Empirische Daten, die den Entwicklungsstand eines Landes kennzeichnen, belegen einen gegenläufigen Zusammenhang zwischen Lebensstandard und Geburtenrate. Entwicklungsländer mit wachstumsbedingten und Industrieländer mit schrumpfungsbedingten Bevölkerungsproblemen haben eins gemeinsam: die Herausforderung durch die demografische Alterung.
Einleitung
In den 1960er Jahren war das reale Pro-Kopf-Einkommen in der früheren Bundesrepublik weniger als halb so hoch wie am Ende des 20. Jahrhunderts, aber die Geburtenrate hatte dennoch im statistischen Durchschnitt mit 2,5 Lebendgeborenen pro Frau ein doppelt so hohes Niveau wie heute. In den anderen hochentwickelten Industrieländern verlief die Entwicklung ähnlich. So sank zum Beispiel die Geburtenzahl pro Frau in den USA vom Zeitraum 1960-1965 bis zum Zeitraum 2005-2010 von 3,3 auf 2,1 Lebendgeborene pro Frau, in Japan von 2,0 auf 1,3 und in Westeuropa von 2,7 auf 1,6.
Diese Zahlen verweisen auf einen wichtigen Sachverhalt: Ob ein Einkommen zur Erfüllung von Kinderwünschen oder zur Erreichung irgendwelcher anderen Ziele als zu niedrig oder als ausreichend betrachtet wird, hängt im Urteil der Menschen offenbar nicht in erster Linie von dessen absoluter Höhe ab, sondern von der Differenz zum angestrebten Einkommen und vom Abstand zum Einkommen anderer Menschen, mit denen sie sich vergleichen.
Ein einprägsames Beispiel für die Relativität von Urteilen wie "viel" und "wenig", das für die Interpretation des Rückgangs der Geburtenraten wichtig ist, bietet der Begriff "Armut". Die international gebräuchliche Definition lautet: Arm ist, wer über die Hälfte oder weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verfügt. Diese Definition hat zur Folge, dass in einem reichen Land, in dem das Durchschnittseinkommen in überspitzter Annahme beispielsweise zwei Millionen Euro betrüge, alle Menschen mit einem Einkommen von einer Million Euro arm wären. Wer von Jahr zu Jahr mehr verdient, läuft dadurch Gefahr, am Ende zu den Armen zu gehören, falls seine Einkünfte geringer ansteigen als die Verdienste aller. Dieses Phänomen ist unabhängig von der absoluten Höhe seines Einkommens.
QuellentextKinder – eine lebenslange Bindung
Deutschen wünschen sich Familie, tatsächlich bleibt fast jede dritte Frau zwischen sechzehn und fünfundsiebzig Jahren kinderlos. Zu diesem Ergebnis kam der Mikrozenzus des Statistischen Bundesamts 2008. [...] Ob dieser [Kinderwunsch] realisiert wird, hängt von zahlreichen Faktoren ab – dem Alter, der aktuellen ökonomischen Situation, ob sich Familie und Beruf vereinbaren lassen, den jeweiligen Werthaltungen. Sie sind rein situativ und können aktuell von großer Bedeutung sein, morgen schon nicht mehr. Einen besonders wichtigen Faktor stellt die Frage der Partnerschaft dar, weil der Kinderwunsch bei Partnerlosen oft gar nicht thematisiert wird. Ferner kommt es auf die Lebensform an. Partner, die nicht zusammenleben, haben in der Regel einen schwächer ausgeprägten Wunsch nach Kindern. In Deutschland ist zudem das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Freiräumen angewachsen. Individualistische Orientierungen sind ein Phänomen, das in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Die soziologische Datenanalyse der "Population Policy Acceptance Study", ein international vergleichendes Forschungsprojekt, in dem die Einstellungen der Bevölkerung zum demographischen Wandel erforscht werden, zeigt, dass eine Gruppe entstanden ist, die aufgrund individualistischer Orientierungen keine Kinder will. Begründung: Mit Kindern könne man das Leben nicht mehr genießen. Und natürlich spielt Bildung eine Rolle. Laut dem "Gender Datenreport 2004" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Bildung und Mutterschaft: Je höher der Schulabschluss, desto größer der Anteil der Frauen, bei denen im Alter von fünfunddreißig bis neununddreißig Jahren kein Kind im Haushalt lebt. Der Wunsch ist bei höher Gebildeten im Durchschnitt deshalb größer als bei niedriger Gebildeten, weil sie ihre Kinderwünsche durch langeAusbildungszeiten später umsetzen. In der Rushhour des Lebens geht es um die Etablierung im Beruf. Sie ist aber zugleich die Lebensphase, in der man auch in die Familienphase eintreten sollte. Damit bleibt der Wunsch länger Wunsch. Hinzu kommt, dass die Geburtsjahrgänge im Zuge des demographischen Wandels in den vergangenen Jahren immer kleiner geworden sind. Es fehlt in Deutschland also nicht nur an Kindern, sondern auch an potentiellen Eltern. [...] [D]ie Vereinbarkeit von Familie und Beruf [...] wird von den Deutschen nach wie vor negativ beurteilt. Lediglich einundzwanzig Prozent der Bevölkerung haben den Eindruck, dass sich Familie und Beruf in Deutschland gut vereinbaren lassen. Dreiundsechzig Prozent finden, die Vereinbarkeit sei "nicht so gut". Auf der politischen Agenda der Familienministerin müssten deshalb stehen: stärkere finanzielle Unterstützung, Ganztagsbetreuung und flexiblere Arbeitszeiten. Beruf und Elternschaft müssen sich endlich besser vereinbaren lassen. Die Rahmenbedingungen sind das eine, aber auch in den Köpfen müsste sich etwas tun. Ein internationaler Vergleich zeigt nämlich, dass Deutschland in der Frage, ob man "Kinder braucht, um ein erfülltes Leben zu haben", ganz hinten liegt. Dreiunddreißig Prozent der (West-) Deutschen befürworten die These. In Frankreich sind es siebenundsechzig. Deutschland ist ein kinderentwöhntes Land geworden. Vor- und Nachteile werden abgewogen, ein Kind ist eine Option unter vielen, für oder gegen die man sich entscheidet. Die ländervergleichende Studie der Soziologin Birgit Pfau-Effinger, welche die Geschlechter-Arrangements in Europa untersuchte, zeigt, dass gleichzeitig die Ansprüche und Erwartungen gewachsen sind, denen zufolge es auch immer anstrengender werde, Kinder großzuziehen. Eine erwerbstätige Mutter, die kleine Kinder zu Hause hat, ist hierzulande immer noch kein alltägliches Bild. "Die Horrorvorstellung, dass Kinder einen Schaden bekommen, wenn sich Mütter nicht mehr vierundzwanzig Stunden um sie kümmern, muss aus den Köpfen der Deutschen verschwinden", fordert [Kerstin] Ruckdeschel, [Familiensoziologin und Mitarbeiterin am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden]. Nur wenn Elternschaft nicht primär unter dem Aspekt der schwierigen Vereinbarkeit diskutiert werde, könne aus dem Wunsch Wirklichkeit werden. Schließlich böten Kinder nicht nur eine emotionale Bereicherung, sondern durch nichts zu ersetzende subjektive Sinnstiftung – als einzige lebenslange Bindung, die dem modernen Menschen bleibt.
Levke Clausen, "Gewöhnt euch wieder an Kinder!", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. September 2010
Demografisch-ökonomisches Paradoxon
Dieses vergleichende und relativierende Bewerten unabhängig vom erreichten absoluten Lebensniveau ist nicht nur in Deutschland verbreitet. Dabei könnte wichtig sein, dass im Zuge der Wohlstandssteigerungen die Sorge um ihren Verlust mitwächst. So kam es zu einer paradoxen, weltweit beobachtbaren Erscheinung: dem gegenläufigen Zusammenhang zwischen dem materiellen Lebensniveau eines Landes, das sich zum Beispiel mit der Lebenserwartung oder mit dem Pro-Kopf-Einkommen messen lässt, und dem Niveau seiner Geburtenrate. Dieses Phänomen lässt sich mit dem Begriff "demografisch-ökonomisches Paradoxon" fassen: Je rascher die sozioökonomische Entwicklung eines Landes voranschritt und je höher der Lebensstandard stieg, desto niedriger war die Geburtenrate, gemessen durch die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau.
Das Entwicklungsniveau der meisten Länder erhöht sich tendenziell auch in der Zukunft immer weiter, deshalb ist es wahrscheinlich, dass die gegenläufige Beziehung zwischen der Geburtenrate und dem Entwicklungsniveau zur weltweiten Abnahme der Geburtenrate führt. In der Wissenschaft gibt es Versuche, die paradoxe Gegenläufigkeit des demografisch-ökonomischen Zusammenhangs verständlich zu machen und durch rationale Erklärungen aufzulösen.
Ein solcher Erklärungsansatz ist die von der Bevölkerungsökonomie entwickelte Theorie der Opportunitätskosten von Kindern, wobei mit Opportunitätskosten nicht die realen Ausgaben für Kinder gemeint sind, sondern die vorgestellten entgangenen Einkommen, auf die die Eltern bei einer Entscheidung für ein Kind verzichten müssten. Widmet sich ein Elternteil, und in den allermeisten Fällen ist dies immer noch die Frau, beispielsweise 20 Jahre der Erziehung von Kindern, dann entgeht ihr bei einem angenommenen Jahresverdienst von 30 000 Euro ein Lebenseinkommen von 600 000 Euro. Bei einer Frau mit einer hohen beruflichen Qualifikation und einem Jahreseinkommen von zum Beispiel 50 000 Euro betragen die entgangenen Lebenseinkünfte bzw. die Opportunitätskosten eine Million Euro.
Ökonomische Weltkarte aus dem Jahr 2009: Die Flächen der Staaten nach ihrem Bruttoinlandsprodukt.
Das Argument lautet: Wenn eine Frau auf Grund gesellschaftlicher Umstände wie mangelnder Betreuungseinrichtungen für Kinder gezwungen ist, zwischen der Aufnahme einer Erwerbsarbeit oder der Erziehung von Kindern zu wählen, dann entgeht ihr bei einer Entscheidung zugunsten der Kindererziehung ein Erwerbseinkommen, das umso höher ausfällt, je höher das erzielbare Pro-Kopf-Einkommen ihres Landes ist.
Demografische Weltkarte aus dem Jahr 2010: Die Flächen der Staaten nach ihrer Geburtenzahl.
In der Annahme, dass der emotionale und der ideelle Wert von Kindern mit der Zeit nicht abgenommen hat sondern fortbesteht, wird er bei dieser Betrachtung konstant gesetzt. Aus dieser Sicht werden Kinder in wirtschaftlich erfolgreichen Ländern, gemessen auf der Skala der entgangenen Einkünfte, um so unerschwinglicher, je weiter die Einkommensentwicklung voranschreitet. Es ist dann nicht paradox, sondern einleuchtend, dass die Geburtenrate mit steigendem Verdienst abnimmt. Mit dem Erklärungsansatz der Opportunitätskosten lässt sich also das Problem des paradoxen gegenläufigen Zusammenhangs auf den ersten Blick auflösen. Trotzdem kann das Ergebnis nicht befriedigen.
Der Opportunitätskostenansatz zur Erklärung der Geburtenrate wurde in erster Linie für die Industrieländer mit funktionsfähigen Arbeitsmärkten und mit Wirtschaftszweigen entwickelt, die qualifizierte Arbeitsplätze für Frauen anbieten, zum Beispiel in bestimmten Industriezweigen oder im Dienstleistungssektor. In den Entwicklungsländern, besonders in den am wenigsten entwickelten Ländern und Regionen, gibt es kaum funktionierende Arbeitsmärkte und keine ausreichenden Möglichkeiten für Frauen, außerhalb des Hauses erwerbstätig zu sein. Das Opportunitätskostenproblem als Wahlproblem der Frauen stellt sich dort daher in geringerer Schärfe. Aber wo es auftritt, zum Beispiel im Billiglohnsektor bei Akkordarbeit, eröffnet sich den Frauen eine, wenn auch bescheidene, ökonomische Unabhängigkeit, so dass die Geburtenzahl pro Frau in der Regel sinkt.
Der gegenläufige Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsstand eines Landes und der Geburtenrate ist weltweit zu beobachten, und zwar auch bei einem internationalen Vergleich unter Einbeziehung der Entwicklungsländer. Dies beruht auf einer Reihe weiterer Faktoren. Dazu gehört vor allem der weltweite Prozess der Verstädterung, verbunden mit gesellschaftlichen Veränderungen, die die Stellung der Frau betreffen: ein erleichterter Zugang zu Bildung und Ausbildung, Fortschritte bei der rechtlichen und materiellen Gleichstellung der Frau und die Zurückdrängung der traditionellen, häufig von der Religion gestützten Geschlechterrollen. Selbst wenn diese Faktoren in den einzelnen Ländern unterschiedlich wirken, hatten sie dennoch zur Folge, dass die Geburtenzahl pro Frau vom Zeitraum 1960-1965 bis zum Zeitraum 2005-2010 weltweit abnahm: in den Industrieländern von 2,7 auf 1,7, in den Entwicklungsländern von 6,0 auf 2,7 und in der Welt als Ganzes von 4,9 auf 2,5.
Demografisch bedingte Problemketten
Die Weltbevölkerung ist kein einheitlicher Block, sie setzt sich aus mehr als 190 größeren, staatlich organisierten Landesbevölkerungen zusammen, von denen die meisten entweder wachsen oder schrumpfen. Auf Grund der gegenläufigen Entwicklung zwischen dem Entwicklungsniveau und der Geburtenrate steht das demografische Gewicht der Länder, gemessen durch die Geburtenzahl, im Kontrast zu ihrem wirtschaftlichen, gemessen durch das Bruttoinlandsprodukt.
Der Fall einer auf Dauer konstanten Bevölkerung lässt sich heute in der Realität aufgrund der beschriebenen Entwicklungen nicht wiederfinden, sie ist aktuell nur noch als Durchgangsstadium bis zum Übergang in die Bevölkerungsschrumpfung anzutreffen. Der umgekehrte Fall des Übergangs aus der Phase der Bevölkerungsschrumpfung in die des Bevölkerungswachstums mit einer konstanten Zwischenphase ist noch seltener, ihn gibt es gegenwärtig in keinem einzigen größeren Land.
Nicht nur die Weltbevölkerung ist ein gedankliches Konstrukt, das gleiche gilt auch für das Weltbevölkerungsproblem, das in der Realität ebenfalls nur im Plural existiert. Nach der Art ihrer demografisch bedingten Herausforderung können die Länder in zwei große Gruppen mit je eigenen Bevölkerungsproblemen gegliedert werden: Entwicklungsländer mit wachstumsbedingten Bevölkerungsproblemen stehen neben Industrieländern mit schrumpfungsbedingten Problemen, wobei die demografische Alterung als wichtigste Herausforderung beiden gemeinsam ist. Die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums und der Bevölkerungsschrumpfung ergänzen sich auf globaler Ebene leider nicht zu einem problemlosen Ganzen, ebenso wenig wie sich ein angenehmes, durchschnittliches Gefühl ergibt, wenn der rechte Fuß in eiskaltes und der linke in kochend heißes Wasser getaucht wird.
Migration
Eine besondere Gruppe bilden die migrationsbedingten Bevölkerungsherausforderungen. Die Vorteile der Zielländer aus der Migration sind für die Herkunftsländer in der Regel Nachteile. Nur im Ausnahmefall profitiert sowohl das Ziel- als auch das Herkunftsland von dem gleichen Migrationsstrom. Obwohl dieser Fall in der Realität – wenn überhaupt – selten vorkommt, ist die Meinung verbreitet, die internationale Wanderungsbewegung trage sowohl zur Lösung der wachstumsbedingten Bevölkerungsprobleme der Entwicklungsländer als auch zur Milderung der schrumpfungs- und alterungsbedingten Schwierigkeiten der Industrieländer bei, weil sie in einem Fall der unerwünschten Bevölkerungsschrumpfung, im anderen Fall dem Bevölkerungswachstum entgegenwirke.
Schon der Größenunterschied der verglichenen Länder zeigt, dass diese Art von Kompensationsrechnung nicht aufgeht. Die absolute Zahl des Bevölkerungszuwachses eines einzigen Entwicklungslandes wie Indien (knapp 16 Millionen) ist in einem einzigen Jahr etwa ebenso groß wie alle Geburtendefizite Deutschlands in den Jahren von 2000 bis 2040 zusammengenommen.
Ein weiteres Beispiel: Die Vereinten Nationen prognostizieren für den jährlichen Geburtenüberschuss der Entwicklungsländer im Zeitraum 2045 bis 2050 eine Zahl von 38 Millionen. Das ist das Fünfundzwanzigfache des Geburtendefizits der entwickelten Länder im gleichen Zeitraum.
Zu- und Abwanderung in Deutschland
Die Zu- und Abwanderung in Deutschland zwischen 1950 und 2010.
Die Zu- und Abwanderung in Deutschland zwischen 1950 und 2010.
Das Geburtendefizit in Deutschland besteht schon seit 1972, es wird vor allem durch Einwanderungen aus außereuropäischen Ländern kompensiert. In den letzten zwei Jahrzehnten sind pro Jahr zwischen 700 000 und einer Million Menschen nach Deutschland zugewandert, also ebenso viele oder noch mehr als hier pro Jahr geboren wurden. Gleichzeitig emigrierten im Mittel pro Jahr etwa 670 000 Menschen ins Ausland. Die Differenz aus Zu- und Abwanderungen – der sogenannte Wanderungssaldo – schwankte zwischen 100 000 und 300 000 pro Jahr, nur im Ausnahmefall war er negativ.
Wesentlich geeigneter für die Beurteilung der wanderungsbedingten Bevölkerungsprobleme als der Wanderungssaldo sind die Brutto-Ströme – die Zu- und Fortzüge selbst, aus denen sich der Wanderungssaldo als Differenz ergibt. Denn der Bedarf an Integrationsleistungen für die zugewanderte Bevölkerung hängt nicht von der Größe des Wanderungssaldos ab, sonst wäre der Integrationsbedarf bei einem ausgeglichenen Saldo gleich Null, sondern von der absoluten Zahl der Zuwanderungen, die in den letzten Jahrzehnten stets zwischen einer halben und einer Million Personen pro Jahr betrug, sowie von der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer der Zuwanderer, die etwa zehn Jahre beträgt.
Die jährliche Zahl der Zuwanderinnen und Zuwanderer, für die jedes Jahr ein zusätzlicher Integrationsbedarf entsteht, lässt sich auf rund 500 000 Personen schätzen. In zehn Jahren entspricht dies einem Integrationsbedarf für eine Bevölkerung von der Größe eines mittleren Bundeslandes. Diese Menschen zu inte-grieren, ist eine Aufgabe, der sich alle modernen Industrieländer stellen (bzw. stellen müßten), mit Ausnahme Japans, das seine niedrige Geburtenzahl nicht durch Zuwanderungen kompensiert und sich dem Zuzug aus dem Ausland generell verschließt.
Demografische Alterung
So unterschiedlich die Industrie- und Entwicklungsländer sind, so ist ihnen doch ein wichtiges Charakteristikum der demografischen Entwicklung gemeinsam – der weltweite Prozess der demografischen Alterung. Der Begriff "demografische Alterung" bedeutet eine Zunahme des Durchschnittsalters der Bevölkerung, gemessen durch das sogenannte Medianalter (Alter, das die Hälfte der Bevölkerung über- bzw. unterschreitet) oder durch den sogenannten Altenquotienten (die Zahl der über 65-Jährigen in Prozent der 15- bis 65-Jährigen – alternativ: über 60-Jährige in Prozent der 20- bis 60-Jährigen).
Die demografische Alterung beruht in erster Linie auf den in allen Ländern abnehmenden Kinderzahlen pro Frau (die absolute Zahl der Kinder und Jugendlichen wächst in den Entwicklungsländern trotz abnehmender Geburtenraten immer noch weiter, in den Industrieländern hat der Rückgang schon begonnen) – und erst in zweiter Linie auf der weltweiten Zunahme der Lebenserwartung. Dadurch verlangsamt sich das Wachstum der Jahrgangsstärken an der Basis der Bevölkerungspyramide (Entwicklungsländer), oder die Basis wird ständig schmaler (Industrieländer wie Deutschland), sodass die Gestalt der Bevölkerungspyramide beständig kopflastiger wird. Die Intensität der demografischen Alterung ist in den Industrieländern bedeutend größer als in den Entwicklungsländern. So entfällt in den Industriestaaten auf 100 Menschen in der Altersgruppe von 15 bis 65 eine Zahl von 24 Menschen im Alter über 65 ("Altenquotient"), in den Entwicklungsländern sind es nur neun. Aber in beiden Ländergruppen nimmt der Altenquotient nach den Vorausberechnungen der Bevölkerungsabteilung der UN bis 2050 stetig auf das Zwei- bis Dreifache zu: In den Entwicklungsländern wächst er im Zeitraum 2010 bis 2050 von neun auf 23, in den Industrieländern von 24 auf 45.
Die sozio-ökonomische Entwicklung in der Zukunft hängt in beiden Ländergruppen nicht nur von den bereits bekannten Bedingungen ab, sondern auch von den Fähigkeiten und Möglichkeiten der verschiedenen Staaten, sich auf die neuen, zunehmend demografisch bedingten Entwicklungschancen und -probleme einzustellen.
QuellentextLebenserwartung international
[...] Zwischen der Lebenserwartung und dem Wohlstand einer Nation besteht eine positive Korrelation, aber sie ist nicht gleich hundert. Die Vereinigten Staaten von Amerika geben etwa 13 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die medizinische Versorgung aus; sie können aber keine überragend hohe Lebenserwartung vorweisen, was sich vor allem durch die sozialen Unterschiede erklären lässt. Schwarze, die in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im New Yorker Stadtteil Harlem lebten, hatten eine geringere Aussicht, 65 Jahre alt zu werden als Männer in Bangladesch. In einigen weniger hoch entwickelten Ländern wie Zypern oder Griechenland ist die Lebenserwartung seit 1990 höher als in den Vereinigten Staaten. Und in einigen Drittweltländern wie Jamaika und Belize ist sie mit etwa 75 Jahren fast so hoch wie dort, obwohl das Bruttosozialprodukt pro Kopf in den Vereinigten Staaten zehnmal höher liegt. In reichen Ländern ist es leichter, alt zu werden, denn sie ermöglichen den Bürgern in der Regel eine gesunde Lebensweise, eine bessere Ernährung und eine effektive Gesundheitsvorsorge. Die Menschen müssen weniger lange und weniger hart arbeiten, sie haben sauberes Wasser, bessere Bildungschancen und vieles mehr. Wenn aber weniger reiche Länder ihre Aufmerksamkeit besonders darauf richten, das Leben ihrer Bürger zu verlängern, steigt auch dort die Lebenserwartung. Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Bildung von Frauen. Sri Lanka, zum Beispiel, konnte in den neunziger Jahren eine viel höhere Lebenserwartung vorweisen als Saudi-Arabien: In Sri Lanka belief sich das Bruttosozialpro-dukt pro Kopf auf 320 Dollar, die Säuglingssterblichkeit lag bei 31 Promille und die Lebenserwartung bei 69 Jahren. In Saudi-Arabien hingegen gab es trotz eines Pro-Kopf-Einkommens von 16 000 Dollar eine Säuglingssterblichkeit von 108 Promille und eine Lebenserwartung von 56 Jahren. Auch einigen afrikanischen Staaten gelangen nach der Entkolonisierung große Fortschritte. In Nigeria stieg die Lebenserwartung von 36 (1963) auf 50 (1980) Jahre an, dann setzte ein Stillstand ein. Die Säuglingssterblichkeit ist in der Dritten Welt noch heute ein Problem. Die Aussicht, dass eine Mutter in Nigeria ohne jede Schulbildung ein Kind verliert, ist zweieinhalbmal so groß wie bei einer Mutter, die eine Schule besucht hat. Die Schulbildung der Mutter ist für das Kind wichtiger als die des Vaters. In weiten Teilen Afrikas nahm in den letzten Jahrzehnten die Bildung rasch zu. Die Weltbank schätzt, dass die "Literacy rate" [Alphabetisierungsrate – Anm. d. Red.] auf dem Kontinent im Durchschnitt von 16 Prozent (1960) auf 34 (1980) stieg, wobei einige Länder weitaus bessere Ergebnisse erzielten. In Indien stieg die Lese- und Schreibfähigkeit von fünf Prozent im Jahr 1900 auf siebzehn Prozent 1948. In Kerala, einem der ärmeren Staaten Indiens, waren 1991 schon 94 Prozent der Männer und 87 Prozent der Frauen lese- und schreibkundig, während in ganz Indien durchschnittlich nur 64 und 39 Prozent diese Fähigkeiten erlangt hatten. In Kerala sind mehr Frauen berufstätig als anderswo in Indien; sie heiraten später und betreiben früher Familienplanung. Ein weiteres Schuljahr für die Mutter senkt die Säuglingssterblichkeit um weitere sieben bis neun Prozent. [...]
Manfred Vasold, "Die Revolution der Lebenserwartung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 2010
Erweitertes Problemverständnis
Werden die Folgen und Auswirkungen des Bevölkerungswachstums, der Bevölkerungsschrumpfung oder der demografischen Alterung auf die verschiedenen Politikbereiche in den Vordergrund der Betrachtung gerückt, erweitert sich der Umfang des Begriffs "Bevölkerungsproblem" außerordentlich.
Seit den Anfängen der Bevölkerungswissenschaft, Mitte des 18. Jahrhunderts, dominierte zunächst die Sorge, das Nahrungsmittelangebot könne mit einer wachsenden Weltbevölkerung nicht Schritt halten. Heute gilt die Ernährung nicht mehr als daswichtigste Tragfähigkeitsproblem, denn bei optimaler Organisation und Verteilung der Nahrungsmittelproduktion ließe sich eine wesentlich größere Menschenzahl als die heutige Erdbevölkerung von 7,0 Milliarden Menschen ernähren. Die Wachstumsrate der in der Welt produzierten Lebensmittel ist seit Jahrhunderten größer als die Wachstumsrate der Weltbevölkerung, die pro Kopf erzeugte Nahrungsmittelmenge wächst seitdem beständig. Das Ernährungsproblem ist derzeit also in erster Linie als Frage gerechter Verteilung ein politisches Problem.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückte das Ressourcenproblem zum wichtigsten "Bevölkerungsproblem" auf. Hierzu trug vor allem der Club of Rome bei, dessen Bericht "Die Grenzen des Wachstums" von 1972 auf die angeblich bevorstehende Erschöpfung der fossilen Energieträger, vor allem des Erdöls, aufmerksam machte. Durch die intensive Suche nach neuen Lagerstätten, insbesondere in größeren Meerestiefen, ist jedoch die Menge an bekannten fossilen Brennstoffen trotz wachsenden Verbrauchs bislang nicht gesunken.
Auch globale Umweltprobleme wie Klimaveränderungen und der Rückgang der Artenvielfalt, die seit den 1970er und 1980er Jahren intensiv diskutiert werden, sind nicht primär ein Problem der Zahl der Menschen, sondern deren Konsumverhaltens und der Art der volkswirtschaftlichen Produktionsweisen, die für die Belastung der Umwelt entscheidend sind. Inzwischen kommen zunehmend soziale Probleme wie die demografisch bedingte Massenarbeitslosigkeit vor allem der jüngeren Generationen in den Entwicklungsländern hinzu.
QuellentextHerausforderung Welternährung
[...] Seit 2007 ist die Zahl der Menschen, die nicht genug zu essen haben, [...] um weitere 200 Millionen angestiegen: auf 1,02 Milliarden. [...] Auch wenn sich die globale Situation im Jahr 2010 wieder leicht verbessert hat, bleiben die Zahlund der Anteil der weltweit Hungernden mit 925 Millionen (etwa 16 Prozent) auf einem inakzeptabel hohen Niveau. [...] Die Ursachen für die unzureichenden Fortschritte ab 2005 und die jüngste dramatische Entwicklung der globalen Unterernährung liegen vor allem in steigenden Nahrungsmittelpreisen. Diese Tendenz wurde durch die Energie- und Finanzkrisen weiterverschärft. [...] Nach neuesten Zahlen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) leben derzeit die Bewohner von 22 Ländern der Erde, viele davon in Afrika, in einer verlängerten Krise (protracted crisis). Verlängerte Krisen sind charakterisiert durch wiederkehrende natürliche Katastrophen und/oder Konflikte, lang andauernde Nahrungskrisen, den Verlust physischer, sozialer, finanzieller, natürlicher und menschlicher Grundlagen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowieunzureichender Kapazitäten, auf diese Krisensituationen angemessen reagieren zu können. Länder mit verlängerten Krisen zeigen üblicherweise eine hohe Verbreitung von Hunger – nahezu dreimal so hoch wie in anderen Entwicklungsländern. [...] Dass der Weltmarktpreis für Weizen nahezu auf das Doppelte und der für Reis fast auf das Dreifache angestiegen ist, hat eine neue Atmosphäre politischer Unsicherheit geschaffen. [...] Im Zusammenhang mit Landwirtschaft, Nahrung und Ernährung gibt es weitere Störfaktoren für Frieden und Sicherheit des gesellschaftlichen Zusammenlebens: Unter anderem können dies Einschränkungen beim Nahrungsmittelexport, große Unterschiede in den Lebensbedingungen zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung sowie Konflikte um Land und Wasser sein. Es wird erwartet, dass der Klimawandel diese Konflikte weiter verschärfen wird. [...] Immer noch wächst die Produktion von Nahrungsmitteln schneller als die Weltbevölkerung, [...] In der Praxis kommen jedoch die Nahrungsmittel bei vielen, die sie benötigen, nicht an. Stattdessen wandern immer mehr Agrarprodukte in die Erzeugung von Biotreibstoffen, Faser- oder anderen Industrieprodukten oder werden als Futtermittel verwendet. Nur noch 47 Prozent der Weltgetreideproduktion (Weizen, Reis, Mais) dienen der unmittelbaren Ernährung. [...] Die Umwandlung von Getreide in Fleisch führt außerdem zu großen Verlusten in der Nahrungsenergiebilanz. Neue Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft entstehen auch durch den Anbau von Energiepflanzen auf Flächen, die dann nicht mehr für den Anbau von Nahrungsmittelpflanzen verwendet werden können. Es entsteht Nutzungskonkurrenz. [...] Durch Agrarsubventionen der Industrieländer waren die Weltmärkte mit wettbewerbsfähigen Billigprodukten gut versorgt, sodass die nationale und lokale Produktion von Nahrungsmitteln immer unattraktiver wurde. Stattdessen wurde importiert. [...] Deshalb hat auch die Förderung der Kleinbauernproduktion durch entwicklungspolitische Programme und Investitionen in den achtziger und neunziger Jahren keine nennenswerte Breitenwirkung gehabt. [...] Große Teile der Nahrungsproduktion gehen in Entwicklungsländern nach jeder Ernte verloren und verstärken die ohnehin hohe Unterversorgung mit Grundnahrungsmitteln in vielen Gebieten. Das gilt vor allem für die kleinbäuerlichen Betriebe in Afrika. Die Verluste liegen je nach Nahrungskultur zwischen 15 und 50 Prozent. [...] Hunger und Unterernährung sind nur dann in den Griff zu bekommen, wenn die Dynamik weltweiter Vernetzungen berücksichtigt wird. Dazu zählen langfristig wirkende Faktoren wie das Bevölkerungswachstum [...] Bisher haben – weltweit gesehen – die Zuwächse der Nahrungsmittelproduktion mit dem Bevölkerungswachstum Schritt gehalten. Obwohl bis zum Jahr 2050 ein Drittel Menschen mehr zu ernähren sein wird, ist die FAO vorsichtig optimistisch, dass dies auch so bleibt. [...] Produktion und optimale Nutzung ausreichender Nahrungsreserven für alle Menschen werden [...] [aber] durchaus zu einer neuen Herausforderung. über Jahrzehnte galt das Welternährungsproblem vor allem als eine Frage des gerechten Zugangs aller Menschen zu einem insgesamt ausreichenden Nahrungsangebot. Es könnte jedoch zukünftig zu einem Problem ausreichender Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln werden. Diese Gefahr wird die nationalen und internationalen Akteure der Landwirtschaftsentwicklung zunehmend beschäftigen.
Lioba Weingärtner / Claudia Trentmann, Deutsche Welthungerhilfe e. V. (Hg.), Handbuch Welternährung, Campus Verlag, Frankfurt a. M. / New York 2011, S. 15 ff.
Prof. Dr. rer. pol. habil. Herwig Birg war von 1981 bis 2004 Leiter des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) der Universität Bielefeld. Seine Hauptforschungsgebiete sind Bevölkerungstheorie, Fertilitätstheorie, Migrationstheorie, Mortalitätsanalyse und Lebenserwartung, Bevölkerungsprognose- und Simulationsmodelle sowie Bevölkerungsprojektionen. Kontakt: »herwig.birg@uni-bielefeld.de« Homepage:»www.herwig-birg.de«
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