Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wahlen in der Demokratie | Bundestagswahl 2025 | bpb.de

Bundestagswahl 2025 Editorial Der Weg zur vorgezogenen Wahl Wahlen in der Demokratie Rechtliche Grundlagen der Bundestagswahl Parteiensystem und Koalitionsbeziehungen seit der deutschen Vereinigung Die Bundestagswahl 2021 und ihre Folgen Die Wahl 2025 Literatur- und Onlineverzeichnis Impressum
Informationen zur politischen Bildung Nr. 362/2025

Wahlen in der Demokratie

Frank Decker

/ 3 Minuten zu lesen

Wahlen sind ein unabdingbarer Bestandteil jeder Demokratie. Doch ihre Funktionsfähigkeit steht zunehmend infrage, vor allem, da die soziale Ungleichheit der Wahlbeteiligung stetig wächst.

Um angehende Wählerinnen und Wähler für Wahlen zu sensibilisieren und die wachsende soziale Ungleichheit der Wahlbeteiligung zu reduzieren, gibt es verschiedene Ansätze. Hier nehmen Jugendliche an der Veranstaltung „Jugend debattiert mit Spitzenkandidaten“ im Rahmen der Juniorwahl 2019 im Landtag Brandenburg teil. (© picture-alliance/dpa, Christoph Soeder)

In einer Demokratie geht „[a]lle Staatsgewalt vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt“, wie es im Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt. Wahlen und Abstimmungen haben dabei nicht den gleichen Rang. Wahlen sind in einer Demokratie unabdingbar, während es sich bei den als Abstimmungen bezeichneten direktdemokratischen Verfahren um ein „optionales“ Element des Grundgesetzes und der Landesverfassungen handelt. In den deutschen Ländern und Kommunen sind diese Verfahren, mit denen die Bürgerinnen und Bürger selbst bestimmte Fragen verbindlich entscheiden können, heute überall vorgesehen. Auf der Bundesebene beschränken sie sich auf den in der Praxis wenig bedeutsamen Fall einer Neugliederung der Länder (Art. 29 des Grundgesetzes).

Das demokratische Prinzip der Volkssouveränität verdichtet sich in den periodisch stattfindenden Wahlen. Der Staatsrechtler Uwe Volkmann schreibt ihnen vier Hauptfunktionen zu:

  • Legitimation: Wahlen leisten die für eine Demokratie unverzichtbare Rückführung politischer Herrschaft auf den Willen derjenigen, die der Herrschaft unterworfen sind. Zugleich unterwerfen sie die Herrschenden der Kontrolle durch diese und gewährleisten durch ihre regelmäßige Wiederkehr die Zeitbegrenzung politischer Herrschaft, die für die Demokratie wesentlich ist.

  • Kreation: Aus Wahlen gehen die politischen Leitungsorgane hervor, in einer parlamentarischen Demokratie also eine funktionsfähige Volksvertretung. Diese hat ihrerseits die Aufgabe, eine funktionsfähige Regierung einzusetzen und die für das Gemeinwesen wesentlichen Entscheidungen zu treffen.

  • Repräsentation: Wahlen sollen sicherstellen, dass sich die vielfältigen Interessen, Anschauungen und Werthaltungen der Bevölkerung in der von ihnen gewählten Vertretungskörperschaft widerspiegeln.

  • Integration: Über Wahlen findet darüber hinaus die Integration der Bevölkerung in das politische System statt; dazu stellt der Wahlakt als solcher eine politische Gemeinsamkeit unter den Bürgerinnen und Bürgern her.

Selbst undemokratische Systeme verzichten nur ungern auf Wahlen. Denn sie wollen und können damit zumindest den Anschein erwecken, dass ihre Macht auf der Zustimmung der Bevölkerung beruht. Die Bezeichnung „demokratisch“ verdienen Wahlen allerdings erst, wenn sich Präferenzen innerhalb der Gesellschaft frei entfalten können, Parteien diese Präferenzen dann zu unterschiedlichen programmatischen und personellen Angeboten bündeln und diese Angebote in der Wahlauseinandersetzung fair miteinander konkurrieren. Der demokratische Wettbewerb ist dabei an das Mehrheitsprinzip als demokratische Spielregel gebunden. Seine Funktionsfähigkeit beweist sich daran, dass Regierungswechsel möglich sind.

(© picture-alliance/dpa, dpa-infografik GmbH)

Auch in den etablierten Demokratien gibt es Zweifel, ob und wie gut die Wahlen die genannten Funktionen weiterhin erfüllen. Rückläufige Wahlbeteiligungen, sinkende Mitgliederzahlen der Parteien und der wachsende Zuspruch für rechte und linke Protestparteien belegen den Ansehensverlust der repräsentativen Institutionen. Autoren wie der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch führen die Krise der Demokratie auf eine Aushöhlung ihrer zentralen Prinzipien zurück. Wahlen, Parteienwettbewerb und die Gewaltenteilung blieben zwar nach außen hin weiter intakt. Sie hätten aber immer weniger Einfluss auf die Entscheidungen, die die Regierungen und mächtige Interessenvertreter autonom untereinander aushandelten oder die von unabhängigen Behörden und Gerichten getroffen würden. Verschärft werde das Problem durch die zunehmende Verlagerung von Zuständigkeiten auf die europäische oder transnationale Ebene.

(© picture-alliance/dpa, dpa-infografik GmbH)

Eine mildere Version der Kritik beklagt das Fehlen realer Entscheidungsalternativen. Die Parteien wiesen in ihren grundlegenden Zielen und Angeboten, Probleme zu lösen, kaum noch Unterschiede auf. Gleichzeitig bildeten sie dort, wo es um ihre eigenen Interessen gehe, zum Beispiel bei der Parteienfinanzierung, ein Machtkartell. Der Populismus stelle eine Reaktion auf all diese Tendenzen dar.

Empirische Untersuchungen weisen zudem auf eine wachsende soziale Ungleichheit der Wahlbeteiligung hin. So war beispielsweise der Anteil der Nichtwählerinnen und -wähler bei den letzten drei Bundestagswahlen in der untersten Einkommensgruppe mehr als fünfmal so hoch wie in der obersten. Unter Demokratiegesichtspunkten ist das misslich, weil damit auch die Interessen dieser Gruppen im politischen Prozess weniger Beachtung finden: Wer nicht wählen geht, läuft Gefahr, nicht repräsentiert zu werden. Manche Autoren, wie der Politikwissenschaftler Armin Schäfer, befürworten aus diesem Grund die Einführung einer Wahlpflicht.

QuellentextEine Wahlpflicht für alle?

Der Bundeswahlleiter hat […] die repräsentative Wahlstatistik zur Bundestagswahl 2021 vorgestellt und die Zahlen bestätigen gleich zwei seit Jahren erkennbare Muster. Erstens wählen Jüngere seltener als Ältere. […] Zweitens steht die Wahlbeteiligung in Deutschland in engem Zusammenhang zum sozialen Status. Vor allem Ärmere und solche mit niedrigen Bildungsabschlüssen bleiben der Wahlurne fern. […]

Vielleicht muss man diese Wahlberechtigten einfach zu ihrem Glück zwingen. Zu der im Koalitionsvertrag formulierten Absicht, das Wahlalter auf 16 abzusenken, sollte sich eine weitere Regelung gesellen: nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zu wählen. Das wäre im Übrigen auch keine deutsche Erfindung. Wahlpflicht gibt es in einer Reihe von Demokratien, wie zum Beispiel Australien, Belgien und Brasilien. Bei Nicht-Wahl droht in der Regel eine kleine Geldstrafe.

Eine Wahlpflicht könnte mehrere positive Effekte haben, sowohl für die Wähler*innen als auch für die Parteien. Denn deren Wahlkampfstrateg*innen wissen, dass sie aktuell mit jungen Leuten schon rein rechnerisch keine Wahl gewinnen können. Und damit sind nicht nur Erstwähler*innen, sondern auch jene unter 40 oder 50 Jahren gemeint. Weil es zu wenige gibt und weil sie seltener wählen gehen. Ähnliches gilt, insbesondere durch die bislang schlechte Mobilisierbarkeit und Erreichbarkeit, auch für sozial Benachteiligte. Müssen diese Menschen aber wählen, würde sich auch der Fokus der Parteien inhaltlich und kommunikativ in ihre Richtung verschieben. Anders gesagt: Wenn die Parteien wüssten, dass auch diese Leute wählen gehen, würde es sich für sie auch wieder lohnen, ihnen ein politisches Angebot zu machen. […]

In der Folge könnte es idealerweise dazu kommen, dass die Parteien ihre Politik stärker an den Bedürfnissen dieser – bislang marginalisierten – Wähler*innengruppen ausrichten, ihr Profil gerade für diejenigen schärfen, die sich nicht selbstverständlich täglich mit Politik beschäftigen und sich und ihre Politik besser erklären.

Wähler*innen dagegen wären gezwungen, sich zumindest ein bisschen mit der Wahl und dem Politikangebot der Parteien zu beschäftigen. Die Wahlpflicht könnte damit dem Desinteresse an Politik entgegenwirken und politische Diskussionen auch in Bevölkerungsgruppen (wieder)beleben, in denen Politik aktuell kaum Thema ist. Optimistisch könnte man gar davon ausgehen, dass es langfristig zu einer höheren Identifikation mit dem politischen System kommt: Denn wer wählt, meckert nicht mehr, sondern schaut der Politik oder gar der selbst gewählten Regierung eher konstruktiv auf die Finger. Dazu kommt eine höhere Legitimation der Gewählten […].

Und was ist mit jenen, die aus Prinzip nicht wählen wollen? Die können ihren grundsätzlichen Unmut immer noch zu Protokoll geben, indem sie "ungültig" wählen oder man für sie gar die Möglichkeit einer Enthaltung einführt. Auch die oft vorgebrachte Sorge, dass sich bei einer Wahlpflicht viele Bürger*innen rein zufällig für eine Partei entscheiden, ist aus der Erfahrung anderer Länder eher unbegründet. […]

Rainer Faus, „Vielleicht muss man sie zwingen“, in: ZEIT ONLINE vom 27. Januar 2022. Online: Externer Link: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-01/wahlpflicht-wahlbeteiligung-junge-alte-nichtwaehler

Prof. Dr. Frank Decker, geb. 1964 in Montabaur, hat seit 2001 einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn inne. Seit 2011 ist er außerdem Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP). E-Mail Link: frank.decker@uni-bonn.de