Einleitung
Jeder Lebenslauf lässt sich in drei grundlegende Phasen untergliedern: In der Kindes- und Jugendphase ist der noch in der Entwicklung stehende junge Mensch auf die Unterstützung durch die ökonomisch aktiven Mitglieder seiner Elterngeneration angewiesen. Wenn er selbst die Phase der ökonomischen Selbstständigkeit erreicht und zum Mitglied der nachfolgenden, neuen Elterngeneration wird, wechselt sein Status vom Leistungsempfänger zum Leistungserbringer: Zum einen unterstützt er die jetzt älteren Mitglieder der Generation seiner Eltern, zum anderen die jungen Nachkommen seiner eigenen Generation. In der dritten Phase kehrt er als älterer Mensch wieder in den Status des Empfängers von Unterstützungsleistungen zurück, die nun von den in die mittlere Phase nachgerückten Nachkommen seiner eigenen Generation erwirtschaftet werden müssen.
Jeder Mensch ist also im Verlauf seines Lebens zunächst Empfänger, dann Unterstützer und schließlich wieder Empfänger der Leistungen von anderen und an andere Generationen. Die steigende Lebenserwartung führt dazu, dass immer mehr Menschen nicht nur mit Mitgliedern der Generationen ihrer Eltern und Großeltern, sondern auch mit den Urgroßeltern zusammenleben.
Die Verflechtung der Generationen durch Leistungen und Gegenleistungen wird in Deutschland als Generationenvertrag bezeichnet, wobei dieser Vertrag nicht in schriftlicher oder anderer Form verbindlich niedergelegt ist. Die wesentliche Voraussetzung für seine Wirksamkeit ist die freiwillige Bereitschaft zur Anerkennung der gegenseitigen Verpflichtungen der beteiligten Generationen. Dabei ist wichtig, dass am Generationenvertrag immer drei Generationen unmittelbar beteiligt sind, nicht nur zwei. Denn jeder Mensch empfängt zweimal in seinem Leben die Unterstützung durch andere Generationen, denen zwei Gegenleistungen an die Generationen seiner Eltern und seiner Nachkommen gegenüberstehen.
Dieser Sachverhalt wird mit dem Begriff "Drei-Generationen-Vertrag" richtig bezeichnet, während der Ausdruck "Zwei-Generationen-Vertrag" dem Irrtum Vorschub leistet, dass die mittlere Generation durch ihre Einzahlungen zum Beispiel in die gesetzliche Rentenversicherung schon die Leistungen für ihre eigene Versorgung im Alter erbracht hätte. Die mittlere Generation gibt mit diesen Einzahlungen nur die von ihr in der Kindes- und Jugendphase empfangenen Leistungen an ihre Elterngeneration zurück. Ihre eigene Versorgung im Alter wird erst von der Generation ihrer Nachkommen erwirtschaftet. Die Funktionsfähigkeit des Generationenvertrages bzw. die Sicherheit der Versorgung im Alter hängt daher entscheidend vom Größenverhältnis der aufeinander folgenden Generationen ab, die Versorgungsleistungen empfangen und erbringen. Dieses Größenverhältnis wird entscheidend von der Geburtenrate bestimmt.
Bei einer niedrigen Geburtenrate ist zwar die Belastung der mittleren Generation durch Leistungen an die Jüngeren niedrig, aber die Belastung durch die Leistung an die Älteren ist dann um so höher, weil diese Leistungen durch eine mittlere Generation erbracht werden müssen, die infolge der niedrigen Geburtenrate relativ wenige Mitglieder hat. Die Belastung der mittleren Generation pro Kopf ihrer Mitglieder lässt sich durch den Jugendquotienten (Zahl der unter 15-Jährigen auf 100 Menschen von 15 bis unter 65 Jahren) und den Altenquotienten (Zahl der über 65-Jährigen auf 100 Menschen von 15 bis unter 65 Jahren) angeben. Die Summe aus Jugend- und Altenquotient wird mit dem Begriff Unterstützungsquotient bezeichnet.
Deutschland hatte beispielsweise im Jahr 2000 einen Altenquotient von 23 und im Jahr 2010 von 31, das heißt auf eine Gruppe von 100 Menschen im Alter von 15 bis unter 65 Jahren entfielen im Jahr 2000 noch 23 Menschen im Alter von 65 und mehr, im Jahr 2010 waren es bereits 31. Bei einer höheren Geburtenrate von beispielsweise zwei Kindern pro Frau nähme der Altenquotient bis 2050 zwar ebenfalls zu, und zwar auf 36,8, bei drei Kindern pro Frau stiege er jedoch nur auf 21,3.
Bei Konstanz der Kinderzahl auf dem gegenwärtigen Niveau von 1,4 je Frau und konstanter Sterblichkeit bzw. Lebenserwartung würde der Altenquotient (ohne Einwanderungen Jüngerer) auf 57,3 steigen, sich also gegenüber 2000 mehr als verdoppeln – mitallen Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme.
Ansätze für die Politik
Jede Art von familienfördernder Politik muss auf einer genauen Analyse der Ursachen und Faktoren aufbauen, von denen die Geburtenrate abhängt. Wenn die Geburtenrate nach Ersten Kindern, Zweiten Kindern, Dritten Kindern sowie Vierten und weiteren Kindern aufgegliedert wird, zeigt sich, dass beim letzten Geburtenrückgang in den 1970er Jahren zuerst die Häufigkeit der Vierten Kinder (und der Kinder mit noch höherer sogenannter Ordnungsnummer der Geburt) abnahm und anschließend die Häufigkeit der Dritten, der Zweiten und zuletzt der Ersten Kinder zurückging.
Der Hauptgrund für die niedrige Geburtenrate in Deutschland ist jedoch der hohe Anteil von kinderlos bleibenden Frauen an jedem Jahrgang. Bei den jüngeren Jahrgängen ab 1965 beträgt der Anteil der Kinderlosen in den alten Bundesländern ein Viertel bis ein Drittel, in den neuen Bundesländern ist deren Anteil nur etwa halb so hoch. Bei jedem Jahrgang bilden die Frauen mit zwei Kindern die größte Gruppe, ihr Anteil an allen Frauen des Jahrgangs ist im Zeitablauf weitgehend konstant. Durch den von Jahrgang zu Jahrgang zunehmenden Anteil der Kinderlosen spaltet sich die Gesellschaft zunehmend in zwei Gruppen mit und ohne Kinder. Es gibt zwar mehrere andere Länder mit einer ähnlich niedrigen Geburtenrate wie Deutschland, aber in keinem Land ist die Spaltung in zwei Bevölkerungsgruppen mit und ohne Kinder so stark wie hier. Der hohe Anteil der lebenslang kinderlos bleibenden Frauen ist der entscheidende Grund, warum die Geburtenrate in Deutschland deutlich niedriger ist als beispielsweise in Frankreich (im Zeitraum 2005-2010 waren es in Deutschland 1,36, in Frankreich 1,97 Lebendgeborene pro Frau).
In unserer Gesellschaft sind die beiden folgenreichsten unaufschiebbaren Entscheidungen, die junge Menschen am Beginn ihrer Biografie treffen müssen, die Festlegung für einen bestimmten Ausbildungsweg und die anschließende Berufswahl. Diese Entscheidungen fallen häufig zeitlich zusammen mit der Bindung an einen Partner und mit der damit verbundenen Entscheidung für bzw. gegen die Eheschließung und Familienbildung. Durch diese Eröffnungsentscheidungen am Beginn der Biografie polarisieren sich die Lebensläufe in zwei Gruppen mit und ohne Kinder. Innerhalb der Gruppe mit Kindern hat der Übergang zum zweiten Kind bei weitem nicht mehr so einschneidende Konsequenzen wie der Übergang zum ersten Kind bzw. zur Elternschaft.
Der Trend zur lebenslangen Kinderlosigkeit wird sich möglicherweise noch fortsetzen. Der Anteil der Frauen an einem Jahrgang, die zeitlebens ein Kind haben, wird wahrscheinlich weiter abnehmen, der Anteil der Frauen mit zwei Kindern relativ stabil bleiben und auch der Anteil der Frauen mit drei Kindern wird stagnieren. Dagegen könnte sich der Anteil der Frauen mit vier und mehr Kindern – bedingt durch die Zugewanderten mit tendenziell zunächst höherer Geburtenrate – vorübergehend vermutlich leicht erhöhen.
Um die Folgen der negativen Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf Wirtschaft und Gesellschaft in den Griff zu bekommen, reagiert die Politik mit einschneidenden Reformen der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsmarktes, weniger jedoch mit Strategien zur Behebung der niedrigen Geburtenrate als der entscheidenden Ursache dieser Entwicklung.
Bei Menschen, die sich Kinder wünschen, ist wahrscheinlich eine Familienpolitik am wirksamsten, die eventuelle Hindernisse aus dem Weg räumt, die einer Verwirklichung ohnehin vorhandener Kinderwünsche im Wege stehen und die eine Vereinbarkeit von Erziehungs- und Erwerbsarbeit durch Betreuungseinrichtungen für Kinder im Vorschul- und Schulalter gewährleistet. Aber auch Maßnahmen wie Familienlastenausgleich, Eltern-, Kinder- und Erziehungsgeld oder andere geldwerte Leistungen wie die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Renten- und Pflegeversicherung der Eltern oder vom Staat finanzierte Betreuungseinrichtungen können naturgemäß nur Wirkungen entfalten, wenn der Wunsch nach einem Kind überhaupt vorhanden ist.
Auswirkungen auf die Sozialversicherungssysteme
Die größten Auswirkungen der demografischen Veränderungen auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft ergeben sich aus den Verschiebungen der Altersstruktur: Die Zahl der über 60-Jährigen nimmt nach den Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes (12. Koordinierte Vorausberechnung) von 2008 bis 2050 um rund sieben bis acht Millionen zu, die Zahl der 20- bis unter 60-Jährigen verringert sich um zwölf bis 15 Millionen, und die der unter 20-Jährigen nimmt um eine bis fünf Millionen ab. Die Zahl der über 60-Jährigen des Jahres 2050 ergibt sich aus der Zahl der 20-Jährigen und Älteren des Jahres 2010. Da sie ja bereits unter uns leben, sind große Prognosefehler unwahrscheinlich. Die Auswirkungen dieser Verschiebungen auf die Renten-, die Kranken- und die Pflegeversicherung lassen sich daher ziemlich zuverlässig vorausberechnen.
Rentenversicherung
In Deutschland bildet die gesetzliche Rentenversicherung die Grundlage für die Versorgung von über 90 Prozent der älteren Menschen im Ruhestand. Sie wurde am Ende des 19. Jahrhunderts mit den Bismarckschen Sozialreformen eingeführt, und zwar ursprünglich mit einer Sicherung der Versorgungsansprüche durch eine Kapitaldeckung.
Nach den Erfahrungen der Kapitalvernichtung durch die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise von 1932 und den Zweiten Weltkrieg wurde die Sicherung der erworbenen Rentenansprüche seit 1957 nicht mehr durch das Kapitaldeckungsverfahren, sondern durch das sogenannte Umlageverfahren organisiert. Der Begriff Umlageverfahren bedeutet: Die heutigen Beitragszahler bekommen ihre Einzahlungen im Ruhestand nicht als Rente wieder, sondern ihre eingezahlten Beiträge werden im gleichen Jahr in vollem Umfang an die Ruheständler als Renten ausbezahlt. Abgesehen von einer minimalen kassenmäßigen Reserve werden dabei keinerlei Rücklagen für die Zukunft gebildet. Wenn die heutigen Beitragszahlenden selbst das Rentenalter erreicht haben, sind ihre früher eingezahlten Beiträge längst ausgegeben, ihre Renten müssen aus den Beitragszahlungen der dann im Erwerbsleben stehenden Bevölkerung finanziert werden, also durch die inzwischen nachgerückte Generation ihrer Kinder.
Durch das Umlageverfahren stehen die ältere, die mittlere und die jüngere Generation in Form von Leistungen und Gegenleistungen miteinander in einer Art vertraglicher Beziehung. Dieser sogenannte Drei-Generationen-Vertrag wirft die Frage nach dem gerechten Verhältnis von Leistungen und Gegenleistungen auf. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in seinem grundlegenden Urteil vom 3. April 2001 über die Pflegeversicherung ausgeführt: Jedes umlagefinanzierte Sicherungssystem – außer der gesetzlichen Pflegeversicherung gehören dazu auch die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung – kann seine Aufgaben nur dann erfüllen, wenn von der mittleren Generation zwei Leistungen erbracht werden: erstens der finanzielle Beitrag zur Versorgung der heutigen Generation der Älteren und zweitens die vom Gericht als generativer Beitrag bezeichnete Leistung in der Form der Erziehung von Kindern als den künftigen Beitragszahlenden, die später die Renten der heutigen erwerbstätigen Elterngeneration erwirtschaften müssen.
Wie hoch der finanzielle und wie umfangreich der generative Beitrag in der Form der Erziehung von Kindern sein müssen, hängt entscheidend vom Verhältnis der Zahl der zu versorgenden Älteren zur Zahl der diese Versorgungsleistungen erbringenden Menschen in der mittleren Generation ab. Die demografische Entwicklung hat daher eine grundlegende Bedeutung für die Funktionsfähigkeit und für jede Reform des sozialen Sicherungssystems: Wenn sich im umlagefinanzierten Rentensystem infolge eines steigenden Altenquotienten die Zahl der zu versorgenden Ruheständler gegenüber den die Versorgungsleistungen erbringenden Erwerbstätigen verdoppelt, muss der sogenannte Rentenbeitrag (Prozentsatz vom Lohn bzw. Gehalt, zurzeit rund 20 Prozent, je zur Hälfte getragen vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer) stark erhöht oder alternativ das sogenannte Rentenniveau (Durchschnittsrente in Prozent des Durchschnittseinkommens, früher 70 Prozent, inzwischen weniger) gesenkt werden.
Für die Reform des Rentensystems stehen verschiedene Handlungsoptionen zur Wahl, die miteinander kombiniert werden können (bzw. müssen, um die Eingriffe in Grenzen zu halten):
Erhöhung des Beitragssatzes,
Senkung des Rentenniveaus,
Erhöhung der Zahl der Beitragszahlenden (zum Beispiel durch eine Anhebung der Geburtenrate, durch eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung der Frauen, durch eine Senkung der Arbeitslosigkeit, eine Verkürzung der Ausbildungszeiten oder durch die Einwanderung von jungen Erwerbstätigen),
Verringerung der Zahl der Rentenbezieher durch eine Anhebung des Ruhestandsalters,
teilweise Finanzierung der Ausgaben der Rentenversicherung aus Steuermitteln.
Da die Dosierung dieser Maßnahmen nicht beliebig gesteigert werden kann, wurde in der letzten Rentenreform beschlossen, das Rentenniveau automatisch im gleichen Ausmaß zu kürzen, in dem die steigende Lebenserwartung den Altenquotient erhöht. Die durch das sinkende Rentenniveau entstehende Versorgungslücke soll mit einer privat finanzierten, kapitalgedeckten Zusatzversorgung geschlossen werden, die vom Staat gefördert wird ("Riester-Rente").
QuellentextPlädoyer für einen flexiblen Renteneintritt
[...] Der Zugewinn an Lebenszeit dauert schon lange an und vollzieht sich in hohem Tempo. Allein im 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung in Deutschland um etwa 30 Jahre. [...] Heute hat ein in Deutschland geborenes Mädchen eine Lebenserwartung von etwa 82 Jahren und sechs Monaten. Dieser statistische Wert geht allerdings davon aus, dass sich die gesundheitlichen Bedingungen in den nächsten Jahrzehnten nicht weiter verbessern – eine eher unrealistische Annahme. [...]
Gleichzeitig erreichen schon jetzt immer mehr Senioren ein sehr hohes Alter. Weil die verbleibende Lebenserwartung im Verlauf des Lebens steigt, können 65-jährige Frauen heute mit im Durchschnitt 20 weiteren Jahren rechnen, und sogar85-jährige noch mit sechs. [...]
Es wird aber ignoriert, dass wir auch sehr viel gesünder altern als früher. [...] Es gibt begründete Hoffnung, dass sich die Lebensspanne, innerhalb derer wir noch gesund, leistungs- und arbeitsfähig sind, genauso schnell erweitert wie die Lebenserwartung steigt. [...]
Wer mit der Aussicht auf ein hundertjähriges Leben geboren wird, den dürfte die Perspektive, 35 Jahre ohne die Herausforderung und Verantwortung eines Jobs zu verbringen, nicht besonders reizen. Aus Sicht des Staates ist es am einfachsten, das Rentenalter heraufzusetzen. Doch um wie viel? Inzwischen ist zwar in Deutschland eine Anhebung auf 67 Jahre beschlossen. Doch das kann nur ein erster Schritt sein. Denn so lange die Lebenserwartung weiter steigt, wird jedes fixe Rentenalter, egal wie hoch, von der demografischen Dynamik eingeholt, und das Missverhältnis von Rentenbeziehern zu Renteneinzahlern wird sich immer wieder neu aufbauen.
Verhindern ließe sich das durch eine dynamische Rentenregel: Die Altersgrenze würde dabei nach einer gesetzlich festgelegten Formel kontinuierlich angehoben. [...] Wie eine dynamische Rentenregel gestaltet wird, lässt sich nur im gesellschaftlichen Diskurs festlegen. Im Extremfall ließe sich das Rentenalter direkt an die Lebenserwartung koppeln, dann stiegen beide Werte proportional. [...]
Eine Alternative schlägt der deutsche Ökonom Axel Börsch-Supan vor: Man könnte die hinzukommenden Lebensjahre nach einem festen Verhältnis auf Arbeits- und Pensionszeit verteilen. Rechenbeispiel: Wählte man die heutige Aufteilung von etwa 2:1 bei einer konservativ geschätzten Steigerung der Lebenserwartung von zwei Jahren pro Jahrzehnt, so läge das Renteneintrittsalter 2030 bei 67 Jahren und acht Monaten und 2050 bereits bei 70 Jahren und vier Monaten. 2050 hätten Frauen dann schon eine Lebenserwartung von 90, Männer von 85 Jahren. [...]
Während zwar im Durchschnitt alle immer gesünder alt werden, schwankt die individuelle Leistungsfähigkeit von Person zu Person. [...] Geeigneter als eine dynamische Rentenregel wäre darum eine radikalere Lösung: Das Renteneintrittsalter ganz abzuschaffen. Die Menschen könnten dann arbeiten, so lange sie wollen. [...]
Mit dem Rentenalter würde gleichzeitig eine "magische Zahl" abgeschafft, die in der öffentlichen Wahrnehmung für den Beginn der persönlichen Arbeitsunfähigkeit steht. Alle Menschen derart über einen Kamm zu scheren, wird den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Bürger nicht gerecht. [...]
Die Zukunft der Arbeit wird wesentlich auf Modellen der Teilzeitarbeit beruhen, und nicht mehr wie heute die Vollzeitarbeit zur – insbesondere für Männer – sozialen Norm erheben. Viele Menschen in ihren 60ern und 70ern wollen arbeiten, aber nebenher auch genug Freizeit haben. Und künftige Alte dürften viel eher gewillt sein, bis 70 und weit darüber hinaus zu arbeiten, wenn sie nicht in jüngeren Jahren unter dem Druck eines Vollzeitjobs und gleichzeitiger anderer Verpflichtungen in der "Rushhour des Lebens" vitale Energie gelassen hätten. [...]
Björn Schwentker, James W. Vaupel, "Eine neue Kultur des Wandels", in: APuZ 10-11/2011, S. 3 ff.
Der Anstieg des Altenquotienten lässt sich nicht wegreformieren, der damit verbundene Anstieg der Belastungen kann nur auf verschiedene Weise auf die mittlere und ältere Generation verteilt werden. Entlastend wirkt eine Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens durch den produktivitätssteigernden technischen Fortschritt. Die größte Produktivitätssteigerung kann jedoch den Anstieg des Altenquotienten und den damit verbundenen Anstieg der Belastungen der mittleren Generation nicht vollständig ausgleichen. Als Faustregel gilt: Wenn das Pro-Kopf-Einkommen bis 2050 durch Produktivitätsfortschritte um 100 Prozent zunimmt, steigt das verfügbare Einkommen wegen der höheren Sozialabgaben nicht ebenfalls um 100 Prozent, sondern wesentlich langsamer.
QuellentextErwartungen an den Sozialstaat
[...] Die langfristige Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme gehört für die überwältigende Mehrheit [der Bevölkerung] zu den vordringlichen Aufgaben der Politik. [...]
Die Mehrheit vertritt die Auffassung, dass der Staat im sozialen Bereich nicht sparen dürfe. [...] Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems, wie die Rente mit 67, werden nur von einer kleinen Minderheit unterstützt. Zwar weiß die große Mehrheit, dass die demographische Entwicklung gerade das Rentensystem vor große Herausforderungen stellt. Trotzdem sind nur 25 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit notwendig ist. Ließe man die Bürger zurzeitabstimmen, würde die große Mehrheit dafür votieren, 65 Jahre als Eintrittsalter beizubehalten. Ganz allmählich wächst jedoch unter dem Eindruck der öffentlichen Debatte die Bereitschaft, eine längere Lebensarbeitszeit zu akzeptieren. Der Anteil derBerufstätigen, die persönlich bereit sind, bis 67 zu arbeiten, hat sich in den letzten vier Jahren von 24 auf 33 Prozent erhöht, während gegenläufig der Anteil, der eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit für sich persönlich rigoros ablehnt, von 56 auf 50 Prozent gesunken ist.
Die Sozial- wie die Gesundheitspolitik kämpfen heute damit, dass sie, [...] für die Bürger keine Verheißung mehr bergen, sondern dass von ihnen primär Eingriffe in Besitzstände erwartet werden. Es ist die Skepsis einer Gesellschaft, die fürchtet, ihren Zenit erreicht oder überschritten zu haben. [...]
Renate Köcher, "Minenfeld Sozialpolitik", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Dezember 2010
Gesetzliche Krankenversicherung
ähnlich wie bei der Rentenversicherung sind auch bei der Krankenversicherung rund 90 Prozent der Bevölkerung Mitglied in der gesetzlichen (GKV) und rund zehn Prozent in der privaten Krankenversicherung (PKV). Die gesetzliche Krankenversicherung ist wie die gesetzliche Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren organisiert, es werden also keine Rücklagen für die demografisch bedingt steigenden Gesundheitsausgaben gebildet. Im Gegensatz dazu bildet die private Krankenversicherung solche Rücklagen mit dem Ziel, den Beitragssatz konstant zu halten, wenn die Gesundheitsausgaben durch die demografische Alterung steigen und die Einnahmen demografisch bedingt zurückgehen. Dafür werden in jüngeren Jahren höhere Beitragssätze erhoben, als es den altersbedingten Kosten für die Gesundheit entspricht. Die daraus gebildeten Rücklagen werden verzinst und zur Senkung der Beitragssätze im höheren Alter verwendet.
Die Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheit sind im höheren Alter etwa um den Faktor acht bis zehn höher als im Alter von 20. Sie steigen mit zunehmendem Alter. Da der Anteil der älteren Menschen in der Bevölkerung immer größer wird, nehmen die Gesundheitsausgaben insgesamt zu.
Höher sind die Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheit bei älteren Menschen, weil sie häufiger erkranken als jüngere. Zum anderen aber steigen die Kosten auch deshalb, weil die Zahl der Todesfälle durch die demografische Alterung stark zunimmt, wobei sich die Kosten mit der Nähe des Todes sprunghaft erhöhen: Von 100 000 Männern im Alter von 20 bis 25 Jahren sterben bis zum nächsten Geburtstag 61, von 100 000 Männern im Alter 80 sterben 6800 und von 100 000 Männern im Alter 90 sterben 17 600, jeweils bis zum nächsten Geburtstag. Da sich das Durchschnittsalter der Gesellschaft ständig erhöht, ist ein Anstieg der Sterbefälle (und der Gesundheitskosten) von 2000 bis 2050 von jährlich rund 0,8 auf 1,2 Millionen vorprogrammiert.
Eine weitere Tendenz zur Kostensteigerung entsteht dadurch, dass sich das Altersprofil der Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben durch den medizinisch-technischen Fortschritt insgesamt ständig nach oben verschiebt. So betrug das Verhältnis der Pro-Kopf-Ausgaben zwischen Jung und Alt 1992 noch 1:8, es könnte sich aber durch diese Verschiebungen bis 2040 auf über 1:20 erhöhen, wie die Enquete-Kommission "Demographischer Wandel" des Deutschen Bundestages unter Bezugnahme auf Untersuchungen von Forschungsinstituten feststellte.
Die demografische Alterung erhöht nicht nur die Ausgaben, sie dämpft auch die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, weil sich die Zahl der Beitragszahlenden demografisch bedingt verringert. Die sich öffnende Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen erfordert eine Erhöhung des Beitragssatzes der gesetzlichen Krankenversicherung von rund 15 Prozent auf etwa 21 Prozent, und zwar selbst dann, wenn der medizinisch-technische Fortschritt keine zusätzlichen Kosten verursacht.
Pflegeversicherung
Die demografische Alterung hat ähnlich wie in der gesetzlichen Krankenversicherung auch in der gesetzlichen Pflegeversicherung Einnahmen senkende und Ausgaben erhöhende Auswirkungen. Auch hier steigen die Pro-Kopf-Ausgaben für Pflegeleistungen mit zunehmendem Alter steil an: So waren beispielsweise 2009 in der Altersklasse der 65- bis 69-Jährigen 35 von 1000 Versicherten Empfänger von Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung, in der Altersgruppe der 80- bis 84-Jährigen waren es 193 und bei den über 90-Jährigen 479.
Demografische Simulationsrechnungen verschiedener Institute ergaben, dass der Beitragssatz zur gesetzlichen Pflegeversicherung von früheren 1,7 Prozent bis 2040 auf rund drei bis sechs Prozent erhöht werden müsste. Die kostentreibende Wirkung der demografischen Alterung lässt sich erkennen, wenn der "demografische Altenpflegequotient" berechnet wird, der die Zahl der Menschen in der für die Zahl der Pflegebedürftigen wichtigen Altersgruppe der Hochbetagten angibt, die auf je 100 Menschen in der um 20 bis 40 Jahre jüngeren Altersgruppe entfallen, von denen die meisten Pflegeleistungen erbracht werden.
Der Altenpflegequotient misst den rein demografisch bedingten Anstieg der Belastungen im Pflegebereich, der sich aus den Veränderungen der Altersstruktur ergibt. Weitere, ebenfalls demografisch bedingte Belastungen entstehen daraus, dass der Anteil der Personen, die lebenslang kinderlos bleiben, dramatisch gestiegen ist. Der weitaus überwiegende Teil der Pflegeleistungen wird von den Familienmitgliedern der Pflegebedürftigen und von deren Kindern erbracht. Die Zahl der Pflegebedürftigen, die kinderlos bleiben und außerfamiliale Pflegeleistungen in Anspruch nehmen müssen, wird sich besonders stark erhöhen. Dies führt zu dem Problem, dass das Prinzip der Beitragsgerechtigkeit verletzt wird, wenn die Zahl der Nachkommen und deren Pflegeleistungen bei der Tarifgestaltung nicht berücksichtigt werden (Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung vom April 2001).
QuellentextDie unsichtbaren, unterschätzten Helferinnen und Helfer
[...] Etwa 1,1 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Demenz. Rund 720 000 von ihnen leben zu Hause, die meisten werden dort von Familienangehörigen versorgt. Was die Ehepartner, Söhne, Töchter und Schwiegertöchter dabei leisten, istenorm – und bleibt doch weithin unsichtbar: Um für den Kranken da zu sein, geben sie ihre Hobbys und oft den Beruf auf. Für Freundschaften und Beziehungen bleibt kaum Zeit.
Viele Demenzkranke können in ihrer Verunsicherung und Unruhe keine Minute allein bleiben, für die Angehörigen sind das rastlose Umherwandern, die sich ständig wiederholenden Fragen und Gespräche, die Angst und Aggressivität eine permanente Belastung. Dazu kommen die körperliche Beanspruchung durch die Pflege, finanzielle Sorgen, soziale Isolation. über all dem schwebt eine düstere Zukunftsperspektive: Heilbar ist die Krankheit nicht, sie lässt sich nicht einmal dauerhaft aufhalten. [...]
Die Risiken, die pflegende Angehörige auf sich nehmen, stehen in umgekehrtem Verhältnis zur Anerkennung ihrer Leistung. Und obwohl die Demenz und ihre Folgen längst offen diskutiert werden: Der geistige Verfall des eigenen Vaters, der eigenen Mutter oder des Ehepartners ist etwas, über das niemand gerne spricht. Viele Angehörige berichten von Freunden, die sich nicht mehr melden, weil sie nicht wissen, wie sie mit dem Kranken umgehen sollen. [...]
[Im] System der Pflegeversicherung [...] spielt die Demenz eine große Rolle: An ihr erkranken zum größten Teil alte Menschen, und deren Anteil an der Gesellschaft wächst. Schätzungen zufolge wird sich die Zahl der Erkrankten bis zum Jahr 2050 verdoppeln. Der Leitsatz "ambulant vor stationär" entspricht deshalb nicht nur dem Wunsch der meisten Menschen, sondern auch dem politischen Willen: [...] Die soziale Pflegeversicherung wandte 2009 für insgesamt 1,54 Millionen ambulant versorgte Pflegebedürftige rund 9,6 Milliarden Euro auf, für 702 000 stationär versorgte Kranke dagegen 9,8 Milliarden. Das Pflicht- und Mitgefühl der Angehörigen ist in diesem System fest eingeplant. In der politischen Diskussion über die Pflege-Finanzierung kursiert dafür der Begriff "Töchterpotenzial". [...] 80 Prozent der pflegenden Angehörigen sind Frauen. [...]
Selbst Hilfe anzunehmen fällt vielen pflegenden Angehörigen sehr schwer. Sie stellen ihr eigenes Leben komplett zurück [...]. Sie sind zerrissen zwischen Überlastung und Schuldgefühlen. Und pflegen bis zur totalen physischen und psychischen Erschöpfung. [...]
Silke Offergeld, "Die Unschätzbaren", in: Frankfurter Rundschau vom 15. Dezember 2010
Einflussfaktor Zuwanderung
Die Schrumpfung der Zahl (nicht nur des Anteils) der jüngeren und der mittleren Altersgruppe bei gleichzeitigem Wachstum der Anzahl und des Anteils der Älteren wirkt sich nicht nur auf das Gebiet der sozialen Sicherung aus, sondern auch auf den Arbeitsmarkt und das Wirtschaftswachstum. Diese Bereiche hängen eng zusammen: Jeder fehlende Beitragszahler in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ist auch ein fehlender Steuerzahler. Eine sinkende Zahl von Erwerbspersonen bewirkt nicht nur Einnahmeausfälle in den gesetzlichen Sozialversicherungen, sondern sie dämpft gleichzeitig das Wachstum des Volkseinkommens. Dadurch mindert sie die Steuereinnahmen, die der Staat zur Finanzierung der Zuschüsse an die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung benötigt, um die demografisch bedingt steigende Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schließen.
Der Begriff "Migrationshintergrund" im Spiegel der Statistik.
Der Begriff "Migrationshintergrund" im Spiegel der Statistik.
Wie wirken sich Zuwanderungen auf die durch die demografische Alterung bedingten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen aus? Bei dieser Frage muss zunächst zwischen mindestens vier Gruppen von Zuwandernden unterschieden werden: Humanitäre Zuwanderungen (Asylsuchende und Flüchtlinge), angeworbene Arbeitskräfte, nachziehende Familienangehörige und Spätaussiedelnde.
In Deutschland ist der nach der wirtschaftlichen Rezession im Jahr 1973 eingeführte Anwerbestopp für Arbeitskräfte immer noch in Kraft. Abgesehen von den Ausnahmeregelungen für Saisonarbeiter oder bestimmte Berufe wie Informatiker ("Green-Card"-Regelung), entfallen die weitaus meisten Zuwanderer auf die Gruppe der Nicht-Angeworbenen. Auch diese sind jedoch für das Angebot an Arbeit von Bedeutung. Dies gilt beispielsweise für die im Wege der Familienzusammenführung zugewanderten Ehepartner sowie für Kinder, die nach Abschluss ihrer Ausbildung das Angebot an Arbeitskräften erhöhen.
Die Frage nach den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Zuwanderungen muss in Teilfragen untergliedert werden: Auswirkungen auf das Angebot an Arbeit, auf das Volkseinkommen und auf die Altersstruktur der Bevölkerung.
Die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland stieg seit den 1960er Jahren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts von zwei Millionen auf über sieben Millionen an. Dadurch erhöhte sich zwar die Zahl der Personen im Erwerbsalter, die Zahl der tatsächlich Erwerbstätigen stieg jedoch nicht im gleichen Umfang. Für die 1990er Jahre ermittelte eine 2001 veröffentlichte Untersuchung unabhängiger Forschungsinstitute im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums eine Entwicklung, wonach die Zahl der Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft von 1992 bis 1998 von etwa 6,5 auf 7,32 Millionen anstieg, während gleichzeitig die Zahl der erwerbstätigen, in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung versicherten ausländischen Arbeitskräfte von 2,03 auf 1,98 Millionen abnahm. Diese Entwicklung setzte sich nach 1998 fort. Sieht man vom Eintritt ins Rentenalter oder von berufsbedingter Arbeitsunfähigkeit ab, gerät als Faktor die Arbeitslosenquote in den Blick, die bei ausländischen Erwerbsfähigen etwa doppelt so hoch ist wie bei einheimischen. Dafür werden vielfach Mängel in der schulischen und beruflichen Qualifikation verantwortlich gemacht. 2007 verließen etwa acht Prozent der Zugewanderten die Schule ohne Schulabschluss, bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund waren es 1,4 Prozent.
Der Bevölkerungsanteil ohne Schulsabschluss ist in den Ländern unterschiedlich hoch.
Der Bevölkerungsanteil ohne Schulsabschluss ist in den Ländern unterschiedlich hoch.
Wenn es gelingt, die Qualifikationsunterschiede durch wirksame Integrationshilfen abzubauen, haben die Zuwanderungen einen positiven Effekt für das Wachstum des Volkseinkommens: Jede Zuwanderung, die mit Beschäftigung und Erwerbstätigkeit verbunden ist, bewirkt einen Anstieg des Volkseinkommens, weil jeder zusätzliche Erwerbstätige die Produktion durch die aus seinem Einkommen entstehende Nachfrage nach Produkten erhöht und zur Entstehung von zusätzlichem Einkommen bei anderen Erwerbstätigen beiträgt.
Doch wie viel Zuwandernde wären nötig, um die demografisch bedingte Schrumpfung der einheimischen Arbeitsbevölkerung aufzuhalten? Dazu ein Exkurs: Das Angebot an Arbeitskräften wird wesentlich von der Altersgruppe der 20- bis 60-Jährigen bestimmt. Deren Zahl blieb zunächst noch bis 2010 auf dem Niveau von rund 45,5 Millionen nahezu konstant. Hinter der bisherigen Konstanz verbargen sich jedoch zwei gegenläufige Bewegungen. Die Zahl der jungen Erwerbspersonen (20- bis 40-Jährige) schrumpfte Jahr für Jahr um 300 000 bis 400 000, die der Älteren stieg noch bis etwa 2010 ungefähr in gleichem Ausmaß. Danach setzt bei beiden Gruppen die Schrumpfung ein. Bei diesen Zahlen ist ein Wanderungssaldo von 170 000 jungen Menschen pro Jahr eingerechnet. Trotzdem schrumpft die für die wirtschaftliche Entwicklung besonders wichtige Gruppe der 20- bis 40-Jährigen bei anhaltendem Trend bis 2030 um 30 und bis 2050 um 43 Prozent. Um diesen Rückgang durch höhere Zuwanderungen zu verhindern, müsste der Wanderungssaldo rund 500 000 pro Jahr betragen.
Aus betriebswirtschaftlicher und aus branchenspezifischer Sicht erscheint eine hohe Zuwanderung immer erstrebenswert, weil sie das Angebot an Arbeitskräften erhöht. Kommt es aufgrund ungünstiger konjunktureller Entwicklungen aber zu Entlassungen (falls dies nicht durch den Kündigungsschutz verhindert wird), verlagert sich das Problem von der betrieblichen auf die gesellschaftliche Ebene, weil die beschäftigungslos Gewordenen staatlich unterstützt werden müssen. Deshalb kann die betriebswirtschaftliche und die volkswirtschaftliche Abwägung von Vor- und Nachteilen der Zuwanderungen zu gegensätzlichen Ergebnissen führen.Die Betrachtung der rein demografischen Auswirkungen auf die Zahl und Struktur der Bevölkerung lässt dagegen klare Beurteilungen zu: Ohne Zuwanderungen würde die Bevölkerungszahl Deutschlands bis zum Ende des 21. Jahrhunderts von 82 Millionen auf 24 bis 30 Millionen abnehmen.
Die Altersstruktur ändert sich durch Migrantinnen und Migranten, von denen die meisten im Alter von 20 bis 35 sind, jedoch nicht wesentlich. Denn auch Zuwandernde altern, und ein beispielsweise im 30. Lebensjahr Zugewanderter trägt 30 Jahre später, wenn er zu den 60-Jährigen und Älteren gehört, wiederum zur Erhöhung des Altenquotienten bei. Der Altenquotient liegt zum Beispiel im Jahr 2050 bei einem Wanderungssaldo von 100 000 pro Jahr nur um rund zehn Prozentpunkte über dem Wert, der sich bei einem Saldo von 300 000 ergibt. Die günstige Wirkung der Zuwanderungen auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme durch die Milderung der demografischen Alterung ist also relativ gering. Sie kann überdies nur dann eintreten, wenn die Zuwanderinnen und Zuwanderer Arbeitsplätze finden und erwerbstätig sind. Bei Abwägung in größerem Zusammenhang ergibt sich ein weiterer Aspekt: Wenn Herkunftsländer Kosten und Mühen in Erziehung und Ausbildung junger Menschen investieren, ist es schwer zu rechtfertigen, dass das Zielland der Wanderungen die Früchte der Anstrengungen erntet.
QuellentextBildung als Integrationsfaktor
DIE ZEIT: Herr Professor Baumert, vor zehn Jahren haben Sie [...] unserem Bildungssystem ein schlechtes Zeugnis [ausgestellt]. [...] Und nun schlagen Sie mit einem Gutachten wieder Alarm. Was [...] genau befürchten Sie?
Jürgen Baumert: [...] Die demografische Entwicklung wird in den alten Ländern nicht nur zum Rückgang der Schülerzahlen führen, sondern auch zur Veränderung der sozialen und ethnischen Zusammensetzung der Schulbevölkerung. Nach 2025 wird ein zweiter, genereller demografischer Einbruch folgen, der alle Länder betrifft. [...] Die jüngeren Schülerjahrgänge werden kleiner. Gleichzeitig steigt der Anteil der Zuwanderer, die aus sozial schwächeren Verhältnissen stammen. In Flächenstaaten wie Baden- Württemberg kommen zurzeit 35 Prozent der Schüler aus Zuwandererfamilien. Bei den unter Fünfjährigen sind es bereits mehr als 40 Prozent – bei großen regionalen Verwerfungen. In den Ballungszentren werden in wenigen Jahren die Zuwandererkinder im Grundschulalter die Mehrheit bilden. Dabei liegt die Spannweite zwischen 50 und 70 Prozent. [...]
ZEIT: Warum ist die Situation so dramatisch?
Baumert: [...] Die Nischen auf dem Arbeitsmarkt für schwach Qualifizierte sind weitgehend verloren gegangen. Deshalb sind auch die knapp 20 Prozent der 30-Jährigen, die jährlich ohne abgeschlossene Berufsausbildung bleiben, ein bedrohliches gesellschaftliches Problem. Zu dieser Gruppe gehören acht Prozent der deutschstämmigen jungen Erwachsenen und ein Drittel der Personen mit Migrationshintergrund. Je nach Jahrgangsstärke können dies jährlich bis zu 150 000 Personen sein. Sie haben auch langfristig eine diskontinuierliche Erwerbsbiografie und geringes Einkommen zu erwarten. Die gesellschaftlichen Kosten infolge entgangener Steuern und anfallender Sozialleistungen sind immens. [...] Politisch stellt sich damit zuallererst die Frage, wie das für eine selbstständige Lebensführung erforderliche Bildungsminimum für die gesamte nachwachsende Generation gesichert werden kann – und zwar unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft. Das verlangt systematische Förderung der Leistungsschwächsten. Gelingt dies, verringern sich auch soziale und ethnische Ungleichheiten.
ZEIT: An welche Hilfe denken Sie? Baumert: Ein Kernproblem bleibt das mangelnde Beherrschen der deutschen Sprache. Dies gilt nicht nur für Zuwanderer, aber für bestimmte Zuwanderergruppen in besonderem Maße. Das Problem wächst sich jedoch nicht einfach aus, wie manche gehofft haben. [...] Man braucht vor allem eine biografische Kontinuität der Maßnahmen. Kurzfristige Projekte helfen nicht. [...] Es kommt auf die frühe, systematische und – wenn nötig – längerfristige Unterstützung an. Frühe Diagnosen sowie systematische, bedarfsgerechte und nachhaltige Hilfen sind der Schlüssel zu allem. [...]
ZEIT: Was Sie hier berichten, schreit nach einem Umbau der Bildungslandschaft.
Baumert: Ja, wenn Sie damit eine veränderte Zuteilung von Lernzeit meinen. Schon nach der Geburt sollte sozial schwächeren Familien niederschwellige Unterstützung angeboten werden, um sie in ihrem Erziehungsauftrag zu stärken. Dann folgen Krippen, Kindergärten und die Grundschulen. In allen diesen Einrichtungen ist eine individuelle Entwicklungsdiagnostik notwendig, um bei Schwierigkeiten rechtzeitig helfen zu können. Dies verlangt oft zusätzliche Lernzeit. Dies ist aber nur in Ganztagseinrichtungen vernünftig zu organisieren.
ZEIT: Wer soll denn das alles bezahlen?
Baumert: Die Bildungsausgaben sind in Deutschland von 1995 bis 2005, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, gesunken und steigen erst seitdem wieder. Von der Zielmarke des Bildungsgipfels sind sie noch weit entfernt. Gerade die wichtige Frühförderung wird überdies nicht aus dem Bildungshaushalt bestritten, sondern über die Sozialhaushalte. Das ist eine Sozialausgabe mit hoher Rendite. [...]
Jürgen Baumert, 69, wurde als Leiter des deutschen Teils der Pisa-Studie bekannt. Im April 2011 legte er gemeinsam mit anderen Forschern (Expertenrat Herkunft und Bildung) ein Gutachten zur Bildungspolitik in Baden-Württemberg vor [...]. "Deutsch ist der Schlüssel", Interview von Hanns-Bruno Kammertöns und Thomas Kerstan mit Jürgen Baumert, in: Die Zeit Nr. 17 vom 20. April 2011
Veränderungen der Siedlungsstruktur
Menschen leben in konkreten Orten und räumlichen Umwelten, deren Lebensbedingungen ihr Verhalten beeinflussen, nicht zuletzt auch ihr Fortpflanzungsverhalten. Deshalb ist es nicht überraschend, dass die Geburtenrate, auf die sich die regionalen Lebensbedingungen auswirken, zwischen den Regionen stark differiert. Die Kinderzahl pro Frau betrug in Deutschland zum Beispiel 2008 1,38, in der kreisfreien Stadt Suhl (Thüringen) und in Cottbus (Sachsen) war die Zahl am niedrigsten (1,18) – wenn man von einigen Universitätsstädten mit einem hohen Anteil von Studentinnen absieht, die ihre Geburten bis nach dem Studium aufschieben und dadurch die Geburtenrate dieser Städte senken. Der Kreis Cloppenburg (Niedersachsen) hatte mit 1,72 die höchste Geburtenrate.
In diesen Vergleich sind alle 440 kreisfreien Städte und Landkreise einbezogen, die Geburtenrate erreichte also in keinem einzigen Fall das bestandserhaltende Niveau von rund 2,1 Kindern pro Frau. Entscheidend für die Höhe der Geburtenrate ist der in städtischen und ländlichen Lebenswelten unterschiedliche Anteil von zeitlebens kinderlos bleibenden Frauen. So betrug ihr Anteil im Jahr 2008 in der Altersgruppe 45 bis 54 in ländlichen Gemeinden (weniger als 50 000 Einwohner bei einer Bevölkerungsdichte von weniger als 100 Einwohnern pro Quadratkilometer) 10,8 Prozent, in Gemeinden mit mehr als 50 000 Einwohnern und einer Dichte von über 500 waren es 20,6 Prozent.
Auch die Lebenserwartung weist regionale Unterschiede auf. Bei einem Vergleich der 440 Stadt- und Landkreise 2008 ergab sich eine Spannweite für Frauen von 77,8 in Suhl bis 85,0 Jahre im Enzkreis bzw. für Männer von 72,4 in Pirmasens bis 80,9 Jahre im Landkreis Starnberg. Dabei ist wichtig, dass eine hohe Lebenserwartung, beispielsweise im Voralpengebiet, nicht einfach als Ausdruck gesundheitsfördernder Lebens- oder Umweltbedingungen in der betreffenden Region interpretiert werden darf, denn in jeder Region ist ein großer Teil der Bevölkerung aus anderen Regionen zugewandert, eine höhere Lebenserwartung kann daher großenteils durch die Einwanderer importiert sein. Generell hängt eine hohe regionale Lebenserwartung mit einem hohen Bildungsniveau der Zuwanderer besonders eng zusammen (Selektionswirkung der Wanderungen).
Seit den 1970er Jahren war zwar in allen Gemeinden und Regionen Deutschlands ein Rückgang der absoluten Geburtenzahl und der Geburtenzahl pro Frau zu beobachten. Aber der Rückgang war in den 440 Stadt- und Landkreisen zeitlich gestaffelt, außerdem war das Niveau der Geburtenrate sowohl vor als auch nach dem Rückgang regional unterschiedlich. Dieser Sachverhalt lässt sich zusammenfassend so beschreiben: Der Nachkriegs-Babyboom führte Ende der 1960er Jahre zu einer Geburtenwelle, deren Aufwärtsbewegung in den ländlichen Gebieten steiler verlief als im Durchschnitt aller Stadt- und Landkreise. Auch der Höchststand der Kinderzahl pro Frau wurde dort später auf einem höheren Niveau erreicht. Als Folge davon wiesen auch in den 1990er Jahren die ländlichen Gebiete eine im interregionalen Vergleich höhere Geburtenrate auf, wobei aber das Niveau der zweiten Welle in allen Stadt- und Landkreisen im Vergleich zu den 1960er Jahren niedriger war. Die um das Jahr 2020 zu erwartende dritte Geburtenwelle wird als Echo auf die zweite Welle noch wesentlich niedriger sein und dabei auch regionale Unterschiede aufweisen, die ursprünglich auf die Ausgangssituation der 1960er Jahre zurückgehen.
Die regionalen Unterschiede der Geburtenraten werden auch von den Wanderungsbewegungen beeinflusst, und zwar sowohl von den Binnenwanderungen als auch von den Außenwanderungen. Denn jede Regionsbevölkerung besteht aus zwei Teilpopulationen – einer Bevölkerungsgruppe, die seit ihrer Geburt dort lebt, und einer Gruppe, die zuwanderte. Dabei ist zu beobachten, dass Menschen, die Kinder haben oder planen, aus den Zentren der Stadtregionen tendenziell ins Umland ziehen, während kinderlose Menschen häufiger städtische Wohnstandorte wählen.
In einem Stadt- und Landkreis entfallen im Durchschnitt pro Geburt im gleichen Jahr drei bis fünf Zuwanderungen, auf jeden Sterbefall die mehrfache Zahl an Abwanderungen. Deshalb beeinflusst die Komponente "Wanderungen" die Bevölkerungsveränderung jeder Region und jeder Gemeinde wesentlich stärker als die "natürlichen" Komponenten Geburten und Sterbefälle. Das Gewicht der Wanderungen ist noch höher, wenn man berücksichtigt, dass sie sich durch ihren Einfluss auf die Altersstruktur und die Geburtenrate zudem mittelbar auf die Geburtenzahl auswirken. Dieser Sachverhalt ist von großer Bedeutung für die Raumordnungspolitik, denn besorgniserregende Entwicklungen wie die nahezu flächendeckende demografische Schrumpfung in den neuen Bundesländern beruhen nicht nur auf den dort nach der Wiedervereinigung zunächst niedrigeren Geburtenraten, sondern zum Teil noch stärker auf den mittelbaren Auswirkungen der Abwanderungen auf die Geburtenzahl: Wenn jüngere Menschen aus einer Gemeinde abwandern, gehen ihr auch die potenziellen Nachkommen verloren. Deshalb müssen zusätzlich zu den unmittelbaren bevölkerungsvermehrenden oder -reduzierenden Wirkungen der Zu- bzw. Abwanderungen auf die Bevölkerungszahl (Primäreffekt) auch ihre mittelbaren Wirkungen auf die Geburtenzahl und die Zahl der Sterbefälle (Sekundäreffekt) berücksichtigt werden.
Der Sekundäreffekt der Wanderungen auf die Bevölkerungsveränderung nimmt mit der Länge des Prognosezeitraums zu, sodass er schließlich größer sein kann als der Primäreffekt. Wenn eine Stadt in einem bestimmten Zeitraum zum Beispiel 20 Prozent ihrer Einwohnerinnen und Einwohner durch Abwanderungsüberschüsse verliert (Primäreffekt), so kann der zusätzliche mittelbare Bevölkerungsverlust durch die Auswirkungen der Wanderungen auf die Geburtenbilanz zusätzlich zum Beispiel 15 Prozent betragen (Sekundäreffekt), der gesamte Rückgang mithin 35 Prozent. In den Zielgebieten der Wanderungsbewegung wirkt sich der Sekundäreffekt positiv auf die Bevölkerungsveränderung aus, der sonst zu erwartende Bevölkerungsrückgang wird dann abgeschwächt oder sogar in einen Anstieg verwandelt.
Die Siedlungsstruktur Deutschlands ist auf Grund der früheren Zersplitterung des Landes vor der Reichsgründung von 1870 in dutzende politisch selbstständige Territorien mit eigenen Zentren auch heute noch relativ ausgeglichen. Anders als seine europäischen Nachbarländer ist Deutschland nicht durch ein beherrschendes Zentrum wie Rom, Paris, London oder Madrid, sondern durch eine multipolare Siedlungsstruktur geprägt. Fast jeder zweite Bundesbürger wohnt in einer Klein- oder Mittelstadt mit 10 000 bis 200 000 Einwohnern, und nur rund je ein Viertel der Einwohner entfallen auf Städte mit mehr als 200 000 bzw. mit weniger als 10 000 Menschen.
Die Siedlungsstruktur ändert sich durch die regional unterschiedlichen Geburtenraten, die Binnen- und die Außenwanderungen. Dabei sind die Binnenwanderungen quantitativ am wichtigsten. Die jährliche Zahl der Wanderungsbewegungen über die Grenzen der Bundesländer beträgt rund eine Million. Innerhalb der Bundesländer kommen geschätzte drei weitere Millionen Wanderungsfälle hinzu (ohne Umzüge innerhalb des Ortes), das Binnenwanderungsvolumen beträgt also vier Millionen pro Jahr. Hinzu kommen etwa 700 000 weitere Zuwanderungen aus dem Ausland sowie rund 600 000 Abwanderungen ins Ausland. Bei den Binnenwanderungen ist jeder Zuzug in einen bestimmten Zielort gleichzeitig ein Wegzug aus einem Herkunftsort. Die 440 Stadt- und Landkreise werden somit durch die Binnenwanderungen in eine Gewinner- und eine Verlierergruppe geteilt. Seit dem Zweiten Weltkrieg lässt sich ein genereller Binnenwanderungstrend von den nördlichen in die südlichen Bundesländer beobachten, der seit der Wiedervereinigung von einem Trend von den östlichen in die westlichen Bundesländer überlagert wird. Die östlichen Bundesländer verlieren durch die Binnenwanderungen vor allem jüngere, gut ausgebildete Menschen, wodurch sich der wirtschaftliche Vorsprung der westlichen Bundesländer noch verstärkt.
QuellentextCuxhaven bereitet sich auf die Zukunft vor
[...] Tanja Gohrbandt und Ulrich Lasius. [...] sind Stadtplaner und haben Augen für extrem langsame, fast unmerkliche Veränderungen: Sie können sehen, wie Cuxhaven altert.
[...] Sylvester 1967 hatte Cuxhaven, das bis 1937 ein Teil von Hamburg war, 61 584 Einwohner. [...]
Aber dann kippten die Verhältnisse, langsam und fast unmerklich. Eins kam zum anderen. Die Bundesmarine zog ab nach Wilhelmshaven, die Fischindustrie brach ab Mitte der 70er Jahre ein. Plötzlich gab es Fangquoten, vor allem aber weltweit billigere Konkurrenzflotten. Der Fährverkehr schlummerte ein, Werften starben, weil in Südostasien größere und billigere Schiffe vom Stapel liefen. Die Cuxhavener lernten etwas Neues kennen: Arbeitslosigkeit. Plötzlich ging es nicht mehr voran. Junge Leute zogen weg, der Arbeit hinterher.
[...] Cuxhaven fing an zu schrumpfen, und Cuxhavens Einwohnerschaft, seine Mischung, veränderte sich: weniger Junge, dafür mehr alte Leute. Die Einwohnerzahl, heute gerade noch 50 000, ist in 40 Jahren um ein Siebtel zurückgegangen. [...] 27 Prozent aller Cuxhavener sind heute älter als 65 Jahre, in Deutschland sind es weniger als 20 Prozent. "Cuxhaven ist heute schon eine Generation weiter als der Rest der Bundesrepublik", sagt [Ulrich Lasius]. "Wir erleben hier hautnah, was Deutschland in 25 Jahren bevorsteht." Cuxhaven – das ist Deutschlands Zukunft. Was tun? [...] Cuxhaven muss Schulen schließen. [...] Es gibt weniger Kinder, also werden Schulen zusammengelegt, weil die Stadt sich nicht mehr leisten kann, in allen Ortsteilen Unterricht vorzuhalten. [...] Auch Baugebiete werden nicht mehr ausgewiesen, denn niemand braucht Bauplätze. [...] "Eigentlich müsste man zurückbauen", sagt [Oberbürgermeister Arno] Stabbert. "Aber das ist den Menschen kaum zu vermitteln." Zurückbauen heißt abreißen, klingt nur weniger unangenehm. [...]
Etwa 2000 Wohnungen stehen in Cuxhaven mittlerweile leer, in den kommenden Jahren wird sich das verdoppeln bis verdreifachen. Und die Immobilienpreise sinken: Ein Einfamilienhaus kostet heute zehn Prozent weniger als 2006.
Stabbert und seine Leute wissen, niemand kann einen Hebel umlegen und alles wird anders. Aber ignorieren geht auch nicht. Also drehen sie an winzigen Rädchen. "Wohnlotsen", das ist so eine Idee. Makler, Sparkassen, Rotes Kreuz, Rathaus, Architekten, Energieversorger – alle arbeiten zusammen: Alte Leute in ihren Häusern halten, Programme für seniorengerechten Umbau anbieten, jüngere Leute für leere Immobilien interessieren. [...] Einen Extra-Ausschuss für demografischen Wandel haben sie eingerichtet, es gibt Seniorenbüros und Mehrgenerationenhäuser. "Wir müssen schrumpfen lernen", so drückt Lasius es aus.
Soll die Einwohnerzahl bei ungefähr 50 000 bleiben, müssten jedes Jahr mindestens 75 neue Arbeitsplätze in Cuxhaven entstehen, dazugerechnet drei Familienmitglieder, die nachziehen. Die Hoffnung des Oberbürgermeisters liegt auf einem riesigen Gelände zwischen Bahnlinie und Elbmündung, wo sich drei Offshore-Betriebe angesiedelt haben, die Windanlagen in der Nordsee montieren. "Wir hoffen, dass es einmal 2000 Arbeitsplätze geben wird", sagt Stabbert.
Aber er weiß, die Rettung ist auch das nicht. "Es mildert die Entwicklung vielleicht ab", sagt Stabbert. "Aber es hält sie nicht auf." 2030, haben seine Planer ausgerechnet, wird Cuxhaven 39 000 Einwohner haben. Wenn alles so weitergeht. [...]
Bernhard Honnigfort, "Unten Geranien, oben Plastikblumen", in: Frankfurter Rundschau vom 13. Juli 2011
Mindestens ebenso wichtig wie die quantitative Veränderung der Bevölkerungszahl ist der Wandel der Altersstruktur und die Zusammensetzung der Bevölkerung nach sozio-ökonomischen Merkmalen wie berufliche Qualifikation und Nationalität. Bei Menschen mit überdurchschnittlicher Ausbildung ist die räumliche Mobilität besonders hoch. Die Regionen mit einem positiven Binnenwanderungssaldo profitieren durch den positiven Primär- und Sekundäreffekt der Binnenwanderungen demografisch, aber sie haben auch wirtschaftliche Vorteile durch die Verbesserung der Qualifikationsstruktur der Bevölkerung. Der innerdeutsche brain drain durch den Binnenwanderungsprozess von Ost nach West wirkt sich auf das wirtschaftliche Entwicklungspotenzial so stark aus, dass diese sogenannte Abstimmung mit den Füßen durch die Raumordnungspolitik mit dem heutigen Ins-trumentarium nicht wirksam gesteuert werden kann. Vorschläge für eine Verbesserung der Steuerungsmöglichkeiten sind eine Staffelung der Einkommensteuer durch regional unterschiedliche, von den Gemeinden festgesetzte Einkommensteuersätze wie bei den Steuersätzen der Realsteuern (beispielsweise der Grundsteuer oder der Gewerbesteuer). Durch unterschiedliche Steuersätze könnten die Gemeinden im Wettbewerb um die knapper werdenden gut ausgebildeten Menschen miteinander konkurrieren. Die Chancen für die politische Umsetzung dieser Überlegungen sind jedoch zurzeit (noch) gering. Die räumliche Dimension des demografischen Wandels wird vielfach in ihrer Bedeutung unterschätzt. So lassen sich die Auswirkungen zum Beispiel auf die Kosten für die Integration der Zuwanderinnen und Zuwanderer nicht an den Ausländerquoten auf Bundesebene ablesen. Bei einem in allen Städten wie im Bundesgebiet insgesamt einheitlichen Ausländeranteil von rund neun Prozent gäbe es kein besonderes Integrationsproblem. Da aber ihr Anteil regional stark differiert und heute schon in vielen Großstädten zwischen 20 und 30 Prozent liegt – nach Berechnungen des Statistischen Landesamtes Nordrhein-Westfalen wird er (ohne Berücksichtigung von Staatsbürgerschaftswechseln nach dem seit dem 1. Januar 2000 geltenden neuen Staatsangehörigkeitsrecht) in einigen Großstädten in NRW bis 2010 bei den unter 40-Jährigen auf 40 und mehr Prozent steigen. Dies macht deutlich, dass regionale Differenzierungen unabdingbar sind, um das Integrationsproblem realistisch einzuschätzen.
Das komplexe Thema der regionalen Auswirkungen der Migration kann hier nur stichwortartig zusammengefasst werden, wobei folgende Punkte besonders wichtig sind. In den neuen Bundesländern ist die Schrumpfung bereits seit der Wiedervereinigung im Gange, während die westlichen Bundesländer, insbesondere Hessen, Baden-Württemberg und Bayern, ihre Bevölkerung noch etwa ein bis zwei Jahrzehnte stabilisieren können, und zwar nicht nur durch Einwanderungsüberschüsse gegenüber dem Ausland, sondern vor allem auch gegenüber den anderen Bundesländern.
Die Schrumpfung führt nicht zu einer Abnahme der Bevölkerungszahlen entsprechend einer linearen Maßstabsverkleinerung der Gemeinden, Regionen und Länder, vielmehr bewirkt der demografische Wandel eine Spaltung in Gewinner und Verlierer. Zu den Verlierern gehören zum Beispiel flächendeckend die neuen Bundesländer, das nördliche Ruhrgebiet, Südniedersachsen, Nordhessen, das Saarland und Nordbayern, zu den Gewinnern Südhessen, Baden-Württemberg und Oberbayern. Auch die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Nationalität verändert sich nicht in allen Gebieten auf die gleiche Art. So ist der Altenquotient (Prozentanteil der über 65-Jährigen im Verhältnis zu den 15- bis unter 65-Jährigen) heute schon von starken Unterschieden geprägt. Dabei unterscheidet man eine passive Alterung durch den Wegzug junger von einer aktiven Alterung durch den Zuzug älterer Menschen, vor allem in die Städte mit Heilbädern.
Die Arbeitsplatzverluste durch die Entindustrialisierung wurden in Deutschland jahrzehntelang durch das Wachstum des Dienstleistungssektors ausgeglichen. Aber das Wachstum insbesondere der haushalts- und bevölkerungsbezogenen Dienstleistungen wird in Zukunft in den Regionen mit starker demografischer Schrumpfung durch den Wegfall der entsprechenden Nachfrage gestoppt. In den neuen Bundesländern ist die Deindustrialisierung besonders gravierend, die Kompensation durch Dienstleistungen wäre daher hier um so dringlicher. Die demografischen Entwicklungsbedingungen werden als Standortfaktoren für die Wirtschaft immer wichtiger. Hohe Geburtenraten und günstige Altersstrukturen werden sich in der Zukunft als entscheidende Standortfaktoren erweisen und den schon im Gange befindlichen Wettbewerb der Gemeinden und Regionen um junge, gut ausgebildete Menschen intensivieren. Dabei spalten sich die miteinander konkurrierenden Gebiete in zwei Gruppen mit unterschiedlichen Erfolgsaussichten: Gebiete mit günstiger wirtschaftlicher Entwicklung haben Zuwanderungsüberschüsse, was die Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung günstig beeinflusst und zu weiteren Zuwanderungen führt (demografisch-ökonomische Aufwärtsspirale). Dem stehen Gebiete mit Abwanderungsüberschüssen gegenüber, deren Wirtschaft sich durch den Bevölkerungsverlust ungünstiger entwickelt, dadurch weniger Arbeitsplätze anbietet und so die negative Wanderungsbilanz aufrechterhält (demografisch-ökonomische Abwärtsspirale).
Bei sinkenden Einwohnerzahlen gehen die Nutzerzahlen von öffentlichen Einrichtungen und die Einnahmen der Gemeinden aus Gebühren zurück, und zwar bei gleichbleibend hohen Fix-Kosten und hohen Kosten für die Schuldentilgung der Investitionen. Es kommt zu demografisch bedingten Abwanderungen von Wirtschafts- und Versorgungsbetrieben, zu Schließungen von Einrichtungen der Verwaltung, von Kindergärten, allgemein bildenden Schulen und – mit entsprechender zeitlicher Verzögerung – von weiterführenden Schulen sowie von Einrichtungen der haushaltsnahen Infrastruktur, insbesondere von Gesundheitsbetrieben sowie von Freizeiteinrichtungen wie Bädern, Sportplätzen und Theatern sowie zur Umnutzung von Kirchen.
Die sozioökonomischen Gegensätze können durch die Abwanderung und Schrumpfung der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung mit Migrationshintergrund verstärkt werden.
QuellentextRenaissance der Städte?
[...] Nicht nur Berlin, die Mehrzahl der deutschen Großstädte mit mehr als einer halben Million Einwohnern wiesen in den vergangenen zehn Jahren wieder steigende Bevölkerungszahlen auf, wie aus einem Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hervorgeht. Gleichzeitig ging auch die Zahl der Beschäftigten in den großen Städten um knapp vier Prozent nach oben, während sie in Deutschland insgesamt stagnierte. Es sind laut DIW besonders die jungen gut ausgebildeten Bevölkerungsschichten mit höherem Einkommen, die sich von den Metropolen mit ihrem attraktiven Beschäftigungsangebot angezogen fühlen. [...]
Zu den Gewinnern zählen [...] die Städte, in denen sich neben den Zentralen der global agierenden Konzerne die neuen Dienstleistungsfunktionen der Finanz-, Versicherungs- und Immobilienwirtschaft, Forschungszentren und die Medienbranche angesiedelt haben und die darüber hinaus über ein reiches kulturelles Angebot verfügen. [...]
Der Dienstleistungssektor, die WissensÖkonomie und die Kreativwirtschaft gelten heute als Motoren des Wachstums. Nicht mehr die Großbetriebe, sondern kleinere Unternehmen prägen die städtische Ökonomie. Handarbeit ist der Kopfarbeit gewichen. [...]
Die dichten, gemischt genutzten Altbaugebiete in den Innenstädten bieten dafür die besten Bedingungen. Im CafÉ gleich neben dem Büro lassen sich Projekte planen, und in den Stockwerken darüber bieten geräumige Appartements den passenden Wohnraum. Denn das Wohnen in der Innenstadt wird für die Angehörigen der kreativen Klasse zunehmend "zu einer Frage der existenziellen Sicherheit", wie [der Berliner Stadtsoziologe] Hartmut Häußermann es nennt. Die neue Arbeitswelt mit ihren oft befristeten oder prekären Beschäftigungsverhältnissen bietet immer seltener die finanzielle Sicherheit, die nötig ist, um sich ein Haus im Grünen leisten zu können. Stattdessen erfordert sie eine ständige Präsenz im beruflichen Umfeld, um beim nächsten Projekt vielleicht wieder dabei zu sein.
Doch es sind nicht nur die Singles und kinderlosen Doppelverdiener aus den neuen Dienstleistungsbranchen, die die Innenstädte als Wohnorte wiederentdecken, sondern auch die [...] materiell abgesicherten jungen Familien mit Kindern. Flexiblere Arbeitszeiten, die vom geregelten Acht-Stunden-Tag abweichen, zwingen zu einer Organisation des Alltags, die mit dem Leben weit draußen vor den Toren der Stadt nur noch selten vereinbar ist. Und die Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen, verbunden mit zunehmender Berufstätigkeit der Frauen, lässt sich mit dem Bild der sorgenden Hausfrau im Eigenheim nur noch schwer in Einklang bringen. [...]
Werner Girgert, "Voreilige Verallgemeinerungen", in: Frankfurter Rundschau vom 11. Juli 2011
Demografisch verstärkte Konfliktpotenziale
Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der drei demografischen Grundtrends – Schrumpfung, Alterung und Internationalisierung der Bevölkerungsentwicklung – können das Konfliktpotenzial in folgenden Bereichen verschärfen:
Generationenkonflikt
Durch die wachsende Zahl der Älteren nimmt die Altersgruppe der Versorgungsempfänger vom Ende des 20. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertmitte um rund zehn Millionen Menschen zu, während die Zahl der Einwohner im Erwerbsalter bzw. die Gruppe der Beitrags- und Steuerzahler auch bei den bisher gewohnten Einwanderungszahlen aus dem Ausland gleichzeitig um rund 16 Millionen schrumpft. Die Konsequenz der scherenartigen Auseinanderentwicklung kann ein jahrzehntelang sinkendes Versorgungsniveau in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung mit der Gefahr von Verteilungskonflikten nach sich ziehen und ungünstige Auswirkungen für den sozialen Frieden bedeuten. Dabei werden gerade diejenigen, die durch die Erziehung von Kindern als den künftigen Beitragszahlern die Finanzierung der überdurchschnittlich hohen Versorgungsbezüge der kinderlos gebliebenen Menschen in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ermöglicht haben, tendenziell benachteiligt, weil ihre eigene Erziehungsarbeit in der Sozialversicherung noch nicht genügend anerkannt wird, sodass beispielsweise ihre Rentenansprüche besonders niedrig sind.
Verfassungskonflikt
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von 2001 die Pflegeversicherung als verfassungswidrig erklärt, weil sie Menschen ohne Kinder in einer den Gleichheitsgrundsatz verletzenden Weise bevorzugt. Denn diese Menschen erwerben lediglich durch ihre monetären Beiträge zur Pflegeversicherung die gleichen Ansprüche wie jene, die durch die Erziehung von Kindern als den künftigen Beitragszahlern auch die vom Gericht als "generativen Beitrag" bezeichnete Leistung erbringen. Ohne diese Leistung bräche das umlagefinanzierte System der Pflegeversicherung sowie der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung jedoch zusammen. Bereits in seinem berühmten "Trümmerfrauen-Urteil" hat das Bundesverfassungsgericht von der Politik umfassende änderungen des gesamten Sozialrechtssystems verlangt – ohne nennenswertes Ergebnis. Verfassungsjuristen sprechen von einem permanenten "Verfassungsboykott" durch die Politik.