Einleitung
Beim Blick in die Charta der Vereinten Nationen fällt auf, dass sich deren starke, auf kollektive Aktionen ausgerichtete Kapitel vor allem damit beschäftigen, wie zwischenstaatliche Kriege und Gewaltkonflikte zu verhüten bzw. zu beenden sind, während zentrale Themen wie die Menschenrechte oder die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eher programmatisch angesprochen werden und ihre Bearbeitung an teils noch zu schaffende Nebenorgane verwiesen wird. Verständlich wird diese Fokussierung vor allem aus dem Entstehungskontext der VN im Zweiten Weltkrieg. Es wird aber auch deutlich, dass die Staaten die Abgabe von Souveränitätsrechten an die neue Weltorganisation so überschaubar wie möglich halten wollten. Während Menschenrechte und Entwicklung erst in der weiteren politischen Praxis zu tragenden Säulen der VN werden sollten, war die Grundkonzeption für ein globales kollektives Sicherheitssystem von Beginn an fest in der Charta verankert. Dessen praktische Realisierung vollzog sich jedoch nicht getreu den Charta-Bestimmungen, sondern überwiegend anhand oft auch kreativer Interpretation durch die Staaten.
Kernprinzip Kollektive Sicherheit
Die Geschichte der internationalen Beziehungen ist seit jeher dadurch gekennzeichnet, dass Staaten militärische Gewalt einsetzen und Kriege führen, um ihre Interessen durchzusetzen. Jahrhundertelang galt dieses frei verfügbare Recht auf Krieg (liberum ius ad bellum) den Staaten als ein wichtiges Zeichen ihrer Souveränität. Angesichts der zunehmenden Verflechtung und gegenseitigen Abhängigkeiten im neuzeitlichen Staatensystem wurde gleichwohl immer wieder versucht, mithilfe von Mächtekonferenzen, Vertragssystemen oder Allianzen Kriege zu verhindern und so Schäden und Störungen im internationalen System zu minimieren. Beispielhaft zu nennen wären hier etwa der Berliner Kongress zur Balkan-Problematik 1878 oder die austarierte Vertragsdiplomatie des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck, aber auch das englisch-französisch-russische Bündnis, die so genannte Triple Entente, vor dem Ersten Weltkrieg. Die Katastrophen zweier Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts indes hatten der internationalen Gemeinschaft vor Augen geführt, wie fragil und unzulänglich diese Bestrebungen letztlich waren. Vor allem das Fehlen international akzeptierter Gewaltverbote sowie machtvoller Institutionen, um diese zu überwachen und durchzusetzen, erlaubte den Staaten immer wieder Krieg zu führen. Hier setzt der Ansatz der kollektiven Sicherheit ein, wie er vom Völkerbund erstmals und noch wenig erfolgreich in die internationale Politik eingebracht und dann von den Vereinten Nationen aufgegriffen und fortentwickelt wurde. Das Prinzip der Kollektiven Sicherheit geht davon aus, dass alle Staaten bereit sind, ihre Einzelinteressen und Souveränitätsrechte einem übergeordneten gemeinschaftlichen Interesse an friedlichen internationalen Beziehungen unterzuordnen und sich an der Errichtung eines globalen Friedenssicherungssystems zu beteiligen, welches seine Mitglieder wirksam davon abhält, einander mit Gewalt und Krieg zu überziehen. Anders als ein kollektives Verteidigungssystem wie etwa die NATO, das sich gegen äußere Gegner richtet, wendet sich ein kollektives Sicherheitssystem mit seinen Verpflichtungen wie auch seinen Sanktionsandrohungen an die eigenen Mitglieder. Idealerweise wäre eine solche Einrichtung wie eine Weltregierung konzipiert - da diese jedoch utopisch bleibt, muss ein entsprechendes System auf der freiwilligen Selbstverpflichtung der Staaten im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrages aufbauen, in welchem
den Staaten dauerhaft das Recht auf Gewalt entzogen wird und sich die Mitglieder gegenseitig zusichern, Konflikte friedlich auszutragen;
eine Instanz zur Überwachung dieser Friedensnormen geschaffen wird;
Maßnahmen bei Normverletzungen vereinbart werden.
Das Funktionieren dieses Systems ist jedoch von bestimmten Voraussetzungen abhängig: Die vereinbarten Normen und Mechanismen müssen eindeutig und allgemein verbindlich sein, und alle Mitgliedstaaten müssen darauf vertrauen können, dass sich möglichst alle, zumindest aber die weit überwiegende Zahl der Staaten auch an diese Regeln halten. Des Weiteren muss jeder friedliche Staat sich darauf verlassen können, dass ihm das System im Falle einer Aggression zu Hilfe eilt - was wiederum hohe Anforderungen an die Unparteilichkeit und Effektivität der zentralen Entscheidungsinstanz stellt.
An diesen hohen Anforderungen entzündet sich denn auch die grundsätzliche Kritik am Gedanken der kollektiven Sicherheit: Die Vertreter der realistischen Schule weisen darauf hin, dass auch zwischenstaatliche Entscheidungsgremien immer von den Interessen der dort vertretenen Akteure abhängen - sie sind also nicht als gänzlich unparteiisch zu betrachten. Auch lassen sich in komplexen Konflikten Aggressor und Opfer oft nicht eindeutig unterscheiden, was die Entscheidungsfähigkeit eines solchen Systems weiter einschränkt. Außerdem kann selbst in relativ eindeutigen Fällen das Problem auftreten, dass Staaten vor den mit einem kollektiven Vorgehen verbundenen Risiken und Kosten zurückscheuen - die naturgemäß umso größer ausfallen, je mächtiger der Friedensstörer ist. Kollektive Sicherheit erscheint aus dieser Sicht in erster Linie als ein Mechanismus, der allenfalls gegenüber kleineren Staaten erfolgversprechend ist, während größere Mächte weiterhin auf klassische eigenstaatliche Sicherheitsvorsorge und Allianzen setzen müssen. Diese keinesfalls unberechtigten Einwände lassen sich in der Frage zuspitzen, ob mit kollektiver Sicherheit nicht etwas schlechterdings Unmögliches versucht wird.
Ein Großteil dieser Kritik richtet sich jedoch gegen eine sehr idealtypische Auffassung von kollektiver Sicherheit. Diese verliert aber viel von ihrem Utopismus, wenn man sie wesentlich bescheidener als ein regelbasiertes Rahmenwerk für die Gestaltung internationaler Politik auffasst, das Bedingungen schafft, unter denen ein friedlicher Konfliktaustrag wahrscheinlicher wird als unter den Voraussetzungen globaler Anarchie. Es bietet alternative Formen der Konfliktbearbeitung unter Einschaltung von Institutionen, die zwar nicht völlig unparteiisch sein mögen, in denen Staaten und Mächte aber durch Normen und Verfahrensregeln zu Interessenausgleich und Kompromissen bewegt werden. Diese Regularien reduzieren zumindest die Willkür und machen Entscheidungen für die Staatenwelt tendenziell akzeptabler. Hierauf wiederum kann dann ein umfassenderes System kooperativer Sicherheit aufbauen, in welchem Staaten durch gegenseitige Konsultationen eine breite Palette von Organisationen, Institutionen, Verträgen oder lockereren Regimen hervorbringen, welche ihr Handeln in den unterschiedlichsten Bereichen leiten.
Das Sicherheitssystem der Charta
Das Gewaltverbot der UN-Charta wurde rasch zur weltweit akzeptierten Fundamentalnorm des modernen Völkerrechts. Mit dem Sicherheitsrat gibt es ein zumindest potenziell starkes und handlungsfähiges Organ, dem Artikel 24 der Charta die Hauptverantwortung für den Weltfrieden überträgt. Allerdings sorgte der Ost-West-Konflikt jahrzehntelang dafür, dass der Sicherheitsrat durch den gewohnheitsmäßigen Gebrauch des Vetorechts vor allem durch die Sowjetunion und die USA gelähmt war. Unter diesen Bedingungen konnte auch das kollektive Sicherheitssystem, so wie es in der Charta angelegt ist, nicht realisiert werden. Vielmehr entwickelten sich die wichtigsten Instrumente und Mechanismen der Friedenssicherung in Anlehnung und erweiternder Interpretation der nachfolgend dargelegten Charta-Bestimmungen.
Friedliche Streitbeilegung
Die in Artikel 2, Ziffer 3 der Charta festgelegte Verpflichtung der Staaten, ihre Streitigkeiten friedlich beizulegen, wird in Kapitel VI weiter ausgestaltet und präzisiert. So müssen sich gemäß Artikel 33 die "Parteien einer Streitigkeit, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden", zunächst bemühen, ihre Unstimmigkeiten durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch oder Gerichtsentscheidung oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl beizulegen. Der Sicherheitsrat kann sich auf Ansuchen eines VN-Mitglieds oder kraft eigener Autorität jeder Streitangelegenheit annehmen, von seinem Untersuchungsrecht Gebrauch machen (Art. 34) sowie Empfehlungen zu ihrer Beilegung aussprechen (Art. 36). Ihm fehlt jedoch an dieser Stelle ein Weisungsrecht, selbst einen formalen Vermittlungsvorschlag kann der Sicherheitsrat nach Artikel 38 nur vorlegen, wenn er von allen Streitparteien hierzu aufgefordert wird.
QuellentextWesentliche Bestimmungen des Kapitels VI
Artikel 33
(1) Die Parteien einer Streitigkeit, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden, bemühen sich zunächst um eine Beilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl. (2) Der Sicherheitsrat fordert die Parteien auf, wenn er dies für notwendig hält, ihre Streitigkeit durch solche Mittel beizulegen.
Artikel 34
Der Sicherheitsrat kann jede Streitigkeit sowie jede Situation, die zu internationalen Reibungen führen oder eine Streitigkeit hervorrufen könnte, untersuchen, um festzustellen, ob die Fortdauer der Streitigkeit oder der Situation die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte. [...]
Artikel 36
(1) Der Sicherheitsrat kann in jedem Stadium einer Streitigkeit im Sinne des Artikels 33 oder einer Situation gleicher Art geeignete Verfahren oder Methoden für deren Bereinigung empfehlen. (2) Der Sicherheitsrat soll alle Verfahren in Betracht ziehen, welche die Parteien zur Beilegung der Streitigkeit bereits angenommen haben. (3) Bei seinen Empfehlungen auf Grund dieses Artikels soll der Sicherheitsrat ferner berücksichtigen, dass Rechtsstreitigkeiten im allgemeinen von den Parteien dem Internationalen Gerichtshof im Einklang mit dessen Statut zu unterbreiten sind.
Artikel 37
(1) Gelingt es den Parteien einer Streitigkeit der in Artikel 33 bezeichneten Art nicht, diese mit den dort angegebenen Mitteln beizulegen, so legen sie die Streitigkeit dem Sicherheitsrat vor. (2) Könnte nach Auffassung des Sicherheitsrats die Fortdauer der Streitigkeit tatsächlich die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden, so beschließt er, ob er nach Artikel 36 tätig werden oder die ihm angemessen erscheinenden Empfehlungen für eine Beilegung abgeben will.
Artikel 38
Unbeschadet der Artikel 33 bis 37 kann der Sicherheitsrat, wenn alle Parteien einer Streitigkeit dies beantragen, Empfehlungen zu deren friedlicher Beilegung an die Streitparteien richten.
Im Spannungsfeld zwischen Staatensouveränität und kollektivem Handeln räumt Kapitel VI der ersteren den Vorrang ein: Die Wahl der Mittel und das Ausmaß der Ernsthaftigkeit ihrer Anwendung liegt bei den Staaten bzw. ihren Regierungen. Dieser souveränitätsschonende Ansatz ist einer Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten zwar einerseits sicher angemessen; andererseits liegt die Hauptschwäche der friedlichen Streitbeilegung in der oft mangelnden Bereitschaft der Staaten, sich gewaltvorbeugender Strategien zu bedienen. Stärkere Eingriffsmöglichkeiten des Sicherheitsrates unterhalb der Schwelle des Zwangs, etwa durch Anordnung eines Schiedsverfahrens, könnten nach Meinung vieler Fachleute das insgesamt eher schwache Kapitel VI aufwerten und eine effektivere Prävention ermöglichen.
Maßnahmen bei Friedensstörungen
Kommt es trotz der Bemühungen um friedliche Streitbeilegung zu einer fortdauernden Friedensstörung, kann der Sicherheitsrat nach Kapitel VII Zwangsmaßnahmen bis hin zur Anwendung militärischer Gewalt gegen den staatlichen Aggressor oder gegen die für die Friedensstörung verantwortlichen Staaten verhängen. Für ein Tätigwerden nach Kapitel VII schreibt dessen einleitender Artikel 39 vor, dass der Sicherheitsrat zunächst feststellen muss, ob eine Bedrohung bzw. ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. Kommt er zu der Einschätzung, dass einer dieser drei Tatbestände gegeben ist - fast immer ist dies bislang die Feststellung einer "Friedensbedrohung" gewesen -, kann er (unverbindliche) Empfehlungen zu ihrer Beseitigung aussprechen oder fordern, dass vorläufige Maßnahmen wie Appelle zur Beendigung von Kampfhandlungen befolgt werden.
QuellentextWichtige Bestimmungen des Kapitels VII
Artikel 39
Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen auf Grund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen. [...]
Artikel 41
Der Sicherheitsrat kann beschließen, welche Maßnahmen - unter Ausschluss von Waffengewalt - zu ergreifen sind, um seinen Beschlüssen Wirksamkeit zu verleihen; er kann die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, diese Maßnahmen durchzuführen. Sie können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegraphen- und Funkverbindungen sowie sonstiger Verkehrsmöglichkeiten und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen einschließen.
Artikel 42
Ist der Sicherheitsrat der Auffassung, dass die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben, so kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen. Sie können Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen einschließen. [...]
Artikel 48
(1) Die Maßnahmen, die für die Durchführung der Beschlüsse des Sicherheitsrats zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlich sind, werden je nach dem Ermessen des Sicherheitsrats von allen oder von einigen Mitgliedern der Vereinten Nationen getroffen. (2) Diese Beschlüsse werden von den Mitgliedern der Vereinten Nationen unmittelbar sowie durch Maßnahmen in den geeigneten internationalen Einrichtungen durchgeführt, deren Mitglieder sie sind. [...]
Artikel 51
Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.
Dauert die Friedensbedrohung fort, kann der Sicherheitsrat aber auch gegen den Willen der betroffenen Konfliktpartei(en) und ohne Zustimmung der anderen VN-Mitglieder Zwangsmaßnahmen verhängen. Damit gehören diese in jenen eng umgrenzten Bereich, innerhalb dessen die VN gegenüber ihren Mitgliedstaaten supranationale Befugnisse entfalten können. Dabei stellen diese Zwangsmaßnahmen keine Strafen dar, sondern kollektive Druckmittel, die einen Staat bewegen sollen, sein friedensstörendes Verhalten zu ändern, und die nach Ende der Friedensstörung wieder aufgehoben werden müssen. Bei der Begründung kollektiver Maßnahmen kommt dem Sicherheitsrat eine beachtliche Definitionsmacht zu. Galten bis 1990 Eingriffe in innerstaatliche Konflikte als praktisch ausgeschlossen, wurden diese spätestens seit der Somalia-Intervention der VN 1992/1993 fast zur Regel. Fast alle seither beschlossenen und mandatierten Friedenseinsätze betreffen innerstaatliche Vorgänge von Afghanistan bis zur Zentralafrikanischen Republik.
Bei der Anwendung von Zwang ist zwischen gewaltfreien Sanktionen (Art. 41) und militärischen Maßnahmen (Art. 42) zu unterscheiden. Artikel 41 zählt mögliche Sanktionsmaßnahmen auf. Sie reichen von der Unterbrechung von Wirtschaftsbeziehungen oder Kommunikations- und Verkehrsverbindungen bis zum Abbruch diplomatischer Beziehungen und können durch alle anderen gewaltfreien Maßnahmen ergänzt werden, die der Sicherheitsrat für geeignet und erforderlich hält, wie zum Beispiel die Einrichtung der Straftribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda. Hinzu kommen "maßgeschneiderte" Sanktionen wie der Einzug von Vermögen oder Reiseverbote gegen Einzelpersonen und Angehörige von Gruppen, die etwa des Terrorismus oder schwerer internationaler Verbrechen beschuldigt werden, so genannte smart sanctions. Wichtig ist, dass durch den Sicherheitsrat verhängte Sanktionen für alle, auch für am Konflikt nicht beteiligte Staaten verbindlich sind. Diese dürfen etwa im Falle von Handelsembargos keine Güter mehr in den Staat liefern, gegen den sich die Maßnahme richtet - was zu mitunter erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen führen kann. Wie die Zahl von 23 bislang verhängten (davon elf noch laufenden) Sanktionsmaßnahmen zeigt, wird in einer grundsätzlich konsensorientierten Organisation wie den Vereinten Nationen eher selten zu diesem Instrument gegriffen. Historisch begann die Verhängung von Sanktionen in den 1960er und 1970er Jahren durch Handelsbeschränkungen und Boykotte gegen die rassistischen Regime im damaligen Süd-Rhodesien (heute Simbabwe) und im Südafrika der Apartheid. Die umfassenden Handelsembargos gegen den Irak in den 1990er Jahren hatten den Nachteil, dass sich vor allem die Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung gravierend verschlechterten. Seither wird - neben Waffenembargos oder dem Verbot von Technologieverkäufen - vor allem versucht, die für friedensbedrohende Politiken verantwortlichen Eliten zu treffen, beispielsweise durch Reiseverbote oder das Einfrieren von Konten. Solche Maßnahmen sind gegenwärtig etwa gegenüber den Machthabern im Sudan und in Nordkorea in Kraft.
Wenn dem Konflikt militärisch begegnet werden soll, kann der Sicherheitsrat entscheiden, ob er selbst einen entsprechenden Einsatz durchführt, gemäß Artikel 48 Mitgliedstaaten hierzu ersucht bzw. autorisiert oder aber regionale Bündnisse gemäß Kapitel VIII (also etwa die OSZE oder die Afrikanische Union) in Anspruch nehmen will. In der Praxis hat der Sicherheitsrat keine einzige militärische Aktion selbst durchgeführt, weil sich die Staaten bislang geweigert haben, über die dafür erforderlichen Sonderabkommen zur Truppenbereitstellung (Art. 43) auch nur zu verhandeln, geschweige denn auf einer verlässlichen Basis Truppen zu stellen. Folglich konnte auch der zur Führung solcher Operationen vorgesehene Generalstabsausschuss (Art. 47) nie aktiv werden.
Ohne Truppen fehlt den VN bislang ein Herzstück eines funktionierenden und vor allem rasch handlungsfähigen kollektiven Sicherheitssystems. Dies bedeutet freilich nicht, dass militärische Maßnahmen nicht möglich wären - die große Zahl der Friedensmissionen wie auch das Tätigwerden im Golfkrieg 1990/91 belegen dies. Aber die Vereinten Nationen sind bei den Verfahren, nach denen sich die Praxis ihrer Friedenssicherung entwickelte, auf die Unterstützung durch ihre Mitgliedstaaten angewiesen - die diese in jedem Einzelfall wieder von ihren Interessen und Güterabwägungen abhängig machen. In der Folge richtet sich die Entscheidung für oder gegen eine Maßnahme oft nicht nach den Erfordernissen des zu bearbeitenden Konflikts, sondern danach, wie groß das Interesse insbesondere der großen Mächte an seiner Lösung ist. Dies kann die Art und Qualität von Einsatzentscheidungen beeinträchtigen und birgt die Gefahr von Effektivitätsverlusten. Aber auch die Beschlüsse des Sicherheitsrates, als zentrale Instanz dieses Systems, können dadurch an Legitimität verlieren.
Der Sicherheitsrat und der Weltfrieden
Die Charta stellt den Sicherheitsrat ins Zentrum des von den Vereinten Nationen gebildeten kollektiven Sicherheitssystems. Sie stattet ihn mit der weltweit einzigartigen Befugnis aus, zum Zwecke der Wahrung von Frieden und internationaler Sicherheit Beschlüsse zu fassen, welche alle anderen Staaten befolgen und umsetzen müssen (Art. 25). Dies macht ihn zum mit Abstand mächtigsten Hauptorgan der Weltorganisation.
Der aus fünf ständigen (China, Frankreich, Russland, USA und Vereinigtes Königreich) sowie zehn nichtständigen, für zwei Jahre gewählten Mitgliedern bestehende Sicherheitsrat kann sich mit jeder Angelegenheit befassen, die er entweder selbst für potenziell friedensbedrohlich hält oder auf die ihn der VN-Generalsekretär oder ein Mitgliedstaat aufmerksam macht.
QuellentextIm Hamsterrad zum Weltfrieden
[...] Da sitzen sie, die Vertreter von 15 Staaten, und alles ist so spartanisch wie eh und je. Jeder hat eine Schreibunterlage, ein Zettelkästchen und zwei Bleistifte vor sich, dazu das Mikro und den Kopfhörer. [...]
An einem Platz liegt zusätzlich ein hölzernes Hämmerchen. Wer da sitzen darf, ist einen Monat lang der Vorsitzende im Club, und wenn er einen Beschluss zu verkünden hat, dann haut er zur Bekräftigung mit dem Hämmerchen auf einen flachen Teller aus Holz. Manche hauen zu fest, man erkennt daran den Anfänger. [...]
Im Sicherheitsrat zu sein, das ist ein bisschen wie zwischen rivalisierenden Straßengangs. Auf der einen Seite sind die Big Boys mit den dicken Knüppeln. Die sind in der Straße seit langem zu Hause, sie betrachten sie als ihr ureigenes Territorium, das es zu verteidigen gilt, und zwar mit allen Mitteln. Auf der anderen Seite sind die Zugereisten, die nicht lange bleiben werden und gerade deshalb darauf drängen, sich mit Mutproben hervorzutun. Sie sind zahlenmäßig stärker, aber sie haben keine Knüppel, kennen das Revier nicht, und eine Einheit müssen sie erst noch werden.
Im Sicherheitsrat heißen die Big Boys P 5 (P für permanent), es sind die fünf ständigen Mitglieder, die von Anfang an dabei sind. Ihr Knüppel ist das Vetorecht. Die P 5 halten sich für die Eigentümer des Sicherheitsrats, was sie die zehn nichtständigen Mitglieder auch spüren lassen. Das sind die E 10 (E für elected, gewählt), von den P 5 geringschätzig "Touristen" genannt. Manchmal freilich sind sich die P 5 selber nicht einig, das ist dann die große Chance der anderen. [...]
Oft kommen Konflikte im Sicherheitsrat gar nicht richtig zur Sprache, weil einer der P 5 schützend seine Hand über den Delinquenten hält. Die USA tun das für Israel, die Chinesen für Simbabwe, Birma, Pakistan. Geraten im Bürgerkrieg Sri Lankas Hunderttausende Zivilisten zwischen die Fronten, sagen die Chinesen, nein, das behandeln wir nicht, das ist eine Einmischung in innere Angelegenheiten. In einem solchen Fall kommt es zum "informal interactive dialogue", was bedeutet, dass die Sache trotzdem besprochen wird, aber so, dass die Chinesen ihr Gesicht wahren und hinterher sagen können, offiziell sei sie nicht besprochen worden. [...] Die angebliche "innere Angelegenheit" ist das beliebteste Totschlagsargument im Rat. [...] Aber selbst wenn Einigkeit herrscht im Rat und die Entsendung einer Blauhelmtruppe beschlossen wird, ist das beileibe kein Mittel zur schnellen Eindämmung von Konflikten.
Erst müssen die Truppen gefunden und rekrutiert werden [...]. Hinzu kommt, dass die Mandatstexte für solche Missionen immer länger und umfangreicher werden, weil da die nichtständigen Mitglieder eine Möglichkeit sehen, Spuren zu hinterlassen. [...] Den Regierungen daheim mag es ein willkommener Leistungsnachweis sein, die ohnehin kaum verdauliche UN-Prosa aber wird durch die vielen Zusätze nur noch schwerer. Und dem Blauhelm- Kommandeur vor Ort machen sie die Entscheidungen nicht leichter. [...]
Aber am Ende wird es sowieso nicht darum gehen, mit einem Thema zu glänzen, als vielmehr bereit zu sein für sehr viel Arbeit. Der Rat ist weniger die große Bühne als vielmehr das ewige Hamsterrad. Die Vielzahl von Konflikten und gescheiterten Staaten lässt es kaum noch zur Ruhe kommen. Es gab Zeiten, da tagte der Sicherheitsrat alle paar Wochen, heute sind fast jeden Tag Sitzungen, Sonntage und hohe Feiertage nicht ausgeschlossen. [...] Der Sicherheitsrat hat 25 Unterausschüsse, die von allen 15 Mitgliedern zu beschicken sind. Wer sie jeweils leiten darf, entscheiden die P 5 in eigener Machtvollkommenheit. [...] Was bevorsteht, sind endlose Sitzungen, schwierigste Konsultationen, und wer dann irgendwann noch unterscheiden kann zwischen der realen und der virtuellen Welt, der fragt sich vielleicht, wie es sein kann, dass erwachsene Menschen stundenlang um ein Wort oder einen Halbsatz feilschen. Die Neuen werden die ungeschriebenen Regeln des Rates lernen müssen, die prozeduralen Tricks, und wenn sie fit genug sind, um mitzurennen im Hamsterrad, ist die zweijährige Amtszeit schon fast wieder vorbei. Der Weltfrieden wird dann nicht ausgebrochen sein, im Gegenteil: Die Welt wird wohl um den einen oder anderen schmutzigen Konflikt reicher sein, und der Sicherheitsrat wird nichts daran geändert haben. Oder nur wenig. [...]
Stefan Klein, "Dabeisein ist alles", in: Süddeutsche Zeitung vom 29. Dezember 2010
Dabei ist der Sicherheitsrat kein Weltgericht, sondern ein politisches Gremium, dessen Bewertungen und Entscheidungen maßgeblich von den politischen Opportunitätserwägungen vor allem der fünf ständigen Mitglieder abhängen. Da jeder dieser "Großen Fünf" eine Entscheidung des Rates durch sein Veto verhindern kann, sind sie auf Konsultationen und die Suche nach tragfähigen Kompromissen angewiesen - was theoretisch ein durchaus geeignetes Verfahren ist, willkürliche Machtausübung zu reduzieren. In der politischen Praxis indes kam es im Sicherheitsrat immer wieder zu teils dauerhaften Blockaden, um eigene Interessen zu verfolgen oder um befreundete Staaten zu schützen: Damit konnte dieses wichtige Gremium seiner vorrangigen Verantwortung für den Frieden nicht oder nur sehr eingeschränkt gerecht werden. In solchen Situationen ist es bis in die jüngere Zeit immer wieder auch zu Aktionen ohne Beteiligung des Sicherheitsrates gekommen - etwa 1999 beim NATO-Luftkrieg um das Kosovo oder beim Angriff der USA auf den Irak 2003. Mit beiden Kriegen wurde - wenn sich auch Anlässe und Rahmenbedingungen unterschieden - das kollektive Sicherheitssystem der VN missachtet und schwer beschädigt.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verbesserte sich die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern des Sicherheitsrates und ermöglichte substanzielle Veränderungen gerade auch auf dem Gebiet der Friedenssicherung. Gleichzeitig brachten auf allen Kontinenten neu oder wieder auftretende Konflikte neue Anforderungen hervor: Erblickt das Friedenssicherungssystem der Charta die Hauptgefahr für den Weltfrieden vor allem im klassischen zwischenstaatlichen Krieg, so verlagert sich das weltweite Konflikt- und Kriegsgeschehen neuerdings zunehmend in den innerstaatlichen Bereich. In diesen hineinzuwirken, erschwert jedoch die Interventionsschranke des Artikel 2, Ziffer 7 der Charta, die der Organisation untersagt, sich in die inneren Angelegenheiten ihrer Mitglieder einzumischen. Durch extensive Nutzung des Interpretationsspielraums, den der Begriff der Friedensbedrohung in Artikel 39 eröffnet, dehnte der Sicherheitsrat seinen Zuständigkeitsbereich schrittweise auch auf innerstaatliche Konflikte, Menschenrechtsverletzungen oder humanitäre Katastrophen aus. Seit der Intervention in Somalia 1992/93 begründen innerstaatliche Auseinandersetzungen immer wieder ein Eingreifen des Sicherheitsrates - die große Mehrheit aller seither begonnenen VN-Friedensmissionen befasst sich mit Vorgängen innerhalb der Grenzen meist nicht mehr oder nur eingeschränkt funktionsfähiger Staaten (failed states).
Mit der Einsetzung der Straftribunale für das ehemalige Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) und dem Erlass der dafür erforderlichen Statuten hat der Sicherheitsrat zudem dafür gesorgt, dass schwerste internationale Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen in ihren Tatbeständen erfasst und verfolgt werden können. So wurde die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes maßgeblich vorangebracht.
Seit den Terroranschlägen auf die USA vom 11. September 2001 hat der Sicherheitsrat zudem unter Berufung auf Kapitel VII die Staatenwelt verpflichtet, zahlreiche auch gesetzliche Maßnahmen - etwa zur Unterdrückung der Terrorismus-Finanzierung - zu unternehmen und sich so zu einer Art von globalem Gesetzgeber aufgeschwungen. Angesichts seiner fehlenden demokratischen Legitimation ist dies alles andere als unproblematisch. Andererseits konnte er so bestehende völkerrechtliche Verträge, deren Ratifikation durch die Mitgliedstaaten ins Stocken geraten war, auf dem Resolutionswege direkt in Kraft setzen. Damit hat sich der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung für den Frieden deutlich breitere und den neuen Erfordernissen wahrscheinlich auch angemessenere Handlungsspielräume geschaffen.
QuellentextStraftaten müssen verfolgt werden - unabhängig vom Amt
IP: Frau Del Ponte, mit dem sudanesischen Staatspräsidenten Omar al Bashir ist jetzt erstmals ein amtierender Politiker beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt worden. Ist es klug, Politiker anzuklagen, die noch im Amt sind?
Carla Del Ponte: Wir sollten nicht fragen, ob es um einen amtierenden oder einen ehemaligen Politiker geht. Wir sollten uns nur die Fakten anschauen. Wenn Straftaten begangen wurden und Beweise vorliegen, dann haben wir Grund für eine Anklage. [...]
IP: Sollte man die Strafverfolgung also ganz von der Politik trennen?
Del Ponte: Ja. Es geht hier um eine rein juristische Frage: Haben wir konkrete Indizien, dass jemand einer schweren Straftat schuldig ist? Konkrete Indizien kommen von der internationalen Gemeinschaft, von der Presse, von den NGOs. Sind konkrete Indizien oder Beweise vorhanden, muss man ein Strafverfahren eröffnen.
IP: Die Kriegsverbrechertribunale hatten immer wieder mit ähnlichen Problemen zu kämpfen: Die Staaten, aus denen die Täter stammten, kooperierten nicht; auch die Unterstützung durch die westlichen Staaten ließ bisweilen zu wünschen übrig. Was muss geschehen, damit sich das ändert?
Del Ponte: Staaten kooperieren nicht, weil es im internationalen Recht so vorgeschrieben ist, sondern nur dann, wenn sie politischem Druck ausgesetzt sind. Also sollte die internationale Gemeinschaft Druck auf diese Länder ausüben, damit sie voll kooperieren.
IP: Sehen Sie die Möglichkeit, dass auch westliche und einflussreiche Staaten zum Gegenstand von Kriegsverbrechertribunalen werden?
Del Ponte: Es gibt neben den Ad-hoc- Tribunalen auch noch das permanente Tribunal, den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag. Dieser Gerichtshof ist zuständig für alle Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermord. Zwar erstreckt sich seine Zuständigkeit nur auf diejenigen Staaten, die das Rom-Statut unterzeichnet haben, die Gründungsurkunde des ICC. Doch das allein ist schon ein großer Schritt.
IP: Für Staaten wie die USA, die das Rom- Statut nicht unterzeichnet haben, ist es jetzt ganz einfach, sich der Verfolgung zu entziehen ...
Del Ponte: [...] Ich glaube, dass die großen Staaten, die noch nicht dabei sind, ebenfalls mitmachen werden, wenn sie sehen, dass das Tribunal unabhängig und korrekt arbeitet. [...]
IP: Ist denn ein Gerichtshof, der keine westlichen Politiker anklagt, überhaupt ernst zu nehmen?
Del Ponte: Ja. Denn wir sprechen hier von Straftaten, nicht von Politik. In Den Haag wurden wir immer wieder gefragt, warum wir ein Verfahren gegen den einen eröffneten und gegen den anderen nicht. Wir prüften dann, ob wir genügend Material hatten, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Und manchmal lautete die Antwort schlicht und ergreifend: Nein, denn wir haben schon zehn Verfahren eröffnet und nicht die Mittel für weitere Prozesse. Was den permanenten Gerichtshof angeht, so gibt es für ihn ein zusätzliches einschränkendes Element: das Subsidiaritätsprinzip. Das bedeutet, dass wir zunächst fragen müssen, ob der Staat,in dem das Verbrechen geschah, schon selbst etwas unternommen hat. Den Haag kann nur dann tätig werden, wenn die nationalen Gerichte sich nicht kümmern.
IP: Das ist bei Kriegsverbrechertribunalen anders.
Del Ponte: Richtig, dort gibt es das Subsidiaritätsprinzip nicht. Das Tribunal in Den Haag hatte den Erstzugriff bei den Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, und das Tribunal in Arusha hatte den Zugriff bei den Völkermordverbrechen in Ruanda. [...]
IP: Wie kann die internationale Strafgerichtsbarkeit mit privaten Sicherheitskräften oder Unternehmen umgehen, die in Kriegen und Bürgerkriegen gegen Gesetze verstoßen?
Del Ponte: Wir hatten in den Balkan- Kriegen Paramilitärs, die sich an den Kämpfen und Verbrechen beteiligt haben. Die haben wir natürlich genauso behandelt wie die "offiziellen" Soldaten. [...] Auch ein Zivilist kann solche Straftaten begehen und dafür zur Verantwortung gezogen werden. [...]
IP: Die Arbeit der Tribunale wird durch die Unterschiede zwischen dem angelsächsischen und dem europäischen Recht erschwert. Wie kann das in Zukunft vermieden werden?
Del Ponte: Die Strafprozessordnung ist derzeit ein Mix aus beiden Ordnungen. Wir wollten das Beste aus beiden Systemen, aber das war im Grunde unmöglich. [...] Jetzt richtet man sich danach, wie die Mehrheit der Richter ausgebildet ist. [...] Wir haben zwar noch keine internationale Prozessordnung, aber ich denke, sie wird am Internationalen Strafgerichtshof entwickelt werden - vielleicht in der nächsten Runde internationaler Tribunale. [...]
"Wir müssen Justiz und Politik trennen". Interview von Bettina Marx mit Carla Del Ponte, Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (1999 -2007) und für den Völkermord in Ruanda (1999 - 2003) in Den Haag, in: Internationale Politik, März/April 2011, S. 84ff.
Bei aller bewiesenen Anpassung spiegelt die Zusammensetzung des Sicherheitsrates mit Blick auf die ständigen Mitglieder die Machtverhältnisse zum Ende des Zweiten Weltkrieges und bei den nichtständigen Mitgliedern die Zusammensetzung der Organisation Mitte der 1960er Jahre wider. Auch in seinen Arbeitsweisen folgt der Rat auf der Grundlage seiner aus den 1940er Jahren datierenden und weiterhin vorläufigen Geschäftsordnung häufig noch immer wenig transparenten Entscheidungsverfahren. Selbst wenn das Veto nicht mehr oft eingelegt wird (mehr als 1300 Resolutionen sind seit 1990 verabschiedet worden gegenüber knapp über 600 in den 45 Jahren davor), gehört die Drohung, eine Entscheidung zu blockieren, weiterhin zu den wichtigen Machtmitteln der "Großen Fünf", um Verhandlungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Damit passt der Sicherheitsrat in seiner derzeitigen Konstellation immer weniger zur Situation der Welt im 21. Jahrhundert, was die Debatte um seine grundlegende Reform seit mehr als 15 Jahren auf der internationalen Agenda hält.
VN-Friedenssicherung im Wandel
Da sich das Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen nicht wie in der Charta vorgesehen entfalten konnte, musste die Organisation alternative Formen der Friedenssicherung entwickeln, die einerseits den Anforderungen eines sich wandelnden Kriegs- und Konfliktgeschehens entsprachen und andererseits nicht den Interessen bzw. den Souveränitätsansprüchen der Mitgliedstaaten zuwiderliefen. Mit den bereits in den 1940er Jahren eingesetzten Beobachtungsmissionen zur Überwachung von Waffenstillständen etwa in Palästina (UNTSO) oder im Kaschmirtal zwischen Indien und Pakistan (UNMOGIP) sowie den ab Mitte der 1950er Jahre eingesetzten Friedenstruppen - den nach der Farbe ihrer Kopfbedeckung so genannten Blauhelmen - entstand eine eigene Form der VN-Friedenssicherung, für die sich der englische Begriff des peacekeeping eingebürgert hat. Der Charta wurde so quasi ein informelles "Kapitel sechseinhalb" hinzugefügt, angesiedelt zwischen den Verfahren der friedlichen Streitbeilegung und dem Einsatz militärischer Gewalt. In den mehr als 60 Jahren seines Einsatzes hat dieses peacekeeping in flexibler Weise eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Instrumente und Operationstypen herausgebildet, zu deren Kategorisierung häufig das so genannte Generationenmodell verwendet wird.
In seiner klassischen, auch alle nachfolgenden Generationen stark prägenden Form stellt peacekeeping ein Verfahren der militärischen Friedenssicherung dar, das nicht auf Zwang beruht. Getreu der Maxime "there is no peacekeeping if there is no peace to keep" (frei übersetzt: "Man kann einen Frieden nur erhalten, wenn er zuvor beschlossen wurde"), verlangt dieser Ansatz zunächst eine tragfähige Waffenruhe bzw. einen Friedensschluss, der dann durch die Friedensschützer überwacht wird. Diese Missionen folgen dabei im Wesentlichen einem Muster, das im Zuge des ersten großen Blauhelmeinsatzes, der UN Emergency Force (UNEF I) nach dem Suez-Krieg 1956, entwickelt wurde. Dort hatten nach der Blockade des Suez-Kanals durch den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser Frankreich, Großbritannien und Israel militärisch interveniert und im Zuge ihrer Operation die gesamte Sinai-Halbinsel besetzt. Der anschließende Waffenstillstand sah die Überwachung der entmilitarisierten Sinai-Halbinsel durch die VN-Friedenstruppe vor. Seitdem sind klassische Blauhelm-Missionen stets durch folgende vier Merkmale gekennzeichnet:
Konsens der Konfliktparteien über den Einsatz der Blauhelmtruppe, was deren Akzeptanz erhöht;
Unparteilichkeit, das heißt, die Blauhelme wirken als ein Puffer zwischen den Streitkräften der Konfliktparteien und beugen so der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen vor, ohne eigene Eingriffsbefugnisse zu besitzen;
Einsatz leichter Handwaffen nur zur Selbstverteidigung, wobei Beobachtungsmissionen grundsätzlich unbewaffnet sind;
die Verantwortung für den Einsatz liegt bei den VN unter einem Mandat des Sicherheitsrates (bis Anfang der 1960er Jahre auch unter einem Mandat der Generalversammlung). Die operative Verantwortung liegt beim Generalsekretär, der für die Führung der Mission je einen politischen Sonderbeauftragten sowie einen Truppenkommandeur ernennt. Vorbereitet und unterstützt wird der Einsatz durch das Department of Peacekeeping Operations (DPKO) und das Department of Field Support (DFS) im Sekretariat.
Die Phase des klassischen peacekeeping erstreckte sich über 40 Jahre von 1948 bis 1988. In dieser Zeit wurden 15 Friedensmissionen begonnen, von denen einige, wie die in Israel/Palästina, im Kaschmirtal, auf den Golan-Höhen, im Libanon oder auf Zypern bis heute andauern.
Die Annäherung der Großmächte im zu Ende gehenden Ost- West-Konflikt führte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nach einer längeren Unterbrechung zu einer Wiederaufnahme des peacekeeping. 1988 wurden auch die VN-Blauhelme mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Seither ist die Gesamtzahl der von den Vereinten Nationen begonnenen und teilweise abgeschlossenen Friedensmissionen auf derzeit 64 angewachsen, 14 Friedensmissionen sowie eine vom DPKO geführte politische Mission befinden sich im laufenden Einsatz (Stand März 2011).
Doch die internationalen Friedensmissionen veränderten sich nicht nur in quantitativer, sondern vor allem in qualitativer Hinsicht. Die schrittweise Erweiterung seiner Befugnisse und Zuständigkeiten ermöglichte dem Sicherheitsrat zunehmend das Eingreifen in innerstaatliche Auseinandersetzungen und "neue Generationen" internationaler Friedensmissionen. Die Konzeption dafür legte VN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali 1992 in seiner "Agenda für den Frieden" vor. Darin definierte er die bis heute verwendeten Begriffe der "Friedens-Familie": Präventive Diplomatie, Friedensschaffung, Friedenssicherung und Friedenskonsolidierung.
Zur Pufferfunktion gesellte sich bei den Friedensmissionen der "zweiten Generation", wie sie in Lateinamerika, Afrika und Asien zum Einsatz kamen, ein wesentlich breiteres Aufgabenspektrum. Hierzu gehörten Hilfen für Staaten in Übergangsoder nationalen Versöhnungsprozessen, die Unterstützung demokratischer Entwicklungen, die Entwaffnung und Reintegration von Kämpfern und Bürgerkriegsparteien, die Repatriierung von Flüchtlingen bis hin zu einer zeitweisen Übernahme quasi-hoheitlicher Funktionen für ganze Länder - wie sie in Namibia 1989/90 oder in Kambodscha 1992/93 erfolgreich praktiziert wurde. Dominierte in klassischen Friedensoperationen das Militär, erforderten Missionen der "zweiten Generation" in zunehmendem Maße zivile Experten etwa aus den Bereichen Zivilpolizei, Rechtspflege, öffentliche Verwaltung oder humanitäre Hilfe. Insgesamt verlagerte sich der Aufgabenschwerpunkt dieser Missionen auf die Konsolidierung in der Konfliktfolgezeit und den (Wieder-)Aufbau von Gemeinwesen. Die Missionen bildeten die Grundlage für die großen multidimensionalen Einsätze zur Friedenskonsolidierung (peacebuilding), die ein knappes Jahrzehnt später zum Regelfall von VN Friedensmissionen werden sollten.
QuellentextDie Agenda für den Frieden (1992)
In seiner 1992 auf Ersuchen des Sicherheitsrates vorgelegten "Agenda für den Frieden" hat der damalige VN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali ein bis heute gültiges Grundlagendokument zur konzeptionellen Erfassung der VN-Aktivitäten im Bereich der Friedenssicherung vorgelegt.
Vorbeugende Diplomatie (preventive diplomacy): zielt darauf, Spannungen abzubauen, und Konflikteskalationen vorzubeugen, indem sie die ihnen zugrundeliegenden Ursachen beseitigt. Zum Einsatz kommen können z.B. vertrauensbildende Maßnahmen, Frühwarnungen, entmilitarisierte Zonen oder vorbeugende Blauhelmeinsätze.
Friedensschaffung (peacemaking): strebt nach einem systematischen Ausbau der in Kapitel VI der Charta angelegten Verfahren. Maßnahmen nach Kapitel VII (enforcement) sollen energisch umgesetzt werden, wozu nach Auffassung des Generalsekretärs auch gehört, dass dem Sicherheitsrat nach Art. 43 der Charta Truppen zur Verfügung gestellt werden.
Friedenssicherung durch Blauhelme (peacekeeping): dieses Instrument soll konzeptionell so fortentwickelt werden, dass es den sich verändernden Konflikttypen angemessen eingesetzt werden kann.
Friedenskonsolidierung (peacebuilding): zielt auf den dauerhaften Übergang von der Gewalt zum Frieden. Dazu gehören Entwaffnung der Konfliktparteien, Minenräumung, Rückführung von Flüchtlingen, Aussöhnung sowie der Neuaufbau der staatlich-politischen Ordnung.
Übersicht über die laufenden VN-Friedensoperationen
Übersicht über die laufenden VN-Friedensoperationen
Waren diese Fortentwicklungen des peacekeeping-Konzepts insoweit noch eher gradueller Natur, als die Missionen weiterhin auf den Blauhelm-Prinzipien aufbauten und in post conflict scenarios (Nachkonflikt-Szenarien) stattfanden, also in einem relativ friedlichen Umfeld, gerieten die Einsätze der "dritten Generation" rasch mit diesen bewährten Prinzipien in Konflikt. Mit dem Mandat für die Operation UNOSOM II in Somalia wurde 1993 erstmals seit Jahrzehnten ein Blauhelm-Mandat auf der Grundlage von Kapitel VII mit der Anwendung von militärischem Zwang verbunden. UNOSOM II scheiterte nicht zuletzt an diesem Widerspruch: Statt einen zwischen den Parteien ausgehandelten Frieden zu schützen, sollten die Blauhelme diesen erzwingen (peace enforcement), wurden zur Konfliktpartei und nach erheblichen Verlusten abgezogen.
Nicht zuletzt als Folge des Somalia-Debakels verweigerte der Sicherheitsrat im Falle Ruandas im Frühjahr 1994 trotz eines angekündigten Genozids die vom zuständigen Befehlshaber/ Einsatzleiter beantragte Aufstockung der im Land stehenden Blauhelmtruppe und deren Ausstattung mit einem robusten Mandat. Zudem zogen nach dem Ausbruch der Gewalttätigkeiten eine Reihe von truppenstellenden Staaten ihre Kontingente zurück. Innerhalb weniger Wochen starben daraufhin fast eine Million Menschen in einem seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellosen Völkermord. Die zögerliche Haltung der VN, die indes vor allem auf die mangelnde Handlungsbereitschaft führender Sicherheitsrats-Mitglieder wie der USA zurückzuführen war, führte so zu einem Fehlschlag von bis dahin ungekannter tragischer Dimension. Im ehemaligen Jugoslawien schließlich wurde mit der UN Protection Force (UNPROFOR) zunächst versucht, klassisches peacekeeping zu betreiben. Allerdings erwies sich auch hier sehr bald, wie unzulänglich ein an sich bewährtes Instrument in einem Kontext wirkt, für den es nicht geschaffen wurde. Blauhelme wurden eingesetzt, ohne dass es eine Basis durch verlässliche Abkommen zwischen den Streitparteien gegeben hatte. Die Truppe geriet zwischen Fronten, von denen häufig nicht klar war, ob sie von regulären Streitkräften oder marodierenden Banden gebildet wurden. Blauhelme wurden als Geiseln genommen und mussten den Geschehnissen wie in der Tragödie von Srebrenica im Juli 1995 ohnmächtig zusehen.
Die Einsätze im Rahmen dieser "dritten Generation" von peacekeeping warfen so ein negatives Schlaglicht auf die VN und deren Fähigkeit zur Durchführung von anspruchsvollen Friedensmissionen. Die häufig nur unzureichend vorbereiteten enforcement-Einsätze offenbarten massive Führungsprobleme im Apparat der Vereinten Nationen und scheiterten auch daran, dass keine der Vielzahl und der Komplexität der neuen Missionen angemessenen Kräfte, Mittel und Verfahren zur Verfügung standen. Zudem zeigte sich in Ruanda, vor allem aber auf dem Balkan, dass sich entscheidende Mitgliedstaaten allenfalls lose an die erteilten Mandate bzw. die Erfordernisse der Lage im Einsatzland gebunden fühlten. Trotz der Verweigerung konsequenter Unterstützung durch die Mitgliedstaaten wurden die Katastrophen in Ruanda und Bosnien-Herzegowina in erster Linie den VN angerechnet. Vor diesem Hintergrund ging die Bereitschaft vieler Staaten gerade in der westlichen Welt zurück, ihre Soldaten in VN-Missionen zu entsenden. 1995 ging die Verantwortung für die militärische Friedenssicherung in Bosnien-Herzegowina auf die NATO über, womit ein Trend einsetzte, Verantwortlichkeiten von den VN auf Regionalorganisationen zu übertragen. Die Organisation geriet in ihrem ureigenen Aufgabenfeld in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise.
Komplexe Aufgaben in der Friedenskonsolidierung
Mit dem Kosovo-Krieg von 1999 kehrten die VN in den Bereich der Friedenssicherung zurück. Gemeinsam mit der NATO, der EU und der OSZE brachten sie in Gestalt der VN-Übergangsverwaltung im Kosovo (UNMIK) einen neuen Typus von Friedensoperationen hervor. Dieser Ansatz ist multidimensional angelegt: Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen internationalen Organisationen und Staaten wird durch die weitere Ausdifferenzierung der Funktionsbereiche auf der Arbeits- und Expertenebene verstärkt, wo zunehmend Zivilpolizisten, Experten für Verwaltung und Infrastruktur sowie Juristen und Entwicklungshelfer tätig werden. Hinzu treten zahlreiche nichtstaatliche Organisationen, die mehr oder minder koordiniert mit oder neben den staatlichen Akteuren wirken.
Die Hauptaufgabe solcher integrierter Missionen einer "vierten Generation" ist der (Wieder-)Aufbau nachhaltig tragfähiger Strukturen, um nach einem zerstörerischen Konflikt den Rückfall in die Gewalt zu verhindern. Für dieses Anliegen hat sich im VNSprachgebrauch der Begriff Friedenskonsolidierung (post-conflict peacebuilding) eingebürgert. Im Zentrum steht dabei zumeist ein vom Sicherheitsrat erteiltes robustes militärisches Mandat, das eine vereinbarte Friedensregelung schützen soll. Die Durchführung dieses Einsatzes obliegt entweder den Vereinten Nationen selbst (wie in Ost-Timor) oder regionalen Organisationen wie der NATO (Kosovo, noch Bosnien-Herzegowina), neuerdings der EU (seit Ende 2004 Bosnien-Herzegowina), der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS, Liberia), der Afrikanischen Union (AU, Sudan) oder aber Ad-hoc-Koalitionen (Afghanistan 2001/02).
Die vielfältigen zivilen Dimensionen dieser komplexen Friedensoperationen (peace operations) erfordern die verschiedensten Kompetenzen, welche bei den Vereinten Nationen etwa auf dem Gebiet der humanitären Hilfe (Welternährungsprogramm, UNICEF) oder der Sorge um Flüchtlinge (UNHCR), bei der EU in wirtschaftlichen Fragen oder bei der OSZE im Bereich der Wahlorganisation bzw. des Aufbaus demokratischer Institutionen angesiedelt sind. In der UNMIK kooperierten die genannten Organisationen unter einem gemeinsamen VN-Dach, während der militärische Schutz durch die NATO gewährleistet wurde. Im Falle der Übergangsverwaltung in Ost-Timor (UNTAET) wurden alle zivilen Aufgaben wie auch die militärische Schutzfunktion durch die VN selbst wahrgenommen. In Afghanistan wiederum ist eine nationale politische Führung für den Staatsaufbau verantwortlich. Eine NATO-geführte multinationale Friedenstruppe (ISAF) und eine politische Mission der Vereinten Nationen (UNAMA) unterstützt sie dabei.
Diese zunehmend engere Verbindung von peacekeeping und peacebuilding im Rahmen umfassender Missionen der "vierten Generation" prägt seither die internationale Friedenssicherung. Deren wesentliches Kennzeichen dürfte darin bestehen, dass es kein einheitliches Muster für den Zuschnitt von Operationen gibt. Jede Mission muss in Mandat und Zusammensetzung individuell ausgerichtet werden, wobei dabei durchaus flexibel auf Elemente aus vorangegangenen Generationen zurückgegriffen werden kann, vor allem jedoch jeweils neuartige Instrumente zu entwickeln sind.
Diesen wachsenden Aufgaben standen die VN lange ohne hinreichende institutionelle bzw. operative Kapazitäten gegenüber. Dies hatte zur Folge, dass in vielen Bürgerkriegsländern wie Angola, Ruanda, Burundi und Sierra Leone die erforderlichen internationalen Hilfen für den Wiederaufbau entweder gar nicht, zu spät oder zu unkoordiniert einsetzten, so dass die meisten Bürgerkriegsländer binnen weniger Jahre wieder in den Krieg zurückfielen.
Mit der Schaffung der VN-Kommission für Friedenskonsolidierung (peacebuilding commission) Ende 2005 sollte diese institutionelle Lücke geschlossen werden. Dieses intergouvernementale (zwischenstaatliche) Konsultations- und Beratungsgremium bringt alle für eine dauerhafte Friedenskonsolidierung wichtigen Akteure wie Staaten, Hilfs- und Entwicklungsorganisationen sowie Finanzinstitutionen an einen Tisch. Dabei leistet ein aus 31 Staaten bestehendes und die Vielfalt der VN-Mitglieder gut repräsentierendes Organisationskommitee eine kontinuierliche Arbeit mit Blick auf die Entwicklung von Konzeptionen und best practices. In den so genannten länderspezifischen Beratungen treten dann weitere Akteure hinzu, voran das betroffene Land selbst, aber auch Anrainerstaaten, Regionalorganisationen, Truppensteller oder Geldgeber. Ein peacebuilding fund, der aus freiwilligen Leistungen der Mitgliedstaaten in Höhe von rund 250 Millionen US-Dollar gespeist wird, kann erste Mittel für die in der unmittelbaren Konfliktfolgephase notwendigen Sofortmaßnahmen im humanitären oder Sicherheitsbereich bereitstellen und so die Zeit bis zum Eintreffen internationaler Hilfsgelder überbrücken. Ein im VN-Sekretariat angesiedeltes peacebuilding support office (PSO) unterstützt die Arbeit der Kommission.
Elemente komplexer Friedensmissionen
Elemente komplexer Friedensmissionen
Der Kommission für Friedenskonsolidierung wurden seit ihrer Konstituierung 2006 vier Mandate übertragen: Burundi und Sierra Leone (ab 2006), Guinea-Bisseau (ab Dezember 2007) und die Zentralafrikanische Republik (ab Juni 2008). Vor allem in Sierra Leone wurde nicht nur eine länderspezifische Strategie entwickelt, sondern diese wird auch auf den unterschiedlichsten Handlungsfeldern erfolgreich ins Werk gesetzt. Die bisherigen Ergebnisse geben zumindest Anlass zu der Hoffnung, dass sich im Rahmen der Kommission komplexe Prozesse in der Friedenskonsolidierung koordinieren lassen - jedenfalls wenn der politische Wille aller beteiligten Akteure gegeben ist.
Herausforderungen und Probleme
Mehr als anderthalb Jahrzehnte nach ihrer schweren Vertrauenskrise sind die VN wieder einer der wichtigsten Akteure in der weltweiten Friedenssicherung. Anfang 2011 waren rund 123 000 Friedensschützer (ein Fünftel davon Zivilisten unterschiedlichster Expertise) in 15 Missionen eingesetzt, die wiederum das gesamte in den vier peacekeeping-Generationen entwickelte Aufgaben- und Fähigkeitenspektrum abdecken. Auf der Grundlage von Empfehlungen des Brahimi-Reports, benannt nach dem Vorsitzenden einer hochrangigen Reformkommission, gingen die VN ab 2000 daran, ihre institutionellen Strukturen und Verfahren den Ansprüchen komplexer Friedensmissionen anzupassen und für die Missionen realistischere, den oft schlechten Sicherheitsbedingungen im Einsatzland entsprechende Mandate zu formulieren. Innerhalb des Sekretariats wurden die Voraussetzungen für integrierte Einsatzplanungen geschaffen, welche die unterschiedlichen Akteure in einen Koordinationsrahmen einbinden. Eine in den letzten Jahren stark aufgewertete best practices unit wertet die Erfahrungen der unterschiedlichen Einsätze aus und entwickelt die Richtlinien, Doktrinen und Ausbildungsanweisungen fort. Im so genannten UN Standby Arrangement System (UNSAS) können die Mitgliedstaaten der Organisation Kräfte und Fähigkeiten melden, die auf Abruf zur Verfügung stehen, was - zumindest der Konzeption nach - die Planungsvorgänge verkürzt und die notwendige Unterstützung durch die Staaten verlässlicher macht. Durch erhebliche Anstrengungen haben die VN gezeigt, dass sie mit eng begrenzten Führungskapazitäten (das DPKO umfasst nur rund 400 Mitarbeiter) sowie flachen Hierarchien selbst große Operationen wie die MONUSCO in der DR Kongo mit rund 18 000 Soldaten und rund 5300 Zivilisten führen können. Die große Zahl der Missionen belegt, dass die VN erhebliches Vertrauen der Staatengemeinschaft in ihre Fähigkeiten zur Durchführung auch schwieriger Einsatze zurückgewonnen haben.
Allerdings stehen die VN angesichts der seit Jahren nach Quantität und Qualität wachsenden Verpflichtungen in der Friedenssicherung auch vor immer größeren Herausforderungen. Für die Bewältigung der schwierigen Aufgaben vor Ort stehen ihnen überwiegend schlecht ausgerüstete und zum Teil auch schlecht ausgebildete Soldaten zur Verfügung, die überwiegend aus Entwicklungsländern kommen. Pakistan, Indien und Bangladesch führen seit Jahren mit großen Kontingenten die Liste der Truppensteller für VN-Einsätze an und tragen so entscheidend zur Funktionsfähigkeit des VN-basierten Systems kollektiver Sicherheit bei. Eine kostenaufwändigere Ausstattung bei Transport und Logistik, vor allem bei Hubschraubern, aber auch in Bereichen wie Kommunikation und Aufklärung dagegen fehlt ihnen.
QuellentextHäuserkampf in Mogadischu
[...] Wie jeden Abend inspiziert der ugandische Oberstleutnant [Anthony Mbuusi] seine Truppen. Ein Soldat steht mit dem Gewehr im Anschlag in einem Zimmer, dessen Fenster mit einem wahren Dom aus Sandsäcken gesichert ist. Ein anderer hat sich mit seinem Granatwerfer hinter einer mit Gerümpel verstärkten Mauer eingenistet. Ein weiterer kauert auf dem Dach einer dreistöckigen Hausruine.
Durch enge Schießscharten zeigt Anthony auf die feindlichen Stellungen, mancherorts gerade zehn Meter entfernt, nur scheinbar leblos. [...] Mogadischu, im März 2011.
Die Hauptstadt der inexistenten Republik Somalia ist seit zwei Jahrzehnten ein gefährliches Pflaster. In der einstigen Perle Ostafrikas sind Tausende von Soldaten aus Uganda und Burundi stationiert. Dass die afrikanischen Friedenstruppen in einen Krieg verwickelt sind, der erbitterter geführt wird als die meisten anderen in der Welt tobenden Konflikte, hat kaum jemand im Blick.
[...] Bis im September 2010 sei Amisom noch eine eher konventionelle Friedensmission gewesen, berichtet Anthony. Die im Auftrag der Afrikanischen Union in Mogadischu stationierten 8000 Soldaten versuchten, die schwächliche Übergangsregierung vor den Angriffen der Islamisten zu schützen. Die Blauhelme hielten wichtige Verbindungsstraßen frei und schirmten den Amtssitz des Präsidenten ab. Doch der Druck der Islamisten wurde immer größer.
Im Fastenmonat Ramadan drangen die "Gotteskrieger" ins Herz der Hauptstadt vor, beschossen Amisom-Konvois. "Wir fühlten uns wie lahme Enten", lacht Anthony gequält, "etwas musste geschehen." Die ugandischen und burundischen Soldaten gingen, mit tausend Mann Verstärkung und einem robusteren Mandat der Vereinten Nationen im Tornister, zum Angriff über. Haus für Haus und Block für Block mussten sie den Feind aus seinen Stellungen vertreiben [.] [...]
Den Block hinter dem Pink House im Südosten Mogadischus haben die Blauhelme erst am Vortag eingenommen. Es riecht nach Pulverdampf. In einem Hausflur liegt ein Toter [...]. Sämtliche Häuser sind zerschossen. Ein Benzinkanister liegt auf dem Boden, es könnte eine Sprengfalle sein. Selbst innerhalb der Häuser haben die Islamisten tiefe Löcher gegraben. Ihre Stellungen sind mit langen Gräben verbunden, die sich durch die halbe Stadt ziehen. Das zeigen die erstaunlich scharfen Satellitenaufnahmen, die die Ugander von ihren US-Freunden bekommen. [...]
Plötzlich brechen Schüsse die Ruhe im frisch eroberten Block hinter dem Pink House: Kalaschnikows, Maschinengewehre, ab und zu faucht eine Bazooka. Der Tag nach einer erfolgreichen Attacke sei immer der gefährlichste, sagt Anthony. Der Feind suche den Verlust zurückzugewinnen, bevor die neuen Herren die Stellungen wieder befestigen.
Auch im Gashandiga, dem einstigen Hauptquartier der Islamisten, kam die Hauptgefahr erst nach dem Angriff. Mit einem Trick eroberte das burundische Amisom- Kontingent Ende Februar den riesigen Komplex, der einst das Verteidigungsministerium beherbergte. Die Burunder griffen zuerst die wenige hundert Meter entfernte alte Milchfabrik an. Als die Islamisten aus dem Hauptquartier den Kameraden in der Fabrik zu Hilfe eilten, gingen die Soldaten zum Überraschungsangriff auf das Hauptquartier über. Es fiel in wenigen Stunden.
Noch bevor die Amisom-Truppen ihre Stellungen festigen konnten, schickten die Islamisten einen mit Sprengstoff gefüllten und von zwei Selbstmordattentätern gesteuerten Jeep auf das Gelände, dem mehr als hundert "Gotteskrieger" folgten. Das Gerippe des explodierten Jeeps liegt heute am Rand des Geländes. Die Verluste der Burunder müssen hoch gewesen sein. Weit mehr als 50 Soldaten sollen im Kampf um das Hauptquartier des Feindes gestorben sein, heißt es. Offiziell schweigt sich Amisom über die Zahl der Toten aus. Negative Meldungen, wird befürchtet, könnten die Stimmung zu Hause in Burundi und Uganda kippen lassen.
"Jeder von uns hat den Bürgerkrieg in Burundi miterlebt", sagt Major Prosper Hakizimana, "wir wissen, dass wir sterben werden, und sind froh, wenn es für einen guten Zweck geschieht." Anthonys Kämpfer haben sich drei Monate lang an der Front aufzuhalten, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Sie schlafen abwechselnd auf Matratzen, meist direkt neben Schießscharten. Auch das Essen bringen ihnen Kameraden an die Front. [...] Anthonys strategisches Ziel ist wenige hundert Meter entfernt: der Zentralmarkt Mogadischus. Wären die Islamisten erst vom Markt vertrieben, wären ihre Tage gezählt, sagt der Kommandeur des ugandischen Kontingents, Mike Ondoga. Die "Gotteskrieger" bezögen ihr Einkommen von den Händlern. Die müssten den "al Schabab", den Jungs, wie sich die islamistischen Kämpfer selber nennen, Tribut zahlen. Ein Angriff auf den Markt komme aber nicht infrage, fährt Oberst Ondoga fort, das sei für die Zivilbevölkerung viel zu riskant. [...]
Statt den Markt anzugreifen, werden Anthonys Soldaten ihn umzingeln müssen. "Das wird noch Monate dauern", sagt ihr Kommandeur. Oberstleutnant Anthony würde gern Hubschrauber einsetzen, die feindliche Bunker aus sicherem Abstand zerstören könnten. Doch das lasse das UN-Mandat nicht zu, und bisher habe sich auch kein Land bereiterklärt, Kampfhelikopter zur Verfügung zu stellen. Nicht einmal die wiederholte Bitte sei erfüllt worden, Kriegsschiffe den Hafen von Kismao blockieren zu lassen, über den die Islamisten ihren Nachschub erhalten. "Wir führen hier einen Krieg gegen den globalen Terror, aber niemand hilft uns dabei", sagt Anthony [.] [...]
Johannes Dieterich, "Wie Stalingrad, nur 60 Grad heißer", in: Frankfurter Rundschau vom 9. April 2011
Die Industriestaaten, voran die USA und die Europäer, sind seit Mitte der 1990er Jahre dazu übergegangen, sich ihre Militäreinsätze zu Krisenmanagement und Friedenssicherung durch den Sicherheitsrat autorisieren zu lassen und sie dann in eigener Regie durchzuführen. Dies hat für die Vereinten Nationen den Vorteil, dass sie von der Durchführung schwieriger und teurer Missionen entlastet werden, andererseits aber binden diese Einsätze Kräfte und Fähigkeiten, die dann nicht mehr für VN-Operationen zur Verfügung stehen. Die leistungsfähigen Industriestaaten haben sich mithin sehr weitgehend aus der Friedenssicherung unter dem Kommando der VN zurückgezogen. So ist längst ein problematisches Zwei-Klassen-System der internationalen Friedenssicherung entstanden: Hier die teuren Hightech-Einsätze der Industriestaaten, dort die meist unzulänglich ausgestatteten VN-Missionen. Zwar helfen unterstützende Einsätze, wie sie die EU etwa in der DR Kongo 2003 und 2006 oder in der Zentralafrikanischen Republik und im Tschad 2008/09 geleistet hat, den VN-Truppen zwar bei der Überbrückung von personellen und technischen Engpässen. Allerdings verbleiben diese Kräfte stets unter der vollständigen Kontrolle der EU und folgen damit auch deren Einsatzlogik, welche sich etwa bezüglich der Dauer und Intensität, des Umfangs der eingesetzten Kräfte und deren Aktionsradius durchaus von der der VN unterscheiden kann. In der Regel werden diese Kräfte nach einem festgelegten Zeitraum abgezogen und zwar ohne Betrachtung der jeweiligen Lage vor Ort.
Setzt sich diese Entwicklung zu einer gespaltenen Verantwortung für die Friedenssicherung fort, droht den VN eine Restkompetenz nur noch für die Konflikte zuzufallen, welche die Industriestaaten nur am Rande interessieren. Dies stünde im Widerspruch zur Charta, die der Organisation die Verantwortung für den Weltfrieden überträgt - und die damit alle Staaten gleichermaßen in die Pflicht nimmt. Tatsächlich erscheint die Verfolgung partikularer Sicherheitsinteressen schon deshalb unangemessen, weil sie den Erfordernissen einer immer enger vernetzten Welt zuwiderläuft. Dort gibt es keine isolierten Stabilitätsoasen mehr, vielmehr werden die Folgen von Konflikten in der einen Region sehr rasch auch in jeder anderen spürbar. Allerdings hat der Einsatz in Afghanistan wiederum gezeigt, wie begrenzt die Fähigkeiten auch der mächtigsten Militärallianz der Welt bei der Durchführung komplexer Einsätze sind. Die Vereinten Nationen werden somit auch in Zukunft eine wesentliche Verantwortung für die internationale Friedenssicherung tragen und im Konsens mit den Mitgliedstaaten für die praktische Umsetzung dieser Verantwortung arbeiten müssen. Hierbei werden insbesondere von Seiten der Industriestaaten verstärkte Leistungen unter dem Dach der VN zu erwarten sein, profitieren doch gerade sie besonders von einem stabilen internationalen System. Die Vereinten Nationen bieten Fundament und Rahmen für die Friedenssicherung und haben in zahlreichen Feldern auch eigene Akteursqualitäten entwickelt. Es liegt an den Staaten, diese Möglichkeiten zu nutzen.