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Religion, Konfession und säkulares Wissen | Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 | bpb.de

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Religion, Konfession und säkulares Wissen

Prof. Dr. Benjamin Ziemann

/ 13 Minuten zu lesen

Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse zur Zeit des Kaiserreichs zwingen die beiden großen Konfessionen zur Umorientierung und zur Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rolle die Religion in der Gesellschaft künftig einzunehmen vermag. Neben den Kirchen tritt die moderne Wissenschaft zunehmend als neuer Orientierungs- und Deutungsrahmen in Erscheinung.

Die Religion hat in der Gesellschaft des Kaiserreichs große Bedeutung und ist geprägt von der Konkurrenz zwischen Katholiken und Protestanten. "Gottesdienst in der Kirche zu Burg" (Spreewald), Farbholzstich von 1893 (© akg-images)

Entgegen einer populären Vorstellung war das 19. Jahrhundert kein Zeitalter der Säkularisierung. In weiter Begriffsverwendung lässt sich Säkularisierung als die Ablösung religiöser durch weltliche, säkulare Deutungsmuster verstehen, mit entsprechenden Folgen für die religiöse Praxis. In diesem Sinne hat der Soziologe Max Weber (1864–1920), einer der einflussreichsten liberal-nationalen Akademiker und Intellektuellen des Kaiserreichs, 1905 vom Prozess der "Entzauberung der Welt" gesprochen. Durch tiefe Kontroversen über den Ort der Religion in der Moderne und angesichts eines anhaltenden Rückgangs der Teilnahme am Abendmahl waren vor allem die protestantischen Kirchen direkt in den Prozess der Säkularisierung verwickelt. Zugleich organisierten Protestanten wie Katholiken jedoch neue Formen der Frömmigkeit und Religiosität. Damit war Religion auch am Beginn des 20. Jahrhunderts eine soziale Tatsache erster Ordnung. Sie prägte die soziale Lebenswelt und die Deutungskultur breiter Bevölkerungsschichten. Selbst die sozialdemokratische Arbeiterschaft, die den christlichen Kirchen zunehmend misstrauisch gegenüberstand, griff an den Lebenswenden wie Geburt, Eheschließung und Tod weiterhin auf vom Christentum geprägte Übergangsriten zurück.

Die anhaltende Bedeutung der Religion lag nicht zuletzt an der konfessionellen Spaltung Deutschlands. Seit der Reformation im 16. Jahrhundert war sie ein grundlegendes Faktum der deutschen Geschichte. Konkurrenz und Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten prägten die Geschichte des Kaiserreichs dann in erneuerter Intensität. Der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht stellte 1872 deshalb mit Bedauern fest: "Religiöse Fragen sind in keiner Epoche der deutschen Geschichte mit größerem [...] Eifer behandelt worden als in diesem Momente." Allerdings unterschieden sich die Ausgangspositionen, mit denen beide Konfessionen in diesen Konflikt eintraten.

Der Katholizismus in der Defensive

Die Katholiken befanden sich im Kaiserreich in der Defen­sive. Diese Defensive hatte zunächst eine demografische Dimension. Mit der kleindeutschen Lösung der deutschen Frage waren sechs Millionen deutschsprachige Katholiken in Österreich aus dem nationalen Verbund ausgeschieden. Im Kaiserreich bildeten die Katholiken seitdem eine Minderheit von etwas mehr als einem Drittel der Bevölkerung. Mit Ausnahme Oberschlesiens und des Rheinlandes lebten sie vorwiegend in ländlichen Regionen, die von der Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft noch kaum erfasst waren, wie etwa Altbayern, Westfalen oder der Schwarzwald. Das soziale Profil der Katholiken spiegelte diese traditionale Struktur wider. Unter Unternehmern wie industriellen Arbeitern waren Katholiken deutlich geringer vertreten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprach. Die Defensive hatte – zweitens – eine politische Dimension. Mit dem Kulturkampf verfolgten die Liberalen und Bismarck eine aggressive anti-katholische Politik, die auf eine Zurückdrängung der katholischen Kirche aus dem öffentlichen Raum abzielte.

Zudem positionierte sich die katholische Kirche – drittens –in der Abwehr gegen die rationalistischen und individualistischen Tendenzen der Moderne. Dies stand in Zusammenhang mit der Durchsetzung der ultramontanen, das heißt auf den Papst in Rom fokussierten Ausrichtung, die seit den 1830er-Jahren auf zwei Ebenen erfolgte. In den deutschen Bis­tümern favorisierten einzelne theologische Fakultäten und Priesterseminare eine Abschottung von der Moderne im Sinne des Ultramontanismus, während die Kurie in Rom diesen Prozess durch eine Reihe von Erklärungen vorantrieb. So dogmatisierte sie 1854 die unbefleckte Empfängnis Marias, indem sie betonte, dass Maria ungeachtet ihrer natürlichen Zeugung bei ihrer Empfängnis von der Erbsünde frei blieb, und so die besondere Heiligkeit der Gottesmutter unterstrich. Im soge­nannten Syllabus Errorum ("Verzeichnis der Irrtümer") von 1864 legte Papst Pius IX. eine Liste der zu verdammenden "Irrtümer" der modernen Kultur vor. Zu ihnen zählte er neben Sozialismus und Liberalismus auch die Idee des Fortschritts und der säkularen Menschenrechte. Schließlich setzte sich auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870, das wegen des deutsch-französischen Krieges abgebrochen werden musste, gegen erbitterten Widerstand vor allem deutscher Bischöfe das Dogma der Infallibilität (Unfehlbarkeit) durch. Es bestimmte, dass der Papst in ex cathedra – "vom Bischofssitz in Rom aus" – verkündeten lehramtlichen Entscheidungen unfehlbar sei.

Die Durchsetzung des Ultramontanismus erfolgte nicht ohne Konflikte. Aber am Ende war den Katholiken damit ein Orientierungsrahmen gegeben, der die Abgrenzung nach außen und die Homogenisierung nach innen beförderte. Der Ultramontanismus forderte und förderte eine demonstrative, sichtbare Form der Frömmigkeit. Diese zeigte sich in spektakulärer Form etwa in den Marienerscheinungen. In der saarländischen Bergbaugemeinde Marpingen behaupteten 1876 drei Mädchen, ihnen sei die Jungfrau Maria erschienen. Da­raufhin strömten rasch Tausende von Pilgern in den entlegenen Ort, um an dem Wunder teilzuhaben. Auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes entsandte der preußische Staat Truppen, um Menschenansammlungen aufzulösen und die Pilger fernzuhalten. Weniger spektakulär, aber nicht weniger eindringlich zeigte sich der Aufschwung ultramontaner Frömmigkeit am Wachstum katholischer Orden. Vor allem weibliche Ordensgemeinschaften, die vielfach in der Krankenpflege tätig waren, erlebten im Kaiserreich ein explosionsartiges und oft über 1918 hinausreichendes Wachstum der Niederlassungen und Mitglieder.

Im Zentrum der rituellen Frömmigkeit aller Katholiken stand der eucharistische Kult, also das Messopfer im Abendmahl mit dem Empfang der heiligen Kommunion, der zumindest einmal jährlich an Ostern die Pflicht jedes Katholiken war. Flächendeckende Zahlen über die Entwicklung der Teilnahme an der Osterkommunion liegen nicht vor, da die katholische Kirche erst ab 1915 statistische Erhebungen einführte. Vereinzelte Hinweise deuten jedoch darauf hin, dass die kirchliche Praxis der Katholiken in Dörfern und Kleinstädten bis 1914 auf hohem Niveau stabil blieb. Nur in Großstädten wie Köln und München war bereits um 1900 vor allem bei der Arbeiterschaft eine Entfremdung von der kirchlichen Praxis sichtbar. Dabei gab es gravierende Unterschiede vor allem zwischen Frauen und den häufiger "abständigen" Männern. Sie sind im Zusammenhang einer tiefgreifenden Feminisierung der Religiosität im 19. Jahrhundert zu sehen, die sich auch am Aufstieg des Marienkultes zum Leitbild ultramontaner Frömmigkeit zeigt. Nimmt man einen Zusammenhang zwischen intensiver Kirchlichkeit und Stimmabgabe für das Zentrum an, so sind noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges rund zwei Drittel aller katholischen Männer kirchentreue, praktizierende Christen gewesen.

Der Kulturkampf beförderte die endgültige Durchsetzung des Ultramontanismus und damit zugleich die Abschottung der Katholiken von der Mehrheitsgesellschaft in einem in sich weitgehend geschlossenen Milieu. Ein wichtiges Mittel der Inte­gration des Milieus nach innen waren katholisch-konfessionelle Vereine. Zu ihnen zählten neben den im engeren Sinne religiösen Vereinen wie Kongregationen und Sodalitäten ("brüderliche Gemeinschaften") auch Missions- und Lesevereine. Hinzu kam ein weites Spektrum von Standes- und Berufsvereinen für Bauern, Handwerker und andere Berufsgruppen. Erst um 1900 war dieses Netz von Vereinen voll ausgebildet, und es blieb regional ungleichmäßig entwickelt, mit starken Schwerpunkten im Rheinland und in Westfalen. Im Kern der Vereine stand die Präsidesverfassung, nach der stets ein Geistlicher von Amts wegen als Vorsitzender eines Vereins fungieren musste. Das entsprach dem Bild klerikaler Bevormundung, das die kulturkämpferischen Liberalen hegten, und führte im Vereinsalltag zu manchen Konflikten.

Daneben kam es aber zu einer stillen Säkularisierung, indem sich viele der in den Vereinen aktiven Männer allmählich von der klerikalen Kontrolle lösten und die Vereinsversammlungen als Lernorte der Partizipation nutzten. In diesem Detail wie insgesamt zeigen die katholischen Vereine die Ambivalenzen, die das katholische Milieu prägten: Auf der einen Seite stand der Versuch der Abschottung von der modernen Welt; auf der anderen Seite war das Prinzip des Zusammenschlusses in Vereinen selbst eine tragende Säule der Zivilgesellschaft, und mit und in den Vereinen öffneten sich die Katholiken schrittweise den Konflikten der bürgerlich-kapitalistischen Moderne.

Beispielhaft für die zweite Tendenz stand der 1890 gegründete Volksverein für das katholische Deutschland in Mönchengladbach. Mit seinen 1914 etwa 800.000 Mitgliedern widmete er sich der Volks- und Arbeiterbildung. Bei strikt antisozialistischer Ausrichtung rezipierte man zugleich die Politik der bürgerlichen Sozialreformer und gelangte so zu einem realistischen Verständnis der Industriegesellschaft. Ab 1900 tobte im katholischen Lager ein "Gewerkschaftsstreit" um die Frage, ob katholische Arbeiter sich in christlichen Gewerkschaften organisieren und mit anderen Gewerkschaften kooperieren sollten. Dabei stand die sogenannte Mönchengladbacher Richtung folgerichtig auf der Seite der Gewerkschaften und gegen die sogenannten Integralisten. Diese lehnten auch den Vorstoß des rheinischen Zentrumspolitikers Julius Bachem ab, der 1906 eine Kooperation mit Protestanten unter dem Motto "Wir müssen aus dem Turm heraus" forderte. Insgesamt war der Vereinskatholizismus zugleich ein Vehikel der Abgrenzung nach außen und der Stabilisierung nach innen.

QuellentextEin Plädoyer für die konfessionelle Öffnung der Zentrumspartei

In der Zentrumspartei tobte seit 1906 ein Streit um die Frage, ob die Partei aus dem "Turm" des katholischen Milieus ausbrechen und sich zu einer christlichen Sammelpartei wandeln sollte. Der Kölner Verleger Julius Bachem (1845–1918) entfaltet 1906 die Argumente der sogenannten Kölner Richtung.

"Der Zentrumsturm […] wurde in der schweren Zeit des kirchenpolitischen Konfliktes errichtet. Er sollte der Abwehr des staatskirchlichen Ansturmes dienen, welcher unter der Führung des gewaltigsten Staatsmannes des 19. Jahrhunderts gegen die katholische Kirche in Preußen unternommen wurde. […]

Es gibt auch noch katholische Kreise, in denen das Zentrum lediglich die ‚katholische Volkspartei‘ ist und der politische Charakter des Zentrums keineswegs immer, wo es angezeigt erscheint, mit einer alle Mißdeutung ausschließenden Klarheit und Entschiedenheit betont wird. […]

Dazu kommt, daß katholischerseits an einzelnen Stellen konfessionelle Abgeschlossenheit auch da noch herrscht, wo sie sachlich nicht berechtigt ist. In dieser Richtung hat offensichtlich am meisten der noch immer nicht aufgegebene Versuch geschadet, die interkonfessionelle berufsgenossenschaftliche Organisation der Arbeiter unter Geltendmachung spezifisch kirchlicher Gesichtspunkte zu vereiteln oder zu erschweren*, während längst für andere Berufsstände (Bauern, Handwerker) interkonfessionelle Organisationen zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen bestehen und unbeanstandet in Tätigkeit sind. Auch diese Ueberspannung des Konfessionalismus nährt mittelbar das noch in so weiten akatholischen Kreisen bestehende Vorurteil, daß im Grunde genommen auch die Zentrumsfraktion ein ausschließlich im Interesse des Katholizismus geschaffenes Gebilde sei. […]

Man muß […] alles aufbieten, um dieses schädliche, ja gemeingefährliche Vorurteil zu zerstreuen, selbst unter Uebung weitgehender Selbstverleugnung.

[…] [W]ir müssen aus dem Turm heraus. Heraus nicht insofern, als wir die starke Verteidigungsstellung aufzugeben hätten. Nein, wir können und sollen sie beibehalten. Damit treten wir niemandem zu nahe. Auch dem konfessionellen Frieden dient nicht, wer sich wehrlos macht. Aber die Abschließung, die Absperrung, welche in dem Bilde des Turmes liegt, darf nicht über die Grenze hi­naus gehen, welche durch die Verhältnisse gezogen ist. Wir sollen nicht in dem Turme verbarrikadiert bleiben, sondern uns vor demselben aufpflanzen und in immer weiterem Umkreise mit den Mitteln, welche die Gegenwart an die Hand gibt, für das Programm der politischen Zentrumspartei eintreten, das sich wahrlich sehen lassen kann. Wenn das Zentrum eine wahre Staatspartei ist, so soll es auch als solche sich fühlen und überall als solche sich geltend machen; keines seiner katholischen Mitglieder braucht deshalb ein Tüttelchen seiner religiösen Ueberzeugungen preiszugeben.

Je weiter die Kreise sind, in welchen man die Gesamttätigkeit der Zentrumspartei kennen lernt, um so mehr wird das gegen die Zentrumsfraktion noch bestehende Vorurteil schwinden. […] Es muß unbedingt mit vermehrter Umsicht auf die Wahl von solchen Abgeordneten nichtkatholischen Bekenntnisses hingewirkt werden, welche gute Fühlung mit dem Zentrum zu nehmen und zu unterhalten willens und geeignet sind. […]

Das Zentrum darf nicht unter der Einwirkung der Verschärfung der konfessionellen Gegensätze, an der so viele arbeiten, in eine splendid isolation ["glänzende Isolierung"] geraten, welche die Erfüllung seiner Aufgabe für Reich und Volk aufs äußerste erschweren würde. Dem Bestreben, diese Gefahr zu verringern, sollen die vorstehend entwickelten bzw. angedeuteten Gedanken dienen."

* Bachem spielt hier darauf an, daß die am Ende des 19. Jahrhunderts mit Unterstützung der Zentrumspartei gegründeten interkonfessionellen Christlichen Gewerkschaften von einer kleinen, aber von Teilen des deutschen Episkopats unterstützten Gruppe innerhalb der Partei abgelehnt wurden. Die Gegner der Christlichen Gewerkschaften, die meist von ständischen Gesellschaftsvorstellungen ausgingen, wünschten die gewerkschaftliche Abschließung der katholischen Arbeiter innerhalb der besonderen Katholischen Arbeitervereine.

Gerhard A. Ritter (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl., Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 1992, S. 140 ff.

Die protestantische Grundierung der Nationalkultur

Charakteristisch für die protestantischen Kirchen war ihre enge Verbindung zu den Landesherren in den Einzelstaaten des Reiches. Sie ging auf die Konfessionalisierung im Zuge der Reformation und der Glaubenskriege seit dem 16. Jahrhundert zurück. Die Landesherren waren zugleich summus episcopus, oberster Bischof der jeweiligen evangelischen Landeskirche. Sie übten damit das Kirchenregiment, die Aufsicht über die inneren Angelegenheiten der Kirche aus. In Preußen geschah dies seit 1850 über den Evangelischen Oberkirchenrat, dem die Konsistorien, die kirchlichen Behörden, nachgeordnet waren. Die Kirchenhoheit dagegen, die staatliche Aufsicht über die Kirche, lag beim preußischen Kultusministerium. Die Pfarrer waren dem König durch ihren Amtseid verpflichtet und in Besoldung und Ausbildung dem Beamtenstatus angelehnt. Diese Kirchenverfassung bewirkte eine ausgesprochene Staatsnähe und eine hierarchisch-konservative Grundanlage der evangelischen Landeskirche nicht nur in Preußen.

Das evangelische Deutschland war in mehrfacher Hinsicht gespalten. Neben den lutherischen Landeskirchen gab es reformierte (das heißt calvinistische) Kirchen, unter anderem im Gebiet des ehemaligen Königreichs Hannover. In Preußen hatte König Friedrich Wilhelm III. reformierte und lutherische Landesteile sowie Regionen, in denen es beide Konfessionen gab, 1817 zur Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU) unter einer einheitlichen Agende (Handlungsanweisung für den Gottesdienst) zusammengefasst. Innerhalb der ApU blieben jedoch weit über 1918 hi­naus Spannungen zwischen den Befürwortern der Union und denjenigen Lutheranern bestehen, welche die Union als eine Verwässerung ihres Bekenntnisstandes ablehnten.

Darüber hinaus gab es theologische Differenzen und politische Spannungen zwischen innerkirchlichen Strömungen, die wiederum selbst in verschiedene Gruppen zerfielen. Die beiden wichtigsten Strömungen waren die "positiven", konservativen Vertreter des Luthertums auf der einen und die Rationalisten und Liberalen auf der anderen Seite. Jene sahen die Kirche in erster Linie als eine hierarchische Körperschaft. Diese sollte den Glauben in einer Weise verkündigen, die der harmonischen Einfügung der Gläubigen in die Gesellschaft diente und nicht etwa ihrer Befreiung als Individuen. Die Liberalen befürworteten dagegen eine weniger an Dogmen orientierte, stärker individualistische Ausrichtung des Glaubens. Theologisch versuchten sie, das Christentum mit den Erkenntnissen der modernen, rationalen Wissenschaft zu versöhnen und vor deren Hintergrund zu reinterpretieren. Ihren entschiedensten theologischen Ausdruck fand diese Strömung im Kulturprotestantismus, der Glaube und moderne Bildung versöhnen wollte. Adolf von Harnack (1851–1930) und Ernst Troeltsch (1865–1923), zwei seiner wichtigsten Vertreter, zählten zu den bedeutendsten protestantischen Theologen des Kaiserreichs.

Der Richtungsstreit unter den Protestanten um die richtigen theologischen Antworten auf den rapiden sozialen Wandel im Kaiserreich erfolgte vor dem Hintergrund einer substanziellen Entkirchlichung. Diese betraf die evangelischen Landeskirchen in unterschiedlichem Maße und knüpfte dabei an längerfristige, bis 1800 zurückreichende Entwicklungen an. So beteiligten sich die Mitglieder reformierter Gemeinden in Nordwestdeutschland traditionell weniger am Abendmahl als die Gemeindemitglieder in jenen Teilen von Württemberg und Ostwestfalen, die durch die stärkere praktische Frömmigkeit des Pietismus und der Erweckungsbewegung geprägt waren. Ab 1850 überlagerten Verstädterung und Industrialisierung diese regionalen Unterschiede und verstärkten den Trend zur Entkirchlichung. In der preußischen Provinz Sachsen – die etwa dem heutigen Sachsen-Anhalt entspricht – war die Abendmahlsfrequenz bis 1913 auf 31 Prozent abgesunken, in der Provinz Brandenburg gar auf 24 Prozent. Das heißt auf 100 evangelische Bewohner wurden dort nur 24 Oblaten pro Jahr ausgeteilt, wobei die mehrfache Abendmahlsteilnahme frommer Christen eingerechnet ist. In vielen Großstädten, in denen Kirchenbau und Anstellung von Pfarrern mit dem Bevölkerungswachstum nicht mithalten konnten, war die Lage noch schwieriger. So lag die Abendmahlsfrequenz in Berlin schon 1862 bei nur 17, 1913 dann bei 14 Prozent, und in Breslau oder Dresden gab es noch niedrigere Werte.

Bereits 1848 hatten sich auf Initiative von Johann Heinrich Wichern zahlreiche protestantische Vereine zum "Central-Ausschuß der Inneren Mission" zusammengeschlossen, der die sozial-caritative Arbeit der evangelischen Kirchen koordinierte. Die der Kirche entfremdeten Industriearbeiter ließen sich jedoch auf diese Weise nicht zurückgewinnen. Das musste der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker erfahren, der 1878 die Christlich-Soziale Arbeiterpartei gründete. Damit rückte er zwar die soziale Frage nachhaltig auf die kirchliche Tagesordnung, doch sein unmittelbares Ziel, die Berliner Industriearbeiter für die Kirche zu gewinnen, scheiterte. So wandte er sich ab 1879 dem alten Mittelstand der Handwerker und Kleinhändler zu und vertrat ein offen antisemitisches und zugleich antikapitalistisches Programm.

Bei aller inneren Fragmentierung und Polarisierung innerhalb des evangelischen Deutschlands gab es doch zwei Grundhaltungen, welche die meisten Protestanten im Kaiserreich teilten. Die eine war ein zuweilen militanter Antikatholizismus, der die Sache der Protestanten in erster Linie durch den Gegensatz zu Rom definierte. Er fand seine wichtigste Plattform im Evangelischen Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen. 1886 gegründet, erreichte dieser bis 1911 eine Massenbasis von 470.000 Mitgliedern, die er etwa bei den Reichstagswahlen gegen das Zentrum mobilisierte. Der Evangelische Bund war auch ein Beispiel für die Verbreitung der zweiten zentralen Grundhaltung, der Verbindung von evangelischer und nationaler Gesinnung im Nationalprotestantismus. Dieser interpretierte die Reichsgründung mit der theologischen Kategorie der Vorsehung und stellte das 1871 gegründete Reich eng neben das Reich Gottes. Der deutsche Nationalstaat erschien damit als Erfüllung einer besonderen nationalen Mission der Protestanten, die mit der Reformation begonnen hatte.

In der nationalprotestantischen Deutung der Geschichte rückten der Thron der Hohenzollern, der kirchliche Altar und die Nation eng zusammen. Die politische Handlungseinheit Nation wurde so mit sakralem Pathos aufgeladen. Sichtbaren Ausdruck fand diese Haltung etwa in der Feier des Sedantages am 2. September, jenem Tag, an dem Frankreich 1870 nach der Schlacht bei Sedan kapituliert hatte. Der Pfarrer Friedrich Bodelschwingh (1831–1910), Gründer der Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld-Bethel, hatte dieses Datum 1872 für eine Feier der Buße und zugleich des Dankes für die Gründung des Nationalstaates vorgeschlagen. Der Sedantag entwickelte sich in der Folgezeit zum wichtigsten Datum für die öffentliche Feier des Reichsnationalismus. Er verwies damit zugleich auf die protestantische Grundierung der deutschen Nationalkultur. Denn die Katholiken boykottierten die Feier des Sedantages weitgehend.

Universitäten und Wissenschaften

Religion war im Kaiserreich eines der zentralen kulturellen Muster, mit dem Individuen und Gruppen ihr Leben und die soziale Wirklichkeit deuteten und ordneten. Neben und zum Teil an die Stelle der Religion trat die moderne Wissenschaft. Ihre wachsende Bedeutung hing zunächst mit der rasanten Expansion der Universitäten zusammen. Zu den 19 bereits 1871 bestehenden Universitäten kamen bis 1914 Straßburg, Münster und Frankfurt am Main hinzu. Aus dem Ausbau der früheren Polytechnika entstanden daneben bis 1914 noch elf Technische Hochschulen. Weitaus stärker wuchs die Zahl von Studenten und Lehrenden. Allein an den Hochschulen stieg die Studentenzahl von 13.068 im Jahr 1871 auf 60.853 im Jahr 1914. Das war eine Steigerung um 325 Prozent. Die Zahl der Lehrenden stieg, etwas gemäßigter, um 159 Prozent. Die Hochschulen wurden "Großbetriebe", so der Theologe Adolf von Harnack.

Im Zuge der Expansion des Hochschulsystems erfolgte eine tiefgreifende innere Differenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften. Zwar bauten nur wenige Universitäten eigene naturwissenschaftliche Fakultäten auf. Aber an den Instituten kam es zur Spezialisierung in eng umgrenzten Schwerpunkten empirischer Forschung. Die Forschungsorientierung der Wissenschaft – seit der Universitätsreform Wilhelm von Humboldts zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Charakteristikum der deutschen Hochschulen – fand nach 1900 neue Formen. Mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911 entstanden bis 1914 vier reine Forschungsinstitute für die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung. Vom Staat organisiert, aber vorwiegend mit Spenden der Industrie finanziert, markieren diese Institute den Übergang in die moderne Großforschung. Ihre Organisationsform trug maßgeblich dazu bei, dass vor allem in der Physik und Chemie deutsche Wissenschaftler seit 1900 weltweit führend waren und wegweisende Forschungsergebnisse vorlegten. Zugleich zeigte sich, dass auch im Rahmen eines autoritären Staates die funktionale Spezialisierung als ein wichtiges Strukturprinzip der Moderne mit Erfolg angewandt werden konnte.

In den Naturwissenschaften vollzog sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine Revolution des Wissens, die fundamentale Auswirkungen auf das moderne Weltbild hatte. In der Biologie steht beispielhaft dafür die Evolutionstheorie, die der Engländer Charles Darwin (1809–1882) seit 1859 entwickelte. In Deutschland griff der in Jena lehrende Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919) diese Ideen auf und vermittelte sie zugleich an ein breites Publikum. Haeckel trug damit maßgeblich zur Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bei, die nachhaltigen Einfluss auf das Weltbild breiter Bevölkerungsschichten ausübten. Aus der Evolutionstheorie formte Haeckel eine "wissenschaftliche" Welt­anschauung, die er Monismus nannte. Er fasste sie 1899 in seinem Buch "Die Welträtsel" zusammen, das rasch in mehr als 400.000 Exemplaren verbreitet wurde. Gerade sozialdemokratische Arbeiter lasen das Buch mit Begeisterung und entwickelten daraus säkulare, das heißt religiöse Erklärungen ablehnende Ideen. In der Physik vollzog sich ein erheblicher Erkenntnisfortschritt sowohl durch die Anwendung experimenteller Methoden als auch durch theoretische Reflexion. Die Quantentheorie von Max Planck (1858–1947) und die Relativitätstheorie von Albert Einstein (1879–1955) deuteten die Grundlagen von Raum, Zeit und Materie auf fundamental neue Weise.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelten ebenfalls Forschungsprogramme, die – zum Teil mit einiger Verzögerung – weit über Deutschland hinaus wirkten und bis in die Gegenwart gültige, grundlegende Einsichten in die Struktur moderner Gesellschaften vermitteln. Ein Beispiel ist die Soziologie. Zwar kam es erst 1909 zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, mit der die neue Disziplin erste Schritte zu ihrer institutionellen Stabilisierung unternahm. Aber bereits um 1900 legten Georg Simmel (1858–1918) und Max Weber (1864–1920), die beiden Gründer der deutschen Soziologie, wichtige Befunde zur Deutung der modernen Gesellschaft vor.

Simmel unterstrich die Rolle unpersönlicher Kommunikationsmedien wie etwa des Geldes für die Entfaltung von sozialen Bindungen auch über große Distanzen hinweg. Zugleich richtete er den Blick auf die Beziehungen von Personen in alltäglichen Handlungszusammenhängen. Er betonte, dass sich das Individuum erst in der "Kreuzung von sozialen Kreisen" entfalte, also in unterschiedlichen Kontexten wie Erziehung, Religion, Politik oder Konsum.

Weber verfolgte ähnliche Ideen. In seiner Soziologie der Religion ("Die Protestantische Ethik und der Geist des modernen Kapitalismus", 1905) analysierte er die Herausbildung der von religiösen Motiven befreiten Erwerbswirtschaft als das Ergebnis calvinistischer Vorstellungen über die "innerweltliche", also nicht erst im Jenseits wartende Erlösung. Auf unterschiedliche Weise entwarfen Simmel wie Weber so das Bild einer modernen Gesellschaft, die durch die Ausdifferenzierung von Funktionsbereichen an Komplexität und Dynamik gewinnt. Gerade bei Simmel, dessen Arbeiten stark von der Erfahrung des Lebens in der Metropole Berlin geprägt waren, war dies zugleich eine Selbstbeschreibung der deutschen Gesellschaft um 1900.

Mehr als jedes andere Thema markieren die konkurrierenden Deutungskulturen der Religion und der Wissenschaft das Kaiserreich als eine Epoche des Übergangs. Auf der einen Seite zeigten der Wunderglaube und die Marienverehrung der Katholiken eine heute fremd anmutende Lebenswelt, die auf Spannungen und Konflikte der Moderne in zutiefst traditionaler Weise reagierte. Auf der anderen Seite führten die modernen Natur- und Geisteswissenschaften – unter Einschluss der protestantischen Theologie – das Nachdenken über die Bedingungen menschlichen Daseins in Grenzbereiche hinein, in der alte Gewissheiten schwankten und eine grundsätzliche Neubewertung aller Wissensbestände nötig wurde. Der protestantische Theologe Ernst Troeltsch hat das 1896 prägnant ausgedrückt, als er in einer Versammlung einen kritischen Einwurf mit den Worten begann: "Meine Herren, es wackelt alles."

Nochmals festzuhalten bleibt, dass der konfessionelle Gegensatz von Katholiken und Protestanten – trotz der Entkirchlichung unter den Protestanten – die Geschichte des Kaiserreichs in fundamentaler Weise geprägt hat. Denn der Konfessionsgegensatz trug entscheidend zur Fragmentierung und Segmentierung von Gesellschaft und Politik bei. Damit hemmte er die Entwicklung einer Kultur der Anerkennung und des Kompromisses, die für die Durchsetzung einer pluralistischen Demokratie von entscheidender Bedeutung sind.

Prof. Dr. Benjamin Ziemann lehrt als Professor für neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield in Großbritannien. Er war Gastwissenschaftler an der University of York, der Humboldt Universität zu Berlin sowie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert – vor allem das Kaiserreich und die Weimarer Republik –, die Militär- und Gewaltgeschichte der beiden Weltkriege sowie die Historische Friedensforschung. Er ist Mitglied der Redaktion des Archivs für Sozialgeschichte. Zurzeit arbeitet er an einer Biografie von Martin Niemöller.

Jüngste Buchveröffentlichungen

Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014;

Encounters with Modernity. The Catholic Church in West Germany, 1945–1975, New York/Oxford 2014;

Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern, Essen 2013;

Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt/M./New York 2009;

mit Bernd Ulrich (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein Historisches Lesebuch, Essen 2008;

mit Thomas Mergel (Hg.), European Political History 1870–1913, Alders­hot 2007.