Vom bipolaren zum komplexen Parteiensystem
In den 30 Jahren seit der Vereinigung hat sich das Parteiensystem in Deutschland dramatisch verändert. Aus dem bipolaren System mit zwei Parteien im Mitte-Rechts-Lager auf der einen Seite – den Christdemokraten und den Liberalen – und zwei Parteien im Mitte-Links-Lager auf der anderen Seite – den Sozialdemokraten und den Grünen – ist ein komplexes System aus sechs oder sieben Parteien geworden.
Die Komplexität rührt zum einen daher, dass die beiden in den 1990er- und 2010er-Jahren neu hinzugekommenen Parteien – Die Linke und die rechtspopulistische Alternative für Deutschland – als ideologische Randparteien von den anderen Parteien nur bedingt (Linke) oder gar nicht (AfD) als mögliche Regierungspartner betrachtet werden. Insofern gibt es kein gemeinsames linkes oder rechtes Lager mehr. Der andere Grund verweist auf die veränderten Koalitionsbeziehungen innerhalb des von Union, SPD, Grünen und FDP gebildeten Zentrums, wo die ausschließliche Orientierung der Grünen auf die SPD heute ebenso der Vergangenheit angehört wie jene der FDP auf die Union. Koalitionspolitik und -strategien werden damit zu einem Schlüsselfaktor für die Regierungsbildung.
(© picture-alliance, dpa-infografik GmbH)
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Bis Ende der 1970er-Jahre hatte die Bundesrepublik ein hochkonzentriertes Zweieinhalbsystem mit zwei großen Parteien – Union und SPD –, die man deshalb als „Volksparteien“ bezeichnete, und einer kleineren Partei, der FDP. Die großen Parteien konnten in ihrer besten Zeit bis zu 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler und – aufgrund der hohen Wahlbeteiligung – 80 Prozent der Wahlberechtigten auf sich vereinen. Dieser Wert hat sich bis heute mehr als halbiert. Die FDP übte bis zum Hinzutreten der Grünen als vierter Partei in den 1980er-Jahren eine Scharnierfunktion im Parteiensystem aus – sie konnte entweder mit der Union oder den Sozialdemokraten die Regierung bilden. Eine Regierung ohne Koalition hat es in der Geschichte der Bundesrepublik auf Bundesebene noch nie gegeben.
Das bipolare System der 1980er-Jahre mit den beiden klar abgegrenzten Lagern geriet nach der deutschen Vereinigung durch das Hinzutreten der postkommunistischen PDS ins Wanken. Die aus der SED hervorgegangene PDS war das einzige erfolgreiche Überbleibsel der untergegangenen DDR. Der Weg der „Sozialdemokratisierung“, den die kommunistischen Parteien in den meisten anderen Neudemokratien Mittelosteuropas beschritten, blieb ihr versperrt, weil ja mit der SPD eine sozialdemokratische Partei bereits vorhanden war. Nach der 1946 erfolgten Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD in der damaligen Sowjetzone kam für die SPD ein Zusammengehen mit den SED-Nachfolgern nicht in Betracht. Die PDS verharrte deshalb in orthodoxen Positionen, blieb eine quasi-kommunistische Partei. Dennoch konnte sie als Regionalpartei des Ostens auch gesamtdeutsch überleben, indem sie die massive Unzufriedenheit der dortigen Bürgerinnen und Bürger mit den ökonomischen Folgen des Einigungsprozesses in den 1990er-Jahren auf ihre Mühlen lenkte. In Ostdeutschland wurde und blieb sie so stark, dass man sie dort auf der Länderebene schon bald in die Regierungen einbezog.
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Stellte die PDS die Gesetzmäßigkeiten der Koalitionsbildung noch nicht infrage, so änderte sich dies mit der Entstehung der gesamtdeutschen Linkspartei, der heutigen Partei Die Linke. Durch sie kam es infolge einer Fusion der PDS mit einer Abspaltung von der SPD, die sich in der alten Bundesrepublik im Jahre 2005 aus Protest gegen die von der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder durchgesetzten Sozial- und Arbeitsmarktreformen gebildet hatte. An ihre Spitze setzte sich der frühere SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine. Die Partei war bereits beim ersten Anlauf 2005 so erfolgreich, dass sie die Bildung einer Koalition nach dem normalen Muster – Rot-Grün oder Schwarz-Gelb – durchkreuzte. Deshalb mussten Union und SPD zum ersten Mal seit 1966 eine Große Koalition bilden – unter der ersten Frau im Kanzleramt, Angela Merkel.
Das Kräfteverhältnis rechter Parteien seit den 2000er-Jahren
Deutschland hatte also seit 2005 ein Fünfparteiensystem. Auffällig war, wenn man es mit der Entwicklung der Parteiensysteme in anderen europäischen Ländern vergleicht, das Fehlen einer Partei am rechten Rand. Dass mit der AfD eine rechtspopulistische Partei erst ab 2013 entstand und sich durchsetzte, hatte mehrere Gründe. Erstens hatte man in der Bundesrepublik bis dahin nicht wirklich offen über die mit Einwanderung und Integrationspolitik verbundenen Fragen gestritten – das Thema wurde weithin tabuisiert. Zweitens waren die Unionsparteien als führende Kraft im Mitte-Rechts-Lager in der Lage, die Wählerinnen und Wähler am rechten Rand auch in anderen Bereichen durch konservative Positionen zu binden. Und drittens litt die Organisationsfähigkeit der Rechtsaußenparteien an der gesellschaftlichen und politischen Stigmatisierung des Rechtsextremismus – dem sprichwörtlichen Schatten Hitlers.
Alle drei Gründe sollten sich seit Mitte der 2000er-Jahre schrittweise erledigen. Die Sarrazin-Debatte im Jahre 2010 über die angeblich gescheiterte Integration der türkischen Zuwanderinnen und Zuwanderer machte deutlich, dass das Migrationsthema von den Parteien nicht länger ignoriert werden konnte. Gleichzeitig eröffnete sich durch die zunehmende Liberalisierung der Unionsparteien in gesellschaftspolitischen Fragen eine Nische im Parteiensystem, in die die AfD später hineinstieß. Dasselbe galt für die Europapolitik, die den unmittelbaren Entstehungsanlass der Partei bildete. Die AfD lehnte die von allen anderen Parteien mitgetragene Eurorettungspolitik ab. Für ihre Wählerinnen und Wähler war aber bereits 2013, als sie nur knapp den Einzug in den Bundestag verpasste, das Migrationsthema wichtiger. Als die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 einsetzte, konnte sie hier ihre Anti-Positionen voll ausspielen und eilte bei den Wahlen von Erfolg zu Erfolg. Die Stimmenanteile der AfD waren und sind dabei in Ostdeutschland etwa doppelt so hoch wie im Westen. Dort übernimmt sie heute die Funktion einer Protestpartei, die vorher Die Linke ausgeübt hatte.
QuellentextDer Erziehungswissenschaftler Frank Greuel zur AfD, jungen Wählerinnen und Wählern und TikTok
tagesschau.de: Bei den vergangenen Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern konnte die AfD deutlich in jungen Altersgruppen zulegen. Wie ist das Verhältnis junger Menschen aktuell zur Politik in Deutschland?
Frank Greuel: Es hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Es war lange Zeit so, dass junge Menschen eher progressive Parteien gewählt haben. Wir haben eine überproportional hohe Zustimmung zu Parteien wie den Grünen oder zur Linken gesehen. Dann gab es eine Art Zwischenphase, in der weiterhin beispielsweise die Grünen ganz hoch in der Gunst der jungen Menschen waren und gleichzeitig aber die AfD stärker wurde. Inzwischen überragt die AfD-Zustimmung alle anderen. Die Progressivität in der Wahlentscheidung ist nicht mehr wirklich zu sehen. Das ist auch keine Entwicklung, die spezifisch für Ostdeutschland gilt. Sondern man hat auch bei den Europawahlen gesehen, dass die AfD-Zustimmung sehr stark ist.
tagesschau.de: Welche Faktoren spielen bei der Wahlentscheidung eine Rolle?
Greuel: Wir leben in einer Zeit, die sehr krisenhaft ist. Es gibt weltweit Kriege und Konflikte, die sich verschärfen. Es gibt eine ökonomische Krise, auch eine ökologische Krise. Und das ist für junge Menschen besonders schwerwiegend. Sie fangen an, ihr Leben zu planen und haben eine Sensibilität gegenüber Krisen und eine Sensibilität gegenüber dem, was ihnen vielleicht genommen wird oder wo sie ein hohes Risiko dafür sehen. Sie sind besonders betroffen. Das zeigt sich auch in Umfragen: 80 Prozent der Jugendlichen sind sehr pessimistisch, was die Zukunft Deutschlands angeht. Es gibt Abstiegsängste und viel mehr noch die Angst vor mangelnden Aufstiegschancen.
tagesschau.de: Was macht die AfD für junge Menschen in dieser Situation wählbar?
Greuel: Die AfD bietet in dieser Krisenhaftigkeit einfache und schnelle Lösungen. Ein Teil der Krisen, die existieren, wird komplett geleugnet. Stichwort: Klimakrise. Dieses Problem löst die AfD gewissermaßen, indem sie es gar nicht als Problem anerkennt. Und das ist natürlich entlastend für diejenigen, die ihre eigene Zukunft gefährdet sehen. Sie fokussiert sich bei sämtlichen Problemen auf Migration als Auslöser und konstruiert einen starken Zusammenhang. Die Begrenzung von Migration und Restriktionen gegenüber Migrationsbewegungen werden dann zur Globallösung gemacht. Das ist ein großes und einfaches Versprechen, was die AfD abgibt. […]
tagesschau.de: Wie erreicht die AfD mit ihrer Ansprache die Jugend?
Greuel: Die AfD-Präsenz etwa auf TikTok geht weit über das hinaus, was etablierte Parteien an der Stelle bieten. Und die AfD ist tatsächlich eine Partei, die Jugendliche direkt anspricht und ihnen das Gefühl vermittelt, sie ernst zu nehmen und für sie da zu sein. Allein diese Form der Anerkennung macht viel aus. Inzwischen ist es so, dass die meisten Jugendlichen sich auf TikTok über Politik informieren – auch das belegen Studien. Das ist ein echtes Problem, wenn solche Parteien dort so präsent sind, ihre Form der Weltdeutung verbreiten können und es keine wirklichen Alternativangebote von etablierten Parteien oder auch von etablierten Medien gibt. Die AfD hat im Moment ein gewisses Monopol.
tagesschau.de: Gibt es aus Ihrer Sicht Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland?
Greuel: Ja, die gibt es. In Ostdeutschland ist die Zustimmung insgesamt zur AfD höher als in Westdeutschland. Aber das ist auch Teil eines globaleren Phänomens, da handeln die ostdeutschen Jugendlichen ähnlich wie die ostdeutschen Erwachsenen. Das speist sich ein Stück weit aus ostdeutschen Lebenswelten und Perspektiven.
Die strukturellen Abwertungserfahrungen sind auch bei Jugendlichen ganz präsent – die mangelnde Repräsentation von Ostdeutschen auf Führungsebenen, eine als gering erlebte Wertschätzung oder der Umstand, dass es in Ostdeutschland geringere Löhne gibt. Jugendliche nehmen das wahr und machen darüber auch Benachteiligungserfahrungen. Das kann man in Studien sehen: Zwei Drittel der jugendlichen Ostdeutschen konstatieren eine Benachteiligung gegenüber Westdeutschland.
Dazu kommen die inzwischen historischen Erfahrungen des Zusammenbruchs der DDR. Da sind massive Transformationsprozesse angestoßen worden, auch mit Abwertungserfahrungen in den Familien. Das ist für Jugendliche schlicht präsent, weil sie Teil von Familienbiografien sind.
Dann gibt es eine gewisse Resonanzfläche für die Krisen, die wir aktuell haben. Es entstehen Ängste, dass sich Erfahrungen wiederholen könnten. Diese Ängste greift die AfD direkt auf.
tagesschau.de: In den 1990er-Jahren versuchte auch die NPD, sich bei jungen Menschen beliebt zu machen – mit weniger Erfolg. Was ist der Unterschied zu heute?
Greuel: Diese rechtsextremen Parteien der 1990er-Jahre waren Parteien von alten Männern und haben eher eine Politik des Gestern verfolgt. Da hat die Glorifizierung des Nationalsozialismus beispielsweise noch eine andere Rolle gespielt. Und im Kern waren die meisten Positionen sehr rigoros.
Das ist ein bedeutender Unterschied zur AfD, die immer ein bisschen mit dem Feuer spielt. Es gibt problematische Äußerungen, danach kommt die Bagatellisierung und letztlich die Erklärung, man sei doch harmlos und das sei alles nicht so gemeint gewesen. Es ist eine Inszenierung von Harmlosigkeit statt des Durchbretterns von rechtsextremen Positionen. Hinzu kommt die moderne Ansprache über soziale Medien.
tagesschau.de: Wie kann die aktuelle Politik mit diesem Wahlverhalten umgehen?
Greuel: Es wäre in meinen Augen wirklich viel wert, wenn die etablierten Parteien in den sozialen Medien stärker Präsenz entfalten, auch stärker Jugendliche ansprechen und ihnen vermitteln, dass sie die Zukunft sind. Es wäre wichtig, überhaupt erst mal diesen Zugangsweg zu finden.
Und wenn man diesen Zugangsweg dann hat, gilt es, die eigenen Positionen jugendgerecht darzustellen. Dabei sollte man das tun, was man auch abseits von Social Media praktizieren sollte: sich mit der AfD aktiv auseinanderzusetzen. Ich hätte die Hoffnung, dass damit auch mancher aus Protest wählende Mensch klarer sieht, was die AfD vorhat. […]
Jonas Hüster, „‚Das verfängt bei jungen Männern‘“, in: tagesschau.de vom 26. September 2024. Online: Externer Link: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wahlverhalten-junge-menschen-100.html
In der Gründungsphase in ihrer Ausrichtung noch eher liberal-konservativ geprägt, schlug die AfD ab 2014 einen populistischen Kurs ein, der sich in der Folge auch gegenüber dem Extremismus immer mehr öffnete. 2017 erreichte die Partei bei der Bundestagswahl ein zweistelliges Ergebnis (12,6 Prozent) und führte damit im Bundestag (vor Grünen, FDP und Linken) die Opposition an. Dass sie vier Jahre später gut zwei Prozentpunkte verlor, lag vor allem an ihren Einbußen im Westen, wo die sichtbare Hinwendung zum Rechtsextremismus offenbar stärker abschreckend wirkte als im Osten. Die wachsende Zustimmung, die die AfD seit 2022 auch in der alten Bundesrepublik erfahren hat, stellt diese Erklärung allerdings infrage. Die Partei profitiert längst nicht mehr nur von Unzufriedenheits- oder Protestwählerinnen und -wählern, sondern verfügt mittlerweile über einen festen (und größer werdenden) Stamm echter Überzeugungswählerinnen und -wähler.
Mit der Etablierung der AfD verschoben sich die Kräfteverhältnisse im deutschen Parteiensystem nach rechts. 1998, 2002 und 2005 hatten die drei linken Parteien zusammengenommen noch einen klaren Vorsprung vor Union und FDP, bevor sich das Verhältnis 2009 erstmals umkehrte. 2013 lagen die drei rechten Parteien (jetzt mit der AfD) dann um acht, 2017 sogar um 18 Prozentpunkte vor SPD, Grünen und Linken. Das lag auch daran, dass es den Rechtspopulisten in Deutschland genauso wie in anderen Ländern gelang, neben früheren Nichtwählenden eine beträchtliche Zahl von früheren SPD- und Linken-Wählenden zu sich herüberzuziehen. Erst ab 2018 sollte sich das Kräfteverhältnis durch den Aufstieg der Grünen vorübergehend wieder umkehren.
Neue Koalitionsmodelle
Die Erweiterung der Fünf- zu einer Sechsparteienstruktur und das Erstarken der Randparteien rücken Mehrheiten für die klassischen „lagerinternen“ schwarz-gelben und rot-grünen Bündnisse in weite Ferne. Auch auf Länderebene kommen sie heute nur noch in Ausnahmefällen zustande. Die Parteien haben darauf mit einer Öffnung ihrer Koalitionsstrategien reagiert, die die frühere „Ausschließeritis“ – der Begriff stammt von dem hessischen Grünen-Politiker Tarek Al-Wazir – in der politischen Mitte, also im Verhältnis von Union, SPD, Grünen und FDP, nahezu vollständig und im Verhältnis von SPD und Grünen zur Linken teilweise überwunden hat. Allein Koalitionen oder sonstige Formen der Zusammenarbeit mit der AfD bleiben für alle anderen Parteien ein Tabu.
„Lagerinterne“ Bündnisse bestehen heute nur noch in fünf der 16 Bundesländer. In den norddeutschen Ländern regieren (mit Ausnahme Schleswig-Holsteins) von der SPD angeführte rot-grüne (Hamburg und Niedersachsen), rot-rote (Mecklenburg-Vorpommern) oder rot-rot-grüne Koalitionen (Bremen), in Bayern eine „bürgerliche“ Koalition aus CSU und Freien Wählern. Die übrigen Länder werden von „lagerübergreifenden“ Koalitionen regiert. Im Westen der Republik hat sich dabei neben der klassischen eine zweite Variante der Großen Koalition von Union und Grünen herausgebildet, nachdem die letztgenannten in Hessen und Baden-Württemberg zur zweitstärksten bzw. sogar stärksten Kraft aufgestiegen sind. In Ostdeutschland gestaltet sich die Koalitionsbildung schwieriger. Weil CDU und SPD auch zusammengenommen keine regierungsfähige Mehrheit mehr erreichen, müssen hier entweder andere Parteien wie die Grünen, die FDP oder das 2024 neu entstandene Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mit ins Boot genommen werden. Oder es kommt zur Bildung von Minderheitsregierungen, die sich die Mehrheit für ihre Gesetzesvorhaben im Parlament stets von Neuem suchen müssen.
QuellentextBenennung von Koalitionen
Im Zweieinhalbsystem der 1960er- und 1970er-Jahre wurden die beiden möglichen „kleinen“ Koalitionen mit ideologischen Begriffen gekennzeichnet – als „christlich-liberale“ oder „sozialliberale“ Koalition. Der Begriff „Große“ Koalition stellte auf das Zusammengehen der beiden – mit Abstand – größten Parteien ab. Seit sie ab den 2010er-Jahren auf Normalmaß geschrumpft sind, spricht man eher von „Schwarz-Rot“ oder „Rot-Schwarz“. Die Farbenbezeichnungen hielten ab Mitte der 1980er-Jahre Einzug, als die Grünen als vierte Partei hinzutraten. Aus der christlich-liberalen wurde nun die „schwarz-gelbe“ Koalition, der „Rot-Grün“ oder „Rot-Rot-Grün“ als politische Alternativen gegenüberstanden. Für die Anfang der 1990er-Jahre in Brandenburg und Bremen erstmals gebildeten Koalitionen aus SPD, FDP und Grünen lag der Begriff „Ampel“ nahe, der auch in anderen Sprachen übernommen wurde („traffic light“, „feu tricolore“). Die Flaggen-Metaphorik kam erst im Umfeld der Bundestagswahl 2005 auf, bei der die klassischen Lager (Schwarz-Gelb und Rot-Grün) keine Mehrheit mehr hatten und als Alternative zur Großen Koalition neben einer Ampel nur die Möglichkeit eines Zusammengehens von Union und FDP mit den Grünen bestand. Anstelle von „schwarzer Ampel“ setzte sich dafür der Begriff „Jamaika-Koalition“ durch, der meistens dem Duisburger Politologen Karl-Rudolf Korte zugeschrieben wird, aber offenbar schon früher erfunden worden war. Auf Korte geht auch die Bezeichnung „Brombeer“-Koalition für die jüngste Koalitionsvariante zurück – das Bündnis von CDU (schwarz), SPD (rot) und BSW (lila). Hier fehlt es offenbar an einer passenden Flagge. Ähnlich skurril wie „Jamaika“ muten die Bezeichnungen „Kenia“-Koalition für ein Dreierbündnis aus CDU, SPD und Grünen und „Deutschland“-Koalition für das Zusammengehen von CDU, SPD und FDP an, zumal letzteres mit Blick auf die Landesfarben, die bekanntlich „Schwarz-Rot-Gold“ lauten, nicht ganz korrekt ist. Metaphorische oder Farbenbezeichnungen für Koalitionen sind auch anderen parlamentarischen Systemen nicht fremd. Als Sammelbezeichnung für Bündnisse unterschiedlich bunter und wechselnder Zusammensetzung hat sich dabei länderübergreifend der Begriff „Regenbogenkoalition“ durchgesetzt (z.B. in Belgien, Finnland oder Lettland).
Frank Decker