur 2,5 Prozent, und die meisten von ihnen lehrten in Medizin und Naturwissenschaften. Für getaufte Juden war die Chance des Zugangs zu einer akademischen Karriere höher. Aber auch ihnen gegenüber hegten die Professoren in den Geisteswissenschaften erhebliche Vorbehalte.

Neben den begrenzten Zugangs- und Aufstiegschancen im Staatsdienst war die Berufs- und Sozialstruktur der jüdischen Minderheit im Kaiserreich immer noch durch die frühere rechtliche Sonderstellung vor der Emanzipation bestimmt, die sie vom Handwerk und dem Erwerb landwirtschaftlichen Besitzes ausgeschlossen hatte. Zugleich nutzten die Juden nach 1871 die Chancen, die ihnen die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft eröffnete, und waren überproportional häufig im Handel, im Bankwesen und in der Industrie tätig.

Es vollzog sich ein teilweise bemerkenswerter sozialer Aufstieg in bürgerliche Berufsgruppen. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, warum die Geschichte der jüdischen Minderheit bis 1918 als eine "Erfolgsgeschichte" (Reinhard Rürup) beschrieben worden ist. Allerdings gilt es, diese tiefgreifende Verbürgerlichung der deutschen Juden differenziert zu betrachten. 1907 zählten zwar etwa 60 Prozent aller Juden dem Beruf nach zum gehobenen Bürgertum. Aber eine genaue Analyse des Einkommens der jüdischen Bewohner von Breslau – die mit rund 20.000 Juden im Jahr 1910 die drittgrößte jüdische Gemeinde im Reich stellten – zeigt, dass vor 1914 weniger als die Hälfte von ihnen ein bürgerliches Einkommen aufwies.

Ein wichtiges Indiz für die gesellschaftliche Akzeptanz der Juden ist ihre Teilhabe am bürgerlichen Vereinswesen. So öffneten sich etwa die Freimaurerlogen für jüdische Mitglieder. In Zentren jüdischen Lebens wie Breslau, Berlin oder Frankfurt am Main waren Juden nach der Reichsgründung prominent in den Vereinen des bürgerlich-liberalen Lagers vertreten. In diesen Städten entwickelte sich eine "pluralistische Urbanität" (Till van Rahden), die Juden und Nichtjuden gleichermaßen umfasste. Bürgerliche Juden leisteten hier einen aktiven Beitrag etwa zur Definition der kommunalen Armenpflege, die Fürsorge nicht als reine Mildtätigkeit, sondern als "soziales Recht" verstand. Bürgerlich-großstädtische Juden pflegten ihre jüdische Identität also situativ, sie pflegten nicht nur ihre religiöse Gemeinschaft, sondern beteiligten sich aktiv an bürgerlich-liberalen Gesellschaftsgruppen, die sie kulturell veränderten.

Es waren vor allem die staatsnahen Gruppen des Bürgertums wie höhere Beamte und Offiziere sowie Adelige, die sich dem geselligen Umgang mit Juden verweigerten. Die Bilanz der jüdischen Gleichstellung im Kaiserreich bleibt also ambivalent. Ungeachtet der rechtlichen Emanzipation blieb ihnen eine Karriere in vielen staatlichen Berufen verschlossen oder nur um den Preis der Taufe möglich. Im liberalen Milieu einiger Großstädte bestimmten Juden aktiv bürgerliche Werte und kulturelle Praktiken mit. Zugleich entwickelte sich jedoch ein anti-emanzipatorisches Lager, in dem die soziale Ausgrenzung bekennender wie getaufter Juden ein wichtiger Teil der kollektiven Identität war.

Dynamik des Geschlechterkonflikts

Widersprüche und Grenzen der Emanzipation kennzeichnen auch die Geschlechterbeziehungen und damit ein anderes Feld, in dem die Gesellschaft des Kaiserreichs eine dynamische Entwicklung durchlief. Dabei war die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zunächst tief in die soziale, rechtliche und politische Ordnung eingelassen. Das Muster der patriarchalischen Kernfamilie war weit über das Bürgertum hinaus akzeptiert. Es schrieb unterschiedliche Lebensentwürfe für Männer und Frauen vor, die Männern das Berufsleben und die öffentliche Sphäre vorbehielten, während für Frauen das private Umfeld der Familie und die Kindererziehung vorgesehen waren. Frauenarbeit war in diesem Rollenmodell nur auf unterbürgerliche Schichten beschränkt und auch dort nur als vorübergehende Tätigkeit vor der Verheiratung. Noch 1907 gingen rund 70 Prozent der unverheirateten Frauen einer Erwerbsarbeit nach, jedoch nicht mehr als 26 Prozent der Ehefrauen. Insgesamt waren im Kaiserreich konstant etwa 35 Prozent aller Frauen erwerbstätig. Die Statistik weist zwar von 1882 bis 1907 eine Steigerung aus. Diese resultierte jedoch nur aus der genaueren Erfassung von jungen Frauen, die im bäuerlichen Betrieb der Eltern mithalfen. So war noch 1907 fast jede zweite erwerbstätige Frau in der Landwirtschaft tätig. Die Erwerbschancen aller Frauen vergrößerten sich durch den seit dem späten 19. Jahrhundert anhaltenden Geburtenrückgang. Bei diesem gingen bürgerliche Frauen vor allem aus der Schicht der Angestellten durch eine bewusste Familienplanung voran, während unter den Arbeitern der Schwerindustrie (Bergbau, Eisen-/Stahlerzeugung) um die vier Kinder pro Ehe bis 1914 die Norm blieben.

Die soziale Hierarchie zwischen Männern und Frauen ergab sich nicht nur aus ihrer unterschiedlichen Einbindung in die ökonomische Sphäre. Sie war auch das Ergebnis rechtlicher Festlegungen. Nach langer Verzögerung wurde 1896 vom Reichstag das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) verabschiedet. Es trat zum 1. Januar 1900 in Kraft. Das BGB schuf ein einheitliches Privatrecht und regelte damit auch die Rechtsverhältnisse in der Ehe. Dabei gab es dem Mann das alleinige Recht der "Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten". Der Ehefrau gestattete das BGB nur, "innerhalb ihres häuslichen Wirkungskreises die Geschäfte des Mannes für ihn zu besorgen und ihn zu vertreten" (§§ 1354, 1357).

Auch von der politischen Sphäre blieben Frauen weitgehend ausgeschlossen. Erst die Weimarer Republik brachte ihnen im Gefolge der Revolution vom November 1918 das Wahlrecht für den Reichstag und für die Parlamente von Kommunen und Einzelstaaten. Bis zum Ende des Kaiserreichs vertrat von den Parteien allein die SPD seit 1891 ohne jeden Vorbehalt die Einführung des Frauenwahlrechts. Ihr gesellten sich nur einige Gruppen am progressiven Rand des Linksliberalismus hinzu. Die politische Teilhabe von Frauen wurde auch auf anderen Wegen eingeschränkt. Erst das 1908 verabschiedete Reichsvereinsgesetz erlaubte ihnen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und damit auch in den Parteien. Vor allem proletarische Frauen machten in großer Zahl von dieser Chance Gebrauch und traten der SPD und den Freien Gewerkschaften bei. Im Jahr 1914 waren immerhin 175.000 Frauen Mitglied der SPD, was einem Anteil von 16 Prozent entsprach.

Dies ist ein wichtiges Indiz dafür, dass sich die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen seit der Jahrhundertwende dynamisch veränderten: Seitens der Frauen wurde die hierarchische Geschlechterordnung zunehmend in Frage gestellt und immer mehr Frauen engagierten sich in der bürgerlichen Frauenbewegung. Deren Anfänge gehen auf das Jahr 1865 zurück, als die sozialkritische Schriftstellerin Louise Otto-Peters (1819–1895) den Allgemeinen Deutschen Frauenverein gründete. Dessen Mitgliederzahl stagnierte allerdings zunächst.

QuellentextEine Vision der modernen Frau

Helene Stöcker (1869–1943) war eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen und Pazifistinnen des Kaiserreichs. 1905 war sie eine Mitbegründerin des Bundes für Mutterschutz. In diesem Text aus dem Jahr 1893 entwirft sie ihre Vision der "modernen Frau".

[…] Die moderne Frau ist etwas, das noch nicht in dieses Jahrhundert hineingehört – für die es noch keinen Namen und – keinen Mann gibt, keine Stellung in der Gesellschaft; denn ihrem ganzen, innersten Wesen nach gehört sie in ein Zeitalter der Zukunft – kurz, sie hat sich auf jeden Fall verfrüht. […]

Sie denkt nicht, dem Manne absolut "gleich" zu werden – aber sie will ein glücklicher – und das bedeutet auch für sie: ein freier Mensch werden und sich zugleich in ihrer Weibart immer höher entwickeln. Sie beklagt es längst nicht mehr – wie sie das als Kind vielleicht getan –, daß sie kein Mann ist; im Gegenteil, sie ist bereits zu einem wohligen Gefühl ihrer Weib-Vorzüge gekommen. […] Sie ist eigentlich geboren, zu lieben mit allen Fibern ihres Wesens, mit Geist, Herz und Sinnen […]. Aber da der Mann, den sie brauchen könnte, noch nicht geboren ist […], schenkt sie ihren Reichtum andern: sie betet die mütterliche Freundin an, […] sie umfängt mit aller Glut erster noch unklarer Leidenschaft irgendein holdes, junges Geschöpf, das ihr dafür – halb geschmeichelt, halb verwirrt, die heiß ersehnte Freundschaft schenkt. Sie erzieht ihre Geschwister, ihr ähnlich in Temperament und Intelligenz, mit mehr als mütterlichem Stolz […] – und endlich lebt sie in innigster Gemeinschaft mit gleichfühlenden, gleichstrebenden Genossinnen.

So ist es ihr möglich geworden […] durch die allererste, leidenschaftliche Jugendzeit durchzukommen – ohne der Gefahr zu erliegen, in ihrem starken Liebesbedürfnis sich an irgendeinen Mann wegzugeben, der doch nie "ihr" Mann sein kann. Aber nun sie frei und unabhängig mitten im Herzen der Weltstadt lebt – nun ihr das, was sie glühend begehrte: Leben im Verkehr mit geistig ebenbürtigen Menschen – in reichem Maße zuteil geworden – nun hat sie eine merkwürdige Erfahrung gemacht. Bisher hat sie immer die Frau im allgemeinen für das konservative Element gehalten – aber nun muß sie lernen, daß der Mann in bezug auf die Frau noch viel konservativer ist, daß er in Hirn und Nerven nicht nur die Tradition seiner Großeltern, sondern seiner Urgroßeltern hat, und daß selbst die "Neuen, Freien" von der Frau nur die Dirne und die Hausfrau im ältesten, spießbürgerlichsten Sinne kennen – und darum ein etwas – hm – verdutztes Gesicht machen, wenn sie ernsthaft mit ihnen über die Kreutzersonate reden will. […]

Sie stellt freilich auch eine Forderung, die bis dahin noch nie gestellt worden: Sie läßt sich nicht mehr die Beleidigungen des Ballsaals gefallen, und sie will auch nicht als Mannweib betrachtet werden – ja, sie ist ein anspruchsvolles Geschöpf! Ein Weib will sie sein – Liebe nehmen und Liebe geben und doch nicht mehr in ehrfürchtigem Schweigen lauschen, wenn kluge Männer sprechen?! Nein, nein, für solch ein Geschöpf ist überhaupt noch keine Formel gefunden – und doch – ich weiß es ganz genau: Alles Heil, das eine sehnsüchtig harrende Zeit von einem zukünftigen Erlöser erwartet, muß vom Weib ausgehen – dem Weib, das sich allen Männern zum Trotz – aus eigner Kraft zu einem Menschen durchgerungen!

Aber so wenig selbst der moderne Mann schon fähig ist, dies Weib zu begreifen – so wenig er es also zu seiner Gefährtin macht –, so wenig ergibt sich das moderne Weib dem Manne. Nicht aus Askese oder aus Unlust an ihm – aus einem vielmehr äußerlichen Grunde: Was alles – in unsern unpraktisch zurückgebliebenen häuslichen und ökonomischen Verhältnissen – auf sie wartet, das genügt, ihre Augen einstweilen noch offenzuhalten: hinter der großen Seligkeit die Küche und die Kinderstube (nicht als ob sie ihre Kinder einmal nicht lieben würde), aber aus dem freien Menschen wird ein Lasttier mit unglaublich raffinierten Verpflichtungen – und sie dürstet nach der Freiheit ebenso wie nach der Liebe – erst beide vereint vermögen ihr die Harmonie des freien Menschentums zu bringen. So hat sie denn die nötige Kritik, um sich nicht durch ihre jungen, heißen Sinne überrumpeln zu lassen […], obwohl sie es nur zu gut weiß: Das Beste vom Leben kann nur in der innigsten Gemeinschaft zweier freier Menschen – zwischen Mann und Weib erblühen – ohne Frage, ohne Zweifel! Es begegnet ihr oft, wenn sie irgendwo davon redet, daß man ehrlicher, offener, natürlicher werden solle, daß man vor allem endlich das Weib lehre, sich bewußt als Weib zu fühlen – daß man sie dort mitleidig erstaunt, zweideutig lächelnd ansieht: "Wie unschuldig Sie sein müssen!"

So hält sie denn sich selber fest als das große Glück, nach dem sie rastlos gejagt und das sie endlich – so über Erwarten – gefunden. Sie weiß es jetzt, daß jeder, der frei werden will, es nur durch sich selber werden kann. Sie hält, was sie hat, daß niemand ihre Krone nehme: Vernunft und Kunst und Wissenschaft – des Menschen allerhöchste Kraft! Ihr Ziel ist: ein Mensch zu sein, dem nichts Menschliches fremd ist! Aber sie hofft auch auf die kommende Zeit, da aus ihrer Gemeinschaft mit einem Manne eine Ehe werden kann!

Helene Stöcker, "Die moderne Frau", in: Freie Bühne, Jg. 4 (1893), S. 1215–17, zitiert nach: Jürgen Schutte / Peter Sprengel, Die Berliner Moderne 1885–1914, © Philipp Reclam jun., Stuttgart 1987, S. 152 ff.

Erst als sich 1894 verschiedene Berufsvereine und lokale Frauenvereine im Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) als Dachverband zusammenschlossen, erzielte die Frauenbewegung eine breitere Resonanz in der Öffentlichkeit. Allein von 1900 bis 1908 wuchs die Mitgliederzahl des BDF von 70.000 auf 200.000. Die proletarische, SPD-nahe Frauenbewegung organisierte sich separat. Nur eine Minderheit der bürgerlichen Frauenbewegung vertrat radikale politische Ziele und setzte das Frauenstimmrecht an die Spitze ihrer Forderungen. Die breite Mehrheit, und hier nicht zuletzt die protestantischen Frauenvereine, die dem BDF 1908 beitraten, zielte vor allem auf bessere Bildungsmöglichkeiten für Frauen. Ein anderes Anliegen war die praktische und konzeptionelle Einbindung von Frauen in die Sozialarbeit und Sozialpolitik, und damit auch deren Mitgestaltung. Als "Kulturaufgabe" der Frau – so der zeitgenössische Begriff – sahen die Protagonisten dieser Strömung das Bemühen, die Kälte und Entfremdung der hochdifferenzierten, von Männern dominierten Berufswelt zu mildern und zu ergänzen. Dieses Ziel wurde im Konzept der "geistigen Mütterlichkeit" gebündelt, die nicht auf die Familie beschränkt war, sondern eine fundamentale Reform der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft durch weibliche Werte forderte.

Gemessen am Auftreten und an der Militanz der britischen Suffragetten (vom englischen Wort für Wahlrecht: suffrage), deren Demonstrationen seit 1903 die Öffentlichkeit im Vereinigten Königreich aufschreckten, waren dies gemäßigte Ziele. Doch bei einem solchen Vergleich sollte nicht übersehen werden, dass sich gerade im Bereich der Bildungschancen in Deutschland seit 1900 deutliche Veränderungen abzeichneten. Gymnasium und Abitur waren im Kaiserreich den Jungen vorbehalten, während den Mädchen zunächst nur der Abschluss in einer "höheren Töchterschule" möglich war. Die Frauenbewegung, in der viele Lehrerinnen aktiv waren, hatte sich erst für die Verbesserung der höheren Töchterschulen, dann aber auch für die Zulassung von Mädchen zum Abitur eingesetzt. Seit 1893 entstanden so zunächst private Mädchengymnasien, ab 1906 kam als staatlicher Schultyp das Lyzeum hinzu, das Mädchen zum Abitur führte. Komplettiert wurde diese spürbare Erweiterung der Bildungschancen und -zugänge durch die Zulassung von Frauen zum Studium, zuerst 1900 in Baden und dann 1908 auch in Preußen.

QuellentextGertrud Bäumer – ein Leben für die Frauenbewegung

Wie viele Angehörige des deutschen Bildungsbürgertums stammte Gertrud Bäumer (1873–1954) aus einer Familie protestantischer Pfarrer. Nach Absolvierung einer höheren Töchterschule besuchte sie ein Lehrerinnenseminar und unterrichtete seit 1892 an verschiedenen Volksschulen. Über ihre Arbeit als Lehrerin kam sie in Kontakt mit dem Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein (ADLV). Helene Lange (1848–1930), eine der Leitfiguren der deutschen Frauenbewegung, hatte ihn 1890 gegründet. Bis 1904 wuchs der ADLV auf fast 20.000 Mitglieder an. Die hier organisierten Lehrerinnen waren bereit, "die Professionalisierung ihres Berufes und den Kampf um Stellen mit ihren männlichen Kollegen aufzunehmen" (Angelika Schaser).

1898 zog Bäumer nach Berlin. Dort bereitete sie sich auf das Oberlehrerinnenexamen vor, dessen Absolventinnen Kurse an Hochschulen belegen konnten. An der Universität Berlin besuchte sie Veranstaltungen in Deutsch und Theologie. Bevor auch Preußen 1908 Frauen zur Immatrikulation zuließ, war dies nur mit Genehmigung des jeweiligen Professors möglich. So war Gertrud Bäumer, die 1904 mit einer Arbeit über Johann Wolfgang von Goethe auch einen Doktortitel erwarb, eine der Pionierinnen des Frauenstudiums in Deutschland. Doch im Seminar des berühmten Pädagogen Friedrich Paulsen blieb Bäumer, wie sich ein Kommilitone erinnerte, "stumm als Frau, die damals in der Universität nur geduldet wurde."

Ende der 1890er-Jahre litt Helene Lange, die in Berlin lebte, unter einer schweren Augenkrankheit, die ihre Arbeit als Leiterin von Gymnasialkursen für Frauen beendete. Von einer Kollegin vermittelt bot Bäumer ihre Hilfe an. Ende 1899 zog sie in die Wohnung Langes. Damit begründete sie eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, einen "fraulichen Lebensbund" – so die mit beiden befreundete Marianne Weber, Ehefrau des Soziologen Max Weber –, der bis zum Tod von Helene Lange 1930 Bestand hatte.

Berufstätige bürgerliche Frauen um 1900 waren auf der Suche nach einer angemessenen Lebensform. Für die in der Frauenbewegung in großer Zahl aktiven Lehrerinnen galt bis 1919 ein vom Staat verhängtes "Lehrerinnenzölibat", das sie bei der Eheschließung zur Aufgabe des Berufes zwang. Lange und Bäumer waren nicht die einzigen prominenten Repräsentantinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, die eine weibliche Lebensgemeinschaft als Alternative vorzogen. Auch Anita Augspurg (1857–1943) und Lida Gustava Heymann (1868–1943) lebten und arbeiteten zusammen für den Feminismus. Wie Bäumer und Lange folgten sie damit dem nach einer Novelle von Henry James benannten Modell der "Boston Marriage".

Eine solche Lebensgemeinschaft finanziell unabhängiger bürgerlicher Frauen war nicht durch die mangelnde Gelegenheit zur standesgemäßen Eheschließung motiviert. Vielmehr bot sie den Pionierinnen der Frauenbewegung die beste Möglichkeit, ihre Tätigkeit eigenständig und ohne Unterordnung auszuüben. Die Führung des Haushaltes von Lange und Bäumer oblag, wie im Bürgertum üblich, einem Dienstmädchen.

Zielstrebige und umsichtige Verbandsarbeit, extensive publizistische Arbeit sowie die Förderung durch Helene Lange brachten Gertrud Bäumer rasch in die Führungspositionen der Frauenbewegung. Bereits 1899 rückte sie in den Vorstand des ADLV auf, ab 1907 redigierte sie dessen Verbandszeitschrift. 1910 wählte auch der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), die Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung, Bäumer zur Vorsitzenden. In dieser Position öffnete sie den BDF für konservative und konfessionell gebundene Gruppen, die substanzielle Emanzipationsforderungen wie die nach dem Frauenstimmrecht ablehnten. Zugleich trieb sie die Nationalisierung der Frauenbewegung voran. Bereits 1912 legte Bäumer dem preußischen Kriegsministerium Pläne für einen Nationalen Frauendienst (NFD) vor. Im Fall eines Krieges sollte er alle karitativen Funktionen der Frauenverbände bündeln. Als der NFD mit dem Kriegsbeginn 1914 seine Arbeit aufnahm, beschrieb Bäumer diesen "Heimatdienst" als eine "Kriegsübersetzung" von Begriff und Anliegen der Frauenbewegung.

Das Reichsvereinsgesetz von 1908 erlaubte auch Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen. Am Tag seines Inkrafttretens besuchte Bäumer eine Versammlung der Freisinnigen Vereinigung und betrat damit eine für sie "neue Welt". Diese linksliberale Partei hatte sich 1903 mit dem National-Sozialen Verein zusammengeschlossen, den der Pfarrer Friedrich Naumann begründet hatte. Damit übernahm der Freisinn auch Naumanns programmatisches Ziel, die Arbeiterschaft mit der Nation auszusöhnen. Als die linksliberalen Parteien 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) fusionierten, wurde Bäumer als einzige Frau in den Zentralausschuss der Partei gewählt. Doch die FVP vertrat keine politischen "Frauenrechte". Erst kurz vor der Revolution im Herbst 1918 rang sich die FVP dazu durch, das Frauenstimmrecht zu befürworten. Der Lebensweg von Gertrud Bäumer bis 1918 verdeutlicht, dass Bildung und Beruf bürgerlichen Frauen im Kaiserreich neue Freiräume und Emanzipationschancen eröffneten. Doch im Bereich der Politik blieben Grenzen und Ambivalenzen bestehen, die auch eine nationalistisch auftretende Frauenbewegung nicht ausräumen konnte.

Der steigende Zulauf zur bürgerlichen Frauenbewegung war ebenso wie die erweiterten weiblichen Bildungschancen ein Indiz für einen seit 1900 wachsenden Geschlechterkonflikt. Viele Männer im konservativ-nationalen Lager nahmen ihn als eine grundlegende Erschütterung der männlichen Dominanz wahr. Sie reagierten mit der Ideologie des Antifeminismus, der die angeblich "natürliche" Hierarchie zwischen den Geschlechtern wiederherstellen und Frauen ihren biologisch bestimmten Platz in der Gesellschaft zuweisen wollte. In der politisch aufgewühlten Atmosphäre des Jahres 1912, die nach der Reichstagswahl im Januar durch die Gewinne der SPD und neuerliche Forderungen nach dem Frauenstimmrecht geprägt war, fand diese antifeministische Geisteshaltung ihren organisatorischen Ausdruck in der Gründung des "Deutschen Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation". Im Zeichen nationaler Integration wandte er sich gegen die Frauenbewegung. Er trug somit zur weiteren Formierung eines anti-emanzipatorischen Lagers bei, das sich in ähnlicher Weise anlässlich der spannungsvollen Integration der Juden in bürgerliche Kreise gebildet hatte. Der Antifeminismus war Ausdruck einer Mobilisierung gegen die Moderne und zugleich "Indikator einer Gesellschaft in Bewegung", so die Historikerin Ute Planert. Während sich die Strukturen der Klassengesellschaft bis 1914 weiter verfestigten, zeigte sich ab 1900 zugleich ein intensives Ringen um vermehrte Partizipation, Gleichstellung und soziale Reform.

Prof. Dr. Benjamin Ziemann lehrt als Professor für neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield in Großbritannien. Er war Gastwissenschaftler an der University of York, der Humboldt Universität zu Berlin sowie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert – vor allem das Kaiserreich und die Weimarer Republik –, die Militär- und Gewaltgeschichte der beiden Weltkriege sowie die Historische Friedensforschung. Er ist Mitglied der Redaktion des Archivs für Sozialgeschichte. Zurzeit arbeitet er an einer Biografie von Martin Niemöller.

Jüngste Buchveröffentlichungen

Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014;

Encounters with Modernity. The Catholic Church in West Germany, 1945–1975, New York/Oxford 2014;

Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern, Essen 2013;

Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt/M./New York 2009;

mit Bernd Ulrich (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein Historisches Lesebuch, Essen 2008;

mit Thomas Mergel (Hg.), European Political History 1870–1913, Alders­hot 2007.